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Machtspiel der Konzerne

– Die nächste Freihandelsfalle –

Derzeit laufen die Verhandlungen über das Transatlantische Investitionsschutz- und Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen den USA und der EU. Dieses Abkommen zielt auf Liberalisierung, Privatisierung und Konzernschutz in unfassbar vielen Sektoren: Nicht nur der kulturelle Bereich ist bedroht, auch Finanzdienstleistungen sollen noch stärker dereguliert, die öffentliche Auftragsvergabe weiter liberalisiert, der Verbraucherschutz abgesenkt, die Chemikalienrichtlinien entschärft werden. Öffentliche Dienstleistungen (Wasser und vieles mehr) sollen weiter privatisiert, unliebsame Arbeitnehmerrechte abgebaut, Medikamentenzulassungen in den USA erleichtert, Landwirtschaft weiter industrialisiert und Investitionsinteressen von Konzernen erheblich und empfindlich erweitert werden. Demokratische Prozesse werden umgangen und ausgehebelt. Die Aufzählung ließe sich nahezu endlos fortsetzen.

Das alles findet in fast schon gewohnter Manier statt: geheim und jenseits der Mitgestaltungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Interessen. Nur Konzernvertreter erhalten Zugang zu Informationen und Verhandlungsdokumenten. Im Koali­tions­vertrag von CDU/CSU und SPD ist die Zustimmung zum Abkommen bereits vorformuliert.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Bereits Anfang der 1990er Jahre lagen Vorschläge für die Errichtung einer Freihandelszone zwischen den USA und Europa auf dem Tisch. Einige erinnern sich vielleicht noch an die großen Proteste gegen das MAI-Abkommen Mitte der 90er Jahre. Das „Multilaterale Abkommen über Investitionen“ wurde durch die Europäische Union und die OECD 1995 initiiert und sollte drei Jahre später am Protest der Bevölkerung scheitern. Die Verhandlungen fanden geheim statt, aber was an die Öffentlichkeit kam, reichte aus, um in einigen Ländern große Proteste loszutreten. Besonders in Frankreich war der Widerstand groß und Regierung und Parlamente einiger EU-Staaten weigerten sich aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung das Abkommen zu ratifizieren. Damit waren die Verhandlungen beerdigt.

Jetzt ist die Debatte wieder auf der Tagesordnung. Seit Juli 2013 laufen zwischen der EU und den USA die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen. Die Abkürzung TTIP steht für Transatlantic Trade and Investment Partnership. Hierbei geht es vor allem um „nichttarifäre Handelsbarrieren“ wie zum Beispiel öffentliche Aufträge, Konsumenten- und Datenschutz, Kennzeichnung von Lebensmitteln, Umweltgesetze, Medikamentenpreise, Patente, Schürfrechte oder Arbeitsnormen. Das geplante Vertragswerk kann man ohne Übertreibung als einen radikalen Angriff auf soziale, ökologische und rechtliche Standards in der EU und in den Vereinigten Staaten bezeichnen. Die EU-Kommission hat vom Europäischen Rat ein umfassendes Mandat für die Verhandlungen erhalten. Diese Verhandlungen sind streng geheim, und kein handelsrelevantes Thema ist ausgeschlossen, nahezu sämtliche Wirtschafts- und Lebensbereiche sind betroffen. Nur Wirtschaftslobbyisten haben privilegierten Zugang und erheblichen Einfluss auf die Verhandlungen. Dennoch sind einzelne Informationen und Dokumente an die Öffentlichkeit geraten und es formiert sich bereits zivilgesellschaftlicher Widerstand.

Worum geht es?

Beide Vertragspartner wollen die Verhandlungen dazu nutzen, demokratische und soziale Rechte, Klimaschutz und die Kontrolle der Finanzmärkte auf dem jeweils höchsten Liberalisierungsniveau und damit auf dem niedrigsten Level zu „harmonisieren“. Die Interessen der Konzerne, wie niedrige Abgaben, niedrige Löhne, niedrige Umwelt- und Sozialstandards oder auch eine Klagemöglichkeit bei „geschäftsschädigenden Gesetzen“ sollen bedient werden. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft, die derzeit zumindest teils über Gesetze und Regeln durchs Parlament erfolgen können, sollen massiv eingeschränkt werden.

Der Öffentlichkeit wird das Abkommen als „Wirtschaftsmotor“ verkauft. Merkel wie auch Obama versprechen hunderttausende neue Jobs auf beiden Seiten des Atlantiks. „Bis zu 400.000 neue Arbeitsplätze“ würden geschaffen, ließ die Bundesregierung bereits bei Beginn der Verhandlungen im Sommer des vergangenen Jahres verlautbaren. Tatsächlich aber profitieren einseitig Investoren und große Konzerne, hierzulande wie auf der anderen Seite des großen Teichs. Die Handelserleichterungen kämen den Men­schen hier wie da teuer zu stehen.

Private Schiedsgerichte und Sonderklagerecht

Das Abkommen ist einerseits ein Freihandels- und gleichzeitig ein Investitionsschutzabkommen. Damit wird Konzernen an nationaler Gesetzgebung vorbei ein Sonderklagerecht eingeräumt. Ausländische Investoren sollen vor Schiedsstellen gegen Staaten klagen können, wenn Gesetzesänderungen ihre Investitionen oder Gewinnerwartungen einschränken. Damit gibt es jede Menge Erfahrungen im Rahmen bilateraler Investitionsschutzabkommen. Daraus entstehende Konflikte werden bei internationalen Schiedsgerichten wie dem Weltbanktribunal ICSID (1) verhandelt.

Während inländische Unternehmen sich in solchen Fällen an die allgemeinen Rechtswege halten müssen, sollen internationale Investoren also Sonder-Klagerechte in einem zweiten, völlig intransparenten parallelen Rechtssystem bekommen. In diesem System entscheiden keine ordentlichen Gerichte, sondern private Schiedsgerichte. Diese tagen geheim in Hotelzimmern in den Metropolen der Welt und bestehen aus nur drei Personen: Klägervertreter, Schiedsrichter und Anwalt des beklagten Staates. Je nach Fall werden die Rollen gewechselt. Für international tätige Großkanzleien wie bspw. Freshfields Bruckhaus Deringer ist die „Klageindustrie“ ein Milliardengeschäft. Ein einziger durchschnittlicher Investitionsschutzfall verursacht Anwalts- und Schiedsgerichtskosten von acht Millionen Dollar.

Unabhängigkeit, Rechenschaftspflichten oder Revisionsmöglichkeiten gibt es nicht. Die Zahl solcher Schiedsverfahren ist in den vergangenen Jahren weltweit gestiegen. Oft geht es um milliardenschwere Entschädigungsforderungen von Konzernen gegenüber Staaten, die dann vom Steuerzahler zu begleichen sind. Es gibt eine ganze Reihe Beispiele für solche Klageverfahren. Dabei kann alles Mögliche Anlass für die Klage sein: Warnhinweise auf Zigarettenschachteln (Philip Morris gegen Australien und Uruguay), Öko-Auflagen oder Sanktio­nen wegen Umweltverschmutzung (Renco gegen Peru, Chevron gegen Ecuador), die Erteilung einer Lizenz an die Konkurrenz (in Indien), staatliche Preiskontrollen (Suez, Vivendi und andere gegen Argentinien), ein erzwungener Schuldenschnitt (in Griechenland und Argentinien) – bis hin zur Enteignung von Unternehmen (bspw. Entel gegen Bolivien).

Eines der letzten Beispiele hierfür hierzulande ist der Beschluss zur Abschaltung mehrerer Kernkraftwerke in der BRD. Nach dem Beschluss verklagte der Konzern Vattenfall als ausländischer Investor die Bundesregierung auf 3,7 Milliarden Euro Schadensersatz vor einem privaten internationalen Schiedsgericht in Washington. Diese Schiedsverfahren sind komplett intransparent, sowohl Verhandlungen als auch Schiedsspruch bleiben geheim. Ergebnisse gelangen nur an die Öffentlichkeit, wenn beide Seiten einer Veröffentlichung zustimmen. Die Verhandlungen wurden im vergangenen Jahr zunächst ausgesetzt. Derzeit ist nicht bekannt ob das Verfahren wieder läuft oder wie der Urteilsspruch ausgegangen ist.

TTIP führt neben einer weiteren Zunahme möglicher Verfahren zweifelsfrei auch unweigerlich zu einer „disziplinierenden“ Wirkung auf Regierungen: lieber auf Verbesserungen im Verbraucherschutz, im Sozial- oder Umweltbereich etc. verzichten, als sich mit Großkonzernen anzulegen.

Die Frage, wie souverän ein Staat handeln kann angesichts des wachsenden Risikos teurer Schiedsgerichtsverfahren, liegt auf der Hand. Mit TTIP geht die Privatisierung der Justiz einher und Rechtstaatlichkeit wird ausgehebelt.

Fairer Handel & solidarisches dezentrales Wirtschaften soll unmöglich gemacht werden

Im Rahmen der Verhandlungen mit den USA drängt die EU auf eine sehr weitreichende Liberalisierung des öffentlichen Beschaffungswesens. Das bedeutet, dass beispielsweise in Kommunen die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Ziele oder die gezielte Stärkung der eigenen Region durch Vergabe von Aufträgen oder auch durch Einkäufe, weitgehend unmöglich gemacht wird. Denn wenn Gemeinden, Landkreise oder Bundesländer Aufträge vor Ort vergeben, etwa um unnötige Transportwege zu verhindern oder regionale Handwerker und Produzenten zu fördern, diskriminieren sie entfernte Anbieter. Der Freihandelsideologie widerspricht das und ist verboten. Dies könnte auch als Einfallstor dienen, um beispielsweise die Privatisierung der Wasserversorgung noch stärker voranzutreiben, indem darauf gedrängt wird, Wasserkonzessionen prinzipiell weltweit auszuschreiben und an den jeweiligen Anbieter mit dem billigsten Angebot zu vergeben.

Urheber- und Patentrecht

Zuletzt wurde mittels des ACTA-Abkommens versucht, aus der Weiterleitung eines Zeitungsartikels eine Urheberrechtsverletzung zu machen. Aus gutem Grund liefen die Menschen Sturm gegen die Geheimverhandlungen – nun geht es von vorn los. Noch vor den Verhandlungen verwässerte die EU-Kommission einen Gesetzentwurf zum Datenschutz im Sinne der US-Geheimdienste und die Unterhaltungsindustrie setzt alles daran, Urheberrechte so restriktiv wie möglich zu handhaben. Ob Patente auf Saatgut oder Datensammelwut im Internet, die Lobbyisten von Monsanto, Google und Amazon hoffen auf noch größere Freiheiten zu beiden Seiten des Atlantiks. Meinungsfreiheit und Datenschutz bleiben dabei auf der Strecke.

Finanzdienstleistungen

Obwohl die Krise anhält, wurde und wird auf die Ursachen nicht reagiert. Das Handelsabkommen könnte einer noch weitergehenden Deregulierung der Finanzmärkte Vorschub leisten und somit die Instabilität und die ungerechten Wirkungen der Märkte noch vergrößern. Vom Abkommen betroffen wären unter anderem Bankgeschäfte und Versicherungen aller Art, sowie der komplette Wertpapier-, Derivate- und Währungshandel.

Das bedeutet etwa, dass derzeit geltende Schutzrechte, wie die der öffentlichen Sparkassen, nicht mehr greifen, da sie ausländische Unternehmen benachteiligen. In den USA wie in der EU versprechen sich Banken- und Versicherungsverbände bestehende Auflagen umgehen zu können, die derzeit durch nationale Gesetzgebung bestehen. Das betrifft unter anderem Bankgeschäfte und Versicherungen aller Art. Aber auch der komplette Wertpapier-, Derivate- und Währungshandel soll in das Abkommen miteinbezogen werden.

Kultur

Bei den Auseinandersetzung in den 90er Jahren um das MAI-Abkommen spielten die französischen Kulturschaffenden eine wichtige Rolle, da es vor allem hier gelang wirklich breite Proteste gegen das Abkommen zu mobilisieren. Die französische Regierung hat auch deshalb aktuell auf die vorläufige (!) Herausnahme von Kultur und audio-visuellen Dienstleistungen aus der Verhandlungsmasse bestanden. Diese sind aber ausdrücklich nicht generell herausgenommen worden, sondern werden nur in den aktuellen Verhandlungsrunden nicht behandelt. Deshalb könnten die europäische Filmförderung, die Buchpreisbindung, öffentliche Förderung kultureller Einrichtungen und andere Bereiche des kulturellen und kulturpolitischen Lebens jederzeit dem Freihandel geopfert werden.

Verbraucherschutz und Vorsorgeprinzip

In der EU muss bis dato bei der Einführung bestimmter Technologien oder Güter nachgewiesen werden, dass es keine Folgeschäden gibt. Mit diesem grundlegenden politischen Handlungsprinzip lässt sich z. B. Fracking (2) in Europa verhindern, weil hierbei Folgeschäden nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. In den USA ist die Gesetzgebung genau anders herum: Dort muss die Schädlichkeit nachgewiesen werden. Diese Regelung ist für Großkonzerne natürlich attraktiver und mit einem gültigen TTIP wäre in der gesamten Freihandelszone alles erlaubt für dessen Schädlichkeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. In Europa kann derzeit noch gegen den Anbau der Gen-Kartoffel Amflora geklagt werden, weil nicht absolut sicher ist, ob sich die Antibiotikaresistenz der Kartoffel auf andere Lebewesen übertragen kann und wichtige Antibiotika damit unwirksam würden. Fällt das Vorsorgeprinzip, welches schon heute im Spiel der Interessen häufig den Kürzeren zieht, könnten viele weitere Regulierungen und Verbraucherschutzstandards wie Dominosteine kippen.

Umwelt

Trotz aller Beteuerungen, ökologische Erfordernisse zu berücksichtigen, bleibt die Umwelt auf der Strecke, allein durch die prognostizierte Ausweitung des Handels. Langstrecken-Frachttransporte samt CO2-Ausstoß werden zunehmen. Zugleich steigert der Preisdruck durch mehr Konkurrenz den Druck auf Umweltvorschriften. Größere Wirtschaftsräume führen zu größeren Unternehmen – was deren Möglichkeit, nationale oder EU-weite Behörden unter Druck zu setzen, ebenfalls erhöht.

Das Abkommen muss verhindert werden

Menschenrechte, menschenwürdige Arbeit, soziale und ökologische Ziele sind nicht verhandelbar. Demokratie, Selbstbestimmungsrecht von Gemeinschaften und flache Hierarchien werden als Grundlage einer selbstbestimmten Gesellschaft festgeschrieben. Handels- und Investitionspolitik hat diesen Vorrang anzuerkennen.

Der Widerstand muss breit werden und er darf sich nicht in Teilbereichen verlieren. Es geht nicht darum das Abkommen sozialer zu gestalten, sondern es muss darum gehen das Abkommen komplett zu verhindern.

Auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelt sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Widerstand. Umweltorganisationen, Gewerkschaften und antikapitalistische Bewegungen streiten gegen das TTIP. Die sogenannte „Harmonisierung“ von Gesetzen und Regelungen ist eine Absenkung hart erkämpfter Standards und Verbraucherrechte. Das u.a. im Nordamerikanischen Handelsabkommen NAFTA bereits verankerte Investorklagerecht hat die undemokratischen Folgen dieses Parallelrechts längst vor Augen geführt. Einer weiteren Ausweitung der Konzernmacht muss entschieden entgegengetreten werden. Derzeit bilden sich auf verschiedenen Ebenen Bündnisse, um Aktivitäten vorzubereiten die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. In Leipzig wird es am 27. Januar 2014 ein erstes Bündnis- und Vernetzungstreffen gegeben. Der Erscheinungstermin dieser Ausgabe wird wahrscheinlich danach liegen. Wer Informationen über weitere Treffen und Aktivitäten vor Ort erhalten möchte oder Interesse hat, sich einzubringen, kann sich unter folgender Mailadresse melden: krisendemo@gmx.de

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Kasten: 20 Jahre NAFTA – Erfahrungen in Mexiko

1994 trat das Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko mit ähnlichen Versprechungen in Kraft. Die Konsequenzen waren vielen Menschen auch damals schon bewusst. Am Tag der Unterzeichnung des Abkommens besetzten indigene Guerillagruppen der EZLN (3) mehrere Städte im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas und erklärten der Regierung Mexikos den Krieg. Das Freihandelsabkommen bedrohte ihr Überleben, da die Bauern gegen die Agrargiganten Nordamerikas keine Chance haben. Ihre Antwort war „¡Ya Basta!“ – Es reicht!

In den Jahren nach dem Abschluss des Abkommens veränderte sich die EZLN zu einer neuen Form politischer Organisation, die versucht, ihre Forderung nach einem besseren Leben in selbstorganisierter und basisdemokratischer Weise umzusetzen.

Wenn man heute, zwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten des Abkommens nüchtern auf die Entwicklungen blickt, dann sind die damaligen Befürchtungen allesamt eingetreten. Mit dem Freihandelsabkommen wurde nicht nur vielen mexikanischen Kleinbäuerinnen und -bauern die Existenzgrundlage genommen. Durch den faktischen Rückzug jeglicher öffentlicher Kontrolle und weitgehender Einschränkung demokratischer Mitbestimmungsrechte wurde bis heute eine gesellschaftliche Umgebung in Mexiko geschaffen, die die Rahmenbedingungen für die in Teilen des Landes vorherrschende Gewalt, Korruption und die dominierende Rolle der Drogenkartelle schuf. Der Verlust von Souveränität führt dazu, dass der Staat mit seiner Macht zum Werkzeug zur Umsetzung von Konzerninteressen wird.

NAFTA hat den Menschen in den Ländern der drei Vertragspartner kaum Vorteile, dafür aber viele Nachteile gebracht. Ähnlich wie aktuell bei TTIP wurden im Vorfeld – durch Auftragsstudien „belegt“ – Versprechungen über unzählige neue Jobs, die durch den Freihandel entstünden, gemacht. Eingetreten ist das genaue Gegenteil: Hunderttausende haben durch NAFTA ihre Jobs verloren. In Mexiko sind Sicherheits- und Gesundheitsstandards niedrig, durch den enormen Preisdruck globalisierter Märkte lassen sich Arbeitsrechte kaum durchsetzen und die Bildung von Gewerkschaften in den ausschließlich von transnationalen Konzernen betriebenen Maquiladoras im Norden Mexikos wird behindert oder findet gar nicht erst statt. In den Maquiladoras werden importierte Einzelteile weiterverarbeitet und für den Export in die USA oder Kanada zusammengesetzt. Die Betriebe arbeiten in zollfreien Produktionszonen die durch NAFTA besonders stark angewachsen sind. Die zum überwiegenden Teil weiblichen Beschäftigten arbeiten bei geringer Bezahlung unter oft unmenschlichen und gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Wochenarbeitszeiten von 60 Stunden sind nichts Ungewöhnliches, da der Andrang groß ist und es fast keine anderen Verdienstmöglichkeiten gibt.

Die Profiteure des Abkommens sind Investoren und Konzerne. Seit dem Inkrafttreten hat es viele Investorenklagen gegen Regierungen gegeben. Die Kosten zahlten die Menschen im jeweiligen Land. Und genau deshalb dient NAFTA als Mahnung, welche Folgen das derzeit verhandelte transatlantischen Freihandelsabkommen für die Bevölkerung haben wird.

