Archiv der Kategorie: Feierabend! #04

Fehlstart des Leipziger Jobcenters

Leipzig. Es sollte das erste Jobcenter Deutschlands werden und zu Leipzigs Profilierung beitragen. Doch die feierliche Eröffnung am 1.1. 03 fiel stillschweigend aus. Der Grund: Arbeitsamt und Rathaus können sich nicht darüber einigen, wer für die Bereitstellung der Räumlichkeiten zuständig ist und so die Miet- und Betriebskosten zu zahlen hat. Soll das Jobcenter eigenständig sein, benötigt es eigene Räume, falls das Arbeitsamt aber eine Art Macro-Jobcenter sein soll, wäre dieses zuständig. Dabei gibt es in der Innenstadt schon jetzt eine Vermittlungsstelle von der städtischen Sozialamtsstelle und dem Arbeitsamt. Schuld an den Unklarheiten soll eine Gesetzeslücke sein.

Lokales

Wirtschaftstheologie

Vor dem 11. September 2001 war es das gesellschaftliche Thema schlechthin: Neoliberalismus. Die Oppositionsbewegung bewies in Prag, Nizza, Zürich, Rom, Göteborg und Genua erstaunliche Mobilisierungskraft – es demonstrierten jeweils mehrere tausend Menschen – und sie besteht, unabhängig vom medialen Schweigen zu dieser Sache weiter. Im folgenden einige kurze Ausführungen zum Streitobjekt.

 

Entgegen den vor allem von der europäischen Sozialdemokratie verbreiteten Meldungen, das Zeitalter des Neoliberalismus, die bleierne Zeit konservativer Regentschaft sei vorüber, wirkt die Ideologie – verstanden als Weltanschauung – des Neoliberalismus weiter. Das sogenannte „Schröder-Blair-Papier“ (1999) oder das „Kanzleramtspapier“ (2003) sind beredte Zeugen dafür, nur heißt es nicht wie ehedem bei Thatcher und Kohl das „freie Spiel der Wirtschaft“, sondern wird uns als »Modernisierung“ verkauft. Wer nicht zuhören mag, kann das bald sehen, nämlich an den Verfahrensweisen und Auswirkungen des Hartz-Papiers. Nur dass niemand verwundert sei, soll hier kurz das Verhältnis von „freier Wirtschaft“ und Staat beleuchtet werden. Etwas verwirrend ist`s nämlich, wenn ranghohe (im Arbeitgeberverband) Unternehmer immer wieder einen Rückzug des Staates fordern… sind das denn Anarchisten?!

Ein Blick in die Geschichte soll uns ein bisschen Aufklärung geben. Der Ausgangspunkt der neoliberalen (in Anlehnung an den Liberalismus des 19. Jahrhunderts) Ideologie war die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er, für die die „kommunistischen und sozialdemokratischen“ Strömungen verantwortlich gemacht wurden, da sie mit ihrem Staatsinterventionismus das freie Spiel der Märkte aus der Balance gebracht hätten. Das geistige Fundament des Neoliberalismus bilden Sozialdarwinismus und Konkurrenz. Gesellschaftliche Entwicklungen seien Ergebnis einer Auslese, wobei nur der/die/das Stärkste und Beste überlebe und Wirkung entfalte. Materielles wie philosophisches Zentrum des neoliberalen Universums bilden Privateigentum und marktwirtschaftlicher Wettbewerb – in diese Sphäre soll der Staat nicht eingreifen. Dennoch ist der starke Staat, vor allem mit den Politikfeldern innere und äußere Sicherheit sowie Standortpolitik, fester Bestandteil der Konzeption. Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit könnte größer nicht sein. Es heißt zwar, der Markt regele alles. De facto aber ist immer wieder staatliches Eingreifen notwendig, um die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten und Pfründe zu sichern. So ist denn „Standortpolitik“ oder auch die „Reform des Arbeitsmarktes“ nichts weiter als das: die konkurrierenden Standorte überbieten sich gegenseitig in der Garantie von Vorteilen (Infrastruktur, Subventionen, Steuerfreiheit, arbeitsrechtliche Sonderregelungen …), was jüngst auch im Bewerben Leipzigs um die neue BMW-Fertigungsanlage zu beobachten war. Mit der Umsetzung des Hartz-Papiers wird liberale Wirtschaftspolitik nun auch auf das Arbeitsrecht übertragen – damit, im Sinne eines wirtschaftlichen Aufschwungs, wieder klar ist, wer der Herr im Hause ist. Soziale Errungenschaften werden zugunsten der Kapitalseite revidiert. Aber auch der Politikstil Schröders ist Ausdruck neoliberalen Gedankenguts. Mit den zahlreichen Kommissionen („Nationaler Ethikrat“, Hartz, Rürupp…) wird der Wettbewerbskorporatismus in großem Stil gepflegt, dort sitzen nämlich in überwiegender Mehrheit UnternehmerInnen und Mitglieder der politischen, wissenschaftlichen und bürokratischen Elite – eine Auszeichnung auch für Herrn Tiefensee. So sind heute schon bedeutende Ansätze der „idealen Verfassung“ verwirklicht, die Hayek (einer der Gründerväter des Neoliberalismus) einst für Margaret Thatcher entworfen hatte. In diesem Demokratie-Konzept wird die dumme Masse Mensch durch eine Elite, den „Rat der Weisen“ gelenkt ganz die Berliner Republik! Demokratie wird verstanden zwar als Legitimation, doch das ist nur die Strategie für „sichere“ Zeiten. Die Möglichkeit der unmittelbaren Gewalt, einer Diktatur, bleibt immer offen.

Aber heute, da der Neoliberalismus in einer entpolitisierten Marktgesellschaft festen Fuß gefasst hat, steht dem Feigenblatt der Demokratie nichts entgegen – selbst theoretisch ist eine Umwälzung der bestehenden Ordnung per Stimmzettel derzeit (1) nicht zu befürchten.

Und auch von attac, worauf die „Anti“globalisierungs-Bewegung medial ja reduziert wird, ist nichts zu befürchten. Fordert diese Vereinigung doch, und mit ihr zahlreiche andere, zwar einige Eindämmungen und Regulierungen, sie steht jedoch nicht für eine Änderung der Grundrichtung ein. Zwischen dem „angloamerikanischen Neoliberalismus“ und der „rheinischen sozialen Marktwirtschaft“ besteht keine Opposition. Letztere nämlich, die von Gewerkschaften und attac verteidigt wird, ist ebenso wie ersterer auf die Macht eines starken Staates angewiesen – wer sonst wollte ein „Bündnis für Arbeit“ zustande bringen?

