Archiv der Kategorie: Feierabend! #49

Filmprojekt: Istanbul United

Am 27. Mai 2013 gingen in Istanbul tausende Menschen auf dem Taksim-Platz demonstrieren. Ziel der Demonstrant_innen war es, den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks zu verhindern, welcher direkt neben dem Taksim-Platz liegt. Der Gezi-Park ist der letzte Park im Zentrum Istanbuls. Auf ihm befinden sich bis zu 70 Jahre alte Bäume, die nun gefällt werden sollen. Die Demonstrationen und die darauf folgende Besetzung des Taksim-Platzes zogen sich über Tage und wurden somit zu einem weitreichenderen politischen Problem für die Regierung Erdogans (1). Der Aufstand breitete sich auf weitere Städte aus und wurde zu einem Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber der AKP- Regierung (2). Die Polizei antwortete darauf indem sie am frühen Morgen des 31. Mai 2013 den Platz umstellte. Sie zündete Zelte der campierenden Demonstrant_innen an, setzte Pfefferspray und auch Tränengas ein.

Inmitten dieses Szenarios bildete sich eine Koalition heraus die vorher nicht denkbar gewesen wäre. Die Ultrà-Gruppierungen der eigentlich verfeindeten Istanbuler Vereine Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas begruben ihre Feindseligkeiten, um für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Sie verbündeten sich mit den Demonstrant_innen, gingen gemeinsam auf die Barrikaden und fanden auch bald einen Namen für ihr Bündnis: ISTANBUL UNITED.

Dies war der Anlass für eine Filmcrew, einen Dokumentarfilm über erwähntes Bündnis zu drehen. Das Projekt ist vollkommen unabhängig und wird zunächst von den Produzent_innen selber finanziert. Dieses Vorgehen soll sicherstellen, dass ein realer Ein­blick in die Ultrà-Kultur ge­schaffen wird. Außerdem soll dadurch gewährleistet werden, die Lebensweise und die Gründe für die Wut der Menschen mög­lichst objektiv darzustellen. Während des Films werden Bilder von Ultràs beim Spiel, im Privatleben und während der Demonstrationen zu sehen sein. Erscheinen wird die Dokumentation leider erst im Oktober 2013­ – aber unterstützen könnt ihr sie schon jetzt unter: www.indiegogo.com/projects/istanbul-united-the-movie.

Der Autor empfiehlt: Unterstützt das Projekt und haltet Augen und Ohren offen! Vielleicht gibt es bald einmal eine Filmvorführung in Leipzig!

Klaus C.

(1) Recep Tayyip Erdogan ist ein türkischer Politiker. Er ist derzeit Vorsitzender der islamisch-konservativen Regierungspartei Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP) und seit dem 11. März 2003 Ministerpräsident, seit Juli 2011 mit dem dritten Kabinett Erdogan.
(2) AKP: Die Adalet ve Kalk?nma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist nach eigener Programmatik eine konservativ-demokratisch ausgerichtete politische Partei in der Türkei und lehnt trotz gegenteiliger Wahrnehmung eine Klassifizierung als „muslimisch-demokratisch“ ab. Beobachtern zufolge trägt die Regierung der AKP jedoch zu einer stärkeren Islamisierung der Gesellschaft in der Türkei bei.

Uebrigens

Streit der Körperteile

Ein Körper hatte Langeweile

da stritten sich die Körperteile

gar heftig und mit viel Geschrei,

wer wohl der Boss von ihnen sei.

Ich bin der Boss – sprach das Gehirn,

ich sitz‘ ganz hoch hinter der Stirn,

muß stets denken und euch leiten.

Ich bin der Boss, wer will‘s bestreiten?

Die Beine sagten halb im Spaße,

„Gib nicht so an, du weiche Masse!

Durch uns der Mensch sich fortbewegt,

ein Mädchenbein den Mann erregt,

der Mensch wirkt doch durch uns erst groß, ganz ohne Zweifel, wir sind der Boss!“

Die Augen funkelten und sprühten:

„Wer soll euch vor Gefahr behüten,

wenn wir nicht ständig wachsam wären?

Uns sollte man zum Boss erklären.“

Das Herz, die Nieren und die Lunge,

die Ohren, Arme und die Zunge,

ein jeder legte schlüssig dar:

„Der Boss bin ich – das ist doch klar!“

Selbst Penis strampelte keck sich bloß

und rief entschlossen: „Ich bin der Boss!“

Die Menschheit kann mich niemals missen, denn ich bin nicht nur da zum Pissen.“

Bevor man die Debatte schloß,

da furzt das Arschloch: „Ich bin Boss!“

Hei, wie die Konkurrenten lachten

und bitterböse Späße machten.

