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Die Redaktion … fährt

fixed

Wie es sich für ordenliche anarchistische Hipster in Hypezig gehört, fahre ich ein Fixie. So ein Fahrrad mit starrem Gang, Ihr wisst schon. Kein Leerlauf, kein Rücktritt. Da kann ich an der Kreuzung stehend auf dem Rad balancieren und den ganzen zurückgebliebenen Normalos zeigen, wie cool ich bin. Oder mir von zugezogenen Teens Respekt zollen lassen, wenn ich an ihren Bremsmanövern und Beschleunigungsversuchen vorbeiziehe und auf die Frage „Ist das auch ein Fixie, Digger?“ mit ebensolchem Bremsmanöver antworten kann, so dass ich auch da ein ehrenvolles „Cool, Digger!“ als Anerkennung erhalte. Hach ja… Fixie fahren ist eben weitaus mehr als ein runder Tritt und das Einswerden der Beine mit den Pedalen, des Körpers mit dem Rad. Es ist Lifestyle, purer Lifestyle. Auch mit dem Flat Bar werde ich mich noch anfreunden, die passenden Karten für meine Rückgradspeichen suche ich noch. Soll ja schön individuell sein, so ein Fixie. Mich repräsentieren und meinem höchsteigenen Subjekt Geltung verschaffen in der Welt der Uniformitäten. Ich fahre Fixie, also bin ich ich.

(shy)

…nicht Fahrrad

Von meinen lieben Mitanarchist_innen beim Feierabend! bin ich mittlerweile ein paar Mal gefragt worden, warum ich zur Überbrückung der Distanzen zwischen Redaktions- und Wohnraum denn nicht ein Fahrrad nehme, die Strecke zu Fuß zurück zu legen, dauere doch zu lange und sei bestimmt recht anstrengend. Und mit beidem haben sie recht! Doch irgendwie gefällt mir das Laufen. Es ist meditativ. Oder um es mit Milan Kundera zu sagen, man spürt sich selbst, Alter und Gewicht.

(carlos)

… ab auf Literatur!

Ich weiß nicht, seit wann es so ist. Früher konnte ich mich nie wirklich dazu aufraffen, ein paar Seiten Belletristik am Stück zu lesen. Je älter ich werde, desto mehr scheint sich dies zu ändern. Es liegt nicht mal am Inhalt der Bücher, denk ich. Was mich mehr interessiert, ist der Stil, in dem das Werk geschrieben wurde. Metaphern, Allegorien, Bildnisse, wortgewaltige Reden, inspirierende Formulierungen, flinke und scharfe Witze und seltene Begriffe, die man sonst nie oder nur kaum im Leben so hört. Insgeheim suche ich wohl immer nach Inspiration. Die Sprache erscheint mir wie ein riesiges Kochbuch, aus dem wir meist nur die simpelsten Nudel- und Reisgerichte nutzen. Ein gutes Buch ist da wie ein Besuch in das feine Nobelrestaurant. Und danach denkt mensch sich: Kann ich das nicht auch vielleicht? Manche mögen mit meinen Gedanken nichts anzufangen wissen. Was spielt es für eine Rolle, wie man sich im Alltag ausdrückt? Wäre es nicht lächerlich, wenn sich Menschen so hochgestochen und langatmig ausdrücken würden, wie sie dies teilweise in der Literatur machen?

Vielleicht, aber ich glaube doch, dass sprachliche Kreativität ungemein wichtig ist. Ich denke, dass in seiner Sprache jeder ein kleiner Künstler sein kann! Vielleicht hat man zu unruhige Hände für das Malen und Zeichnen, zu wenig Geld und Zeit um Musik zu lernen oder zu wenig Geschick und räumliches Verständnis, um sich Faltarbeit wie Origami zu widmen. In seiner eigenen Gedankenwelt kann mensch hingegen immer rumstöbern und neue Assoziationen ausgraben, wie in einer frischen Goldgrube, um seinen Gedanken und Gefühlen die richtige Form zu geben. Die demokratische Kunst überhaupt, könnte mensch meinen. Die Dichtung gehört ja auch zu den ersten Künsten, die in der Antike bereits einige ihrer Höhen erklommen hat. Aber ach Gott, Gefühle! Die empfindet mensch ja heute als eher nervig und störend (die eine Bevölkerungshälfte wohl mehr als die andere). Vielleicht dichtet mensch heute deshalb ja nicht mehr so gern. In meiner Schulzeit hat glaub ich nie irgendjemand freiwillig gern gedichtet und es dann auch noch vorgetragen. Durch Wortwahl und Ausdrucksweise entblößt mensch sich ja vielleicht mehr als durch das Abfallen seiner Kleider. Gefühle, die Schamteile des Menschen?