Glücklicherweise jedoch leben wir noch nicht in einer total formierten Gesellschaft, hier und da noch Ketzer und Ketzerinnen wider die Wirtschaftstheologie der Herren und Damen, der Bürgerinnen und Bürger. Zugegebenermaßen ist das ein recht kleiner Haufen, darunter sich auch die Anarchistlnnen befinden. Dieser Haufen ist jedoch recht rührig, wie auch am Feierabend! zu ersehen, und es ist nie aller Tage Abend!

A.E.

(1) Johannes Agnoli führte in seinem 1968 erschienenen Buch „Die Transformation der Demokratie“ aus, warum eine solche Umwälzung mit dem Stimmzettel überhaupt nie zustande kommen kann.
Literatur: Ptak, Ralf: „Chefsache. Basta! Der Neoliberalismus als antiegalitäre, antidemokratische Leitideologie“, www.buena-vista-neoliberal.de (Stichpunkt „Ressource“)

Hartz-Gesetze

Wiedernoch weben am Leichentuch?

In diesem Heft wollen wir uns, als Beitrag zur aktuellen Diskussion, mit der Sozialen Frage, dem sogenannten „ Kampf der Klassen“ befassen. Der Begriff der Klasse wirft heutzutage einige gewichtige Fragen auf, gar die nach seiner Berechtigung. Denn zuallererst scheint er Grenzziehung zu betreiben, Berliner Mauern zu errichten: zwischen den „guten“ Arbeitern und den „bösen“ Kapitalisten. Dem entgegen denken wir, dass sein ideeller Kern auch heute noch von Bedeutung ist, indem er nämlich auf einen Zustand verweist, der noch immer seiner Aufhebung harrt.

Besonders die in den Diskussionen um das Hartz-Konzept viel beschworene und blumig beschriebene Ich-AG – die großzügig auch auf eine Familien-AG anwachsen darf – ruft unwillkürlich einige Zeilen Heines ins Gedächtnis: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt“, und erinnert so an die schlesischen Weber. Diese Assoziation mit frühkapitalistischen Verhältnissen, den Heimwerkstätten der Weber, die quasi als Familien-AG Tag und Nacht in wirtschaftlicher Abhängigkeit schufteten, und das ganze unternehmerische Risiko zu bürden hatten, machte uns stutzig.

Historischer Exkurs

Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ (1)

Dem Klassenbegriff haftet in den heutigen Diskursen etwas seltsam verstaubtes an. Und tatsächlich war es vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, in welchem er seine Blüte feiern konnte. Ob Drei-Klassen-Wahl-System in Preußen, Verurteilungen wegen Aufhetzung zum Klassenhass, Klassenkämpfe oder Klassentheorie — zumindest auf. den deutschen Territorien herrschte eine eindeutig nach Klassen bestimmbare Vergesellschaftung. Der schwelgenden Hocharistokratie, dem Adel und dem Großbürgertum stand ein Heer von Elend und Not bedrohter Menschen gegenüber, rechtlos zum Spielball der Mächtigen degradiert. (2) Die Unterteilung in Erste und Zweite (damals wahrscheinlich auch in Dritte) Klasse, wie wir sie noch heute bei der Deutschen Bahn finden, erinnert daran. Für den einfachen Mann (von den Frauen ganz zu schweigen) gab es keinen Weg zum Bürgertum, geschweige denn zur Aristokratie, allerhöchstens noch den lebenslangen Umweg übers Kleinbürgertum.

Aber auch für die betuchten Bürger öffnete sich nur äußerst selten ein Türchen zu der Herren Tische. Wer in seine Klasse geboren wurde, war auf sie festgelegt. War die Mutter Näherin, wurde es die Tochter oftmals auch, besaß Vater einen Handelskontor, übernahm diesen sein Sohn, und befahlen die Eltern über 20.000 Untertanen, so taten es ihnen ihre Kinder gleich. Aber was unterschied eine Klasse vom Stand? Und was hat es mit den großen Klassenkämpfen und vor allen Dingen mit Marxens Theorie der Klassengegensätze auf sich? Mit den Begriffen Besitz, Erwerb und Sozietät sollen drei Schlüssel zum Verständnis des Klassenbegriffs angeboten werden.

Besitzklassen

Unter Besitz sollen insbesondere die konkreten Lebensumstände (Güter) verstanden sein, in denen Menschen ihr Leben entwerfen. Man sieht schnell, dass sich hier eine grobe wenn auch statische Unterscheidung in Klassen anbietet. Auf der einen Seite die Klasse der nahezu Besitzlosen, auf der anderen die der Besitzenden. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob jemand über Haus, Land, Gesinde, „Welfenschatz“ oder andere Güter verfügen kann oder eben nicht. Am Beispiel der Feudalgesellschaft lässt sich das am einfachsten verdeutlichen. Adel und Aristokratie vererbten ihren Besitz via Land und Güter innerhalb der Familie, während weite Teile der Bevölkerung oftmals nur ihre Leibeigenschaft an ihre Kinder weiterzugeben vermochten. In der Feudalgesellschaft, um beim Beispiel zu bleiben, lassen sich also zwei verschiedene Besitzlagen klassifizieren.

Erwerbsklassen

Nun scheint das eine sehr ungenügende Klassifikation zu sein, zumal es schwer fällt, diese Unterscheidung auf gegenwärtige gesellschaftliche Umstände zu projizieren. In den hochentwickelten Industrieländern ist die Klasse der Besitzlosen beinahe verschwunden – relative Unterschiede sind oftmals rein quantitativer Natur – eine allein auf dem Besitzstand fußende Klassenrhetorik scheint demzufolge völlig unzureichend (3). Gehen wir noch einmal zum Beispiel der Feudalgesellschaft zurück. Besitz wurde hauptsächlich durch Vererbung erworben. Daneben waren Raub, Kauf und Schenkung die gängigsten Erwerbsarten, deren günstigste Voraussetzung natürlich wiederum … Besitz war. Durch Arbeit konnte man zwar überleben, aber selten Besitz anhäufen. Das änderte sich erst durch den durch Handel bedingten Aufstieg des Bürgertums. Der Erwerb von Besitz durch Handel, also durch gewinnbringenden Kauf und Verkauf, wurde schnell zu einer wesentlichen Dynamik gesellschaftlicher Veränderung. Dass von einer solchen Dynamik eher die ehemalige Klasse der Besitzenden profitierte, ist einsichtig. Wer konnte im 19. Jahrhundert schon Kupferminen ver- oder Anteilsscheine an Rüstungsbetrieben einkaufen? Insoweit also der Erwerb von Besitz auf schon vorhandenem Besitz fußte, übertrug sich der Klassenunterschied. Hier die Masse der Menschen, deren Erwerb gerade ausreichte, Überleben zu sichern, dort eine Gruppe, deren Besitz durch Erwerb stetig stieg (akkumulierte). Erwerbsklassen waren also insofern identifizierbar, als es einen qualitativen Unterschied zwischen Menschen gab, deren „Erwerbsarbeit“ keinerlei Chancen auf Besitz bot und denen, deren Erwerb immer größere Chancen der Besitzanhäufung mit sich brachte. Das so oft sorglos im Mund geführte Wort der „Chancengleichheit“ rekurriert auf eben diesen Tatbestand.