(1) Das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (englisch International Centre for Settlement of Investment Disputes – ICSID) ist ein internationales Schiedsgericht mit Sitz in Washington, D.C., das zur Weltbankgruppe gehört. Es entscheidet und vermittelt vor allem bei Streitigkeiten im Rahmen von bilateralen Investitionsschutzabkommen.

(2) Fracking ist eine Methode die vor allem bei der Erdöl- und Erdgasförderung eingesetzt wird. Hierbei wird bei Tiefbohrungen eine chemische Flüssigkeit in den Boden eingepresst, um im Reservoirgestein Risse zu erzeugen, aufzuweiten und zu stabilisieren. Dadurch wird die Gas- und Flüssigkeitsdurchlässigkeit der Gesteinsschicht erhöht, damit Fluide wie Erdgas, Erdöl oder Wasser leichter zur Bohrung hin fließen können.

(3) EZLN ist die Abkürzung für Ejército Zapatista de Liberación Nacional (auf deutsch Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung). Sie ist eine überwiegend aus Indigenas bestehende Organisation in Chiapas, einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos und trat am 1. Januar 1994 mit einem bewaffneten Aufstand erstmals öffentlich in Erscheinung. Sie setzt sich seitdem mit politischen Mitteln für die Rechte der indigenen Bevölkerung Mexikos, aber auch generell gegen neoliberale Politik und für eine autonome Selbstverwaltung ein. Der Name beruft sich auf Emiliano Zapata, einen der historischen Führer der mexikanischen Revolution, in dessen Tradition sich die EZLN sieht. Daher werden sie auch Zapatistas (auf deutsch Zapatisten) genannt.

Legends of Leaks

Sommerlöcher haben ja die Angewohnheit, letztlich doch immer irgendwie gefüllt zu werden. In der Netzcommunity besorgten das diesen Sommer zwei alte Bekannte, die mit WikiLeaks im letzten Jahr in aller Munde waren. Ihr mediales Comeback erlebten sie nun im „Zickenkrieg“ (Fefe) und mit dem „Depeschen-Desaster“ (das ehemalige Nachrichtenmagazin). Doch der Reihe nach …

 

Herbst 2010: Die Internet-Plattform WikiLeaks machte mit immer skan­dal­trächtigeren Enthüllungen auf sich aufmerksam. Gründer Julian Assange geriet unter Vergewaltigungsverdacht, während sich der deutsche Sprecher Daniel Domscheit-Berg mit Kritik an Assanges autokratischem Stil und einer Festplatte ungeleakter Daten aus dem Staub machte. Diese hinterlegte er vertrauensvoll beim deutschen Chaos Computer Club (CCC), der sich um eine Übergabe kümmern sollte, sobald Assange die Sicherheit der Enthüllungsplattform wiederhergestellt hatte. Dazu kam es bis dato nicht, jedoch fanden sich kurz darauf die Daten im Internet wieder. Julian und Daniel beschuldigten sich gegenseitig des Vertrauensbruchs (und gerüchteweise der Ge­heim­dienstzusam­menarbeit) und ließen sich von den Medien in eine regelrechte Schlammschlacht treiben, aus der beide nur als Verlierer herausgehen konnten.

Während Assange sich wegen der Ver­gewaltigungsvorwürfe nach wie vor in britischem Auslieferungs-Hausarrest befindet, arbeitet Domscheit-Berg fieberhaft am neuen „Open­Leaks“ (eine Art toter Briefkasten, durch den Whistle­blower Dokumente direkt bei Open­Leaks nutzenden Medien anonym einreichen können). Das stellte er beim Chaos Communication Camp 2011 vor und rief die Hakcker_innen zum Testen auf. Im Grunde business as usual, jedoch war der CCC-Vorstand der Ansicht, Domscheit-Berg habe damit den Eindruck erweckt, der CCC würde mit „eine[r] Art Sicher­heits­über­prü­fung“ ein „CCC­­­­­-Gütesiegel“ vergeben und schloss ihn per Mehrheitsbeschluss vom Club aus, da Ansehen und Glaubwürdigkeit des CCC bedroht seien. Es bleibt zu vermuten, daß dies nur der sprichwörtliche Tropfen war, der das Fass des WikiLeaks-OpenLeaks-Zanks, in die der CCC mit hinein gezogen wurde, zum Überlaufen brachte. Doch mit soviel Zoff und Klatsch um die hochsensiblen Whistle­­­blower-Plattformen und deren Programmierer nicht genug, leckte auch WikiLeaks selbst und liefert Kri­ti­ker_innen neue Munition.

Beim „Leck im Leck“, dem (wahrscheinlich) unfreiwilligen Zugänglichmachen der US-Diplomaten-Depeschen, mangelte es den Enthüllern nämlich ziemlich an Professionalität. Julian Assange hinterlegte vor etwa einem Jahr für den Kontakt-Journalisten vom Guardian, David Leigh, eine Datei auf dem öffentlichen Wikileaks-Server, versteckt unter all den veröffentlichten Daten. Dazu gab er ihm ein Passwort, welches es um ein bestimmtes Wort an einer bestimmten Stelle zu ergänzen galt. Bei der Datei handelt es sich um die kompletten und unredigierten US-Depeschen, die von WikiLeaks und Medienpartnern wie dem Guardian in Auszügen schon veröffentlicht wurden. Die von Julian hinterlegte Datei enthält jedoch das gesamte Rohmaterial, u.a. die Daten von Infor­man­t_innen und anderen potentiell gefährdeten Personen. Die verschlüsselte Datei wurde im Zuge der Spiegelungen der Seite im November 2010 durch Wiki­Leaks-Sym­pa­thi­sant_in­nen (zum Schutz vor Attacken gegen die Plattform) weltweit mit verteilt und ist seitdem für jeder­mensch er­reich­bar. Aller­dings wusste bis En­de August 2011 niemand in der Öffentlichkeit, was sich in dem komprimierten Datenhaufen verbarg. Dann aber gab die Wochenzeitung der Freitag (Domscheit-Bergs Open­Leaks-Medienpartner) das Leck bekannt und setzte Hinweise auf das Passwort. Dieses wurde in kompletter Form vom Guardian-Journalisten in einem Buch als Kapitelüberschrift verwendet, offenbar in dem Unwissen darüber, daß es noch gültig war. Seitdem kann jede_r mit etwas For­schungswillen und Google-Kenntnissen die ehemals geheime, mit sensiblen Daten bestückte Datei auslesen. Darauf ging WikiLeaks in die Offensive und leakte seinerseits die unredigierten Depeschen, mit der Begründung, daß diese ja nun sowieso für jedermensch zugänglich seien und gefährdete Personen Monate Zeit hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Die Interpretationen, wie genau und warum es zu dieser Panne kam, ob (verschwörungstheoretisch gesehen) Absicht dahintersteckte oder es sich tatsächlich nur um eine Verkettung unglücklicher Unfähigkeiten handelte, bleiben dem geneigten Auditorium überlassen.

Und die Moral aus der Geschicht? Hacker und Kämpfer für die Informationsfreiheit, die sich in einem von den Medien angefachten Zickenkrieg gegenseitig denunzieren und diskreditieren, sorgen für einen Vertrauensverlust von – für diese Verhältnisse – epischem Ausmaß. So wie Wiki­Leaks für potentielle Geheimnis­ver­räter_innen nun passé ist, wird auch OpenLeaks mit Daniel Domscheit-Berg an der Spitze auf keinen grünen Zweig kommen. Glaubwürdigkeit bleibt auch im professionellen Geheimnisverrat das A und O. Doch es wird weitergehen mit dem Whistleblowing. Solange Regierungen versuchen, Geheimnisse zu wahren, solange wird es auch engagierte Menschen geben, die ans Tageslicht bringen, was wirklich auf den Etagen der Herrschaft passiert.

shy

Skandal.global

Zinsknechtschaft abschaffen!

Die Illusion vom monetären Widerstand

Aus dem wohl sozialkämpferischsten Land Europas, nämlich Frankreich, hört mensch ja immer wieder von außergewöhnlichen und drastischen Kampfmitteln des Proletariats. Auch dort gibt es allerdings Menschen, die sich nicht am Eigentum an den Produktionsmittel oder der „normalen“ Ausbeutung durch Arbeitgeber stören, sondern an der falschen Verwendung ihres Geldes Anstoß nehmen. Statt Streiks und „Bossnapping“ als geeignete Mittel des sozialen Kampfes zu nutzen, setzen sie dann Ideen wie die des „Bank Run 2.0“ in die Welt.

Die Initiative Stopbanque rief seit Oktober 2010 mit Slogans wie „Bankencrash 2.0 – Jetzt kommen die Bürger!“ dazu auf, am 7. Dezember 2010 gleichzeitig und massenhaft Geld abzuheben und Sparkonten zu schließen. Nach Angaben der Initiatoren sollten Banken in die Zahlungsunfähigkeit getrieben und so der entscheidende Anstoß zu einer Bankenkrise gegeben werden, die schließlich im Fall des gesamten Systems enden sollte. Ins Leben gerufen von drei Franzosen, verbreitete sich die Idee recht schnell. So wurden in kurzer Zeit über Facebook-Gruppen, Ketten-Emails, Blogbeiträge und einige Zeitungsberichte in 15 europäischen Ländern geschätzte 480.000 Menschen angesprochen und von den Initiatoren direkt als potentielle Bankencrasher_innen gezählt.

Am Stichtag war jedoch weit und breit nichts von einem Bankensturm zu sehen. Die heißersehnte Befreiung von der „Sklaverei des Großkapitals“ blieb aus. Es kam erwartungsgemäß zu keinen nennenswerten Liquiditätsengpässen bei europäischen Banken. Nur symbolisch lässt sich hier und da Erfolg verbuchen. Dies bleibt weit hinter den Erwartungen des populärsten Fürsprechers der Aktion, dem französischen Ex-Fußballstar und Schauspieler Éric Cantona, zurück, der von drei Millionen Teilnehmern allein in Frankreich sprach, die so die Revolution „ganz einfach umsetzen“ sollten. Doch was ist grundsätzlich dran an der Idee, durch massenhaftes Abheben von Sparguthaben Banken in die Insolvenz zu treiben und sich so der „reale[n] Macht […] internationaler Banken und Konzerne“ zu entledigen?

Die Ideologie

Bei den Aktionisten von Stopbanque liegt zunächst einmal das altbekannte Bild des guten schaffenden und schlechten raffenden Kapitals zugrunde. Das Geld, als Zahlungsmittel, mit welchem wir einen kleinen Teil der Waren erwerben können, von denen wir qua Eigentumsordnung zunächst ausgeschlossen sind, ist für die Leute von Stop­banque erstmal kein Problem. Auch die Aus­beutung durch Lohn­arbeit, das einzig verwertbare Eigentum der meisten Menschen, durch welches sie erst an dieses Mittel kommen, bleibt unbeachtet. Gegenstand der Kritik sind hingegen die Banken und die „Sklaverei, die uns vom Gross­kapital auferlegt wurde“. Geld wird also erst dann zum Problem, wenn es in den Händen einer „staatenlosen und egoistischen Elite“ nicht zum Wohle des „recht­mässigenVolkes“ verwendet wird, sondern „allein aus kapitalistischem Interesse heraus“. Woraus dieses kapitalistische Interesse genau besteht, außer aus Geld mehr Geld machen zu wollen, so wie jede_r gemeine Zinsparer_in, das wird hingegen verschwiegen. Die „abgehobenen Eliten“ jedoch haben laut Stopbanque „die reale Macht“ und raffen mit ihrem Bankensystem, was das Zeug hält. Geld sollte also moralisch verantwortlich im Sinne der Gesellschaft verwendet werden, nicht von einigen Habgierigen egoistisch und gesellschaftsschädlich. So moralistisch wie die Kritik an der Raffgier ist (Gewinn ist ok, aber doch bitte nicht zuviel!), so wenig taugt sie zur Analyse und schließlich zur Bekämpfung „des Systems“. Diese Personalisierung des Problems ist ein altes und schwer zu beseitigendes Problem einer Ka­pi­tal­ismuskritik, die sich mehr aus den vermeintlichen Verfehlungen Einzelner speist, als aus einer Kritik an den strukturellen Gegebenheiten der kapitalistischen Ökonomie. Das Eigentum (an Produktionsmitteln), mit dem große Kapitalmengen erst möglich wurden, bleibt als Grundlage des Kapitalismus von den Aktionisten unangetastet. Mit Aussagen wie, der „Finanzmarkt dien[e] lediglich noch dem Abzug von Geld aus der Realwirtschaft“ und würde nur der Bereicherung Einzelner dienen, konstruiertStopbanque auf der Suche nach Schuldigen eine geheime, herrschende Elite und das von ihnen geschaffene aus­beuterische (Geld)System. Bei solch platten Schuldzuweisungen ist es freilich auch kein Wunder, daß zu den Unterstützern der Aktion gerade namhafte Ver­schwörungsblogs wie Infokriegernews, Alles Schall und Rauch und Seelenkrieger zählen.

Der Bankensturm

Die Vorstellung des „Bank Run“ und der darauffolgenden Bankenpleite ist erfolgversprechend, doch die zu erwartetenden Folgen sind realistisch betrachtet alles andere als revolutionär. Angenommen, durch Massenabhebungen an einigen Banken kommt es tatsächlich zum Herdenverhalten der restlichen Anleger, nicht revolutionsbestrebten Kund_innen, also zu einem echten Bank Run in Milliardenhöhe und folglich der Zahlungsunfähigkeit der Banken. Was dann passiert, ließ sich 2008 als Auswirkung der weltweiten Finanzkrise beispielhaft beobachten.

Wenn keine Käufer für die insolventen Banken gefunden werden können, springt der Staat selbst ein und sorgt für die (zumindest teilweise) Deckung der Einlagen. Als letztes Mittel werden die Unternehmen verstaatlicht, wie es 2008 der Northern Rock in Großbritannien und der IndyMac Bank in den USA geschah. Der deutschen Hypo Real Estate griff der Staat mit insgesamt gut 102 Milliarden Euro unter die Arme, da eine Verstaatlichung wahrscheinlich noch weitaus teurer gekommen wäre.

Damit wirtschaftswichtige Banken vor dem Zusammenbruch bewahrt werden können, schuf man 2009 hierzulande die gesetzliche Grundlage für die Notverstaatlichung, die im sogenannten „Finanzmarktsta­bi­li­sierungsergänzungsgesetz“ festgeschriebene Enteignung der Aktionäre. Zudem gab die Bundesregierung schon 2008 eine Staatsgarantie auf Spareinlagen von privaten Anlegern (in der Summe immerhin 568 Milliarden Euro), um nervöse Sparer vom Bank Run abzuhalten. Viel Geld und ein wenig Marktfreiheit lässt die Politik es sich also kosten, damit alles so weiterläuft wie bisher. Kosten, die im Fall einer Krise schließlich auf die gesamte Bevölkerung umgelegt werden und Verstaatlichung, die keineswegs ein Schritt Richtung Sozialismus ist. Nach der Sanierung maroder Banken werden diese wieder privatisiert, was letztlich ein Gewinngeschäft für die Banker darstellt, für alle anderen jedoch mit finanziellen Einschnitten verbunden ist.

Der Aktivismus

Die Stopbanque-Aktion ist übrigens nicht die erste und einzige „ökonomische Kriegsführung“ dieser Art. Immer mehr Menschen sehen in ihrem Geldvermögen das einzige Mittel, um etwas gegen die Großen, von de­nen sie geschröpft werden, zu unter­nehmen.So etwa Jean Anleu aus Guatemala, der zum Geldabheben gegen die seiner Meinung nach korrupte Bank Banrural aufrief. Anleu wurde prompt wegen subversiver Tätigkeit verhaftet, ihm drohten wegen Untergrabung des öffentlichen Vertrauens in das Bankensystem Guatemalas bis zu fünf Jahre Haft. Er kam zwar dank mangelnder Beweisführung wieder frei, doch zeigt dieses Beispiel, wie entschlossen ein Staat auch gegen solche Aktivisten vorgehen kann, fühlt er Teile der kapitalistischen Ökonomie bedroht.

Auch Max Keiser, der die Kampagne „Crash JP Morgan, buy silver“ initiierte, hat ein Problem mit unlauteren Geldinstituten. Um gegen die Spekulationen und offensichtlichen Silberpreis-Manipulationen großer Banken wie JPMorgan Chase & Co. zu kämpfen, ruft der ehemalige Broker zum Kauf physischen Silbers auf. Silber ist einer der wichtigsten global gehandelten Rohstoffe und eignet sich aufgrund seiner Knappheit hervorragend zur Spekulation, zumal JP Morgan ca. 90% dieses Marktes kontrolliert.

„Der Kauf von Silber ist der Weg, wie die Welt ihre Wut gegen die Banken mone­tarisieren kann, die ihr das Vermögen gestohlen haben“, so Keiser in seinem 8-Punkte-Manifest. Kaufen sehr viele Menschen sehr viel Silber, so geriete die Großbank in einen „kolossalen Lieferengpass“ und würde ohne ihren Spekulationsrohstoff „crashen“. Vergessen wird auch hier allerdings wieder die staatliche Intervention, die dann höchst­wahrscheinlich für systemrelevante Unternehmen ins Spiel kommt.

Doch treibt die meisten Aktionist_innen gar nicht eine Analyse des kapitalistischen Marktes zum widerständigen Silberkauf oder der Kontoräumung als Mittel der Revolution. Dem monetären Aktivismus liegt vielmehr die einfach gestrickte Feindschaft zum besonders unmoralischen Verhalten der Banker oder der verteufelten Funktion des Zinses zugrunde und weniger die Ablehnung von Geld und Eigentum bzw. dem daraus resultierenden Kapital(ismus) an sich.

Daß die überwiegend Geld- und Machtlosen dieser Gesellschaft, das klassische Proletariat, für ihre Befreiung gerade zum Geld greifen, wirkt da schon fast satirisch. Ist dieses doch genau das Mittel, das ihre Ausbeutung funktionieren lässt und die Verhältnisse von Arm und Reich manifestiert. So betrachtet wirken Aufrufe wie Stopbanque eher wie der Hilfeschrei einer sich selbst unbewussten Klasse. Unbewusst ihres eigenen, tatsächlich vorhandenen, sehr viel mächtigeren Machtmittels – ihrer Arbeitskraft. Denn nicht das Geldabheben bringt das System zu Fall … sondern nur der gute alte Streik.

(shy)

New World Disorder?!

WikiLeaks als radikale Gegenöffentlichkeit – Kinderkrankheiten einer großen Idee

Bemüht mensch zur Zeit einmal Google zur Suche nach „wikileaks“, so werden über eine halbe Milliarde Ergebnisse angezeigt. Das ist mittlerweile mehr als ein gewisser „god“ und zeigt die enorme Popularität eines Projektes, das angetreten ist, um die Welt zu revolutionieren.