(alphard)

… frei Bahn und aus der Haut

Man geht durch die Straßen, setzt sich in die Bahn und plötzlich ist die Batterie des MP3-Players alle. Auf einmal ist man mittendrin im alltäglichen Wahnsinn, und nicht nur die beißenden Gerüche fallen einem stärker auf und lassen leichte Übelkeitsgefühle entstehen, sondern ebenso kommt hinzu, dass man sich der laufenden Gespräche der Mitfahrenden nicht weiter des Hörens entziehen kann. Von rassistischen Äußerungen bis kruden, nach Mobbing mutenden Sprüchen von Halbwüchsigen ist die ganze Palette vorhanden. Ganz zu schweigen von Eltern, die die Versuche ihrer Kinder, Aufmerksamkeit zu bekommen, ignorieren oder gar niedermachen. Vor ein paar Tagen las ich einen Spruch, an den ich mich nicht mehr zur Gänze erinnern kann, aber er ging in etwa so: „Deutschland definiert: Alle sitzen in der Bahn und gucken grimmig. Ein Kind lacht. Die Eltern schimpfen, bis es genau das Gleiche macht.“ Erstaunlich passend, wenn man sich die Leute in der Bahn betrachtet. Ein paar Haltestellen weiter steigen dann Kontrolleure hinzu und man macht, dass man schleunigst aus der Bahn kommt. Skeptisch hinterher guckend zücken sie bereits ihr Scan-Gerät.

Aus der Bahn raus überlegt man, auf die nächste zu warten oder einfach den Weg zu Fuß fortzuführen. Die Entscheidung geht zum Laufen.

Als es nach wenigen Minuten zu regnen beginnt, stellt man sich dann schon die Frage, ob das jetzt ernst gemeint ist. Aber wie auch immer, es ändert ja nichts. Eh man sich versieht, fährt dann ein Auto in gefühlter Höchstgeschwindigkeit durch eine durch ein Schlagloch entstandene Pfütze. Klasse. Aber weiter. Noch im Tran bemerkt man nicht, dass ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit hinter einem ein Fahrrad anrollt und so knapp vorbei fährt, dass man fast noch hin fällt und bei dieser Gelegenheit tritt man dann gleich noch selber in eine Pfütze und man beginnt zu überlegen was zur Hölle man denn falsch gemacht hat. Entnervt kommt man dann seinem Ziel näher und bemerkt, dass man wohl den Schlüssel vergessen hat, und ein pöbelnder Mensch, der augenscheinlich mit einem Alkoholproblem zu kämpfen hat, plärrt einen sinnentleert voll. Erfolgreich entkommen geht man nun Nummern im Handy durch, um aus der entstandenen Misere zu entkommen. Es regnet noch immer, mittlerweile aber als leichter Nieselregen, doch nun kommt noch ein toller Wind hinzu. Ans Handy scheint keiner zu gehen. Gut, dann eben zurück. Diesmal aber wieder mit der Bahn. Ja – Glück gehabt, da kommt sie bereits. „Endlich mal was Gutes“, denkt man sich, um sich etwas zu beruhigen, und lässt sich erleichtert auf den Sitz fallen. Den Kopf ans Fenster gelehnt und mit zynischem Lächeln über den bisherigen Tag, als vom hinteren Ende der Bahn ein Mensch auftauchte. Ein Mensch, den man bereits am gleichen Tag gesehen hat. Doch nicht auf den Menschen achtet man, nein. Denn er hält ein Gerät in der Hand, und feist grinsend kommen die Worte: „Fahrausweis bitte“ über seine Lippen.

(R!)

.weeeeiiiit weg.

Auch wenn ich aus Teilen der Redaktion dafür kritisiert werde, dass es inhaltlich falsch ist, vom Fahren zu sprechen, wenn ich doch nach Indien fliege, schreib ich hier jetzt trotzdem weiter.

Denn ich fahr mit einem modernen Luftschiff namens Flugzeug.

Viel spannender als die korinthenkackerische Begrifflichkeit ist aber derzeit mein Gefühl zur bevorstehenden gut drei Monate dauernden Reise. Gute Frage. Im Moment wird mögliche Vorfreude durch den Stressfaktor verhindert. Zu viele Punkte auf der ToDo-Liste, die vorher abgehakt werden müssen, damit es endlich losgehen kann. Aber irgendwie ist dieses Gestresstsein auch nicht wirklich ein neues Gefühl, wenn ich so an meinen Alltag denke…

Wenn ich dann doch mal Zeit habe, über Indien zu sinnieren, dann fällt mir auf, dass ich eigentlich gar nicht groß weiß, was mich erwartet. Aber ich freu mich trotzdem darauf. Oder gerade deshalb? Warum – weil ich Fernweh habe. Weil ich raus will. Weil ich neugierig bin. Weil mich fremde Welten interessieren und faszinieren. Angst hab ich eigentlich nur vor mir selbst: dass ich schlecht damit klar komme, mitunter viel krasse Armut zu erleben und gleichzeitig vielfach meinen Stempel als reiche Weiße zu bekommen. Damit umzugehen und sich selbst treu zu bleiben wird eine Herausforderung. Aber daran kann ich wachsen. Ja, ich freu mich darauf nach Indien zu fahren.

(momo)

„Die Bereitschaft Ja zu sagen“

Freiheit und Widerstand bei Joachim Gauck

Bundespräsident Joachim Gauck ist der selbst ernannte „Liebhaber der Freiheit“ unter den deutschen Politikern. Seit bald einem Vierteljahrhundert tourt der überzeugte Antikommunist nun schon durch deutsche Medienarenen und Universitäten, um einer irrlichternden, mit den Verhältnissen unzufriedenen Bevölkerung von den freiheitlichen Segnungen der hiesigen Gesellschaft zu künden. Die Stimmen der Unzufriedenen sind, allen Verkündungen zum Trotz, bisher nicht verstummt. Ein Blick auf das Verständnis von Freiheit, für das Gauck wirbt, erklärt warum.