Soziale Klassen

Aber auch die auf Besitz ruhende Klassifikation nach Erwerbschancen bereitet Schwierigkeiten, versucht man sie auf gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen. Die zunehmende Komplexität der Güter- und Kapitalkreisläufe, die Verteilungsmechanismen des modernen Staates (4 ) verwischen die Grenzen zwischen den Erwerbsklassen einer Gesellschaft. Letztlich sind sie gegen die Risikobereitschaft jedes einzelnen relativiert. Nehme ich einen Kredit auf, wage ich die Umschulung, investiere ich in Rente oder Rendite? Besitz vermindert zwar das Risiko bedrohlichen Verlusts, ist aber nicht mehr kategorische Voraussetzung für, gute Erwerbschancen. Zwar sind noch immer ganze Schichten der Bevölkerung im Erwerb chancenlos – vor allem marginalisierte Gruppen wie Migrantlnnen, kriminalisierte jugendliche, körperlich Beeinträchtigte etc. pp. – aber nach ihren Erwerbschancen lassen sie sich nicht qualitativ klassifizieren. Fasst man allerdings die Besitz- und die Erwerbslage allgemein als Lebenslage auf, bietet sich noch eine weitere Möglichkeit der Klassifikation, wie wir sie auch schon aus dem 19. Jahrhundert kennen. Ohne Besitz von Land (Heim) und Gütern, ohne Chance durch Erwerb selbiges jemals zu erlangen, waren Menschen prekär abhängig von Miet- und Arbeitsverhältnissen, räumlich und zeitlich immobil in Milieus verwurzelt, in denen gleiche Erfahrungen ähnliche Lebenslagen prägten (soziales Leben). (5) Demgegenüber gab es einige, die ihren Wohn- und Lebensraum frei bestimmen konnten, äußerst mobil waren und allerhöchstens in kleinen Familien mit Hof-und Hausstab (Gesinde) lebten (individuelles Leben). Zwischen den beiden Lebenslagen schossen oftmals unüberwindliche Mauern auf, so dass es kaum Durchdringungen gab. Insoweit sich also die Lebenslagen qualitativ von einander unterschieden, stand die sozialisierte Klasse der individualisierten gegenüber.

Stellung im Produktionsprozess

Aber auch diese Klassifikation stellt uns vor erhebliche Probleme, wollten wir sie auf gegenwärtige Umstände in den Industrieländern übertragen. Durch die Relativierung von Besitz und Erwerbschancen prägt Individualisierung heute ein heterogenes Feld von Lebenslagen, in denen die Lebensumstände und -erfahrungen jedes Einzelnen erheblich differieren. Ja selbst große Teile der Sozialisation sind in die Institutionen des modernen Staates gelagert. Aber was soll – so könnte man an dieser Stelle berechtigter Weise einwerfen – die Rede von Klassen dann heute noch bedeuten? Und da – nun kommt´s – hat uns Marx die Augen geöffnet. Er sah die Klassengesellschaft seiner Zeit, die chancenlos Besitzlosen und die risikofreudigen Besitzenden, die verelendeten sozialen Milieus und die im Überfluss schwelgenden Herrenhäuser. Und sein Verdienst ist es u.a., diesen sichtbaren qualitativen Unterschied, auf die Sphäre der Produktion, auf die. Prozesse der kapitalistischen Produktionsordnung zurückgeführt zu haben. Denn genau hier war der Klassenunterschied „rein“ (abstrakt) anschaubar. Und ist es, wohl bemerkt, auch heute noch, trotz allem Gerede von flachen Hierarchien und Aktienbeteiligung. (6) Das individualisierte Eigentum an den Mitteln der Produktion, historisch aus der Besitzlage entsprungen, bemächtigte einen Teil der Menschen im Produktionsprozess derart mit Verfügungsgewalt, dass ihnen der Rest ohnmächtig gegenüber stand, Und dieser Klassenunterschied regeneriert sich überall dort, wo Produktion unternommen wird und via Eigentumsrecht Menschen Verfügungsgewalt über Produktionsanordnungen gewinnen und damit andere in ökonomische Abhängigkeit von ihnen stürzen.

Arbeitskampf als Interessenkonflikt von Klassen

Ohne Zweifel waren es die Arbeitskämpfe der vergangenen Generationen, die dafür sorgten, das die Grenzen zwischen den Besitz-, Erwerbs- und sozialen Klassen zunehmend brüchig wurden. Derart, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Ganz im Gegenteil zu den Ländern der „Zweiten Welt“. Solange allerdings die Klassengesellschaft fortbesteht, als „reine“ (abstrakte) in der Ordnung der Produktion, lautet die entscheidende Frage der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit: wer kann Kraft seines Wortes – und der entsprechenden (strukturellen) Gewalt – die eigenen Interessen [besser] durchsetzen? Wer kann Gestaltung erzwingen? Wem nutzt die bestehende Ordnung, wem nicht? Wer hat ein gesteigertes Interesse an deren Aufrechterhaltung? Dass das Feld dieses Interessenkonfliktes wesentlich auf der Ebene der Produktion zu suchen ist, zeigt schon das Bemühen des modernen Staatsapparates an, dessen Gestaltungswille immer wieder von neuem um die Sphäre der Produktion kreist. Hier stehen sich jedoch, bedingt durch die Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, die, Interessen zweier Klassenlagen konfliktreich gegenüber, Aber ist man sich dessen denn bewusst?

Macht und Politik zum Durchsetzen von Interessen

Das liberale Projekt repräsentativer Staatspolitik, in der heutigen Foren der Bundesrepublik (8), war zur Befriedung von Interessenskonflikten innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen angetreten. Doch erwies es sich im Verlauf als unfähig, trotz einiger Erfolge der Sozialdemokratie, wie u.a. die Fortschritte im Arbeitsrecht, wirklich zwischen den konkurrierenden Interessen derart zu vermitteln, das eine Aufhebung der Klassengesellschaft möglich wurde. Im Gegenteil, und das zeigt die derzeitige „Hartz-Reform“ ganz deutlich, sobald der Druck der Arbeitskämpfe nachlässt, sind bereits erstrittene Fortschritte wieder in Gefahr. Es ist heute nicht ausgeschlossen, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Woran liegt das? Unseres Erachtens vor allen Dingen daran, dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen. Politiker, mit dem hauptsächlichen Interesse ihres eigenen Machterhalts; Unternehmer, deren Interesse einzig und allein der Gewinnmaximierung dient, und nicht zuletzt die breite Bevölkerung, die die Chancen eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse ungenutzt lässt, lieber Ideologien wie Rassismus, Konkurrenz oder Individualismus folgt und sich damit die einzige substanzielle Möglichkeit zur dauerhaften Verbesserung ihrer Lebenssituationen beschneidet: die vereinte, zielgerichtete Aktion im wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Bereich, dem Arbeitskampf mit dem Ziel der Aufhebung der Klassengesellschaft.

clov & A.E.