Seit unserem Artikel im letzten Heft, wo wir von spektakulären Veröffentlichungen des Projekts und sich abzeichnender struktureller Schwächen berichteten, hat sich viel getan. Zur Erinnerung: WikiLeaks, das ist die Webseite, die vor der Öffentlichkeit geheimgehaltene Dokumente von sogenannten Whistleblowern (also Geheimnisverrätern mit ethischer Absicht) entgegennimmt, auf Echtheit prüft und veröffentlicht. Wie beim jüngsten, noch laufenden Leak geschieht dies immer mehr in Zusammenarbeit mit etablierten Medien wie dem Spiegel, der New York Times oder dem Guardian. Die kooperierenden Zeitungen übernehmen dabei die logistisch notwendige Aufbereitung der enorm großen Datensätze und filtern die ihrer Meinung nach für die Öffentlichkeit bedeutsamen Teile heraus. Dazu gehören bei modernen Medienunternehmen natürlich vor allem die aufsehenserre­gendsten und gewinnträchtigsten Schlagzeilen, die sie so exklusiv nutzen können. Ob diese Zusammenarbeit jedoch Segen oder Fluch für den Whistleblowerdienst und sein Ideal der Informationsfreiheit ist, wird sich zeigen. Davor stehen allerdings noch einige ungelöste strukturelle Fragen, die für die unmittelbare Zukunft WikiLeaks’ von enormer Bedeutung sind.

One Man-Show?

Kurz nach der Veröffentlichung unseres ersten Artikels brachen sich die internen Zwistigkeiten bei WikiLeaks Bahn und erreichten mit der etwa einmonatigen „Sus­pendierung“ des deutschen Sprechers eine neue Stufe. Daniel Domscheit-Berg, wie der Aktivist mit richtigem Namen heißt, kritisierte grundlegend die strukturellen Schwächen WikiLeaks’, sowie die in seinen Augen einseitige Fokussierung der Veröffentlichungen. Damit traf er augenscheinlich wunde Punkte beim „Chef“ Julian Assange. Der habe jedoch „auf jede Kritik mit dem Vorwurf reagiert, ich würde ihm den Gehorsam verweigern und dem Projekt gegenüber illoyal sein“, so Domscheit-Berg. Assange sperrte dessen WikiLeaks-Mail und suspendierte ihn so de facto von seiner Arbeit. Nachdem er Domscheit-Berg auch noch mit „Wenn Du ein Problem mit mir hast, verpiss Dich“ die Richtung wies, sah dieser sich endgültig gezwungen, mit dem Projekt zu brechen. Womit auch die Machtfrage und die Diskussion um strukturelle Schwächen in die Öffentlichkeit getragen wurde, wenn­gleich kaum konkretes aus dem Bunker WikiLeaks nach außen drang.

Eine Diskussion ums Ganze, wenn man bedenkt, daß Unterstützungsangebote von gut 800 Programmierer_innen liegen bleiben mussten, weil keine Struktur zur Einbindung neuer Mitarbeiter_innen vorhanden war. WikiLeaks wuchs zu schnell, zu unorganisch, v.a. weil die meisten Kräfte bei der Veröffentlichung der großen, medienträchtigen Scoops gebunden waren, statt sich mit organisatorischen Problemen zu beschäftigen. Domscheit-Berg erkannte die Dringlichkeit systemischer Fragen und wäre einen anderen Weg gegangen, sprach sich ebenso für eine „diskriminierungsfreie“ Abarbeitung der Einsendungen aus: „Aber diese eindimensionale Konfrontation mit den USA ist nicht das, wofür wir angetreten sind. Es ging uns immer darum, Korruption und Missbrauch von Macht aufzudecken, wo auch immer sie stattfinden, im Kleinen wie im Großen, auf der ganzen Welt“, sagte er im Interview mit dem Spiegel. Assange hingegen sprach an gleicher Stelle schon im Juli Klartext: „Am Ende muss einer das Sagen haben, und das bin ich“. Das äußert sich in den letzten großen Enthüllungen, den sogenannten Scoops, die sich allesamt mit Assanges Lieblingsfeind, den USA, beschäftigen. „Den Mächtigen in die Suppe spucken“ war und ist dabei die Hauptintention (1) des WikiLeaks-Gründers, der sich zur Zeit ausschließlich die letzte Supermacht vornimmt und dafür wichtige organisatorische Fragen sowie andere Leaks vernachlässigt.

Nach dem Collateral-Murder-Video, in dem Erschießungen irakischer Zivilisten durch US-Streitkräfte zu sehen waren, und dem afghanischen und irakischen „Kriegstagebuch“, das etwa 77.000 bzw. 391.000 militärische Dokumente der USA und ihrer Verbündeten umfasste, begann WikiLeaks am 28. November 2010 unter dem wohlklingenden Titel „Cablegate“ mit der schrittweisen Veröffentlichung einer Sammlung von etwa 250.000 US-Botschafts-Depeschen. Darunter sind ca. 15.000 als geheim und 100.000 als vertraulich eingestufte Berichte von Botschaftsmitarbeiter_innen, die aufgrund ihrer Offenheit die diplomatischen Beziehungen zu vielen Ländern wahrscheinlich dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen werden. Julian Assange kündigte an, daß dies nur der Auftakt sei. Als nächstes nehme sich WikiLeaks die Wirtschaft vor. Eine große US-Bank soll das Ziel des bald folgenden Scoops sein. Vor lauter skandalträchtigen Enthüllungen wird mensch in Zukunft wohl gar nicht mehr zum Nachdenken über die strukturellen Probleme des Projektes kommen. Denn die bestehen nachwievor und werden sich durch Assanges Führungsstil auch nicht gerade verbessern.

Durch diese öffentlichkeitswirk­samen Leaks und den folgenden rasanten Popularitätsanstieg ist der Whistle­blower jedoch der zunehmenden Flut von Dokumenten nicht mehr gewachsen. WikiLeaks gerät in personelle Schwierigkeiten, zumal mit Domscheit-Bergs Ausstieg auch einige andere, die sich mit dem fast schon autokratischen und selbstherrlichen Verhalten des Gründers nicht arrangieren konnten oder wollten, dem Projekt den Rücken kehrten. Davon abgesehen, daß die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehende Persönlichkeit Assange nicht die besten Voraussetzungen bietet, um ein gemeinschaftliches Projekt zu betreiben, in dem letztlich nur er die Fäden in der Hand hält, werden die Ziele, die es neben den Datenbefreiungen zu meistern gilt, völlig übersehen. Dem ausgeschiedenen Daniel Domscheit-Berg bspw. liegt weiterhin sehr viel an einem besseren rechtlichen Schutz für zivilcouragierte Whistleblower und Journalisten, an der effizienten Aufbereitung und Qualitätssicherung der Veröffentlichungen sowie an Transparenz der Initiativen.(2)

Die rechtliche Seite ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Innerhalb der Konkurrenz der Nationalstaaten und ihres zu schützenden Wirtschaftssystems wird es immer Geheimniskrämerei und das Interesse nach Wahrung dieser Geheimnisse geben. Ein umfassender Schutz für Whistleblower ist so systembedingt ausgeschlossen. Domscheit-Berg hofft auf den Weg der Reformen, um aus der jetzigen schmutzigen Demokratie eine transparente, ehrliche, lebenswerte zu machen. Dies ist im Kapitalismus jedoch nicht zu bewerkstelligen. Das Gesetzesvorhaben einiger US-ame­ri­ka­nischer Politiker SHIELD (3) macht den Widerspruch deutlich. Trotz der verfassungsmäßig verbrieften Rede- und Pressefreiheit und einem im internationalen Vergleich sehr progressiven Whistle­blower-Gesetz der USA werden Projekte wie Wiki­Leaks doch wieder hart bekämpft, wenn es um die nationale oder wirtschaftliche Sicherheit geht. Hinzu kommen ge­heim­dienst­liche Bestrebungen, wie ein geleaktes CIA-Dokument zur Bekämpfung Wiki­Leaks’ deutlich aufzeigt. (4) Kommt ein Staat in Bedrängnis, so schlägt er mit eiserner Faust zurück. Dann zeigt sich das wahre Gesicht der vielgepriesenen Freiheit.

WikiLeaks als Organisation hat also noch einiges vor sich und sollte sich nicht scheuen, den ursprünglich eingeschlagenen Weg des klandestinen Netzwerks weiter zu gehen. Die strukturelle Transparenz muss dabei auch nicht im Widerspruch zur Anonymität stehen. Die außerordentliche Vorbildfunktion für die neue Generation des Informationszeitalters sollte jedoch keines­falls ungenutzt bleiben.

Die von einer Elite vertretene und stellvertretende Informationsfreiheit wirkt aller­dings nicht aufklärend im Sinne einer emanzipativen Gesellschaft. Was WikiLeaks noch fehlt, ist das Zeigen von Verantwortung und Transparenz.

Wie weiter?

Mit der kürzlichen Verhaftung von Assange durch die Londoner Polizei könnte sich jedoch einiges ändern. Die schwedische Justiz beschloss einen europäischen Haftbefehl (5), um Assange habhaft zu werden. Der soll im wiederaufgenommenen Fall der (mittler­weile nur noch „weniger groben“) Vergewaltigung in Stockholm aussagen. So stellte er sich am 7. Dezember in Großbritannien und ist bis dato quasi in Auslieferungshaft. Wahrscheinlich nutzte er die letzte Zeit in Freiheit, um seinen Anteil an WikiLeaks zu übergeben und Vorkehrungen für die Wei­ter­verbreitung der Veröffentlichungen zu treffen. Es wird sich also zeigen, ob WikiLeaks auch ohne Julian Assange weiter auf große Enthüllungen setzt, wobei Struktur- und Nachwuchsfragen zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Und etwas größenwahnsinnig mutet es an, wenn mensch sich die großspurige Ankündigung des laufenden Cablegate-Scoops via Twitter ansieht: „The coming months will see a new world, where global history is redefined.“

Kein Zweifel, WikiLeaks schreibt wahrlich Weltgeschichte. Der große Umbruch, politischer und gesellschaftlicher Art, steht uns bevor. WikiLeaks, als eine der Speerspitzen in der großen Schlacht um die Datenfreiheit, ist dabei Avantgarde und Kanonenfutter zu­gleich. Doch die One-Man-Show Julian Assange ist anfällig, bringt als Projektionsfläche Geheimdienste, Wirtschaft und sogar Me­dien gegen sich auf. So sperrte der Dienstleister everydns.net die Domain wikileaks.org (6), Amazon verbannte die Seite von seinen Servern (7), PayPal, Mastercard und VISA sperrten die Spendemöglichkeit über die Wau-Holland-Stiftung (7) und Assanges Schwei­zer Konto bei der PostFinance wurde gekündigt (8). Politiker, Journalisten und Juristen greifen das Projekt und seinen Vorsteher scharf an. Vor allem die Beihilfe zum Ge­heimnisverrat und die daraus folgenden na­tionalen Sicherheitsprobleme werden Wiki­Leaks vorgeworfen. Sogar offene Rufe nach der Tötung von Julian Assange werden laut. (9)

Andererseits ist eine enorme Solidarität im Internet zu beobachten. Hacker legen Seiten der Bezahldienste lahm und attackieren Regierungsstellen. Gerade Piratenparteien in vielen Ländern, aber auch hunderte anderer Projekte und Einzelpersonen auf der ganzen Welt spiegeln die komplette Webseite (10) oder die Daten und stellen so die Erreichbarkeit trotz aller Angriffe sicher. Der Streisand-Effekt setzt ein, die versuchte Unterdrückung schlägt in das Gegenteil um und ein Wettlauf um die größte und sicherste Verbreitung WikiLeaks’ und seiner Daten hat begonnen.

(shy)

(1) Ein guter Artikel über Assanges „Krypto-Anarchismus“ und seine Idee WikiLeaks findet sich hier: www.sueddeutsche.de/digital/wikileaks-gruender-julian-assange-der-gegenverschwoerer-1.1031477
(2) Konkret arbeitet er zusammen mit anderen schon an der Weiterentwicklung des WikiLeaks-Gedankens, einem dezentralen System von sicheren elektronischen Briefkästen, mit dem Namen „Openleaks“ und schreibt ein Buch über seine Zeit bei WikiLeaks.
(3) Mit dem am 3. Dezember 2010 eingebrachten Gesetzesvorhaben SHIELD (Securing Human Intelligence and Enforcing Lawful Dissemination) sollen alle Veröffentlichungen unter Strafe gestellt werden, die US-Agenten oder -Informanten gefährden könnte oder sonst irgendwie gegen die nationalen Interessen gerichtet sind.
(4) Im geheimen Papier wird die Gefahr, die von WikiLeaks ausgeht, eingeschätzt und Strategien – wie Bloßstellung von Informanten und Mitarbeitern – gegen die Plattform erörtert.
(5) Der europäische Haftbefehl (beschlossen im Juni 2002) sollte ursprünglich nach dem 11.September in Europa der Terrorismusbekämpfung dienen und kann u.a. bei Umweltkriminalität, Cyberkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Betrug, Kraftfahrzeugkriminalität oder „Nachahmung und Produktpiraterie“ erlassen werden. Es wird auch „ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit“ ausgeliefert.
(6) offiziell aus Angst vor – erfolgten und weiter zu befürchtenden – DDoS-Angriffen um die eigenen Server (beim Distributed Denial-of-Service-Angriff wird durch massenhafte Anfragen der Server einer Webseite in die Knie gezwungen und die Seite ist unerreichbar)
(7) jeweils wegen der Unterstützung illegaler Handlungen seitens WikiLeaks
(8) hier wurde mit der falschen Angabe des Wohnortes argumentiert
(9) Der Republikaner Mike Huckabee (ehem. Gouverneur von Arkansas), US-Radiomoderator Jeffrey T. Kuhner und Tom Flanagan (Professor für Politikwissenschaft und ehem. Stabschef des kanadischen Premierminister) bspw. fordern offen die Tötung von Assange. Sarah Palin (ehem. Gouverneurin von Alaska) gibt sich verhältnismäßig moderat und vergleicht Assange „nur“ mit Terroristen wie Osama bin Laden und fordert ein angemessenes Vorgehen.
(10) Unter der IP 213.251.145.96 ist WikiLeaks z.Z. noch zu erreichen, unter www.wikileaks.ch/mirrors.html findet mensch Links zu den über tausend Spiegelungen der Seite

Taler, Taler, Du mußt wandern…

…von der einen Hand zur andern. Warum die Banken überschuldet sind

Wer nicht völlig medienabstinent lebt, hat es längst er­kannt: Die Weltwirtschaft be­­findet sich in einer Krise, welche vom Aus­maß die New-Economy-Blase weit über­steigt und von selbsternannten Ex­perten inzwischen häufiger mit dem „Schwarzen Freitag“ von 1929 verglichen wird. Es ist längst nicht absehbar, wie lan­ge noch Betriebe verramscht, Arbeits­kräfte „weg­rationalisiert“ und von den National­regierungen Konjunktur­förder­programme ini­tiiert werden müssen, ehe ein Ende der Krise absehbar wird. Solche Spekulations­blasen, die im globalisierten Finanzmarkt­kapitalismus, wo ein Räd­chen ins andere greift, von Zeit zu Zeit unvermeidlich sind, offenbaren aber auch Handlungs­mög­lichkeiten, die zur Über­windung des Systems beitragen können. Aus Platzgrün­den kann hier leider nicht genauer auf den Wandel der Welt­wirtschaft oder den Fetischcharakter des Kapitals einge­gangen werden, vielmehr präsentiere ich hier einen Über­blick über die Geschehnisse des ver­gangenen Jahres, für Menschen, aus revolutionärer Weitsicht oder trotziger Existenzeuphorie keine Wirtschaftsnachrichten mehr konsumieren

Der Faktor „Vertrauen“

Das gab es in Europa seit den 30er Jahren nicht mehr: Tausende britische Klein­sparerInnen standen im September 2007 tage­lang vor Filialen der Bank Northern Rock an, in der Absicht, ihr Geld vor der sich abzeichnenden Pleite des klammen Kre­ditinstituts zu retten (sogenannter „bank-run“). Dabei waren ihre Spar­ein­lagen angeblich gar nicht ge­fährdet, denn per Gesetz sind die Banken ver­pflichtet, Rücklagen (in Form eines Ein­lagen­sicherungsfonds) in einer Höhe zu bilden, welche die Sicherheit sämtlicher Spar­buchguthaben auch im schlimmsten Falle gewährleistet. Die vielen kleinen Ar­beiter_innen haben Northern Rock den Todesstoß versetzt, weil der Hypotheken­fi­nan­zierer nach Medienberichten in Zah­lungs­schwierig­keiten steckte. Daran waren nicht einmal in erster Linie Manage­mentfehler schuld, sondern vor allem das Miss­trau­en der anderen Banken, die aus Mangel an eigener Liquidität keine Kre­dite an Hypothekenbanken mehr verge­ben wollten und deshalb den Geldhahn ab­drehten. Dieses Beispiel zeigt exem­pla­risch, wie der Kapitalismus Rendite schafft: Geld, das zu Hause im Spar­strumpf liegt, ver­mehrt sich nicht, es muss da­her ständig von einer Hand zur nächs­ten gereicht werden. Kreditinstitute leihen sich enorme Summen voneinander, in der Hoff­nung, noch einen Dümmeren zu fin­den, dem sie zu einem noch höheren Zins­satz das Geld weiter­borgen können. Weil aus Profitgier diese Summen das Eigenka­pital der Banken in der Regel um ein Viel­faches übersteigen, ist so der Kreislauf schnell durchbrochen. An irgendeiner Stelle entsteht plötzlich Zahlungsunfähig­keit und durch das Miss­trauen der Anderen hortet jeder im großen Maßstab Geld. Dies ist bei allen ins Trudeln geratenen Kreditinstituten des letzten Jahr­­­es der Fall gewesen – einer langen Euphorie­phase folgte das böse Erwachen.