Im Mittelpunkt seines Freiheitsbegriffs steht die Verantwortung. Wer die politischen Debatten seit der Jahrhundertwende verfolgt hat, mag sich bei diesem Wort erinnert fühlen an rot-grüne Regierungsjahre, an die Agenda 2010, hier insbesondere an das Mantra von der Eigenverantwortung. Für den erklärten Agenda-Freund Gauck bedeutet Verantwortung „die Bereitschaft, Ja zu sagen, zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung.“ (1) Nur wer also dazu bereit ist, „Ja zu sagen“ zu den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen innerhalb einer Gesellschaft, kann, so Gauck, überhaupt in Freiheit handeln: „Wenn wir uns derart […] zu der uns umgebenden Wirklichkeit verhalten, dürfen wir das als Verantwortung bezeichnen. Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung«“. (2) Diese „Freiheit der Erwachsenen“ kann jedoch nur in einem geeigneten gesellschaftlichen Rahmen sinnvoll ausgeübt werden, und dieser Rahmen ist für Gauck die staatsbürgerliche Herrschaft von freiheitlich-demokratischer Art. Ist diese Herrschaftsform innerhalb eines Gemeinwesens nur schwach ausgeprägt, oder überhaupt nicht vorhanden, besteht Grund zum Widerstand: „Die DDR-Regierung nannte uns zwar »Bürger«. […] Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten in denen Demokratie schon zuhause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben, und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten unsere Würde – aber Bürger waren wir nicht. […] Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte.“ (3) Gaucks Kritik am DDR-Regime zielt mithin nicht ab auf ein Vorhandensein von Herrschaft per se, sondern nur auf die in­effektive Or­ga­nisation von Herrschaft. Die rohe, allzu offen­sichtliche Poli­zeistaatlichkeit der DDR machte es ihren Bewohnern letztlich unmöglich, daran zu glauben, herrschende Klasse und Bevölkerung verfolgten gemeinsame politische und ökonomische Interessen. Eine echte positive Hinwendung der allgemeinen Bevölkerung zur herrschenden Klasse war in der DDR zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse nicht notwendig, und daher auch nicht vorgesehen. Die von Gauck verfochtene staatsbürgerliche Herrschaftsform freiheitlich-demokratischer Prägung hingegen baut auf die Fähigkeit des mit staatlich eng abgefassten Freiheitsrechten ausgestatteten Bürgers zur Einsicht in die Notwendigkeit des Vorhandenseins der bestehenden Herrschaft. Sie vertraut also auf das, was Gauck „Freiheit der Erwachsenen“ nennt – eine echte, positive, geradezu vertrauensvolle Hinwendung zur Macht, eine vom Bürger selbst für gut und richtig gehaltene Bejahung der bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft: „Wir werden gebraucht und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. […] Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner für die der französische Schriftsteller Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwandte. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle – die Liebe zu Scholle, Heimat, Nation zum Thron und zum Führer – und hört weg. Aber wir sollten die alte Begrifflichkeit vielleicht neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.“ (4)

Freiheit bei Gauck rekurriert also auf eine Freiheit des Beherrschten vermittels staatsbürgerlicher Freiheitsrechte wie dem Recht auf freie Rede, der Gewissens- und Wahlfreiheit, Vertrauen in politische Führer und gesellschaftlichen Eliten aufzubauen, um dann schließlich an die „gute Herrschaft“, an Einigkeit und Interessengleichheit zwischen herrschender Klasse und Gesamtbevölkerung glauben zu können. Diese Freiheit, sich „aus freien Stücken“ und „guten Gewissens“ einer herrschenden Klasse verschreiben zu können, erhebt Gauck zum Grundbestandteil der menschlichen Natur: „Unsere Fähigkeit zur Verantwortung ist somit nicht etwas, das durch Philosophen, Politiker oder Geistliche quasi von außen in unser Leben hineingebracht würde, sondern gehört zum Grundbestand des Humanum“. (5) Wer gegen diese, dem Menschen angeblich innewohnenden Bestimmung, „Verantwortung zu übernehmen“, Widerstand leistet, d.h. wer es wagt, das so in Staatsbürgerlichkeit abgefasste Herrschaftsgefüge der Bundesrepublik, bzw. anderer westlicher Demokratien fundamental abzulehnen, versündigt sich an sich selbst und seinen Mitmenschen. Widerstand gegen die hiesige Gesellschaft ist damit moralisch delegitimiert, aber auch psychologisch unhaltbar, denn Gauck will entdeckt haben, „dass es einen unglaublich kraftvollen Indikator für dieses Ja zu einem Leben in Verantwortung gibt […] Es ist nämlich so, dass unsere Psychen uns belohnen, wenn wir leben, was als Potenz in uns angelegt ist.“ (6)