(1) Karl Marx in d. Rheinischen Zeitung um 1843
(2) vgl. Bernt Engelmann, Wir Untertanen, Fischer 1976
(3) Parolen wie „Her mit dem schönen Leben!“ á la attac und IGM-Jugend sind daher auch eher Ausdruck von Sozialneid denn Zeichen tieferer Analyse.
(4) Nicht zuletzt begnügt sich der moderne Staat damit, in den Verbesserungen der Erwerbschancen seinen primären Bildungsauftrag zu sehen.
(5) Das Bild des Schlafburschen (-mädchens) mag genügen: Es waren Leute, die während der Arbeitszeit des Bettbesitzers selbiges zum Schlafen mieteten.
(6) Erstere werden auf einmal wieder ziemlich steil, wenn es um Entlassungen (Krisensituationen) geht, und wer sich so viele Aktien seines Betriebes leisten kann, dass er mitreden kann, der braucht, ehrlich gesagt, nicht mehr zu arbeiten.
(7) Peripherie – teilweise Infrastruktur, mittelkapitalistische Produktionsordnung (bestes Beispiel ist der derzeitige Generalstreik in Venezuela.)
(8) Rechtstitel

Theorie & Praxis

Die Großstadtindianer (Folge 3)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser III

„Land voraus!“ rief Kalle zur allgemeinen Erheiterung unserer kleinen Expeditionsgruppe aus, und machte dabei die Handbewegung eines Spähers. Und tatsächlich, hinter der Straßenbiegung tauchten die großen Fenster der Kneipe auf. „Zum Fass“ stand in fetten Lettern an der Hauswand. Daneben parkte ruhig und verlassen das Zielobjekt unserer Begehrlichkeiten, der kleine Transporter von Buggemüller. Das weiße Tuch, unser Signal, hing noch träge an der Radioantenne. Schlumpf, der sich schon eine Weile von mir ziehen ließ, sprang vom Wagen, eilte ein paar Schritte voraus und baute sich, klein wie er war, vor uns auf. „Irgendwann irgendwann zahl ich euch das heim!“, er wankte brummend wie der Buggemüller, „Revanche?!!!“, und imitierte seinen jaulenden Ton. Wir prusteten laut los. Kalle rief frohlockend: „Ja natürlich, Buggi!“ Boris trat zu Schlumpf und stülpte ihm kurzerhand seine Kiepe über den grasgrünen Kopf. Als der Druck seiner kräftigen Arme nachließ, begann die Kiepe prompt zu laufen. Schmatz, der kaum einen Meter von der Seite Schlumpfs wich, verstand die Welt nicht mehr und tobte mit wildem Gebell um den tippelnden Holzkorb. Es hätte nur noch gefehlt, dass Schlumpf über seinen zotteligen Gefährten gestolpert wäre und die groteske Szene hätte ein jähes Ende gefunden. Ein einmaliges Paar, dachte ich bei mir, und dabei hatte ihre Freundschaft unter ganz anderen Vorzeichen begonnen.

Moni war es gewesen, die Schlumpf eines Morgens zwischen dem Heu entdeckte und ihn zum Frühstück einlud. Aber der Rotzlöffel türmte. Am nächsten Morgen saß er auf den Stufen des Bauwagens, baumelte mit seinen dünnen Beinchen und schwieg vor sich hin. Da der kleine Junge scheinbar nicht reden wollte, ließen wir ihn in Ruhe und stellten ihm nur einen Teller Essen zur Seite. Moni und ich machten uns ganz schöne Sorgen, Kalle winkte aber nur ab: „Wer ein großer Freibeuter werden will …“ Er kam wieder, sehr zum Missfallen von Schmatz, der damals in der Blüte seines Hundelebens stand und es ganz und gar nicht ertragen konnte, dass da noch jemand gefüttert wurde. Er nutzte jeden unbeobachteten Augenblick, um Schlumpf, so nannten wir den Kleinen kurzerhand, böse knurrend anzufeinden. Als Schmatz sogar eine Gelegenheit missbrauchte, um Schlumpf vom Gelände zu jagen, entschlossen wir uns schweren Herzens, ihn an die Kette zu legen. Vorläufig. Schmatz litt beträchtlich unter dieser Freiheitsberaubung, das war ihm anzusehen. Wenige Tage später jedoch, kam Boris an den Frühstückstisch und sagte: „Schmatz ist weg!“ Alle sahen sich fragend an, doch niemand hatte ihn von der Kette gelassen. Auch Schlumpf tauchte in den nächsten Tagen nicht auf. Vor allem Kalle nahm sich das Ganze sehr zu Herzen und baumelte den ganzen Tag Trübsal blasend in seiner Hängematte. Nach drei Nächten kamen sie dann. Zusammen. Einer an der Seite des anderen, und beide waren von oben bis unten derart mit Dreck überzogen, dass sogar ich die Hände über dem Kopf zusammen schlug. Schlumpf trat zu uns und fragte zum Erstaunen aller: „Darf ich bei euch wohnen?“ Ich überlegte noch, da spürte ich schon einen unsanften Knuff von Moni, die direkt hinter mir stand. Just fiel mir ein, dass ja Opa Hinrichs Dachwohnung im Wohnhaus nach seinem Tod ungenutzt geblieben war. Sicherlich wären einige Handgriffe nötig, aber das würde schon gehen. Und im Haus hatte sicher auch niemand etwas dagegen. „Ok. Aber jetzt geht erst mal unter die Dusche. Beide!“ Ich wusste auch schon, wer diesen Job mit dem Gartenschlauch liebend gern übernehmen würde. Kalle verstand es als Seetaufe und kam nach einer geschlagenen Stunde sichtlich zufrieden zu mir: „Den Meuterern hab´ ich´s gegeben.“ Er konnte schon wieder lachen.