Der Auslöser: Vom eigenen Wachstum berauscht

Die Quelle des letzten Erdrutsches ist wie schon so oft in den USA zu verorten und machte sich zuerst darin bemerkbar, dass viele ein­kommensschwache Hypothek­en­zahler in den Vereinigten Staaten ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten oder woll­ten, weil die Grundstückspreise (und da­mit auch die Hypothekenraten) kon­ti­nu­ierlich stiegen sowie die Ein­kommen (v.a. in­fla­­tionsbedingt) sanken. Das Wachs­tum der Profite hatten die Banken und die Zwischenhändler nämlich dadurch noch zu verstärken versucht, indem sie mit durch­trie­­be­nem Eifer massenhaft Kredit­karten und Hypo­theken­kredite an die Bürger_innen brachten, weil diese nur zu gerne an das Versprechen vom ewig anhaltenden Wachstum glauben wollten. Manche Institute hatten sich darauf spezialisiert, Kredite an Kun­den mit geringer Zah­lungs­fähigkeit zu ver­leihen, zu enormen und zugleich variablen (d.h. risiko­abhängigen) Zinsen, häufig ohne jegliche Prüfung wie vertrauens­würdig die Kredit­nehmer sind. Oft konn­ten diese aber nicht einmal die zweite Ra­te zah­len. Das ging einige Zeit gut, weil die Wirt­schaft wuchs, der Leitzins niedrig war und die Immo­bilienpreise stiegen. Die Hypo­thek schien auf dem Papier durch den errech­net­en Wert der Immobilie ge­deckt, die Kredit­geber konnten also damit rechnen, dass im Fall einer Insolvenz des Schuldners zumindest kein Verlust ent­stünde. Zu­nächst gab es zwar nur wenige In­solvenzen, aber das Risiko für die Ban­ken erhöhte sich dadurch ständig. Also wurden die Zinsen auch für die übrigen Hypo­thekenzahler er­höht. Darauf jedoch folgte eine Lawine von Zahlungs­un­fähigkeiten, Zwangsvoll­streckungen und Kauf­kraft­ver­lusten – die Grenze war überschritten. Als die Klein- und Mittelverdiener dann reihenweise über­schuldet waren, ordneten die Gläu­bi­ger wegen der sin­ken­den Grund­stückspreise – was Zwangs­versteige­rungen unrentabel machte – die Schuldbe­tei­li­gun­gen vielfach neu und verteilten sie auf verschiedene Fonds, die von Rating­agen­turen je nach Risiko mit bestenfalls ima­gi­nären Real­werten ge­schätzt wurden. Die Fonds, in denen solche höchst riskanten Immo­bilienspeku­lationen zu­sammen­gefasst sind, wurden munter weiter­verschachert und die eigene Sta­bilität dabei zu hoch bewertet, weil die jeweiligen Be­tei­ligungen in hohem Maße als sicher betrachtet und daher in den Quartals­bilanzen viel zu niedrige Verluste abge­schrie­ben wurden. Der IWF (Inter­nat­io­nal­er Währungs­fonds) schätzte die weltweiten Ab­schreibungen der Finanzins­titute allein bis April 2008 auf 603 Milliarden Euro. Eine der Folge davon ist zum Beispiel, dass derzeit häufig unklar ist, wie mit den Grund­stücken wei­ter verfahren wird, weil die Besitz­ver­hältnisse so weit gestreut sind. Es liegt nun in der „Natur der Sache“, dass auch euro­päische und deutsche Finanzins­titute gierig genug waren, in den ver­lock­enden US-Immo­bilienmarkt zu investieren. In kurzer Folge ge­rieten deshalb hierzulande unter anderem die IKB Deutsche Industrie­bank und die Sachsen LB in Zahl­ungs­schwie­rigkeiten, die Deutsche Bank, Bayern LB, West LB und un­zählige andere wiesen Verluste in Milliardenhöhe aus, zum Teil jetzt schon das vierte Quartal in Folge. In Spanien et­wa sind die Auswirkungen noch größer, weil sich der inländische Immo­bi­lien­markt als noch größere Blase erwiesen hat: mit gut 18 Prozent Anteil am BIP war der Bau­sektor wichtiger für die Konjunktur als die In­dustrie (13 Prozent). Wegen der güns­tigen Zinsen wurde hier in den letzten zehn Jahren mehr gebaut als in Doitsch­land, Frank­reich und Italien zusammen. Das Land ist stark verschuldet und weist der­zeit ein Handelsbilanzdefizit von rund zehn Prozent aus, Inflation und Arbeits­lo­sigkeit sind auf Rekordhoch.

Abhilfe?

Sobald eines der Kreditinstitute zu stark ins Trudeln geriet, war für die Reg­ierungen klar, dass hier die Steuerzahler einspringen müssen und mittels Sofor­t­hilfe der Euro­pä­isch­en Zentralbank (EZB) die Unter­nehmen zu retten hätten. In den USA übernahm diese Aufgabe die Federal Reserve Bank (FED), welche so viel neues Geld verteilt hat, dass von einer haus­gemachten Inflation gesprochen werden muss. Dieser Umstand entlarvt die un­seri­öse Konstruktion des „Finanz­markt­kapitalismus“, der im Prinzip genauso wie ein Kettenbrief/Pyramiden­spiel funk­ti­oniert. Irgendwann ist der Zeitpunkt er­reicht, wo sich die Summen, die zu steigenden Zinssätzen weiter­verliehen werden, eben nicht mehr steigern lassen und das Platzen der Spekulations­blase unvermeidlich wird. Es wird ruckartig weniger investiert, was ein Stagnieren oder gar Schrumpfen der Gesamtwirtschaft zur Fol­ge hat, die Arbeitslosigkeit wächst, die Kauf­kraft sinkt und die Wirtschaft schrumpft weiter. Die Herangehensweise in den USA unterscheidet sich jedoch von derjenigen der EZB: Die FED hat das Zinsniveau gesenkt, um den Banken zu helfen, sich aus dem Dilemma raus­zukaufen, das Außen­handelsbilanzdefizit niedriger erscheinen zu lassen und die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken, nimmt dabei aber Hyperinflation und Überschuldung in Kauf. Mensch befindet sich also im Ausverkauf, alles wird ver­ramscht, damit wenigstens der Geldfluss nicht zu sehr ins Stottern gerät. Die EZB sah sich seit ihrer Gründung 1998 vor allem der Ein­dämmung der Inflation verpflichtet und erhöhte daher die Zinsen, was die Kon­junktur abwürgt und die Menschen finan­z­iell immer schlechter dastehen lässt. Dafür kann die Liquiditätskrise nicht mehr so leicht auf andere Branchen übergreifen. Dem Aktienmarkt hat das freilich nicht geholfen, so fiel etwa der DAX, der im Juni 2007 noch ein Allzeithoch von 8.100 Punkten erreicht hatte, innerhalb von nur einem Jahr auf knapp über 6.000 Punkte. Anders ausgedrückt, die 30 wichtigsten deutschen Aktien­unter­nehmen haben in einem Jahr ein Viertel ihres Wertes verloren.

Das zeigt überhaupt das Dilemma der angeblichen „Führungsfiguren“ weltweit auf: In einem System der freien Markt­wirt­schaft ist der politische Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung marginal, eigent­lich kaum messbar. Präsident_innen können jedoch mit Hilfe ihrer Verlautbarungen das Konsumverhalten der Bevölkerung be­einflussen, indem sie Vertrauen in die Zukunft des eigenen Standortes erzeugen. Das erscheint ihnen sinnvoller, als den von Arbeitsplatzverlust, Lohnkürzungen oder Zwangsversteigerung betroffenen Men­schen finanzielle Linderung zu verschaffen und so die Kaufkraft der breiten Be­völkerung zu stärken. Und wie die aktuelle Krise wieder einmal beweist, erreichen die staatlichen Hilfen nur jene, die zuvor völlig verblendet Unsummen (die ihnen nicht einmal gehörten) in hoch­spekula­tiven Investments verzockt haben. Mitt­ler­weile rechnen sogar hochrangige EZB-Vertreter damit, dass das Schrumpfen der Wirtschaft in Europa bis Mitte 2009 anhalten wird. Weil es um die Volks­wirtschaften in den USA und Japan noch schlimmer bestellt ist, wird auch der Exportweltmeister Doit­schland die Folgen noch viel stärker als bisher zu spüren bekommen.

Ankämpfen!

Wer nun denkt, mit der Einführung einer Kapitalertragssteuer für Risikogeschäfte wie der Tobin-Steuer, wie es vor allem von attac beworben wird, könnte das Problem eliminiert werden, glaubt sicher auch, dass das Verbot von Alcopops für Minder­jährige verhindert, dass Jugendliche Alkohol trinken. Zum einen würden von der Tobinsteuer nur Devisenspekulationen begrenzt, die aber ohnehin nur einen sehr geringen Teil der Gesamtmenge umfassen. Damit würde zwar Entwicklungsländern enorm geholfen, für die momentan vor­liegende Situation ist sie aber ohne Bedeutung, da sich die Blase innerhalb der jeweiligen Volxwirtschaften entwickelt hat. Der Zeitraum zwischen zwei Spe­ku­la­tions­blasen würde zwar größer, diese aber unvermeidlich immer wieder platzen und weiterhin Steuereinnahmen zur Sanierung der Großverdiener miss­braucht. Wie aber die britischen Klein­sparer_innen bewiesen haben, bildet das Sparvermögen der Geringverdiener den Grundstock für die Spekulationsgeschäfte der Finanzinstitute. Weil es im höchsten Maße un­wahr­scheinlich ist, dass Aktien­spekulationen, die ja im Grunde nichts anderes als Wetten auf die Entwick­lungs­chancen eines Unter­nehmens darstellen, in absehbarer Zukunft abgeschafft werden und so der Huldigung des Mammon ein Riegel vorgeschoben wird, sind die Alternativen für ethisch saubere Geld­anlagen äußerst begrenzt. Hier bieten sich folgende Möglichkeiten an: Zuerst einmal der altbackene, heimische Sparstrumpf, mit den bekannten Vor- und Nachteilen. Zweitens eingeschränkte, „moralisch saubere“ Investitionen, wie es inzwi­­schen häufig auch unter dem Stich­wort „islamic banking“ angeboten wird. Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch die jeweiligen ethischen Standards durch viele juristische Kniffe unterlaufen werden und ebenfalls in Investmentfonds angelegt wird. Daher lautet mein Rat an die Leser: Die finanziellen Mittel, welche nicht zur unmittelbaren Bewältigung des Alltags benötigt werden, in alternative Projekte zu investieren, welche sich der Rettung der Um­welt, einem breit gefächerten Kultur­angebot und vor allem der Bildung sozial Be­nachteiligter verschrieben haben. Auf dass in Zukunft mehr Menschen erkennen, was schief läuft und was getan werden muss!

(bonz)

Antirassistische Selbstdarstellung

Die Vereinten Nationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die vom Menschenrechtsrat der UNO einberufene zweite Antirassismus­kon­ferenz in Genf Mitte April erregte weltweit viele Gemüter. Nicht nur, weil be­stimmte Länder, wie Deutschland, Kanada und die USA, aus Protest wegen der dort erwarteten antisemitischen Grund­hal­tung nicht teilnahmen, sondern auch, weil es tatsächlich zum befürchteten „Eklat“ kam. Anlass hierfür lieferte der iranische Staatsführer Ahmadinedschad, der in seiner Einführungsrede den Gaza-Krieg einseitig bilanzierte und Israel dabei als „grau­samstes und rassistischstes Regime“ bezeichnete (1). Die darauf folgenden Proteste mehrerer (hauptsächlich) europäischer Ländervertreter_innen, die den Saal verließen, setzte zwar medial wirksame Zeichen, war allerdings nur von kurzer Dauer, da die Delegierten bereits am nächsten Tag wieder brav auf ihren Stühlen saßen, um noch schnell die gemeinsame Ab­schlusserklärung zu verabschieden. Diese frühzeitige Verabschiedung der UN-Deklaration, die aus Angst vor weiteren Auseinandersetzungen bereits am zweiten Tag gemeinsam beschlossen und befeiert wurde, bezeichnet den Charakter der UN-Kon­ferenz wohl am meisten. Da stellt sich doch die Frage, wie eine globale Zusammenkunft, die offensichtlich von inhaltlichen Kontroversen und unterschiedlichen Interessenslagen geprägt ist, ihren ver­meintlichen antirassistischen Konsens feiern kann? Wie muss eine UN-Deklaration zum Thema Ras­­­­­sis­mus verfasst sein, um alle an ei­­nen Tisch zu bekommen? Kann es als Erfolg bezeichnet werden, wenn ca. 140 Staaten eine Deklaration be­schließen, nach deren Worten keine Taten folgen? Und wie sinnvoll sind dann solcherlei Konferenzen überhaupt?

Historisch betrachtet

Die Vereinten Nationen (UN) gründeten sich 1945, um verheerende globale Ereignisse wie Kriege und Wirtschaftskrisen künftig verhindern und vorbeugen zu kön­nen. Insbesondere die massenhafte Ver­nichtung von Menschen, sprich der Holocaust‘ während des 2. Weltkrieges, war die Hauptmotivation einen internationalen Verbund zu schaffen, der gemeinsame Ziele verfolgt. Als eigene Grundsätze benannten die Vereinten Nationen daher die Wahrung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens durch wirksame Kollektivmaßnahmen, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit zwischen den Nationen und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ohne Unterschiede zwischen Herkunft, Ge­schlecht, Sprache oder Religionszuge­hö­rig­keit zu machen. Für die Umsetzung dieser hehren Ansprüche wurde im Rahmen der UN ein beständig wachsendes Netz verschiedener Institutionen geschaffen, die wiederum weitere Räte und Kommissionen gründeten, welche bisher zahlreiche, thematisch vielfältige Konferenzen einberiefen, in denen schon verschiedenste Deklarationen verabschiedet wurden. Doch Papier ist bekanntlich geduldig und die Nichtbeachtung von gemeinsam beschlossenen Deklarationen hat bei be­stimm­ten Themen für die Staaten kaum negative Folgen. So wie bspw. bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, die zwar von der UN verabschiedet wurde, dennoch immer wieder von Staaten, die auch Mitglied der UNO sind, verletzt wird (2).

189 Mitgliedstaaten schmücken sich der­zeit damit, in den Vereinten Nationen für Frieden und Menschenrechte aktiv zu sein – tatsächlich aber überwiegen andere Interessen bei ihren Treffen. So verhielt es sich auch mit der Menschenrechtskom­mis­sion (MRK), die von 1946-2006 existierte und die Aufgabe hatte, Menschen­rechts­verletzungen anzuzeigen. Langjährige Kritik an der gegenseitigen Deckung von Menschenrechtsverletzungen seitens der in diesem Gremium aktiven Staaten führte allerdings dazu, dass die MRK 2006 durch den Menschenrechtsrat (MRR) ersetzt wurde. Im neu gegründeten MRR wurden die Spielregeln mo­di­fiziert, so dass Staatenkungeleien und einseitige Interes­sen­­politik nun einer stärkeren Kontrolle obliegen sollen (siehe Kasten). Zur ersten UN-Anti-Rassismuskonferenz 2001 lud jedoch noch die MRK ins Südafrikanische Durban ein. Wie auch die kürzlich stattgefundene Folgekon­ferenz in Genf (die vom MRR einberufen wurde), hinterließ diese erste Zusammenkunft bereits einen enttäuschend faden Nachgeschmack:

Zweifelhafter Konferenzcharakter

Die erste UN-Anti-Rassismus-Konferenz 2001 weckte im Vorfeld große Erwartungen und wirkte angesichts der weltweit be­stehenden Probleme mit vielfältigen Formen von Rassismus auf viele Minderheiten, Frauen, Unterdrückte und Unberührbare vielversprechend. Denn sie erwarteten eine Rückbesinnung auf die „Grundsätze der Menschenrechte“, dass jedeR un­abhängig von Herkunft oder Geschlecht gleich zu behandeln ist, sowie eine Verur­tei­lung der Staaten, die Rassismus und Diskriminierung befördern. Die Realität belehrte sie jedoch eines besseren, denn schon dort verständigten sich die Staatsführer auf eine selektive Wahrnehmung dessen, was unter Rassismus zu verstehen sei (3). An der Thematisierung von staatsinternem, institutionellem Rassismus gegen unliebsame Minderheiten hatte – welch Wunder – kein Staat Interesse. Schließ­lich geht es bei solchen Konferenzen ja hauptsächlich um die gute Darstellung nach außen bzw. die Wahrung des ei­genen Images, welches zudem Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern haben kann. Und welchen Nutzen soll es haben, sich für (meist wirtschaftlich arme) Minderheiten anderer Länder einzusetzen und dafür außenpolitische Konflikte zu riskieren? Die Interessenlage der Staatsvertreter_in­nen bei ihren internationalen Allianzpartnern ist dementsprechend klar – ledig­lich bei „politischen Feinden“ erscheint eine öffentliche Anklage ihrer Kriegsfüh­rung unter bestimmten außenpolitischen und geostrategischen Umständen lohnenswert. Diese Einstellung wurde in der UN-Men­schenrechtskommission und auf der ersten UN-Anti-Rassismus-Konferenz in Durban besonders deutlich. Während be­stimmte Rassismen nicht thematisiert, oder unter dem Verweis auf die „nationale Selbstbestimmung“ von den betroffenen Staaten abgewiegelt wurden, gab es eine Staatenmehrheit in der Kommission, die vor allem Interesse daran hatte Israel zu diffamieren. Sowohl auf der UN-Kon­fe­renz und in deren Abschlussdokument, als auch auf der parallel dazu stattfindenenden NGO-Konferenz, wurde das Ver­hal­ten Israels gegenüber den Palästinensern so feindselig verurteilt und pauschalisiert, dass die israelische und US-amerika­nischen Delegationen überstürzt abreisten.

Aufgrund dieser Ereignisse und einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den politischen Veräußerungen der MRK, wurde diese reformiert. Man wollte kein zweites Durban, so dass auch in den vorherigen Zusammenkünften zur zweiten UN-Anti-Rassismus-Konferenz heftig um die Formulierungen in der Abschlusserklärung gerungen wurde, um eine scheinbare globale Har­monie wieder herzustellen und ge­mein­same Zeichen gegen den weltweiten Rassismus zu setzen. So findet man in der Abschlusserklärung von Genf bspw. keinen konkreten Israel-Bezug, um einige der „westlichen“ Staaten zur Teilnahme zu mo­ti­vieren. Dies wäre auch fast geglückt, wäre der neu gegründete MRR nicht schon vorher durch seine der MRK stark ähnelnde Politik in Misskredit geraten. Denn seit seinem Bestehen 2006 wurden von ihm lediglich vier Resolutionen zu bedenklichen Menschenrechtssituationen in Somalia, Kongo, Nordkorea und Burma verfasst, die die Beteiligten zur „Achtung ihrer Verpflichtungen“ ermahnten. Dagegen gab es noch fünf weitere Resolutionen, die die Politik Israels in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte scharf kritisieren. Zudem wurde in einer anderen Deklaration des Rates die Verurteilung der Verfolgung homosexueller Menschen gestrichen und stattdessen die „Diffamierung von Religionen“ als rassistisches Verhalten festgeschrieben. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass fortan Themen wie der Karikaturenstreit größeres Gewicht auf den Sitzungen bekamen, sondern auch, dass die Thematisierung der Unterdrückung von Frauen z.B. in islamischen Ländern mit dem Argument, man wolle hier die islamische Religion kritisieren, beständig ignoriert werden konnte. Diese Hand­lungspraxis des Rates verweist nicht nur auf eine unveränderte „Blockhaltung“ von staatlichen Interessengemeinschaften, sondern auch auf eine relative Stimmenmehrheit der Israel-feindlich eingestellten Staats­führer im Rat. Zudem erklärt das auch die Haltung derer, die dem MRR misstrauisch gegenüberstehen und der Kon­ferenz von vornherein fernblieben. Wie erwartet bestätigte Ahmadinedschad mit seiner Hetzrede gegen Israel auch prompt die Befürchtung. Der fragwürdige und einseitige Konferenzcharakter, der sich bereits auf der ersten UN-Konferenz gegen Rassismus andeutete, setzte sich so auf der zweiten Konferenz fort und führte zu einer weiteren Verhärtung, die das eigentliche Anliegen – den weltweiten Rassis­mus zu bekämpfen – nicht nur in Frage stellen, sondern zu einer Farce verkommen lassen.