Entsprechend abschätzig beurteilt Gauck dann auch jeden dennoch stattfindenden Versuch einer Kritik an den politischen und ökonomischen Resultaten dieser freiheitlich-demokratisch abgefassten Herrschaft. So erscheinen ihm die Proteste gegen die Sozialreformen der Agenda 2010 als „töricht und geschichtsvergessen“ (7), Antikapitalismus-Debatten „albern“ (8), und Kriegsgegner „glückssüchtig“ (9). Bundesdeutsches Politikpersonal darf, so Gauck, nicht „beschimpft“ werden, denn diese sind schließlich „nicht Erwählte von Gottes Gnaden, sondern es sind von uns und aus unserer Mitte Erwählte. Und darum haben sie unsere Farbe, unsere Tugenden und unsere Laster. Es ist wohlfeil, sich von ihnen abzuheben, als gehörten sie einer anderen Rasse an. Es ist übrigens auch verantwortungslos.“ (10) Folgerichtig konstatiert Gauck mit Blick auf staatsbürgerliche Herrschaft und Lohnsklaverei das Ende menschlicher Geschichte: „Warum gehen wir oft in die nicht-demokratische Welt hinaus, und tun so, als hätte unsere demokratische Welt »Nichtwerte« ? […] Kann nur ein polnischer Ministerpräsident, wie Donald Tusk, der die Unfreiheit des Sozialismus erlebt hat, formulieren, was unser aller Grundhaltung zu Europa sein sollte: »Es ist tatsächlich der beste Ort der Welt, etwas besseres hat bisher niemand erdacht!«? […] Darin zeigt sich: Wenn wir politische Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten. Ich jedenfalls kenne keine, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre. Es gab zwar Gegenentwürfe, in Europa erwachsen aus dem Marxismus […] Aber diese Entwürfe haben sich nicht behauptet […] Und deshalb gibt es auch keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen.“ (11)

Worin auch immer nun eine annehmliche oder „richtige“ Variante von Freiheit bestehen mag, in der Befähigung Herrschaft unter Zuhilfenahme von staatlich genehmigten Bürgerrechten schätzen zu lernen, kann sie kaum bestehen. Kein Mensch sehnt sich nach Herrschaft, und niemand akzeptiert sie widerstandslos. Davon zeugen Gefängnisausbrüche, Arbeitsniederlegungen und Delinquenzen im Schulalltag genauso wie jener dauernde Spott an den Politiker_innen, den Gauck nicht gelten lassen will. Diesen Sachstand empfinde ich als ungemein beruhigend.

carlos

(1) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.26, Kösel-Verlag, 2012
(2) ebd.
(3) ebd., S.17 ff.
(4) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.149, Siedler Verlag, 2013
(5) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.36, a.A.o.
(6) ebd., S.40
(7) Thomas Rogalla, „Joachim Gauck nennt die Hartz IV-Proteste berechtigt, sieht aber einen grundlegenden Unterschied zum Herbst 1989“, Berliner Zeitung, 09.08.2004
(8) http://www.sueddeutsche.de/politik/occupy-beweung-und-die-macht-der-finanzmaerkte-gauck-empfindet-antikapitalismus-debatte-als-unsaeglich-albern-1.1166051
(9) http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html
(10) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.194, a.A.o.
(11) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.55 ff., a.A.o.

Lyrik

Was ist los, was soll das hier?
Ist das eine Welt noch mehr?
Seht euch an, die ganzen Leute,
diese riesengroße Meute.
Auf Geld sind sie aus,
den großen Erfolg.
Das beste Aussehen
und ach – was solls.
So denken heute alle nur.
Die Welt ist nicht mehr bunt und schön,
grau ist sie,
man kann nichts mehr sehen.
Doch wartet,
es ist noch nicht zu spät,
ein kleiner Funken Hoffnung späht.
Die Menschen sind noch nicht verloren,
sie sind noch nicht ganz eingefroren.
Nun kommt schon her und glaubet mir,
was ändern, das kann jeder hier.

(R!)

HaiKu

Der Staat ruft zum Krieg
Heckler und Koch frohlocken
Oh, Pöbel tritt an!

(carlos)

Die Redaktion … spielt

… mit Kellen, Wölfen und Messern

Seit letztem Monat spiele ich wieder Tischtennis. Draußen, im Park oder gleich auf dem Spielplatz um die Ecke. Ich habe mir dafür eine kleine Tasche zugelegt, mit zwei Kellen und drei Bällen. Einer davon ist orange. Wenn ich jetzt bei Freunden an der Tür klingele und frage, ob sie mit auf den Spielplatz kommen, fühle ich mich wie fünf.

Außerdem spiele ich Okami – ein japanisches Videospiel, in dem ein weißer Wolf die Welt von finsteren Dämonen befreit. „Okami“ auf japanisch bedeutet Wolf, große Gottheit und weißes Papier. Mit mehreren Pinseln bewaffnet zerschneide ich Steine, male Wasser in ausgetrocknete Flüsse, lasse zerstörte Brücken neu entstehen und zeichne Sonnen in schwarze Wolken. Gottesgleich also. So richtig überzeugt von dem Spiel bin ich noch nicht. Die Idee mit den Pinseln statt Waffen hat aber was.