Während ich mich noch so erinnerte, erreichte unser Trupp gut gelaunt die Kneipe. Ich wandte mich zu Kalle: „Jetzt kommt´s auf dich an.“ „Aye, aye!“, er ging entschlossen in Richtung Tür. Ich folgte ihm. Boris, Schlumpf und Schmatz blieben draußen, bereit den Wagen von Buggemüller zu entladen. Im Schankraum empfing uns eine dichtklebrige Dunstwolke aus Rauch, Alkohol und viel, viel Schweiß. Buggemüller saß an einem der hinteren Tische, seine Wangen glühten bereits vom Alkohol und vor Ehrgeiz. Als er Kalle erblickte, wuchtete er seinen feisten Körper in die Höhe und machte einen grimmigen Schritt auf ihn zu. „Diesmal“, er jaulte vor Erregung, „diesmal bist du dran!“ Kalle trat an seinen Tisch, setzte sich und streckte ihm seine Hand entgegen: „Um die Ladung draußen auf ihrem Wagen?!“ Buggemüller lachte etwas abschätzig, zerrte an seinem Gürtel, schlug dann aber mit seiner schwulstigen Pranke ein. „Die Wette gilt!“ Ich nickte bestätigend und ging zur Theke. Das Spiel konnte beginnen.

(Fortsetzung folgt…)

clov

…eine Geschichte

Virtuelle „Chaoten“

Auch dieses Mal fand das alljährliche Sylvester-Spektakel am Connewitzer Kreuz zwischen Grün- und Schwarzuniformierten statt. Die Aufregung der bürgerlichen Presse war voraussehbar, die überdimensionierten Panikattacken, aber doch ein wenig überraschend. Während sich die LVZ noch mit 300 gewaltbereiten Jugendlichen, versteckt unter weiteren 500 Feiernden begnügte, ,,prügelten und plünderten 800 Chaoten“ in Springers heißem Blatt. Da hat wohl ein Redakteur zu tief ins Glas geschaut! Denn: Wären wirklich 800 „Chaoten“ am Kreuz gewesen, hätten die 200 im Areal postieren PolizistInnen wohl ziemlich alt ausgesehen, auch mit einem Räumpanzer und vier Wasserwerfern. Aber wie hört sich denn das an, wenn nach Augenzeugenangaben 300 Feiernde und (maximal) 50 „Chaoten“ mit der Polizei Katz und Maus spielten? Jetzt fahndet die Polizei mittels Videoaufnahmen nach den bösen Steineschmeißern. Wo bleibt da die sportliche Fairness?

kater murr

Lokales

Sabotage! Sabotage!

Sabotage (frz. saboter „mit einem Holz­schuh niedertreten“), die Vereitelung ei­nes Zieles durch böswillige geheime Ge­genwirkung oder passiven Widerstand so­wie die vorsätzliche Beschädigung oder Zerstörung von Maschinen, Arbeitsmit­teln, Waren u.a. aus Anlass eines Arbeits­kampfes oder zu politischen Zwecken. (Lexikonerklärung)

Darum geht es. „Sabota­ge, ArbeiterInnen aus den USA erzählen ihre Versi­on des alltäglichen Klas­senkampfs.“ ist der Titel eines Buches, das im Sisina, Satz Druck Verlag schon 1993 erschien, als Herausgeber fungiert Martin Sprouse und übersetzt haben das ganze Wildcat und FreundInnen. Sprouse ließ sich Ende der 80er von Arbeitern und Ar­beiterinnen aus allen Wirtschaftsbereichen persönliche Erlebnisse von Sabotageakt­ionen erzählen. 125 dieser unterschied­lichsten Anekdoten sind in diesem Buch (nach den Wirtschaftssektoren geordnet) veröffentlicht. Die erzählten Geschichten sind Geschehnisse, die zwischen Ende der 60er bis zum Interviewzeitraum passier­ten – Und was das für Geschichten sind!

Randall, der Daten für eine Versiche­rungsfirma eingibt, läßt offene Rechnun­gen verschwinden, sortiert und beschrif­tet Akten falsch, da ihm die „armen Schlu­cker" leid tun, die ihre Policen nicht be­zahlen können. Ein Feuer wäre das beste, meint er, leider ist die Sprinkleranlage in Ordnung… Ein Bibliothekar spielt mit Kollegen das Spiel, die Kartei der Biblio­thek mit nicht existierenden Büchern und Zeitschriften zu füllen, deren Titel absurd oder kritisch sind. Der Tankwart Keith beklaut seine Chefin, weil sie eine „rassis­tische Ziege“ ist, oder hängt an Tagen, die die Kasse brummen lassen, einfach das „Geschlossen“-Schild raus. Äußerlich ist er ein „Mustertankstellenwart“, freundlich und zuverlässig. Drei Packer beginnen, weil sie ihre Arbeit zu anstrengend finden, plötzlich die fertig abgepackte Ware der Fabrik zu zerstören und ignorieren den tobenden Vorarbeiter komplett. Ein Fisch-Eindoser, der in einer Konservenfabrik in Alaska arbeitet, nutzt den Umstand, dass die ganze Maschinerie eine Viertelstunde stillsteht, wenn man nur einen Konserven­deckel falsch herum auflegt, weidlich aus… Er erzählt dazu: „Die ganze Sache war so entfremdend, dass ich alles rechtfertigen konnte, was ich dage­gen tat. Es war wohl eine der elendesten Erfahrungen meines Le­bens, und das, was ich machte, half, es ein wenig erträglicher zu machen.“

Menschen machen manchmal Dinge kaputt, um ein Gefühl des Einflusses und der Kontrolle über ihre Umgebung zu bewahren. Mit konventionellen und gewaltlosen Mitteln gelingt ihnen das nicht. Sabotage drückt symbolisch ihre Unabhängigkeit von der Firmenleitung aus.“

(Journal of Business Ethics)

So unter­schiedlich die Ge­schichten auch sind, die dieses Buch ver­sammelt, diese Begrü­ndung könn­te man fast jedem Sabo­tageakt geben. Es geht hier nicht um gro­ße Schadenssummen bis hin zum Bank­rott, es ist das Aufbegehren gegen die ei­gene Arbeit. Die Spannweite des weit gefassten Sabotagebegriffs von Sprouse reicht von eigenmächtiger Pausenverlänge­rung („Kippe auf dem Klo“) über Dieb­stahl und Chaosstiften bis zur wirklichen Pleite der Firma.

So antwortete Sprouse auch auf die Frage eines Radioreporters, was er als „Experte“ vorschlagen würde, um das „Problem der Sabotage“ zu lösen, Sabotage sei kein Pro­blem, sondern eine „notwendige und an­gemessene Reaktion“ auf Arbeit. „Und da sie kein Problem ist, gibt es keine Lösung.“ Im Vorwort zur deutschen Ausgabe wird richtig darauf hingewiesen, dass Sabotage meist lediglich „ein Akt der Rebellion ge­gen die Arbeit“ ist, die Weiterentwicklung in kollektive Kämpfe aber nicht erfolgen muss. Damit wird auch der Mythos um die Sabotage kritisch beleuchtet.