Dabei sein ist NICHT alles

Organisationen wie Amnesty International kritisieren trotzdem das Nichterscheinen auf der Konferenz, da man es sich so zu einfach mache. Frei nach dem Motto: Wer nicht mitredet, kann auch den Charakter solcher Konferenzen nicht mitbestimmen und dementsprechend auch nicht zu Verbesserungen beitragen. Auf den ersten Blick kein schlechtes Argument – doch wel­chen Sinn machen solche Konferenzen überhaupt, wenn heikle Themen aus Rücksicht auf eigene Interessen ohnehin nicht angesprochen werden? Wäre es nicht besser Rassismuskonferenzen und dazugehörige Deklarationen abzuschaffen, da sie ohnehin nur Bühne des Populismus sind und nur zur Imagepolierung, Selbstdarstellung und Verdrehung von Tatsachen dienen? Ist es überhaupt möglich, in diesem Rahmen offen und ehrlich die weltweiten rassistischen Handlungen anzu­spre­chen und zu verändern?

Der Blick in die Geschichte der UNO und im Speziellen der MRK verrät einige der Antworten be­reits: Anti-Rassismus-Konferenzen machen keinen Sinn, wenn es die Staats­ver­treter_innen selbst sind, die darüber diskutieren. Im globalen Interes­sen­poker und insbesondere auf der Ebene internationaler Beziehungen kann jede Äußerung schwerwiegende Konsequenzen mit sich ziehen, so dass die Mächtigen diese Tribüne wohl immer nur für ihre eigenen und spezifischen Interessen nutzen werden. Rassis­mus, der zwischen den Menschen, irgendwo auf der Welt passiert, ist für Re­gie­rungen nur von Relevanz, wenn ihre In­teressen in irgendeiner Weise davon berührt werden. Ob dies dann aber einen positiven Effekt auf die zuvor diskriminierten Menschen hat, ist äußerst fraglich. Ebenso fraglich ist es, ob gemeinsame Lippenbekenntnisse der Staatsvertre­ter_in­nen, in Form von verabschiedeten Deklarationen gegen Rassismus und Diskriminierung tatsächlich Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Und wie zynisch muss solch Heuchelei oben­drein in den Ohren derer klingen, die unter deren institutionalisierter rassistischer Diskriminierung leiden?

Demzufolge ist es auch irrelevant darüber zu debattieren, ob Deutschland an der UN-Rassismuskonferenz hätte teilnehmen sollen. Selbst wenn es kein Stimmenübergewicht der antisemitisch motivierten Regierungsvertreter gäbe und Israel nicht mehr das alles dominierende Thema wäre, so hätte die Konferenz dennoch einen heuchlerischen Charakter. Denn leider sind beim UN-Staatenbund die Staaten immer die Chefs.

Rassismus von unten bekämpfen

Rassismus hat vielerlei Gesichter und wird von Nationalstaaten zumindest indirekt durch diskriminierende Gesetze gefördert. Während die Liste der Ungleichbehand­lungen in einzelnen Staaten von der Länge her sicherlich differiert, kann sich ins­gesamt wohl kein Staat damit rühmen, nicht in seinen Grenzen zu diskriminieren. Im deutschen Kontext sei hier kurz die Residenzpflicht für Asylbewer­ber_in­nen erwähnt, die im Grunde auch gegen das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit verstößt (4). Durch solche Regelungen werden Staaten auch oft Wegbereiter für den Rassismus zwischen den Menschen, der verletzt oder sogar tötet. Auch wenn dieses Problem global ist, muss es auf lokaler Ebene in Angriff genommen werden. Will heißen, dass es nicht die Staatschefs sein sollten, die abstrakt über Rassismus reden, um sich am Ende nur selbst zu feiern, sondern dass solche Austauschplattformen den NGOs, sozialen Vereinen und Organisationen zur Verfügung stehen sollten, um sich konkret austauschen, absprechen und Lö­sungsv­orschläge erarbeiten zu können. Dann würden Probleme, die von Staaten inszeniert und befördert werden auch radikaler und offener thematisiert werden. Gegen Rassismus vorzugehen und das Problembewusstsein bei den Menschen zu schärfen, ist extrem wichtig – nicht nur wegen der vielen Opfer von Übergriffen, sondern auch, um das Fundament für eine Gesellschaft zu legen, die sich jenseits rein äußerlicher Merkmale orga­nisiert und solidarisiert. Setzt man dabei auf den Staat, wird dieses Fundament allerdings auf Sand gebaut.

(momo)

(1) Achmadinedschad sprach u.a. auch vom Zionismus als „personifiziertem Rassismus“. Link zum englischsprachigen Text der Rede, die während der Konferenz als Flugblatt verteilt wurde: www.image. guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2009/04/21/speech.pdf

(2) Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ oder „UN-Menschenrechtscharta“, wurde 1948 von der UN-Generalversammlung (dem höchsten beschlussfassenden Gremium) verabschiedet. Zwar müssen Staaten mit ihrem Beitritt zur UNO die Charta anerkennen, allerdings besitzt sie keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter, so dass eine Verletzung der Menschenrechte nicht automatisch negative Konsequenzen für den Staat hat oder zum Ausschluss aus der UNO führt.

(3) Analytisch betrachtet ist es höchst umstritten, was begrifflich unter Rassismus zu verstehen ist und wird auch unterschiedlich definiert. Grundsätzlich können Schlüsse von äußerlichen Merkmalen auf Charaktereigen­schaf­ten, Intellekt oder soziale Verhaltensweisen als rassistisch betrachtet werden (biologischer Rassismus). Während einige Vertre­ter_innen den Begriff sehr eng fassen und auf bestimmte Ethnien (sog.“Völker“) beziehen, begreifen andere Rassismus umfassender als Diskriminierung von Menschen, die sich z.B. auch im Geschlecht, der Religion oder anderen Kategorien unterscheiden (kultureller Rassismus). Von institutionalisiertem (oder funktionalem) Rassismus kann hingegen gesprochen werden, wenn bestimmten Bevölkerungsgruppen Leistungen vorenthalten werden, die anderen garantiert sind.

(4) Die Residenzpflicht sieht vor, dass Asylbewerber_innen ihren ihnen zugeordneten Landkreis nur mit Genehmigung verlassen dürfen. Wird diese Verordnung übertreten, dann hat der oder diejenige eine Straftat begangen und demzufolge keine Aussichten mehr auf eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Praktisch hat das verheerende Auswirkungen: Wer die bürokratische, deutsche Sprache nicht versteht, hat es schwer einen Antrag für „Ausgang“ zu stellen. Familienmitglieder, die in unterschiedlichen Heimen untergebracht sind, haben keine Möglichkeit sich öfter zu sehen. Der kleinflächige Bewegungskreis um das Heim, das meist in ländlichen Gebieten liegt, macht selbst Besuche in der Stadt zur großen Hürde und schlussendlich dauern die Verfahren bis zu einem (ohnehin eher unüblichen Aufenthaltsstatus) mitunter bis zu 5 Jahre. Das Gesetz der Residenzpflicht wurde 1982 in Deutschland im übrigen auch nur eingeführt, um Migrant_innen vor der Immigration abzuschrecken. Es gibt auch kein anderes Land mit solch einem diskriminierenden Gesetz.

Exkurs: Menschenrechtsrat versus Menschenrechtskommission

Der Menschenrechtsrat (MRR) ist nun ein Nebenorgan der UN-Generalversammlung und kein Unterorgan vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat mehr, wie die Menschen­rechts­­kommission (MRK). Der MRR ple­niert jetzt 10 statt sechs Wochen im Jahr und besteht aus 47 von der UN-Generalversammlung gewählten Mitgliedern (die MRK bestand aus 53 Mitgliedern). Wichtig für die Neukonstitution ist v.a., dass der MRR schneller auf Menschenrechtsverletzungen reagieren kann, weil er das Recht hat, Sondersitzungen einzuberufen und nun auch das Mandat besitzt Men­schen­rechts­ver­letzungen in einzelnen Ländern zu thematisieren und Hand­lungs­em­pfeh­lungen für andere UN-Kommissionen zu formulieren. Zudem besteht jetzt die Möglichkeit einer Abwahl von Staaten im MRR, wenn sie nachweislich gegen Menschenrechte verstoßen. Außerdem gibt es nun eine Rechenschaftspflicht der Staaten, die im MRR aktiv sein wollen bezüglich ihrer eigenen Menschen­rechts­­situation. Eine differenzierte Re­gionalzusammen­set­zung im MRR hat zudem dazu geführt, dass sich die Stim­menmacht der europäischen und lateinamerikanischen Staaten verringert hat. So stellen Afrika und Asien jeweils 13 Sitze, 6 Sitze gehen an Osteuropa, 8 an Lateinamerika und die Karibik, sowie 7 Sitze an Europa und die restlichen Staaten. Obgleich diese strukturellen Veränderungen dem Rat bessere Voraussetzungen bieten, Menschenrechts­ver­letzun­gen unabhängig zu behandeln und anzuklagen, hat sich an der Praxis bisher wenig verändert.

Der (Alb-)Traum von Freiheit

Über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den Ländern Mittelamerikas

„Wer sagt: ‚hier herrscht Freiheit’, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.“, schrieb einst Erich Fried. Ob er damals bereits ahnte, wie sehr diese Worte einmal auf die europäische Außenpolitik zutreffen würden? – Wohl kaum. Dennoch hätte er nicht treffender beschreiben können, was hinter den Kulissen in Brüssel fortlaufend und flächendeckend verhandelt wird: Verträge, die Freiheit versprechen – aber nur Abhängigkeit halten können. So verhält es sich auch mit dem so genannten „Assoziierungsabkommen“ zwischen der EU und den zentralamerikanischen Staaten Nicaragua, Honduras, El Salvador, Guatemala, Costa Rica und Panama, das mit seiner Unterzeichnung am 18.Mai 2010 auf dem Iboamerika-Gipfel in Madrid die Entwicklung der Länder maßgeblich verändern wird.

Vogelfreiheit

Doch was verbirgt sich hinter diesem harmlos klingenden „Assoziierungsabkommen“, das aus den drei Säulen „Handel“, „politischer Dialog“ und „Kooperation“ besteht? Im Grunde nicht viel mehr als ein klassischer Freihandelsvertrag – also die Regelung, dass für verabredete Produkte die Zölle und Steuern gesenkt und somit dem anderen Markt zugänglich gemacht werden – mit dem kleinen Zusatz, dass die EU gerne in den politischen Angelegenheiten der betreffenden Staaten mitmischen will und sich dafür auch bereit erklärt weiterhin Gelder in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Während die Regierungen mit EU-Entwicklungshilfegeldern von bis zu einer Milliarde Euro bis 2013 und der Steigerung ihres BIP durch höhere Exportquoten gelockt werden, hat dieses Abkommen im Bereich Freihandel für die einfache Bevölkerung vor allem negative Auswirkungen: Die zentrale Einkommensquelle der meisten Mittelamerika­ner_in­nen ist immer noch die Landwirtschaft und Textilindustrie, da sich eigenständige, komplexer verarbeitende Industrien, wenn überhaupt vorhanden, oftmals erst im Aufbau befinden. Durch den Freihan­dels­ver­­trag nun sollen die lateinamerikanischen Märkte für EU-Güter wie Milchprodukte und Schweinefleisch, sowie für jegliche Industrieprodukte und Dienstleistungen geöffnet werden. Im Gegenzug sollen zentralamerikanische Güter wie Bananen, Zucker, Kaffee, Rum und Kleidung zu bestimmten Quoten auf dem europäischen Markt zugelassen werden.

Interessant ist diese Marktöffnung für die wenigen dort ansässigen exportorientier­ten Großunternehmen – wie Chicita, Dole oder die Kleidungsmittelzulieferbetriebe in den bereits etablierten Freien Produk­tions­­zo­nen(1) – die oftmals in US-amerika­nischer oder zunehmend asiatischer Hand liegen. Die einheimischen kleinen und mittelständischen Bauern und Firmen jedoch, die für den lokalen Markt arbeiten, können dem Wettbewerb unter Welt­markt­bedingungen nicht Stand halten und werden verdrängt. Denn da die EU die eigene Landwirtschaft finanziell unterstützt (eine europäische Kuh wird durchschnittlich mit 2,50 Euro täglich subventioniert), wird der einheimische Markt mit billigen EU-Artikeln überschwemmt. Diesen Preiskrieg können die Kleinproduzenten – die ohnehin am untersten Preislimit produzieren – gar nicht gewinnen. Des Weiteren kann auch die „zarte“ mittel­amerikanische Wirt­schaft kaum einer hoch­spezialisierten verarbeitenden europäischen Industrie oder dem bereits etabliertem Dienstleistungssystem Stand halten. Die Folgen der Marktöffnung sind weitreichend: Viele Bauern, die für den einheimischen Markt produziert haben, verlieren wahrscheinlich ihren Absatzmarkt durch die Konkurrenzprodukte und müssen entweder doch noch billiger produzieren oder ihr Land verkaufen. Folge davon wäre nicht nur weitere Verarmung, steigende Landflucht und Migration, sondern auch eine allgemeine Nahrungsmit­tel­ver­knap­pung, die zu globalen Preissteigerungen und Nahrungsmittelkrisen – wie bspw. in Haiti 2009 – führen kann. Im industriellen Sektor führt die Marktöffnung vor allem dazu, dass auf europäische Güter zurückgegriffen wird, anstatt den Aufbau eigener Industrien zu fördern. Dadurch werden die mittelamerikani­schen Staaten auch weiterhin auf ihre Funktion als billige Rohstofflieferanten festgelegt. So steigt insgesamt nur die Abhängigkeit von Importprodukten aus den Industrienatio­nen, was wiederum deren Einfluss auf die zentralamerikani­sche Politik und Wirtschaft vergrößert. Statt zu Entwicklung und Wohlstand, führt Freihandel zwischen wirtschaftlich so ungleichen Partnern wie der EU und den zentralamerikanischen Ländern also zu recht einseitigen Profitaussichten und Abhängigkeiten.

Narrenfreiheit

Obgleich die negativen Folgen solcherlei Freihandelsverträge spätestens seit DR-CAFTA (2) allgemein bekannt sind, schafft es die EU, sich mit ihrem Assozi­ierungs­ab­kom­men positiv von diesem US-amerikanischen Freihandelsvertrag abzugrenzen. Die ganz bewusst gewählte Rhetorik von „Diplomatie statt Konfrontation“, „Einhaltung des geltenden Rechts“, „Entwicklungsorientierung statt Sicher­heits­po­li­tik“ soll auf das positive Selbstbild – ein „Europa der Rechte und Werte“ zu sein – verweisen. So wird der Blick auf die Vereinbarungen in den Säulen „Kooperation“ und „politischer Dialog“ gelenkt, anstatt auf die am stärksten ausgeprägte „Handels-Säule“, die sogar viel schwerwiegendere Folgen als DR-CAFTA bereithält. Denn mit dem Abkommen wird nicht nur der zollfreie Handel, sondern z.B. auch die Patentie­rung „Geistigen Eigentums“ geregelt. Das bedeutet, dass bspw. Arzneimittel, die aus seltenen tropischen Pflanzen bestehen, zukünftig von europäischen Pharmakonzernen patentiert werden können und die lokale Bevölkerung – die mitunter die Heilwirkung seit Jahrhunderten traditionell nutzt – für den Zugriff dann zahlen müsste. Und auch die betreffende Regierung im Mittelamerika dürfte dann, sofern sie technisch überhaupt in der Lage wäre, keine billigen Generika von den Pflanzen in ihrem Land herstellen.

Auch schreibt das Assoziierungsabkommen die „Freiheit von Investitionen“ europäischer Unternehmen in Mittelamerika fest, die nicht durch staatliches Handeln (bspw. in Form von Subventio­nie­­rungen einheimischer Unternehmen oder der Verstaatlichung bestimmter Industrien oder öffentlichen Güter, wie Wasser) eingeschränkt werden darf. Hinzu kommt noch die Pflicht, bei öffentlichen Ausschreibungen europäische Konzerne einzubeziehen und das Recht jener Konzerne, vor einem Streitschlichtungsgericht ganze Staaten auf gefährdete Investitionen verklagen zu können. Solch eine Klage auf Schadensersatz für „zu erwartende Gewinne“ wäre etwa dann möglich, wenn eine der mittelamerikanischen Regierungen es unterlassen würde, einen bestimmten Sektor zu privatisieren, oder sie teurer produzierenden einheimischen Unternehmen den Vorzug bei öffentlichen Investitionen gibt (von Subventionen ganz zu schweigen) (3).

Insgesamt betrachtet, verschaffen sich europäische Konzerne im Rahmen des Assoziierungsabkommens also den umfangreichen Zugang zu mittelamerikani­schen Märkten, natürlichen Ressourcen, wie der biologischen Vielfalt und Rohstoffen sowie staatlichen Ausschreibungen Zudem wird der einstige „Hinterhof der USA“ langfristig umorientiert und kann für die EU auch geopolitisch von Nutzen sein.

Handlungsfreiheit

Bei so negativen Aussichten ist klar, dass sich trotz des immer noch vorhandenen positiven Images der EU auch Protest in Mittelamerika regt. Auch wenn der Widerstand vergleichsweise geringer als bei DR-CAFTA bleibt (auch weil auf anderen Ebenen viele Kooperationen mit europäischen Ländern bestehen), gibt es seitens der Zivilbevölkerung, NGOs und Gewerkschaften Kampagnen gegen das Abkommen. Mehr als 70 soziale und regie­rungs­unabhängige Organisationen haben bspw. in San Jose eine Erklärung verabschiedet, die sich entschieden gegen diesen Vertrag wendet. Allerdings stoßen solcherlei Proteste auf wenig Gehör bei den zentralamerikanischen Regierungen und der EU-Kommission, denn diese verhandeln lieber hinter geschlossenen Türen und nur unter Beteiligung von Unternehmensverbänden. Die Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen zentralameri­ka­nischen Akteuren wurde bereits kurz nach Verhandlungsbeginn 2007 wieder eingestellt. Und auch hierzulande werden die Vertragsverhandlungen der EU und ihre Inhalte der Bevölkerung nicht mal transparent gemacht. So ist auch kaum bekannt, dass zeitgleich zu den Verhandlungen mit zentralamerikanischen Staaten auch Abkommen mit unzähligen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien ge­schlos­sen wurden und werden. Je nach wirtschaftlicher Entwicklung und geografischer Nähe heißen diese schlicht „Frei­han­dels­verträge“, „Assoziierungsabkom­men“, „Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommen“ oder „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ (4). Dies entspricht insgesamt der Lissabon-Strategie, die zum Ziel hat, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Wie verbissen an dieser Zielstellung festgehalten wird, verdeutlicht auch die schnelle Einbeziehung der Putschregierung in Honduras in die Verhandlungen zum zentralamerikanischen Abkommen. Dort kam es im Sommer 2009 in Kooperation mit der nationalen Oligarchie zu einem Militärputsch gegen den Präsidenten Zelaya, der sich vorher gegen die Privatisierung des wichtigsten Hafens und der Wasser- sowie Stromversorgung gestellt hatte. Trotz massiver Unruhen und Proteste seitens der Bevölkerung und einer mehr als zweifelhaften „Wahl“ des von den Putschisten eingesetzten Präsidenten Lobo, nahm dieser die Regierungsgeschäfte im Januar 2010 auf. Den anhaltenden Menschenrechtsverlet­zungen und der bisher von den meisten Re­gierungen verweigerten rechtmäßigen An­erkennung dieser Regierung zum Trotz, nahm die Europäische Kommission bereits im Februar die Verhandlungen mit Honduras wieder auf, um das Abkommen wie ge­plant im Mai 2010 unterzeichnen zu können. Hier wird besonders deutlich, dass das Interesse der Europäischen Kommission weniger in der postulierten Förderung weltweiter demokratischer Werte liegt, sondern sich vielmehr am Nutzen der eigenen Wirtschaftsverbände orientiert.