Letztes Jahr habe ich mit Freunden oft Flat Out gespielt – auch ein Videospiel, bei dem der Fahrer aus dem Auto in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Geschwindigkeit katapultiert wird, um auf eine Dartscheibe oder ins Tor oder durch Feuerringe zu fliegen. Am Ende liegt der Fahrer immer tot in der Ecke. Auch irgendwie gottesgleich, nur mit dem Unterschied, nicht die Welt zu retten, sondern einfach nur viele Punkte zu ergattern.

Ende letzten Jahres litt ich dann an einer Spiele-Überdosis. Non-Stop Flat Out, Romee, MauMau, Mensch ärgere dich nicht, Trivial Pursuit, Scrabble. Das Problem: Ich kann nicht verlieren und diskutiere bis aufs Messer, wenn ich Ungerechtigkeit wittere. Nicht mit allen. Eigentlich nur mit denen, die mir am nächsten stehen. Und eigentlich völlig sinnlos. Nicht so gut. In Spielen sehe ich dann nur noch Psychokriege, in denen sich jeder behaupten will.

Die Tischtennis-Saison ist aber noch jung. Bis jetzt habe ich mich noch nicht ins Spiel hineingesteigert. Bis jetzt will ich noch nicht immer gewinnen. Bis jetzt geht es noch um den Spaß. Manchmal muss ich mir noch still vorsagen, dass ich doch gewinnen will, um mich zu konzentrieren. Ich frage mich, wie lange es anhält. Gestern habe ich schon meinen Namen auf eine Kelle geschrieben.

tung

dagegen

Das Leben soll ja ein Spiel sein, ein Spiel des Lebens. Auf dieses Spiel hab’ ich aber keinen Bock mehr! Ein Kredit aufnehmen und das Studium beenden? Ich hab’ keinen Bock! Arbeiten und Karriere machen? Ich hab’ keinen Bock! Heiraten und Kinder kriegen? Ich hab’ keinen Bock! Eins ist mir mittlerweile klar geworden – an diesem Spielbrett bin ich falsch. Wird wohl Zeit, mir mein eigenes zu basteln. Ein Brett, wo ich über Los gehe, und alle um mich herum 20.000 Euro einziehen dürfen. Bis dieses Brett steht, dauert es aber noch ein Weilchen. Erstmal die Grundlagen schaffen: altes Brett nehmen und kaputtschlagen!

carlos

mitunter mit Gedanken

Mit sinnvollen wie sinnfreien, hellen wie dunklen und (gesellschaftlich) wertvollen wie auch völlig indiskutablen. Gedankenspiele sind dabei vor allem eines – die freie Entfaltung im Inneren, die Alternative zu realen Handlungszwängen, die Möglichkeit, überhaupt über gesellschaftliche Normen und Grenzen hinauszudenken. Da die Freiheit des einen bekanntlich da aufhört, wo die der anderen beginnt, ist es (fast) nur im Selbst möglich, wahnwitzige Ideen zu entwickeln oder überhaupt die eigene Persönlichkeit so zu entfalten, dass die gesellschaftliche Determination keinen Zombie hinterlässt. Das freie Spiel mit den Gedanken ermöglicht es mir erst woanders und mit anderen spielerisch tätig zu werden. Bei Gesellschaftsspielen, Wettkampfspielen, Wortspielen, sexuellen Spielen oder im Schauspielerischen, ja auch bei Machtspielen.

Ich spiele, also bin ich.

k.mille

… Karten- und Rollenspiele

Vielleicht ein bisschen old school, aber ich steh drauf: am runden Tisch mit Freunden und allerlei Genussmitteln sitzen und mit viel Phantasie in analoge Spielewelten tauchen. Die ansonsten bekämpfte Konkurrenzgesellschaft leb ich hier auch gern mal aus, inklusive Rumpöbeln. Ohne schlechtes Gewissen.

Besonders gut funktioniert das bei Skat-Abenden. Man muss gar kein alter Mann sein, um dort mit viel tamtam aufzutrumpfen, oder bei schlechteren Karten den Skat-Gott ob der Kartenverteilung zu verfluchen. Besser noch den Gegner beschimpfen, wenn er am gewinnen ist. Aber ich will hier kein falsches Bild hinterlassen, denn oftmals spiele ich auch ganz friedfertig – vor allem dann, wenn ich selbst ganz vorne throne.

Eine andere gute Gelegenheit, um sonst beherrschte Emotionen, konträre Haltungen oder ungeahnte Facetten des selbst mal auszuleben, bieten sich in so genannten Krimi-Rollenspielen. Als Abendfüllendes Programm konzipiert, schlüpfen 8-10 Menschen (am besten Freund_innen) in ganz unterschiedliche Rollen und spielen beispielsweise einen Mönch, Magier oder Möchtegern-Popstar. Die Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, wer aus der illustren Runde der_die Mörder_in einer fiktiven getöteten Person ist. Zwar sind die Mordgeschichte, diverse Indizien und personelle Verstrickungen durch das story-board vorgegeben, allerdings bleibt noch genügend Spielraum um der Rolle den eigenen Stempel aufzudrücken. Herrlich, mit welcher Genugtuung ich als arroganter Magier über den Pöbel herziehen kann. Noch dazu erfinde ich auch neue Zauber, so dass irgendwann alle hoffentlich vor Furcht erstarren….