Was mir die Lektüre dieses Buches sehr angenehm machte, ist die Tatsache, dass hinter der Fassade, des scheinbar gut lau­fenden Betriebes, doch Leute stehen, die ihre Selbstachtung (meist) individuell zu verteidigen wis­sen – übrigens berichten Saboteure, die in einer Gruppe handeln, dass sie mehr „Spaß“ hätten als bei Einzelaktio­nen. Na also, nie­mand braucht ein schlechtes Gewissen zu haben, weil alle anderen ja angeblich Spaß an ihrer Arbeit haben.

Auf vielen Seiten des Buches ergänzen üb­rigens am Rand Zi­tate aus Management-Untersuchungen, aus linken Ge­werkschaftskreisen, und radikaler Pro­paganda zu Sabotage und renitenten Ar­beitern, das Lesevergnügen.

Ihr wisst, was zu tun ist: Lesen und Kämp­fen, Kämpfen und Lesen, und sich ansonsten die Sonne auf den Bauch schei­nen lassen!

kao

Interhierarchische Kommunikationsprobleme

„Entwicklungshilfe“ in Deutschland

Es gehört ja wohl zu den Paradoxen der real existierenden Demokratie, dass die Verständigung zwischen unseren Hierarchien nicht so recht klappt möchte. Im Zusammenhang mit der Nachbereitung der ostdeutschen Flutkatastrophe im Sommer letzten Jahres zeigte sich, dass unser demokratisches System sogar an den ideell wichtigen Punkten wackelt.

Eine erste Bilanz der Flut ergab einen Kostenvoranschlag von 9,2 Milliarden Euro, davon entfielen allein zwei Drittel auf Sachsen. Dass die Flut eine gewisse Rücksicht auf die Finanzlage Deutschlands nahm, zeigt sich darin, dass die Schäden nur halb so groß waren wie ursprünglich erwartet. 7,1 Milliarden Euro gibt es aus dem Fonds Aufbauhilfe und – ganz klar – auch die EU darf mit 444 Euro aus dem EU-Solidaritätsfonds nicht fehlen.

Wie allseits bekannt, gab es viel spontane Solidarität und noch viel mehr tatkräftige und. finanzielle Hilfe. (Feierabend! berichtete) Was uns dann aber im Gegenzug wirklich erstaunte, waren die etlichen Menschen, die teils hunderte von Kilometern fuhren, nur um sich dann ganz ohne finanziellen Anreiz beim Sandsackstapeln und Putzen abzurackern. Und als dann auch noch in Deutschland das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl auch von unseren Regierungsbürokraten wieder entdeckt wurde, nicht zuletzt zu Wahlpropagandazwecken, gab es von oben den – durch den Aufschub der Steuerreform finanzierten – Geldsegen. Auch wenn dieser natürlich genau genommen von unten, also von den SteuerzahlerInnen herrührt. Wie dem auch sei, unsere Regierung hat sich entschlossen die ihr zur Verfügung stehenden Spendengelder und Mittel aus dem Bundeshaushalt an die Geschädigten zu verteilen. Sehr schön. Das Problem ist nun aber, dass Geld und Empfänger sich anscheinend einfach nicht finden können. Die Anspruchsberechtigten empören sich, die Flutgelder flössen nicht, während sich gleichzeitig die Verwaltung beschwert, man säße auf den Geldern, und tue tagein, tagaus nichts anderes als händeringend auf AntragstellerInnen zu warten. Diese wiederum scheinen teilweise Anträge und Amtsstuben mehr zu fürchten als Wasser und Schlamm. Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass vor allem die ältere Generation der Verteilungsgerechtigkeit dieses Staates mittlerweile nicht mehr so recht vertrauen mag und aus diesem Grund die Gelder zögerlich beantragt. Laut Manfred Stolpe gibt es 10000 Schadenfälle an Wohnhäusern, dahingegen seien aber erst 2000 Anträge eingegangen.

Doch zurück zum Ausgangspunkt: Um nicht schon wieder eine „Spendenaffäre“ in Deutschland zu riskieren, scheut das Land Sachsen-Anhalt weder Kosten noch Mühen, die bestehenden Mittel unter die Menschen zu bringen. So ziehen nun dieser Tage staatliche Angestellte von Ort zu Ort, Haus zu Haus, um die Anwohner zu überreden, doch bitte die mitgebrachten Antragsformulare auszufüllen. Wie schwierig sich so ein Vorhaben gestalten kann, soll folgender Dialog verdeutlichen, der sinngemäß einen Auszug aus einer Fernsehreportage zum Thema wiedergibt:

A: Schönen Guten Tag!

B: Ja, was gibt´s?

A: Haben Sie schon Fluthilfegelder beantragt?

B: Nein, wieso, gibt´s denn so etwas?

A: Ja!

B: Aber da kommt bestimmt nicht jeder, der betroffen ist, was, oder?

A: Doch, Sie sind doch auch geschädigt worden?

B: Ja, schon.

A: Na, schön, dann beantragen sie doch Unterstützung.

B: Ja, wie geht denn das? Das ist doch sehr aufwendig.

A: Ach, nein, schauen Sie, ich habe die Anträge gleich mitgebracht.

B: Ach, die sind immer so kompliziert und umständlich.

A: Nein, haben Sie einen Moment Zeit, ich helfe Ihnen.

B: Mmmmh, na wenn das so ist.

hannah i.

Sag mir wo Du stehst

Zum Wieso – Weshalb – Warum einer Wandgestaltung

 

Mitten im Zentrum von Leipzig stolpert so mancher seit zwei Jahren geistig über diesen „extremistischen Farbtupfer“. So jedenfalls wurde das Wandbild Ross Sinclairs, eines schottischen Künstlers, von mehreren Passanten bezeichnet. Auch wenn den meisten auf den ersten Blick nicht klar sein dürfte, was das Bild an dieser Stelle soll, scheint es zu polarisieren

„Mich mit meinem Publikum zu unterhalten, ist mein Ziel […] Und nicht auf eine […] vorübergehende Art, sondern….“

Sehr trist sähe die graue Wand gleich gegenüber dem Nikolaikirchhof aus, wenn nicht dieses comicartige Wandbild in grel­len Farben dort prangte. Große schwarze Lettern auf buntem Hintergrund verkün­den eine „Anleitung“ für das „REAL LIFE“ – „Das wahre Leben“.

Aber Vorgaben, wie das Leben zu meis­tern sei, sind die zehn Punkte keineswegs. Vielmehr zieht Sinclair den Betrachter in einen Sog aus Zweifeln. Was soll hier ver­mittelt werden?