Herrschaftsfreiheit

Die Folgen des Abkommens sind bekannt, die EU-Rhetorik ist durchschaubar und Proteste seitens der Bevölkerung, der NGOs und Gewerkschaften sind ebenfalls zu vernehmen. Warum sind die zentral­amerikanischen Regierungen dennoch be­reit, diesen Vertrag nach der Unterzeichnung im Mai 2010 in den eigenen Parlamenten ratifizieren zu lassen? Zum einen liegt das sicher an den Zusagen über weitere Gelder zur Entwicklungshilfe, die für jene Länder dringend notwendig sind und sich deshalb als Erpressungsmittel eignen, um die Wirtschaftsliberalisierung zu erzwingen. Zudem wurde der von Nicaragua in die Verhandlungen eingebrachte und geforderte „Kompensationsfond“, der die negativen Folgen der so ungleichen Handelspartnerschaft abfedern soll, aufgegriffen und unverbindlich in Aussicht gestellt – so dass diesbezüglich auch Wind in den Segeln fehlt. Die zentralamerika­nischen Regierungen selbst besitzen nicht viel Verhandlungsmacht, sind auf ein wachsendes BIP angewiesen, versprechen sich nationale Vorteile, wirtschaften zum Teil in die eigene Tasche und sind oftmals auch nur die Ausführenden der Interessen ihrer ansässigen exportorientierten Großunternehmen. Diese versprechen sich von der Markterweiterung einen Wachs­tumszuwachs und wurden in den Verhandlungen auch tatsächlich gegen die relativ schwach organisierte Gruppe der Kleinproduzenten ausgespielt. So wird bspw. der Niedergang der einheimischen Milchproduktion für einen erhöhten Bananenexport billigend in Kauf genommen. Für die EU ist vor allem ein Handelsabkommen mit Costa Rica, Panama und Guatemala interessant, da dort der Außenhandel bereits am Größten ist. El Salvador und Nicaragua müssen mitmachen, um sich nicht wirtschaftlich zu isolieren. Und Honduras ist schon allein deshalb an einer Ratifizierung interessiert, weil damit die Putschregierung offiziell anerkannt werden würde.

Unter diesen Vorraussetzungen ist kaum erwartbar, dass das Assoziierungsabkommen von der mittelamerikanischen Bevölkerung noch gestoppt werden kann. Aufklärung, Bewusstwerdung und Zeichen der Solidarität hierzulande sind dennoch wichtig, um den heuchlerischen Image-Lack der EU zum Abplatzen zu verhelfen. Die Freiheit und Entwicklung von der die EU hier spricht, dient einseitig dem großen Kapital, denn sie ist die Freiheit von Regulierungen, die auf Kosten der wirtschaftlich Schwächeren geht. Dennoch lohnt sich der Kampf um Freiheit – wenn wir wie Fried eine Freiheit meinen, die nicht beherrscht wird, sondern den Raum zur selbstbestimmten Entfaltung öffnet.

(momo)

(1) Abkommen, die den zoll- und steuerfreien Handel regulieren gibt es schon lange in Zentralamerika. Insbesondere im Bereich der Textilindustrie wurden seit den 90er Jahren verstärkt sog. Freie Produktionszonen eingerichtet, also Gebiete in denen mehrere ausländische Investoren Zulieferbetriebe für mitunter bekannte Marken gründen und dort ausschließlich für den Export produzieren lassen. Diese Zonen zeichnen sich in der Praxis vor allem durch unzumutbare Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechtsverletzungen aus. Durch die Steuerbefreiung bleibt auch – abgesehen von den niedrigen Löhnen für viele Arbeiter_innen – kein Gewinn im Land.

(2) DR-CAFTA ist ein 2004 in Kraft getretenes Freihandelsabkommen zwischen den USA und den Staaten Costa Rica, Nicaragua, Honduras, El Salvador und der Dominikanischen Republik. Der Protest gegen das Abkommen war im Vorfeld groß und die Befürchtung, dass es der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung mehr schadet als hilft und nicht zur Armutsbekämpfung beiträgt, hat sich in der Praxis bereits bestätigt.

(3) Dass dieses Szenario kein utopisches Hirngespinst bleiben wird, belegt ein aktuelles Beispiel: UNION FENOSA, ein spanischer Energiekonzern, der im Zuge der vom IWF erzwungenen Privatisierung im Jahr 2000 das nicaraguanische Stromnetz kaufte und der Bevölkerung dann stetige Preissteigerungen und (über Monate hinweg) tagelange Stromabschaltungen zumutete, verklagt nun auch noch Nicaragua auf 55 Mio US$ Schadensersatz, für verloren gegangene Gewinne seit 2004. Denn letztendlich hatte sich die Bevölkerung zusammen mit der einheimischen Industrie gewehrt und auf die Wiederverstaatlichung gedrängt. Das geplante Assoziierungsabkommen hätte wahrscheinlich nicht nur zur Folge, dass der Konzern den Schadensersatz bekommt, sondern auch, dass die Wiederverstaatlichung der Stromversorgung langfristig unmöglich gemacht wird (www.stop-assoziierung.de/fenosa.shtml).

(4) Strategisch ausgetüftelt ist die Art der Abkommen für die jeweilige Region: Während Freihandelsabkommen mit wirtschaftlich z.T. entwickelteren Staaten, wie bspw. Kolumbien, Peru, Indien und die ASEAN-Staaten geschlossen werden, werden „Assoziierungsabkommen“ eher dann verabredet, wenn neben der Handelskomponente auch Vereinbarungen zur Entwicklungszusammenarbeit notwendig sind. So war Panama in diesem Abkommen lediglich Beobachter, als es um diese Punkte ging, stieg aber bei den Handelsverabredungen als vollwertiger Partner ein. zahlreiche „Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommen“ hingegen werden Afrika vereinbart und beinhalten neben der Handelskomponente noch Aspekte nachhaltiger Entwicklung. Spezielle „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ wurden mit den Staaten an den EU-Außengrenzen abgeschlossen (z.B. Bosnien Herzegowina, Serbien und Albanien), weil diese strategisch und wirtschaftlich von besonderer Bedeutung sind.

Das Klimaschutzgeschäft

Ein Kopenhagener Krimi über Staaten, Wirtschaft und das Geschäft mit der Natur

Klimawandel Stoppen!“ heißt die neue Parole, die auch in Regierungskreisen die Bühne erobert hat. Aber erst zwischen den Zeilen wird deutlich warum: Weniger die globale Erderwärmung mit den erwartbaren üblen Folgen für einen Großteil der Lebewesen ist die maßgebliche Antriebsfeder solch hehrer Rhetorik, vielmehr ist es schlicht und ergreifend die zu erwartende Profitrate. Der Klimawandel wird ökonomisiert und in’s System integriert – dabei müsste eigentlich längst klar sein, dass die Welt mit dieser Wirtschaftsordnung nicht zu retten sein wird. Einen Beweis hierfür lieferte zuletzt der von den Vereinten Nationen (UN) organisierte Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009, bei dem letztlich nicht einmal ein schön gefärbter Schleier gemeinsamer politischer Absichtserklärungen die verschiedenen Profitinteressen einzelner Staaten verdecken konnte. Obgleich der Klimagipfel die mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, blieben wesentliche Interessen und Auseinandersetzungen weitestgehend unterbeleuchtet. Die scharf gestellten Scheinwerfer des „Kopenhagener Krimis“ richten daher nun ihr Licht auf globalpolitische Interessen der verschiedenen Staatsvertreter_innen, die zweifelhaften ökonomischen Konzepte zur vermeintlichen Reduzierung von CO2, die Imagekampagnen seitens umweltschädlicher Großunternehmen (Exkurs S.20) und die Proteste einiger zivilgesellschaftlicher Akteure (Kasten S.17).

Ohne Moos nix los

Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen war bekanntlich eine Nullnummer, selbst für die CDU. Man einigte sich als Copenhagen Accord (1) darauf, ein Abschlussdokument „zur Kenntnis zu nehmen“, in dem konkret lediglich steht, dass man gemeinsam zum Ziel habe die Erderwärmung bis 2050 auf 2°C zu begrenzen. Zwar ist dieses Ziel eine Herausforderung, da sich die Erde mit dem derzeitigen CO2-Ausstoß wohl um 4°C erwärmen wird, jedoch bleibt es ohne konkret vereinbarte kurz-, mittel- und langfristige Schritte, nichts als eine hohle Phrase. Dabei gibt es genug Anhaltspunkte für Nägel mit Köpfen: Während sich Forscher_innen weltweit einig sind, dass die gesamten CO2-Emissionen dafür um 50% gesenkt werden müssen, spricht der Weltklimarat (IPCC) sogar von 85% CO2-Einsparungen bis 2050. Wenn man bedenkt, dass die Industrienationen ihre Emissionen seit 1990 um lediglich 4,7% senken konnten, wird schnell klar, wie unrealistisch ein 2°C-Ziel erscheint – insbesondere ohne verbindliche Maßnahmen.

Dabei sind die erwartbaren Auswirkungen der Klimaveränderungen – auch ohne Schwarzmalerei – recht düster: schmelzende Gletscher, die zum Anstieg des Meeresspiegels und zur Verknappung der Süßwasserreserven führen; Überschwemmungen auf den einen und Dürrekatastrophen auf anderen Teilen der Erde; das Aussterben von mehr als der Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten und eine enorm wachsende Anzahl von Klimaflüchtlingen – um nur Einige zu nennen. Diese Aussichten führten trotzdem nicht zu verbindlicheren Verabredungen auf dem Klimagipfel, obgleich in der zweiwöchigen UN-Konferenz viel debattiert und gestritten wurde. Der Copenhagen Accord konnte sich zwar noch dazu durchringen, insgesamt 21 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren für Waldschutz und ärmere Staaten zur Verfügung zu stellen – wer wie viel zu zahlen hat, wurde jedoch nicht ausdifferenziert. Die EU sicherte noch in großzügiger Manier 2,4 Milliarden Euro pro Jahr für Klimaprogramme in sog. Entwicklungsländern zu. Das klingt zwar nach einem großen Betrag, ist aber angesichts der eigentlich notwendigen Mittel – die Greenpeace mit 140 und die G77 mit 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr beziffert – nicht einmal der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein (2).

Während diese mehr als mangelhaften Konferenzergebnisse Reformer_innen frustriert und ernüchtert haben, hatten diejenigen, die radikalere Veränderungen für notwendig halten, ohnehin nichts Erfreuliches erwartet. Denn angesichts der unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Staaten und ihrer dahinter stehenden Wirtschaftsverbände scheint es ohnehin utopisch, global handlungsfähig zu werden – obgleich man beim Thema Klimawandel von einem gemeinsamen Interesse (Eindämmung) sprechen kann. Die große Streitfrage besteht jedoch darin, wer dafür welchen Anteil an Kosten tragen soll. Kein Wunder, dass es da zu keinem Ergebnis kommt.

Interessenpoker der Nationen

Ein Grund, weshalb in Kopenhagen nichts beschlossen wurde, was hierzulande zumindest oberflächlich als Erfolg der COP15 (3) hätte verkauft werden können, ist vielleicht auch der erstaunlich große Einfluss der Schwellen- und Entwicklungsländer, die sich diesmal nicht unterbuttern ließen. Denn im Gegensatz zu anderen globalen Konferenzen, bei denen sich in der Regel die Verhandlungsmacht in den Händen der Industrieländer konzentriert, kamen hier auch die wirtschaftlich Schwächeren zu Wort. So sorgte bspw. der Staatspräsident von Tuvalu – einer kleinen Insel im pazifischen Ozean – für Aufregung und blockierte den Konferenzverlauf mit radikaleren Forderungen für mehrere Tage, da seine Insel in 50 Jahren wohl nicht mehr existieren wird. Generell konnten sich einige Entwicklungsländer vor allem dadurch mehr Gehör verschaffen, weil China z.T. gleiche Interessen vertrat und durch seinen sich permanent erhöhenden CO2-Ausstoß eine große Verhandlungsmacht in der Klimadebatte besitzt. Das rasante ökonomische Wachstum der chinesischen Wirtschaft weckt Horrorszenarien bezüglich des global zunehmenden CO2-Ausstoßes, denn China ist unter den Nationen weltweiter Spitzenreiter bei der Emissionsproduktion – obgleich nach Pro-Kopf-Verbrauch gerechnet bspw. der abstrakte Durchschnittdeutsche fünf mal mehr CO2 verbraucht als die ebenso abstrakte Chinesin.

Knackpunkt der Argumentation seitens der Schwellen- und vieler Entwicklungsländer ist das vermeintliche „Recht auf nachholende Industrialisierung“, gekoppelt mit der Angst, dieses nun durch die Klimadebatte beschnitten zu bekommen. Da bisher der CO2-Ausstoß in hohem Maße mit der Energiegewinnung gekoppelt und diese wiederum Voraussetzung für die Produktion von Industriegütern ist, betrifft die Debatte der CO2-Einsparungen direkt das erstrebte wirtschaftliche Wachstum vieler Nationen. Das Misstrauen gegenüber den Industrienationen – durch Kolonialisierung verbunden mit Rohstoffausbeutung, Sklavenhandel, Kriege etc. jahrhundertelang genährt – spielt in der Verhärtung der Debatte ebenfalls eine wichtige Rolle. So wird es augenscheinlich als ungerecht und scheinheilig empfunden, wenn bestimmte Schwellen- und Entwicklungsländer für die Entwicklung heutiger Industrienationen immer Aderlass betreiben mussten und ihnen jetzt eine ähnliche Entwicklung mit dem Verweis auf die Erderwärmung verwehrt würde. Da es zudem die Industrienationen sind, die den Klimawandel maßgeblich zu verantworten haben, fordern viele arme Länder nicht nur einen finanziellen Ausgleich bei der klimafreundlichen Umgestaltung ihrer Wirtschaft, sondern auch Entschädigungszahlungen für die bereits spürbaren negativen Umweltauswirkungen. Die gehäuften Umweltkatastrophen und Dürreperioden betreffen vor allem die Ärmsten aller Regionen des sog. Südens, in denen oftmals kaum Industrie zu finden und kein Geld für Gegenmaßnahmen – oder Umsiedlung, im Falle Tuvalus – vorhanden ist.

Als aufstrebende Wirtschaftsmacht, kann sich China nun mit der Forderung nach „dem Recht auf nachholende Industrialisierung“ auch als mächtiger Interessenvertreter vieler Entwicklungs- und Schwellenländer profilieren und ihren Stimmen mehr Gewicht verleihen.

Das wiederum passt den Industriestaaten gar nicht. Die EU etwa möchte sich gerne mit ihrer Umwelttechnologie (mit Deutschland als Weltmarktführer) profilieren und vom Klimawandel profitieren, ohne dabei maßgebliche Einschnitte im Portemonnaie oder gar Beschränkungen in Produktion und Konsum auferlegt zu bekommen. So wird eifrig an weltweit nutzbarer umweltfreundlicher Energiegewinnung oder sparsamen Automobilen geforscht, aber nicht in Betracht gezogen, dass aus umwelttechnischer Sicht eine weitestgehende Überwindung des Individualverkehrs wesentlich zukunftsfähiger wäre. Verwundern tut das jedoch nicht – schließlich ist Deutschland auch Exportweltmeister in der Automobilindustrie, und so soll es ja auch bleiben. Klimawandel ist hierzulande dennoch ein großes Thema, denn die Voraussetzungen hier viel Profit zu erwirtschaften, könnten kaum besser sein. Unterstützt von einer starken „grünen“ Unternehmenslobby profiliert sich Frau Merkel sehr bewusst als Klimakanzlerin – unter der Maßgabe natürlich, dass die Maßnahmen nicht wachstumsschädigend sein dürfen. So bleibt auch die deutsche und europäische Debatte auf Effizienz beschränkt und blendet Aspekte der Suffizienz – also der eigenen Selbstbeschränkung bzw. Umorientierung in Konsumbedürfnissen, verbunden mit einer radikalen Verringerung des Energieverbrauchs und der Abkehr vom Wachstumsparadigma – einfach aus. Dies wird höchstens von anderen Ländern erwartet, die ja noch nicht den hiesigen Lebensstandard erreicht haben und demzufolge auch nichts missen würden, wenn ihnen der erwartete Konsumrausch der westlichen Welt verwehrt bliebe. So muss es wohl in den Ohren derer klingen, die auf dem Klimagipfel eine Beschränkung des CO2-Ausstoßes mittragen müssen, von dem sie ökonomisch nie profitiert haben.

Unter den Industrienationen differieren natürlich auch die Interessen. So ist z.B. die USA im Vergleich zur EU bisher kein maßgeblicher Profiteur von „grüner“ Technologie, sondern eher Spitzenreiter der Nationen im Pro-Kopf-Ausstoß von CO2. Das Interesse an umweltfreundlicher Wirtschaftsumgestaltung ist inzwischen trotzdem erwacht, denn auch die USA decken ihren Energiebedarf hauptsächlich aus fossilen Brennstoffen wie Erdöl, -gas und Kohle. Diese blasen nicht nur ungleich mehr CO2 in die Atmosphäre als erneuerbare Energiequellen, sondern müssen auch noch zu 60% importiert werden und steigen im Preis. Verbindliche CO2-Ausstoß-Grenzen würden sie aber nur dann mittragen, wenn diese nicht ihre Konkurrenzfähigkeit beeinflussen. D.h. sie machen eigene Verpflichtungen von den Zielen ihrer Wirtschaftskonkurrenten – hauptsächlich die Schwellenländer China, Indien, Brasilien – abhängig, die wiederum Beschränkungen nur gegen Finanzausgleich eingehen würden.

Eine andere, wichtige Interessengemeinschaft bilden schlussendlich auch jene Länder, deren BIP (Bruttoinlandsprodukt) maßgeblich vom Export fossiler Energieträger abhängig ist. So haben insbesondere die Länder in der arabischen Welt oftmals weniger Interesse an einer voranschreitenden weltweiten Entkopplung der Industrie von Erdöl oder Erdgas mittels energiesparender Technologie oder dem Ausbau erneuerbarer Energieträger.