Der Phantasie freien Lauf lassen kann man übrigens auch mit dem Dixit-Kartenspiel. Platz drei meiner aktuellen best-of-Liste. Wunderschöne, verspielte und interpretationsoffen gezeichnete Bilder bilden hier die Basis. Die Aufgabe besteht darin eines davon assoziativ mit Worten zu belegen, ohne zu viel dabei zu verraten. Denn bestimmte Karten der Anderen sollten auch irgendwie dazu passen können.

Ja ich steh auf Spiele. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Geselligkeit fördern, Phantasie anregen und mir ermöglichen in fremde Welten zu tauchen oder mich mal richtig gehen zu lassen. Mit vielen analogen Karten-, Brett- und Rollenspiele geht das vortrefflich. Und zu entdecken gibt es da noch jede Menge. Vielleicht ein bisschen old school – aber ich steh drauf.

momo

… mit

Sehr schön, denn wer spielt nicht gern? Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele, Schauspiele etc..

Soweit so gut. Doch ist das schon alles? Was spiele ich? Denn immerhin heißt die Rubrik ja „Die Redaktion spielt“ und mir schwirren bei diesem Begriff so massenhaft Gedanken durch den Kopf. Daher habe ich vor mit dem Begriff spielen zu spielen und zu schauen, was denn eigentlich alles dahinter steckt.

Anfangs denkt man häufig an Kinder, denn die sind ja ständig am Spielen. Dies ist meist ein positives Spielen. Man hat Spaß, kann etwas dabei lernen und verbringt eine schöne Zeit. Mit steigendem Alter spielt man dann immer weniger. Zumindest diese Art von Spielen. Allerdings ist nicht jede Art von Spielen eine rein positive. Menschen spielen auch im Stillen, ohne der anderen Person davon zu berichten. An dieser Stelle wird das Spielen nicht nur einseitig, sondern zum Teil auch manipulierend. Ich will damit nicht sagen, dass dies in jedem Fall bewusst geschieht und immer eine genaue Absicht dahinter steht, aber es kommt durchaus vor. Manchmal spielt man Menschen aber auch etwas vor, um nicht oder weniger verletzbar zu sein bzw. eine andere Person nicht zu verletzen. Ob das nun gut oder schlecht ist – darüber lässt sich streiten. Darum soll es aber an dieser Stelle auch gar nicht gehen. Sehen wir mal eben davon ab und wenden uns wieder der positiven Art von Spielen zu. Ich mag zum Bleistift auch Wortspiele sehr gern. Und auch beim Sex wird des öfteren gespielt, die unschuldigen Rollenspiele der Kindheit wandeln sich so z.B. in eine ganz andere Richtung oder allein der Begriff Sexspielzeug weist darauf hin, dass Sex durchaus einen spielerischen Charakter haben kann und hey, macht ja auch Spaß – sollte es zumindest ;). Manchmal spielt man auch einfach mit Gedanken. Es ist interessant wie weitläufig, dieser Begriff ist, aber wie oft er nur so eindimensional betrachtet wird. Zugegeben, er ist so weitläufig, dass ich irgendwie nicht so recht einen roten Faden zustande bringe. Ich springe von einem Gedanken zum nächsten. Schreibe – verwerfe. Ein Teil sagt mir, dass ich mir doch ohne weiteres ein „Spiel“ raus suchen könnte, um das Ganze einfacher zu gestalten aber ein Anderer fände das schlichtweg viel zu langweilig. Dann lieber ein holpriger Text, der nicht so einfach von der Hand geht und außerdem ist es ja auch per se nichts schlechtes. Es kann durchaus einen positiven Effekt haben einmal feste Schemata zu überwinden und den Gedanken(spielen) freien Lauf zu lassen.

R!

Antifa in der Krise? Antifa in der Krise!

Seit nunmehr etwa 30 Jahren sind antifaschistische Gruppierungen damit beschäftigt, in der Bundesrepublik einen Kampf gegen den Faschismus zu organisieren – mit mäßigem Erfolg. Immer wieder ist es in den vergangenen Jahrzehnten, trotz vehementer antifaschistischer Agitation, zu Übergriffen auf Asylbewerberheime und Migrant_innen gekommen. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes bildet da nur den absoluten Höhepunkt. Fremdenfeindliche Diskussionen finden in vielen demokratischen Leitmedien aus Rundfunk und Fernsehen seit Jahrzehnten regelmäßig statt. So diente der Spiegel im September 1991, ein knappes Jahr vor den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, als Brandbeschleuniger für einen von Christ- und Sozialdemokraten seit den 1980er Jahren intensiv betriebenen, ausländer- und insbesondere asylbewerberfeindlichen Diskurs, als das Magazin titelte: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“. (1) Auch als konsequente Argumentationshilfe für antimuslimische Rassist_innen traten demokratische Leitmedien in den letzten Jahren hervor.

Im Jahre 2004 berichtete der Spiegel über „Allahs Rechtlose Töchter“, im dazugehörigen Leitartikel durfte Alice Schwarzer die Öffentlichkeit über den schwierigen Umgang der Deutschen mit Musliminnen und den wachsenden Einfluss des Islam“ aufklären, im Jahre 2006 dann vom heiligen Hass“ der Muslime gegen die aufgeklärte Welt, und 2007 über die stille Islamisierung“ Deutschlands berichten. (2) Dass Thilo Sarrazin wenig später mit unverhohlenem Rassismus publizistische Erfolge erzielen konnte, verkommt da schon fast zur Randnotiz. Um den Antifaschismus in Deutschland scheint es nicht gut bestellt zu sein. Die Interventionistische Linke (IL) hatte deshalb im April in Berlin zu einem Kongress unter dem Motto „Antifa in der Krise?“ geladen.