Die Verwirrung, die das Bild erzeugt, erinnert daran, dass wir uns die Frage nach dem Sinn ei­ner Staatsbürgerschaft, einer nat­ionalen Zugehörigkeit oder eines Passes gar nicht mehr stellen.

Es zeigt auch, dass die Einteilung der Welt in politische Einheiten nur ein Kon­strukt ist um Herrschaft zu erhalten, Kon­trolle auszuüben und dem Einen ein gro­ßes Stück vom Kuchen, dem Anderen aber ein kleines zuzuteilen. Dass du nicht als Mensch, sondern über die Nummer in deinem Pass definiert wirst. Dass allein deine Herkunft dich entweder zu einem zivilisierten Menschen oder einem barbarischen Schurken macht.

Die Position, die der Betrachter einnimmt, ist hierbei flexibel. Sie hängt davon ab, ob man es bevorzugt DU SOLLST oder DU SOLLST NICHT zu lesen. Diese Wahl wird einem gelassen. Denn genau das ist der Clou: während man das Gefühl hat, nichts verstanden zu haben, da ja alles offen bleibt, ist man schon dabei Stellung zu beziehen. Auf diese Weise zeigt Ross Sinclair das wirkliche Leben und einige der Entscheidungen, die es bestimmen. (Bitte das Bild jetzt noch mal gründlich lesen oder in die Leipziger Innenstadt pilgern.

„… in einem ehrlichen Versuch, uns alle zusammenzubringen, uns alle auf den Kopf zu stellen und zu schütteln, bis es weh tut.“ (2)

Was ist das „REAL LIFE“? Ist es un­ser alltägliches Leben, Arbeit, Haushalt, Fernsehen – die Mühsal des Alltags? Oder findet es statt in jenem Lebensstil, den wir in Filmen, im Fernsehen, in der globalen Werbung und Kommunikation vermittelt bekommen? Haben wir uns an diese Bilder derart gewöhnt, dass wir nicht mehr in der Lage sind das Wahre vom Falschen, das Reale vom Fiktiven und dem oft Lächerlichen eines spektakulären Lebens zu unterscheiden?

Ross Sinclair bietet eine mögliche Sichtweise an: „REAL LIFE“ kann irgend­wo sein, versteckt in unseren Köpfen. Es könnte eine andere Art zu leben geben. Irgendeine, bei der die Wünsche und Mög­lichkeiten jedes Individuums verwirklicht werden. Ross Sinclairs „REAL LIFE“ Pro­jekte funktionieren wie Fenster, durch die das Publikum diese anderen Räume betre­ten kann, Orte, an denen man sich für eine Weile einbildet, wie unsere Lebensweisen auch anders sein könnten. Und da die Kunst Sinclairs vom Dialog und der Denk­arbeit des Publikums lebt und sich an die Öffentlichkeit wendet, kann man sich vielleicht auch vorstellen, wie dieser Ort gemeinschaftlich gestaltet werden könnte. Es geht dabei – wie Ross Sinclair sagt – „um uns selbst, […] gegenüber der Welt.“ (2)

Die Thematik des Werkes findet sich nicht nur in diesem Einzelkunstwerk. Wäh­rend der zurückliegenden sieben Jahre hat Ross Sinclair, 1966 in Glasgow geboren, seine Projekte in vielen verschiedenen Län­dern und Kontexten realisiert, an öffentlichen und privaten sowie institutionellen und autonomen Orten. So ließ sich der Künstler 1994 in großen fetten Lettern die Worte „REAL LIFE“ auf seinen Rücken tätowieren. Er betrachtet seine künstleri­sche Arbeit als ein nachhaltiges Forschungs­projekt – unser gesamtes Lebensumfeld als seinen Fundus. Für sich und andere Künst­ler arbeitet er an seinem eigenen „REAL LIFE“. Mitte der 70er Jahre fand sich in Glasgow eine Gruppe aus Künstlern, Stu­denten und Kritikern zusammen, die sich nach und nach eine selbst organisierte In­frastruktur von Ausstellungshäusern, Ga­lerien, Ateliers u.ä. aufbaute. So wird die Utopie durch gemeinsames Handeln kon­kret und REAL.

Realisiert wurde das Wandbild im Rah­men der Expo 2000, unter Mitarbeit der „Galerie für zeitgenössische Kunst“. Die Anregung dazu lieferten die verblassenden Werbemalereien des alten Regimes, die noch an einigen Häusern in Leipzig zu se­hen sind. Allerdings soll hiermit nicht in Nostalgie abgedriftet werden, sondern altvertraute Technik wird benutzt um neue, scheinbar paradoxe Inhalte zu vermitteln.

Die „Anleitung“, die auf den zweiten Blick keine ist, stellt auch einen interessanten Kontrast zu der sie umgebenden Einkaufsmeile Leipzigs dar. Dort, wo mensch eigentlich nichts als die „pure Auswahl“ haben sollte, weist sie darauf hin, dass es wesentlichere Fragen gibt. Zurück bleibt das merkwürdige Gefühl, nicht zu wissen, ob man gerade auf eine Werbung hereinfällt oder ob tatsächlich jemand eine Entscheidung erwartet.

Lasst uns grenzenlos werden!

 

wanst & hannah r.

(1) bezieht sich auf eine Umfrage in der Nummer vier der Zeitung zum Projekt „Neues Leben“ der Galerie für Zeitgenössische Kunst.

(2) Zitat Ross Sinclair in „Neues Leben“ Nummer vier.

Editorial FA! #4

Willkommen in der vierten Feierabend!-Ausgabe, die sich schwerpunktmäßig um das Skandalkonzept von Hartz, die neuen Gesetze und ihre Folgen dreht.

Etwas irritierend fandet Ihr sicher die Ge­staltung unserer Verkaufsstellen (im wei­teren VS genannt)-Seite im letzten Feier­abend!. Auch wir hatten uns diese Seite anders vorgestellt, waren uns jedoch einig, dass die unterbezahlten Saboteurinnen in unserer Druckerei doch human vorgegan­gen sind, als sie sich nur diese, mit doch eher sekundärem Informationsgehalt ver­sehene, Seite ausgesucht haben. Eine klei­ne Änderung gibt es trotzdem: Aus dem tiefen Bedürfnis heraus, für unsere unent­geltlichen VS als kleines Dankeschön auch mal eine Anzeige unterzubringen, aber mit dem Anspruch trotzdem nicht das Erschei­nungsbild eines Snack&Service-Kataloges zu bekommen, haben wir uns entschieden, abwechselnd je eine VS besonders hervor­zuheben. Beginnen werden wir in dieser Ausgabe, schön der Reihe und nach dem arabischen Alphabet, mit Husseim’s SHAHIA auf der KarLi (sorry Husseim, für das peinliche Foto-shooting und danke für den Süßkram).

Euer Feierabend!