***

Betrachtet man die (vereinfacht dargestellten) wesentlichen Einstellungen verschiedener Staaten und Interessengemeinschaften, schwindet spätestens jetzt die Verwunderung über die Ergebnislosigkeit und macht Platz für Emotionen der Frustration. Frustration, weil kapitalistische und profitorientierte Interessen nicht nur den Klimawandel erzeugt haben, sondern auch maßgeb-licher Hemmfaktor für die Eindämmung desselben sind. Kein Staat mit seiner Wirtschaftslobby würde zugunsten der Natur für ein neues ökonomisches System streiten. Obwohl der Verweis auf die fortschreitende Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung inzwischen als stärkstes Argument gegen Kapitalismus verwendet werden könnte – denn Profitorientierung, Wachstumsfetisch, Privatisierungen und Überschussproduktion sind eng mit Naturzerstörung verknüpft – wird munter weiter an der Integration von Umweltfaktoren ins hiesige Wirtschaftssystem gearbeitet. Statt gesellschaftliches Zusammenleben radikal neu zu denken, wird Erderwärmung in Form von CO2-Ausstoß als Faktor sichtbar gemacht und in das betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-System eingefügt. Als Konsequenz werden von Wirtschaft und EU umweltfreundlichere Techniken und Konzepte, wie der Handel mit CO2 (sog. Emissionshandel) als ultimative Lösung gefeiert – da sie als „ökologische Modernisierung“ zum Erhalt des Systems beitragen und bei einigen Ländern sogar den Ruf nach „nachholender Industrialisierung“ oberflächlich befrieden.

Wandel durch Handel mit CO2?

Sehr bezeichnend für den Klimagipfel und die dahinter stehenden Interessen war die Präsenz der Wirtschaft – besser gesagt einiger Großunternehmen, die als Sponsor der COP15 auftraten, um ihr Image grün zu tünchen. Namhafte Autohersteller, Fluglinien, Energie- und Chemiekonzerne – wie bspw. DuPont, BP, Osram, RWE, Vattenfall (4), Mercedes-Benz und BMW – nutzten den Gipfel, um für ihre neuesten kohlendioxidarmen Produkte zu werben, ihr öffentliches Ansehen zu verbessern, Kontakte zu potentiellen Märkten zu pflegen und für eine weltweite Verankerung des sog. Emissionshandels (= CDM: Clean Development Mechanism) zu argumentieren.

Dieser sog. CDM – „Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung“ – fand 2005 Eingang in das Kyoto-Protokoll. Die dahinterstehende Marktstrategie lässt sich so zusammenfassen: Die Industrieländer sind qua Kyoto-Protokoll Verpflichtungen zur Stabilisierung oder Minderung des CO2-Ausstoßes eingegangen, so dass jedes Land ein mehrjähriges CO2-Kontingent gutgeschrieben bekommt, welches auf die vorhandene emittierende Industrie umgelegt wird. Da diese Emissionsziele mit der Ausrichtung hiesiger Technik und Produktionsvolumen überschritten werden (Deutschland hätte bspw. beim derzeitigen Verbrauch in 10 Jahren keine „Verschmutzungsrechte“ mehr), können sich Unternehmen durch den Bau umweltfreundlicher Technologien in bestimmten Schwellen- und Entwicklungsländern CO2-Zertifikate dazukaufen, um ihren Mehrausstoß betriebswirtschaftlich „auszugleichen“. In der Theorie soll der Prozess sowohl zur Verbreitung umweltfreundlicher Technologien in ärmeren Ländern als auch zur Senkung der weltweiten Emissionen im Allgemeinen beitragen.

In der Praxis wird jedoch deutlich, dass der Handel mit CO2 mitunter absurde und auch gefährliche Auswirkungen hat. So wird mittels der Verbreitung umweltfreundlicher Technologien zwar langfristig die wirtschaftsbedingte progressive Steigerung des CO2-Ausstoßes vermindert, nicht aber der (eigentlich notwendige) absolute CO2-Ausstoß verringert. Im Gegenteil: Es kommt durch die Beibehaltung der Industrie hier und den Neubau von Kraftwerken in Schwellenländern sogar zur globalen Steigerung der Emissionen. Letztere aber werden als CO2-Einsparung gerechnet, weil man auf den Bau eines umweltschädlicheren Kraftwerkes verzichtet hat. Gleichzeitig ist es für die Unternehmen finanziell lukrativer und weniger kostenintensiv, für den Bezug von Zertifikaten in diese neuen Wachstumsmärkte zu investieren als im eigenen Industrieland (wo der höchste Ausstoß stattfindet) die Produktion umzustellen. Der RWE-Konzern bspw. erwirbt dank CDM durch den Bau von technologisch neuen Kohlekraftwerken in China CO2-Zertifikate, mit denen er die Verschmutzung durch hiesige Kohlekraftwerke ausgleichen kann. Dass so die ausgebaute Förderung von Kohle als Klimaschutz geltend gemacht werden kann, ist nicht nur widersprüchlich, sondern verdeutlicht auch, welche Interessen mitschwingen, wenn die Staaten und Unternehmen solcherlei Antworten auf den Klimawandel finden. Der Emissionshandel wird wohl als Errungenschaft gefeiert, weil er die zwei antagonistischen Systeme „Natur“ und „Kapital“ verbindet und als „Naturkapital“ verwertbar macht. Gerade das aber ist das Problem: Das Recht unser aller Luft zu verschmutzen wird zur profitablen Ware. Die dahinter stehende wirtschaftliche Wachstumsorientierung aber führt zu einer immer größeren Verknappung jener sauberen Luft – eine kapitalistische Notwendigkeit, die letztlich völlig am eigentlichen Ziel vorbei geht. Der Versuch der Ökonomisierung von CO2 greift zu kurz, da er in seiner Konsequenz nicht ressourcensparende Selbstbeschränkung, sondern ressourcenschonendes Wachstum zum Ziel hat. Oder um es mit Elmar Altvater auszudrücken: „Man kann die Natur nicht dadurch retten, dass man das Recht, sie zu verschmutzen, in eine an der Leipziger Strombörse handelbare Ware verwandelt. […] Aber viele notwendigen Dinge sind eben nicht rentabel: Es lässt sich kein Geld damit verdienen, etwas nicht herzustellen.“ (5)

Der Emissionshandel ist also schon durch seinen ökonomischen Ansatz zum Scheitern verurteilt. Zwar bringt er Unternehmen dazu Umweltschäden als Kostenfaktor mitzurechnen, kann aber nicht die drohende Erderwärmung effektiv stoppen. Zudem ist der Handel mit CO2 nur für Großkonzerne profitabel, da sich die CDM-Zertifizierung erst ab Einsparungen von ca. 15.000 Tonnen CO2-Äquivalenten rechnet. Da unabhängige Studien zudem davon ausgehen, dass 40% aller CDM-Zertifikate „faul“ sind, also bspw. unrealistisch große Mengen an eingesparten Verschmutzungen zertifizieren, wird das System nicht mal formalen Ansprüchen gerecht.

Alles in allem spiegelt CDM auch globalpolitische Verhältnisse wieder: Die eigentlichen jahrhundertelangen CO2-Verschmutzer verdienen sich nun durch den Bau umweltfreundlicher Technologie im Süden eine goldene und imagefördernde Nase und können gleichzeitig den hiesigen Produktionswahnsinn inklusive Verschmutzung beibehalten. Der Westen kauft sich mit guter Luft aus dem Süden frei – nur schade, dass dem Süden trotzdem die Luft zuerst ausgehen wird. Das Geschäft mit den Verschmutzungszertifikaten ist profitabel und wäre mit weltweiten Verpflichtungen auch noch konkurrenzfähig. Wohl deshalb argumentieren Großunternehmen hierzulande in „grüner Manier“ für die globale Verankerung des CDM.

Der Fisch stinkt vom Kopfe her

Die Präsenz großer Unternehmen in Kopenhagen macht vor allem eines deutlich: Ihr Bestreben sich mit einem umweltfreundlichen Image den Einfluss auf globale Entscheidungen zu sichern. Systemkonforme, profitable „Umweltkonzepte“ gefallen Staat und Kapital und sollen radikaleren Forderungen den Boden entziehen. Wie sehr sich dabei die Interessen der Staaten mit denen ihrer Konzerne verschränken, verdeutlicht nicht nur das Beispiel Monsanto, sondern auch die gesamte Debatte der Staatsvertreter_innen in Kopenhagen. Denn die Uneinigkeit in Bezug auf ein gemeinsames Abkommen war nur ein Spiegel der unterschiedlichen nationalen Interessen, die sich maßgeblich aus der jeweils ansässigen Industrie speisen. So argumentieren die Industrieländer vermeintlich aufopferungsvoll in Bezug auf Naturschutz, mithilfe von Konzepten wie dem Emissionshandel – und profitieren dabei, da die neue Technologie in den eigenen Reihen hergestellt wird. Da den Staaten ein hohes Bruttoinlandsprodukt ebenso heilig ist, wie den Unternehmen die prallgefüllte Geldbörse und sich die Menge an Macht auch proportional zum Reichtum verhält, haben die Industrieländer wieder einmal die besseren Karten. Langfristig bringen mächtig gewordene Schwellenländer wie China, Brasilien oder Japan zwar das hegemoniale Verhältnis aus dem Gleichgewicht – das System jedoch bringen sie erwartungsgemäß nicht zu Fall. Im Falle des Emissionshandels bspw. profitieren Länder wie China, denen für ein paar Zertifikate neue Kraftwerke ins Land gesetzt werden, um ihr Interesse an „nachholender Industrialisierung“ gleich mit vermeintlichem Umweltschutz und profitabler Technikinnovation zu verbinden.

Den Armen dieser Welt ist damit aber leider nicht geholfen. Dank der rigiden Migrationspolitik rund um „Festung Europa“ haben diese auch wenig Chancen aus der Armutsfalle zu entkommen. Dass Armut sich angesichts der Erderwärmung verschärfen wird, ist allgemein bekannt – alternative Konzepte mit denen der Problematik begegnet werden könnte, leider weniger. Tatsächlich brauchen wir nicht nur offene Grenzen, um Menschen aufzunehmen, deren Auskommen langfristig gedacht durch die westliche Industrialisierung zerstört wurde, sondern auch einen generellen, radikalen Wandel weg vom wirtschaftlichen Wachstumsparadigma und der Profitorientierung. Statt Konkurrenzindustrie mit einhergehendem vermeintlichen Wachstumszwang und Überproduktion, sollte mit Bedacht nach Bedarf produziert, ausgetauscht und konsumiert werden. Dafür würden auch erneuerbare Energien reichen. In einer Gesellschaft, in der die Versorgungssysteme (wirklich) vergemeinschaftet sind, also in dezentralisierten Zusammenhängen gemeinsam geplant, produziert, konsumiert und verwaltet wird, besteht die Chance, tatsächlich zum Wohle Aller im Einklang mit der Natur zu produzieren. Auch im Bereich der Mobilität müssten Eigentumsverhältnisse verändert werden: Vergemeinschaftete, billige öffentliche Verkehrsmittel führen langfristig zur Überwindung des Individualverkehrs und der damit einhergehenden Umweltverschmutzung. Die radikalen Veränderungen der Lebensverhältnisse wirken angesichts derzeitiger Zustände utopisch und müssen erst hart erkämpft werden. Zeitgleich lohnt es sich aber auch im Kleinen die eigenen Gewohnheiten, den Umgang mit der Natur, die gewählten Verkehrs- und Lebensmittel und die eigene solidarische Praxis kritisch zu reflektieren. Ein Leben im Einklang mit der Natur bedeutet nicht zwangsweise in Enthaltsamkeit leben zu müssen. Dafür aber braucht es einen politischen Willen. Von den 195 Staatsvertreter_innen und etlichen Unternehmen auf dem Kopenhagengipfel ist diesbezüglich selbstverständlich nichts zu erwarten. Um so mehr sind wir gefragt. Das Umweltargument kann – richtig angewandt – das global etablierte kapitalistische System gewaltig in’s Wanken bringen. Also packen wir’s an!

(momo)

Exkurs: Die grüne Monsanto-Weste

Welch weitere groteske Auswirkung der CDM (Clean Development Mechanism) hat, lässt sich auch gut am Beispiel Monsanto verdeutlichen: Der einstige Chemiekonzern, der sich heute mit der Entwicklung und Verbreitung von genmanipulierten Sojapflanzen einen weltweiten Namen macht, hat inzwischen bewirkt, dass dieses Soja CO2-Zertifikate gutgeschrieben bekommt, wenn es für die Biodieselproduktion verwendet wird. Bisher beschränkt sich das aber auf Soja-Flächen, die nicht neu gerodet, sondern bereits vorher landwirtschaftlich genutzt wurden. Das wiederum reicht Monsanto nicht, denn der Konzern will mit jedweden Anbau seiner Pflanzen, inklusive des Unkrautvernichtungsmittels (Roundup) CO2-Zertifikate verdienen, mit der Begründung, es sei kein Pflug mehr nötig, so dass CO2 nicht aufgewirbelt würde, sondern in der Erde eingeschlossen bleibt. Dass damit weitere Waldrodungen (also die Vernichtung unsere natürlichen CO2-Binder) zum Anbau von Gen-Soja gerechtfertigt und ein hochgiftiges boden- und tierwelt-tötendes Pestizid das Prädikat „umweltfreundlich“ bekommen würden, widerspricht zwar jeder Naturschutzlogik, wird aber in betriebswirtschaftlicher Manier ausgeklammert. Schließlich geht es ja lediglich um den verhinderten CO2-Ausstoß und nicht um den Gesamtzusammenhang. Für diese Strategie lässt Monsanto auch einiges springen und engagiert sich seit Jahren als herausragender Lobbyist u.a. beim „Runden Tisch für verantwortliches Soja“ (RTRS), der Monsanto-Soja auch als „verantwortungsvoll“ zertifiziert und so den Weg zur künftigen CDM-Anerkennung freimacht. In Sachen Umweltpolitik spielt Monsanto generell den großen Lobbyisten in den USA, paktiert global mit CDM-, Landwirtschafts- und Umweltorganisationen sowie der US-amerikanischen Regierung, um für seine Roundup-Ready-Sojapflanzen-Herstellung als „Klimaschützer“ zertifiziert zu werden. Durch sein Engagement und die guten Regierungskontakte gelang es Monsanto auch, die Idee der CDM-Anerkennung von CO2-Senken (also die Anerkennung von Boden und Wald als CO2-Speicher, um die eigenen Felder als umweltfreundlich zertifiziert zu bekommen) auf den Verhandlungstisch für das Kyoto-Protokoll zu bringen. Die Festschreibung dessen war jahrelang von den USA zur Bedingung gemacht worden, um das Kyoto-Protokoll anzuerkennen – denn so würden nicht nur die Roundup-Ready-Sojafelder, sondern generell 25 Millionen Hektar des US-Farmbodens als CO2-Senken anerkannt werden. Diese aggressive Lobbyarbeit von Monsanto wurde auch in Kopenhagen thematisiert – nicht von den Konferenzteilnehmenden, sondern von den NGOs. So kam es auch, dass Monsanto und RTRS den „Angry Mermaid Award” verliehen bekamen (6).

Klimaproteste in Kopenhagen

Mehr als 500 zivilgesellschaftliche, überwiegend Umwelt- und Entwicklungsorganisationen mobilisierten zu Protesten rund um den Klimagipfel, der vom 07.12. bis 18.12.2009 im Bella Center von Kopenhagen stattfand. Den Auftakt der Protestveranstaltungen bildete eine Großdemonstration am 12.12., an der ca. 100.000 Menschen aus aller Welt teilnahmen, um den Konferenzteilnehmenden nachdrücklich zu signalisieren, von welch enormer Bedeutung eine radikale Veränderung der aktuellen Klimapolitik ist. Ca. 1000 der Demonstrierenden wurden an diesem Tag von der Polizei grundlos fest- und in Gewahrsam genommen. Auch an den darauf folgenden Aktionstagen wurde v.a. eines deutlich: Die Polizei war vorbereitet, instruiert und gewillt, die Protestierenden einzuschüchtern, abzuschrecken und von einer tatsächlichen Konferenzstörung abzuhalten. Hohe Zahlen von „vorsorglichen“ Festnahmen vor und während friedlicher Demonstrationen, brutales Vorgehen bei Blockadeauflösungen, Verwehrung von Grundrechten wie Nahrung, Toilette und Anwaltkonsultationen bis hin zum Pfeffersprayeinsatz im Gefängnis können dies belegen.

Die Protestaktionen selbst waren gut organisiert und z.T. sehr kreativ gestaltet. So gab es neben einem alternativen Klimagipfel auch den Versuch einer Hafen-Blockade sowie einen Landwirtschafts-Aktionstag, bei dem u.a. ein riesiger Müllhaufen vor Nestlé abgeladen und grün angemalt wurde. Zentral war jedoch vor allem der „Reclaim-Power-Actionday“ am 16.12., bei dem versucht wurde, das Bella Center sowohl von außen zu stürmen, als auch von innen zu öffnen. Die bis dahin geduldeten NGOs in den Vorräumen der Konferenzsäle starteten von innen eine Demo, um sich dann mit den Protestierenden draußen – die dank massiver Gewaltanwendung seitens der Staatsdiener_innen nicht vordringen konnten – zu verbinden. Statt dem erhofften Zutritt endete die Aktion mit reichlich Schlagstockeinsatz, Festnahmen, späteren Unterkunftsdurchsuchungen und dem Entfernen der NGOs aus dem Bella Center. Insbesondere die Ausschreitungen am „Reclaim-Power-Actionday“, verbunden mit den Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Protestierenden während der Woche, verdeutlichen den zweifelhaften Charakter der Konferenz, die einerseits vorgibt im Sinne der Zukunft Aller zu konferieren und andererseits diejenigen unter Gewalt ausschließt, die für jene Zukunft Veränderungen im Heute fordern.

 

Lesetipps:

RWE, Vattenfall, Monsanto:

*www.klima-luegendetektor.de

 

Zu den Klimaprotesten:

*at.indymedia.org/node/16619

*www.guardian.co.uk/environment/video/

2009/dec/17/copenhagen-climate-change

*www.vimeo.com/8231100

 

Allgemein:

*Le MONDE diplomatique, Atlas der Globalisierung 2009

(insb. S.70-98)

*carta.info/19844/der-klimagipfel-im-netz/

*www.wir-klimaretter.de

 

(1) Zusammenschluss der 192 UN-Staaten, die das Dokument „zur Kenntnis“ nahmen

(2) Zum Vergleich: Die Rüstungsausgaben weltweit betrugen 1454 Milliarden Euro im Jahr 2008. Mit anderen Worten: jährlich werden 7-10 mal mehr Gelder für Rüstung ausgegeben als notwendig wären, um allen Entwicklungsländern eine klimafreundliche Umgestaltung ihrer Wirtschaft zu ermöglichen. LE MONDE diplomatique 2009

(3) COP15 = Offizielle Bezeichnung der 15. UN-Konferenz zum Klimawandel in Kopenhagen

(4) Vattenfall bspw. präsentierte sich in „Hopenhagen“ (so wurde offiziell das Spektakel auf dem Kopenhagener Markt zur Gipfelzeit genannt) als Sponsor und Umweltfirma via Windräder, obwohl sie in Brandenburg ganze Dörfer für ihren Kohleabbau umsiedeln lassen und derzeit bei Hamburg das größte Kohlekraftwerk Europas bauen. Dafür wurden sie auch von Greenpeace zum „klimaschädlichsten Stromanbieter Deutschlands“ gekürt und bekamen im Mai 2009 den „Climate Greenwash Award“ verliehen.