Für die Organisator_innen stellte sich die Problematik dabei wie folgt dar. Es sei ein Erstarken rechter Bewegungen, Parteien und Bündnisse in Deutschland und im europäischen Ausland zu beobachten: „Der antisemitische und extrem rechte Front National um Marine Le Pen und die niederländischen Rechtspopulist_innen um Geert Wilders rücken zusammen und schmieden ein Bündnis gegen Europa. […] Auch in Deutschland wird auf dieser Klaviatur gespielt. Die NPD versucht, aus ihrer desolaten Situation durch die von ihr vielfach gesteuerten Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte herauszukommen. Mit der Alternative für Deutschland ist ein Parteiprojekt entstanden, in dem sich marktradikale Eurogegner_innen bis hin zu extrem rechten Kräften sammeln.“ (3) Die „neue Herausforderung“ bestünde nun darin, zu ermitteln, wie sich dieses Äußerliche in der Agitation der Rechten genau verändert haben könnte, und wie man als Antifa auf diese Veränderung im Äußerlichen des politischen Gegners am besten zu reagieren habe: „Nicht nur in Deutschland bringen sich neofaschistische und rechtspopulistische Parteien in Stellungen. Überall in Europa nutzen sie die aktuelle Situation zur Neugruppierung ihrer Kräfte. […] Wie sind die Veränderungen im Lager der extremen Rechten zu bewerten? Welche Rolle spielen die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Zeichen der Krise? Welche Schwerpunkte sind in der eigenen Arbeit zu setzen? Wie können geeignete Gegenstrategien aussehen?“ Diese Debatten seien notwendig, denn die „antifaschistische Bewegung tut sich mit der Analyse dieses europäischen Rechtsruck schwer“. (3)

Dieses zurecht festgestellte Unvermögen einiger Antifas, den Faschismus zu erklären, stellt jedoch keine Schicksalsfügung dar, sondern lediglich das Resultat einer gewollten Politik von Antifas wie der IL selbst, die sich mit Äußerlichkeitsbeschreibungen des politischen Gegners aufhalten, und sich bereitwillig zu Parteigängern der bestehenden Verhältnisse machen. Diesbezüglich ist die IL ein besonders drastisches Beispiel. Dem deutschen Parlamentarismus stellt sie, in den Worten Franz Josef Strauß’, ein befriedigendes Zeugnis aus: „Noch hat sich in Deutschland bundesweit keine Partei dauerhaft und erfolgreich rechts von CDU/CSU etablieren können. Doch immer wieder kommt es zu Vorstößen“. Ihr Urteil, die Union im Parlament sei immer noch besser als die NPD, lässt sich die IL auch nicht dadurch beschädigen, dass sie anschließend selbst feststellt, beim Verbreiten rassistischer Parolen sei „immer auch die bayrische CSU“ mit dabei. (3)

Die IL will den Faschismus bekämpfen, aber mit dem Staat als Waffenbruder. Ihre Integration in die Klassengesellschaft wertet sie daher auch als großen Erfolg. So ist IL-Mitglied und Mitorganisator des Antifa-Kongresses Henning Obens sehr stolz darauf, wenn auch einmal „jemand von uns“ in der Tagesschau sprechen darf. (4) Für Aktivist_innen mit einem Selbstverständnis wie Obens muss die Überraschung da natürlich groß sein, wenn derselbe Staat, den sie verzweifelt um Anerkennung für ihre Agitation ersuchen, ihnen dennoch „keinen Fuß breit traut“, sie beständig observiert, und ihnen Polizei und bundesrepublikanische Staatssicherheit ins Szenelokal oder in die Wohnung schickt, sobald einzelne Mitglieder auch nur im Verdacht stehen, die staatlich genehmigte antifaschistische Marschroute in Richtung Antikapitalismus verlassen zu haben. Doch für Obens ist der Verzicht auf Antikapitalismus als Grundlage antifaschistischer Agitation ohnehin kein Problem: „Auf diese politischen Konstellationen müssen wir auf der Höhe der Zeit reagieren. Das auf die Parole »Hinter dem Faschismus steckt das Kapital, der Kampf ist international« herunterzubrechen, […] geht dann nicht mehr. Daran ist zwar ganz viel Wahres, doch es spiegelt eben längst nicht alles wider.“ (4)