Sinnstiftende Personal-Service-Agenturen

Neuen Schwung am Arbeitsmarkt sollen Personal-Service-Agenturen (PSA) bringen. Nach dem Willen der Hartz-Kommission sollen Arbeitslose, die sechs Monate arbeitslos sind, durch die neuen Agenturen als Zeitpersonal in Betriebe (zwangs)vermittelt werden. Die Argenturen stellen dann die Arbeitslosen ungefragt ein und verleihen sie an interessierte Unternehmen für einen verhandelbaren Lohn.

Die Entliehenen bekommen anfangs „Lohn“ in Höhe des Arbeitslosengeldes und später Niedriglohn. Unternehmer können „Mitarbeiter“ auch auf Probe entleihen, und sind in keiner Weise ihren Mitarbeitern verantwortlich, da der Arbeitsvertrag ja mit der PSA abgeschlossen wurde. Bis Mitte 2003 soll es in jedem Arbeitsamtsbezirk mindestens eine Agentur geben, wobei es nur dort staatliche Personal-Service-Agenturen geben wird, wo sich keine privaten Leiharbeitsfirmen wie randstad oder adecco finden lassen.

Die Folgen dieser Erfindung für Erwerbslose zeigen sich schon jetzt in Frankfurt. Im Arbeitsamt Fischerfeldstraße in Frankfurt gibt es bereits so etwas Ähnliches wie eine Personal-Service-Agentur. Doch sie ist noch recht schüchtern: Wer zur Agentur will, muss danach suchen, Hinweise dazu gibt es nicht. Nur ausgewählte Arbeitslose „dürfen“ zur PSA. Offenbar will das Arbeitsamt die Kontrolle darüber ausüben, wer zur Agentur kommt. Am liebsten Erwerbslose mit guten Vermittlungschancen. Nur so wird die Agentur zur Erfolgsstory. Wie simpel die Sache sich reell gestaltet, erklärt Sabine Schultheiss, Arbeitsamt Frankfurt: „Diesem Personenkreis biete ich bzw. meine Kollegen in der Vermittlung dieses Projekt ‚vermittlungsorientierte Arbeitnehmerüberlassung‘ an und stelle den Kontakt zu dem Träger her, indem ich einfach die Leute mittels eines Formschreibens zuweise und auch noch persönlich im Regelfall Kontakt mit dem Träger, der Firma Consult aufnehme.“

Fassen wir mal zusammen: Das Arbeitsamt schickt ausgesuchte Bewerber zu einem Personaldienstleister, der eine Personal-Service-Agentur betreibt. Der stellt die Arbeitslosen ein, statt Arbeitslosengeld bekommen sie etwas Geld – in diesem Jahr noch nach den Zeitarbeit-Tarifen. Der Personaldienstleister verleiht sie dann an Betriebe weiter.

Consult ist einer der Personaldienstleister, der Arbeitslose einstellt. Und zwar für eine „Kopfgeld-Prämie“ vom Arbeitsamt. Mehrere Hundert Euro pro Monat, Geld, das die Arbeitsämter aus ihrem Weiterbildungstopf abzweigen.

Für die Arbeitsverwaltung ist klar: Das wirtschaftliche Risiko, ob die Entleihe funktioniert oder nicht, sprich ob der Verliehene (nun nicht mehr Arbeiter, sondern Produktionsmittel) einen Job findet, trägt der Personaldienstleister. Der entliehene Mensch ähnelt einer Maschine, die (wenn sie funktioniert) Arbeit hat und falls nicht „repariert“ werden muss. Dazu W. Schickler, Landesarbeitsamt Hessen: „Sie sehen, wenn er in seiner PSA häufiger verliehen wird als der Kalkulation zu Grunde liegt, dann macht er ein Defizit. Das wird zu erheblichen Aktivitäten innerhalb der PSA führen. Denn wir sind der Auffassung, das jede PSA ein wirtschaftliches Risiko tragen muss.“

Als Beschäftigte der Service-Agenturen fallen die Erwerbslosen zwar aus der Arbeitslosen-Statistik raus, stehen aber, da auch Personal-Service-Agenturen nur begrenzt Jobs aus der Tasche zaubern können, mitunter ohne Job da. Die Beschäftigungschancen sind im sog. Niedriglohnsektor (wen wunderes) am größten. Hiermit ist gesagt, worum es geht: Die die Statistik beschmutzenden Arbeitslosen sollen mit irgendwas beschäftigt werden, möglichst wenig bezahlt werden und so davon abgehalten werden ein „Sicherheitsrisiko“ zu werden. Doch die Rechnung ist schief . Die „arbeitenden Erwerbslosen“, die beträchtlich mehr sein dürften, als die jetzigen offiziellen vier Millionen ohne Lohnarbeit, sind als Entliehene zwar beschäftigt, aber zufriedengestellt? Vera Reimann, Consult GmbH: „Acht Euro bekommen die Menschen dann, wenn sie einen Arbeitseinsatz haben. Wenn sie nicht arbeiten, liegt es auch darunter.“

Peter Haller, All-Service GmbH: „Unser Problem ist eigentlich, dass wir im Niedriglohnsektor tätig sind. Wir haben also extrem niedrige Löhne, so dass die Eintrittshemmnisse für die Bewerber also doch sehr hoch sind.“ Doch das Hartz-Konzept macht den Weg frei „zum Arbeitsmarkt, insbesondere in diesen Niedriglohnsektor rein.“

Wer das Job-Angebot der Service-Agentur ablehnt, riskiert Sperrzeiten. Wilhelm Schickler, Landesarbeitsamt Hessen: „Wer unberechtigt eine Arbeit nicht antritt oder eine Arbeit beendet, der hat die gesetzlichen Sanktionen zu befürchten, das heißt: Einschränkungen beim Arbeitslosengeld.“ (1) Wer dann auch noch undankbarer Weise einen Job ablehnt, muss beweisen, dass er dazu berechtigt war. Damit wird das generell gesetzlich geltende Prinzip der Unschuldsvermutung umgekehrt. Die Beweislast liegt beim Angeklagten.

Trotz aller Vorschusslorbeeren für die PSA wurden bisher etwa die Hälfte der Arbeitslosen, die Consult angeboten hatte, wieder zurückgeschickt. Sie sind zum Teil dann wieder beim Arbeitsamt und damit auch in der Statistik gelandet. Und dennoch meint Wilhelm Schickler vom Landesarbeitsamt Hessen unerschütterlich: „Es wird kein Flopp, es wird ein Erfolg. Ich glaube, wir werden in diesem Jahr mindestens 50.000 Arbeitslose integrieren.“

Desertieren – Sabotieren – Boykottieren statt funktionieren!

hannah r.

(1) Dieses Reglement erinnert an den Arbeitsdienst zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929 ff.