(5) Elmar Altvater in: „Vermessung der Utopie“, 2009, S.46f

(6) Der Preis der „wütenden Meerjungfrauen“ wurde ins Leben gerufen, um die Rolle der Unternehmens-Lobbyisten und Gesellschaften aufzudecken, die Klimagespräche u.a. Klimamaßnahmen sabotieren, indem sie profitable, falsche Lösungen propagieren. Siehe auch: www.angrymermaid.org

Auf dem Kreuzzug der Informationsfreiheit

In immer kleineren Intervallen macht WikiLeaks mit immer spektakuläreren „Datenbefreiungen“ von sich reden und hat es mit dem letzten großen Coup vom 25. Juli 2010, der Veröffentlichung von gut 76.000 geheimen US-Dokumenten über den Afghanistan-Krieg, bis in die etabliertesten Medien geschafft. Dieser bildet nur den derzeitigen Höhepunkt des rasanten Aufstiegs der Internetplattform, die in nicht mal vier Jahren insgesamt weit über 1,2 Millionen teils sehr brisanten Dokumenten die Freiheit schenkte und dabei einigen Staub aufwirbelte.

Dabei ist WikiLeaks (engl.: (to) leak – ein Leck, etwas durchsickern lassen) erstmal nicht mehr als eine Webseite, deren erklärtes Ziel „die massenhafte und nicht auf den Absender zurückzuführende Veröffentlichung und Analyse von geheimen Dokumenten“ ist. Prinzipiell kann jede_r im Besitz von Geheimdokumenten diese dort sicher hochladen und sie werden nach eingehender Prüfung der Authentizität und Spurenbereinigung durch Spezialisten auf wikileaks.org gestellt. Nur im Falle hochbrisanter und wie bspw. im aktuellen Afghanistan-Fall (1) kriegsrelevanter Daten wird im Zweifel, ob jemand durch den Leak direkt in Leib und Leben bedroht ist, von der Veröffentlichung abgesehen. Diesem Vorwurf sieht sich das Whistleblower-Portal (2) dennoch ausgesetzt, weil WikiLeaks als höchstinvestigatives Projekt einigen Mächtigen ziemlich auf die Füße tritt. Wobei es allerdings nicht einer gewissen Ironie entbehrt, gerade von kriegsführenden Militärs der Gefährdung  ihrer Soldaten beschuldigt zu werden.

Gut organisiert?!

Doch wer steckt eigentlich hinter dieser Seite, die da plötzlich wie ein Wirbelwind auf der politischen Bühne auftaucht? Die virtuelle Plattform WikiLeaks ist Teil der (sonst noch recht leeren) „publishing entity“ sunshine press, einer unkommerziellen Nicht-Regierungsorganisation, gegründet von Menschenrechtsaktivist_innen, investigativen Journalist_innen, Informatiker_innen und anderen aktiven Menschen. WikiLeaks besteht dabei laut Selbstauskunft als freier Zusammenschluß aus „22 Leute[n], die direkt in das Projekt involviert sind“ und über 1.000 Zuarbeiter_innen aus über 60 Ländern. Öffentlich repräsentiert wird das Projekt jedoch nur durch wenige – der australische Hacker und Journalist Julian Assange, der deutsche „Sprecher“ mit dem Pseudonym Daniel Schmitt und der US-amerikanische Hacker Jacob Appelbaum wären da zu nennen. Gründer und Mastermind Assange wird in den Medien gern als „Chef“ bezeichnet, obwohl immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß WikiLeaks nicht auf einer zentralen Hierarchie basiert.

Sinn dieser konspirativen Konstitution ist der größtmögliche Schutz der Mitwirkenden, also vor allem der Quellen, auf denen das Projekt aufbaut. Denn WikiLeaks’ einziger Zweck besteht darin, Dokumente an’s Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die den Weg dahin aus ganz bestimmten Gründen nicht finden sollen. Journalismus in seiner radikalsten Form, wenn mensch so will. Kriterium zur Veröffentlichung ist neben dem Fakt der Geheimgehaltung die „öffentliche Relevanz“. Die ist freilich relativ, doch soll es laut Schmitt keine „Güteabwägung“ geben.

Um die Geheimhaltung gewährleisten zu können, bedarf es neben hoher technischer Versiertheit, die einige Hacker einbringen, auch einer sicheren Infrastruktur. Hilfe bekommt WikiLeaks hier u.a. in Schweden. Dort, genauer gesagt im Stockholmer Vorort Solna, stehen die Server der Firma PRQ, dessen Gründer auch schon The Pirate Bay (3) betrieben, und bieten den heißen Dokumenten eine von der Piratpartiet (4) mit Hosting und Bandbreite komplett gesponsorte und behütete Heimat. WikiLeaks hofft unter dem schützenden Mantel einer demokratischen Partei vor Razzien etwas sicherer zu sein, als bei den anderen Servern in Belgien oder Island, bzw. das Risiko besser verteilen zu können. Möglich ist allerdings ein Umzug auf den künftigen „Informationsfreihafen“ Island, wo die von WikiLeaks entscheidend mitinitiierte Icelandic Modern Media Initiative (IMMI) Mitte Juni einem Gesetzesvorhaben zum umfassenden Journalisten- und Quellenschutz zustimmte (5).

Zudem beantragte Assange Mitte August beim schwedischen Patentamt das sog. Utgivningsbevis, die formale Voraussetzung, um unter den dortigen (sehr weitreichenden) Quellenschutz für Journalisten zu fallen. Dadurch und durch Assanges kürzliche Anstellung bei der Zeitung Aftenbladet könnten die meisten rechtlichen Gefahren gebannt werden. Allerdings bedarf WikiLeaks sehr wahrscheinlich noch einer Rechtsform, oder Gerichte und Gesetzgeber nehmen sich der neuen Form von Aktivismus an, bewegt sich derzeit doch alles noch in rechtlichem Niemandsland.

Gefahr droht dem Projekt allerdings vor allem von geheimdienstlicher Seite. Ein Strategiepapier der CIA, das im März geleakt wurde, erkennt und bewertet die „Bedrohung, die WikiLeaks für die Spionageabwehr der US Army darstellt“. Und so kann sich WikiLeaks wohl schon mal auf „die Identifikation, Bloßstellung, Entlassung von oder ein juristisches Vorgehen gegen aktuelle oder frühere Insider, Informanten oder Whistleblower“ einstellen (6). Denn diese und andere geplante Aktionen drohen der Plattform nun, sollen das Vertrauen in sie oder gar sie selbst zerstören.

Solche oder ähnliche Hintergründe könnten auch im aktuellen Gewirr der Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange vermutet werden.  Die Stockholmer Staatsanwaltschaft stellte zwei Anzeigen, die auf den Aussagen zweier Frauen beruhen. Diese wurden jedoch kurz nach ihrer Bekanntwerdung wieder zurückgezogen, dann als sexuelle Belästigung und schließlich als Vergewaltigung wieder aufgenommen. Interessant ist an solchen Vorgängen vor allem, wie sehr die interne Politik WikiLeaks von solchen Vorwürfen beeinflusst wird. Mittlerweile fordert Birgitta Jónsdóttir, WikiLeaks-Aktivistin, Mitglied der IMMI und des isländischen Parlaments sowie Vertraute Assanges, er solle sich eine Auszeit nehmen und andere die Fackel tragen lassen. Das kratzt am „Chef“ persönlich, allerdings auch an geplanten Veröffentlichungen, die sich durch die rechtlichen Querelen schon verschoben.

Völlig unpolitisch?!

Hier zeigt sich die (personelle) Angreifbarkeit des Projektes, welches durch deutlich dezentralere Strukturen, also großflächige Aufgaben- und Machtverteilung, sicherer und nützlicher wäre.

Wenn dann ein Vernehmungsprotokoll Assanges trotz mehrfach zugesicherter Geheimhaltung einem Boulevardblatt zugespielt wird, bekommt der Aktivist einen Vorgeschmack dessen zu spüren, was WikiLeaks mit anderer Menschen Daten anstellt. So wurden z.B. Namen, Adressen, Alter und Beruf von fast allen 12.801 Mitgliedern der British National Party oder 37.000 eMails der NPD der Öffentlichkeit preisgegeben. An diesem Scheideweg macht sich zwar die grundpolitische Einstellung der Beteiligten bemerkbar (es werden sichtbar Dokumente veröffentlicht, die rechtsextremen Organisationen und ihren Mitgliedern Schaden zufügen können), doch steht das Projekt damit nicht eindeutig auf der Seite der Guten. (7) WikiLeaks selbst gibt sich neutral und beteuert seine unpolitische Haltung, denn es veröffentlicht „alles, was nicht von irgendwem selbst verfasst wurde und ein echtes Dokument ist, egal ob es von links oder von rechts kommt“, sagte Daniel Schmitt in einem Interview (8). Hier kommt der tiefgreifende Idealismus der Aktivisten zum Vorschein, wenn Schmitt auf die Gefahr hingewiesen wird, unbescholtene Personen könnten durch Leaks zu Schaden kommen und er antwortet: „Wir entwickeln uns in eine Gesellschaft, in der im Internet immer mehr Informationen zu jedem vorhanden sind. Keiner weiß mehr, wie viel über einen unterwegs ist. Alle Menschen werden lernen müssen, damit verantwortungsbewusst umzugehen.“ Datenschützer sind die Leaker jedenfalls nicht, eher so etwas wie das radikale Gegenteil. „Die Gegenseite kann ja zurückleaken. Und dann gibt es am Ende eine Riesenschlammschlacht der Wahrheit. Die Öffentlichkeit entscheidet, was von Interesse ist. Und was uninteressant ist, wird untergehen.“

Dabei wird schnell klar, daß das Gerede von Selbstregulierung Augenwischerei ist. Schließlich entscheidet WikiLeaks, was veröffentlicht wird, und – noch viel wichtiger – was wie veröffentlicht wird. Viele Dokumente, die den Aktivisten selbst wichtig erscheinen, wurden und werden von der etablierten Presse nämlich kaum aufgegriffen, ihnen so die Öffentlichkeit versagt. Weswegen sich WikiLeaks auch entschlossen hat, mit den etablierten Medien zusammenzuarbeiten. In Zukunft soll dies bedeuteten, daß „die Quelle entscheidet, welches Medium ihr Dokument für einen von ihr festgelegten Zeitraum als erstes sieht“, so die Ankündigung Schmitts. Sowieso könnte sich noch einiges tun auf WikiLeaks’ Kreuzzug der Informationsfreiheit. So soll ein Heer von freien Mitarbeiter_innen den enormen Arbeitsaufwand der Prüfung und Aufarbeitung von immer mehr Dokumenten vor allem dadurch leisten können, daß es von hauptamtlichen Mitarbeiter_innen koordiniert wird. Die Bezahlung dieser soll wiederum durch eigene Stiftungen in allen möglichen Ländern geleistet werden. Noch übernimmt das die Wau-Holland-Stiftung (9), die Spenden für das Leakprojekt einnimmt. Diese beruhigte auch die schnell laut werdenden Stimmen über die Intransparenz von WikiLeaks’ Finanzen und schlüsselte öffentlich auf, was in etwa für Technik- und Reisekosten drauf ging. An der Undurchsichtigkeit nehmen immer mehr Kritiker_innen Anstoß und so hat sich – frei nach dem Motto „Wer überwacht die Überwacher?“ – kürzlich sogar schon WikiLeakiLeaks gegründet (10).

Doch auch ohne die doppelmoralistische Transparenzschiene zu fahren gibt es durch den oben erwähnten blinden Idealismus genug Anlaß, Kritik zu üben. Gibt sich WikiLeaks auch noch so unpolitisch, so können sie dennoch nicht vor ihrer politischen Verantwortung fliehen. Völlige Informationsfreiheit macht vielleicht in einer völlig aufgeklärten Gesellschaft Sinn, auf dem Weg dahin ist das Verhältnis von freier Information zur Aufklärung jedoch ein höchst ambivalentes. So werden Informationen niemals völlig objektiv ihre Rezipient_innen erreichen und sind Zeitpunkt, Ort und vor allem Art ihrer Veröffentlichung und Aufarbeitung immer Mittel für einen politischen Zweck, der sich in der Konkurrenz der Interessensparteien erst nach dem Medienfilter zeigt. So lässt sich mit einer medienkompetenten Handhabung des Instruments gezielt Einfluß auf politische Entscheidungen üben und so letztlich selbst Politik machen. Genauer gesagt ist diese politische Einflußnahme immanenter Bestandteil des WikiLeaks-Konzeptes, über welchen sich die Aktivist_innen in Zukunft besser bewusst werden sollten, anstatt nur „den Mächtigen an’s Bein [zu] pinkeln“ (Assange).

(shy)

 

(1) WikiLeaks hält mit dieser Begründung noch gut 15.000 Dokumente zurück, kündigte aber ihre Veröffentlichung nach weiteren Prüfungen an

(2) angloamerikanischer Rechtsbegriff, der im Deutschen mit “Tippgeber“ eine unzulängliche Entsprechung hat, siehe auch: de.wikipedia.org/wiki/Whistleblower

(3) größter BitTorrent-Tracker (Vermittler von Tauschanfragen für Daten) und Flaggschiff der schwedischen Anti-Copyright-Organisation Piratbyrån (Piratenbüro), trug durch die medienwirksame Beschlagnahme ihrer Server 2006, den folgenden Rechtsstreit und die öffentliche Auseinandersetzung darum maßgeblich zum Erfolg der Piratenpartei (nicht nur) in Schweden bei

(4) Aus dem Umfeld der Piratbyrån Anfang 2006 gegründete schwedische Piratenpartei für Informationsfreiheit, Datenschutz und eine Reform des Urheberrechts, nach deren Vorbild es Piratenparteien in mittlerweile über 40 Staaten gibt.

(5) de.wikipedia.org/wiki/Icelandic_Modern_Media_Initiative

(6) im Original: file.wikileaks.org/file/us-intel-wikileaks.pdf

(7) Es passt, wenn dctp ein aufschlußreiches Interview „Wir sind die Guten“ betitelt: www.dctp.tv/#/meinungsmacher/wikileaks-schmitt

(8) www.taz.de/1/netz/netzpolitik/artikel/1/wir-brauchen-die-obskuritaet-noch/

(9) nach dem verstorbenen Hacker, Freidenker, Datenphilosophen und Mitbegründer des Chaos Computer Club benannter gemeinnütziger Verein

(10) Klicken unter Vorbehalt, wenn schon bekannte Firewalls warnen: „Auf www.wikileakileaks.org sollten Sie Vorsicht walten lassen.“

Kleine Chronik der spektakulärsten Veröffentlichungen von WikiLeaks:

Im Juli 2007 veröffentlichte WikiLeaks über den Guardian einen Report des kenianischen „Anti-Korruptions-Zaren“ John Githongo über die Milliardenkorruption des ehemaligen kenianischen Präsidenten und seiner Regierung. Der Bericht war wochenlang Top-Thema in den kenianischen Medien und hatte vermutlich erheblichen Einfluß auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl im Dezember des gleichen Jahres. Schätzungen zufolge wurden 10 bis 15 Prozent der Stimmen von diesem Leak beeinflusst.
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Ebenfalls 2007 wurden die Richtlinien für das Gefangenenlager Guantánamo Bay veröffentlicht. Sie bewiesen die schon lange vermuteten Menschenrechtsverletzungen/Folterungen der US-Armee.
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Im Jahr 2008 publizierte WikiLeaks Internetsperrlisten verschiedener Länder, die den Sperrsystemen eine hohe Fehlerrate sowie oftmals den eindeutigen politischen Missbrauch bescheinigen.
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Im Juli 2009 kam es zu einem großen Empathiezuwachs in Island, als WikiLeaks mit einem internen Dokument der größten isländischen Bank aufzeigte, daß die Banker u.a. durch unsichere Kredite in Milliardenhöhe erheblich zur dortigen Bankenkrise und dem folgenden Staatsbankrott beigetragen haben. Durch viele Medienauftritte, z.B. in der meistgesehenen Talkshow des Landes, wurde das Konzept von WikiLeaks populär, woraus die IMMI hervorging, welche sich zum Ziel gesetzt hat, Island zu einem internationalen Datenfreihafen zu machen.
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Im November 2001 kam es zum sog. Climategate, bei dem gehackte eMails aufzeigen sollen, wie Forscher der Climatic Research Unit der Universität von East Anglia systematisch Daten zum Klimawandel manipuliert und verschwiegen haben sollen. Die Veröffentlichung sorgte für viel Wirbel rund um die Klimakonferenz in Kopenhagen (FA #37) und entfachte eine starke Diskussion um Transparenz in wissenschaftlicher Arbeit.
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Nur vier Tage später waren es ca. 570.000 Pager-Nachrichten, die am 11. September 2001 in New York versendet wurden. Bemerkenswert hieran ist nicht so sehr der Inhalt, sondern die Erkenntnis, daß Unternehmen schon damals in diesem Ausmaß Telekommunikationsdaten und sogar Inhalte speicherten und diese wahrscheinlich von Regierungsstellen mitgelesen wurden.
Am selben Tag begann WikiLeaks mit der Veröffentlichung großer Teile der geheimen (selbst Bundestagsabgeordneten nicht zugänglichen) Toll Collect-Verträge. Das Konsortium täuschte damals über die Funktionsfähigkeit des Mautsystems und verschwieg die mit dem Bundesverkehrsministerium ausgehandelte Milliardenrendite.
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Im Dezember 2009 folgte der Feldjäger-Report zur durch einen deutschen Offizier ausgelösten Bombardierung von zwei Tanklastern in Afghanistan, bei dem 142 Menschen (größtenteils Zivilisten) umkamen, der bewusste Fehlinformationen der Regierung bewies und eine innenpolitische Krise auslöste.
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Im März 2010 dann ein aufschlußreicher CIA-Report, der sich mit den Meinungen der europäischen Bevölkerung zum Afghanistan-Krieg, und wie diese im Sinne der USA zu beeinflussen sind, beschäftigt.
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Im April 2010 ging mit www.collateralmurder.com ein Video der U.S.-Streitkräfte im Irak online, welches die Erschießung von augenscheinlich Unbewaffneten zeigt und allein in den ersten 72 Stunden bei YouTube 4,5 Millionen Zuschauer_innen erreichte. Assange und ein paar Mitstreiter schlossen sich für die Entschlüsselung, Übersetzung und mediengerechte Aufarbeitung des Videos mehrere Wochen in ein eigens angemietetes unauffälliges Haus in Reykjavik ein, um mit diesem „ProjectB“ im April 2010 den medialen Coup zu landen, der ihnen die wichtigen finanziellen Mittel und Weltöffentlichkeit für die nächsten Veröffentlichungen einbringen sollte.
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Im Juli dann das sog. Afghanische Kriegstagebuch, eine Sammlung von über 76.000 Dokumenten von Soldaten, Geheimdiensten, Botschaften und anderen Quellen aus den Jahren 2004 und 2010. Neben vor allem für die USA sehr ärgerlichen Enthüllungen militärischer Art wirft der Leak ein desaströses Bild auf die Sicherheitslage in Afghanistan. Auch Informationen zu Osama bin Ladens Beteiligung lassen sich darin finden. Die Dokumente wurden vorher Spiegel Online, der New York Times und dem Guardian zur Analyse und zeitgleichen Veröffentlichung überlassen, was die gesamte mediale Aufmerksamkeit enorm steigerte.
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Im August 2010 wurden Unterlagen zur Planung und Genehmigung der Loveparade 2010 veröffentlicht, bei der in einer Massenpanik 21 Menschen umkamen.