Obens Selbstverständnis und Arbeitsweise sind unter Antifaschist_innen keineswegs eine Rarität. So erschöpft sich dann auch die Agitation vieler Antifas in Blockade und Störung von Naziaufmärschen, Konzerten und anderen Verstaltungen, auf die minutiöse Dokumentation rechter Agitation und Gewalt, auf das Katalogisieren rechter Kleidungs- und Sprechcodes, und auf das Outen von Faschist_innen mit Namen und Anschrift. Dieselben Antifas stellen nun verdutzt fest, dass Faschist_innen im Zuge der ökonomischen Krise immer größere Teile der frustrierten, weil materiell zunehmend prekarisierten Arbeiterklasse ideell an sich binden können. Nichts fällt den Faschist_innen mittlerweile leichter, als all die staatlich produzierten Bildungsverlierer_innen, Niedriglohnempfänger_innen und Umsonstarbeiter_innen darauf hinzuweisen, dass Antifaschist_innen mit genau diesem Staat gemeinsame Sache machen wollen. Hier beweisen Faschist_innen politischen Instinkt, indem sie die materielle Not vieler Menschen als gegeben hinnehmen, und ursächlich in Zusammenhang zu bringen versuchen mit einem vom derzeitigen Staat und seinen mutmaßlichen Handlangern auf der linken Seite organisierten, vermeintlich „gegen das deutsche Volk gerichteten Kapitalismus“. Diesem „Antikapitalismus von rechts“ stehen viele Antifaschist_innen ratlos gegenüber. Sie können der Gesellschaft nicht nur nicht erklären, was an ihm so furchtbar falsch ist, sondern auch dem materiell prekarisierten Teil der Gesellschaft nicht erklären, was am demokratisch regierten Kapitalismus so großartig sein soll.

Einige dieser Antifas haben deshalb – konsequenterweise – auch ihre antifaschistische Stoßrichtung komplett umgeworfen, und den Faschismus kurzerhand zu einer Art Massenprojekt der Arbeiterklasse und des Islam umdeklariert. Dazu stellen die Journalist_innen Susann Witt-Stahl und Michael Sommer fest: „Und wenn Phase 2-Antifas heute ihren Haß auf den »Prolet-Arier« herausbrüllen, dann gilt die Aggression meist weniger den »Ariern«, den Neonazis, sondern dem Proleten: »Gerade antikapitalistischer Widerstand manifestiert sich leicht als antisemitischer, auch in der deutschen Arbeiterbewegung«, lautete schon vor zehn Jahren ein Argument in einem Streit zwischen Hannoveraner Antifas. […] Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der »konsequent gegen Rechtsextremismus« engagierten Amadeu Antonio Stiftung, hat Antiimperialisten und Abgeordneten der Linkspartei, die sich an der »Free Gaza!«-Flotte beteiligt haben, den Kampf angesagt. […]Daher streitet Kahane lieber für das westliche Sanktionsregime gegen den Iran – beispielsweise auf der Kundgebung »Freiheit statt Islamische Republik« zusammen mit der neokonservativen Kriegslobby (Stop the Bomb und das Iranian Freedom Institute).“ (5)

Dass die faschistische Ideologie stete Kultivierung erfährt, durch die gegenwärtige, staatlich gewollte und gesetzlich festgeschriebene kapitalistische Vorsortierung von hier lebenden Menschen in Deutsche und „Asylanten“, nutzlose und nützliche Ausländer, Leistungsträger_innen und Sozialschmarotzer_innen, ist diesen Antifas dann natürlich unbegreiflich. Ebensowenig im Stande zu begreifen sind sie, dass auch Faschist_innen die heutigen Produktionsverhältnisse befürworten, und gar nichts auszusetzen haben an Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Elitenbildung und Ausbeutung im Wege der Lohnarbeit, solange dies nur alles im Zeichen des „völkischen Gemeinwohls“ geschieht. Sowohl Faschist_innen als auch die große Mehrheit der Demokrat_innen innerhalb der Parlamente stimmen grundsätzlich darin überein, dass aufgrund gedachter Merkmale (Staatsbürgerschaft, Leistungsfähigkeit) unterschiedliche rechtliche und materielle Lebenspositionen gerechtfertigt sind. (6)

Die Organisator_innen des Kongresses haben mithin Recht: Der Antifaschismus in Deutschland steckt tatsächlich in einer Krise. Doch liegt diese Krise nicht etwa in Umgruppierungen, Machtverschiebungen oder Uniformwechseln innerhalb des rechten Parteienspektrums begründet, sondern einzig in der beständigen Weigerung vieler Antifaschist_innen, den Antikapitalismus wieder zur Grundlage ihrer Agitation zu machen. Wer, wie die IL, dem Staat bejahend gegenüber steht, hat letzten Endes gar keine andere Wahl, als sich in bloßer Beschreibung des politischen Gegners aus ästhetischer, ideeller und psychologischer Sicht zu ergehen. Denn eine Erklärung des Faschismus darf niemals über die Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen erfolgen. Eine Erklärung des Faschismus aber, die sich einzig aus seiner Beschreibung ableitet, ist „nicht nur keine kritische Theorie des Faschismus, es ist überhaupt kaum Theorie“. (7)

carlos

(1) Spiegel, 37/1991

(2) Spiegel, jeweils: 47/2004, 6/2006, 13/2007

(3) kriseundrassismus.noblogs.org/warumdieserkongress/

(4) Martin Höfig, „Antifa auf der Höhe der Zeit?“, www.neues-deutschland.de/artikel/929872.antifa-auf-der-hoehe-der-zeit.html

(5) Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/

(6) vgl. Freerk Huisken, „Der demokratische Schoß ist fruchtbar“, S.66 ff., VSA-Verlag, 2012

(7) David Renton, zitiert nach: Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/