Das Arschloch darauf sehr verdrossen

hat zielbewußt sich fest verschlossen –

es dachte konsequent bei sich:

„Die Zeit, sie arbeitet für mich.

Wenn ich mich weigere zu scheißen,

werd` ich die Macht schon an mich reißen.“

Schlaff wurden Penis, Arme, Beine,

die Galle produzierte Steine,

das Herz, es stockte schon bedenklich,

auch das Gehirn fühlte sich kränklich.

Das Arschloch war nicht zu erweichen,

ließ hier und da ein Fürzchen streichen.

Zum Schluß, da sahen‘s alle ein:

„Der Boss kann nur das Arschloch sein!“

Und die Moral von der Geschicht:

Mit Fleiß und Arbeit schafft man‘s nicht.

Um Boss zu werden hilft allein,

ein Arschloch von Format zu sein,

das mit viel Lärm und ungeniert

nichts – als nur Scheiße produziert.

Lyrik

Der große Bruder ist groß

Der folgende Text wurde aus dem Newsletter von www.riseup.net entnommen und von der Roten Hilfe Leipzig leicht verändert. Riseup ist ein Anbieter für E-Mail und Webspace für Gruppen und Individuen, die sich sozial und emanzipatorisch engagieren. Das Ziel von riseup ist es, eine demokratische Alternative und Selbstbestimmung durch sichere Kommunikation im Internet zu ermöglichen.

Vielleicht habt ihr in den Medien diese kleine Geschichte mitbekommen, dass (nicht nur) die US-Regierung Telefon-, E-Mail-, Chat- und Social-Media-Daten von allen Menschen weltweit sammelt? Krass – aber auch toll, dass mal Licht auf dieses massive Spionage-Programm fällt. Und nur, weil wir kaum die Programme anderer Regierungen kennen, bedeutet das nicht, dass es sie nicht gibt. Hier in der Riseup-Zentrale belehren wir euch schon seit Langem, dass Informationen, die ihr an Unternehmen gebt, als Informationen betrachtet werden sollten, die ihr auch an eure oder die US-Regierung gebt. Wir gehen davon aus, dass ihr eure Freund_innen regelmäßig damit nervt. Da ihr das nun nicht mehr müsst, gibt es hier eine neue Lektion, die ihr ihnen weitergeben könnt:

Warum sind Verbindungs-Daten wichtig?

Verbindungs-Daten (1), das sind alle Informationen darüber, mit wem Du kommunizierst, wie oft, wie lange und von wo – sie können verwendet werden, um eine soziale Karte zu erstellen. Diese soziale Karte kann zum Beispiel dafür genutzt werden, Verbindungsleute in sozialen Bewegungen und Kampagnen zu kennzeichnen, also die Leute, die verschiedene Gruppen untereinander vernetzen. Sagen wir mal, da ist eine wirklich gute und erfolgreiche Anti-Kohle-Kampagne am Laufen, die so effektiv ist, dass die Mächtigen sie stoppen wollen. Die aus den Verbindungs-Daten erstellte soziale Karte zeigt ihnen, wer die paar Leute sind, die die grünen Anarchos mit den Klimaschützer_innen vernetzen. Selbst in wirklich großen Kampagnen sind die Verbindungsleute oft nur eine Handvoll Menschen, ohne die Kommunikation, Koalition, Koordination und Solidarität zusammenbrechen würden. Nicht, dass sie zusammenbrechen könnten – es würde so kommen. Konzerne und Regierungen wissen sogar, wie viele dieser Verbindungsleute sie ausschalten müssten, um eine Bewegung zu sprengen. Dafür gibt es Algorithmen; akademische Papiere wurden dazu verfasst. Was sie jedoch nicht immer wussten: wer diese verflixten Verbindungsleute sind. Nun wirf einen Blick auf die aus den Verbindungs-Daten erstellte soziale Karte, von der ganz einfach und mit zunehmender Genauigkeit abgelesen werden kann, wer diese Verbindungsleute sind, die sie sich vorknöpfen müssen; welche sie verfolgen und einschüchtern müssen, um sie vom Organisieren abzubringen. Wen sie überwachen und mit Verfahren wegen irgendwelcher Kleinigkeiten überziehen müssen. Wen sie auf ungesetzliche Weise kriegen müssen. Wen sie entführen, foltern und töten müssen. Seien wir nicht so naiv zu glauben, dass das noch nie passiert ist und auch nicht erneut passieren wird. Die Sammlung von Verbindungs-Daten macht das alles einfacher. Klingt paranoid? Oder sind wir an einem Punkt angekommen, an dem nichts mehr paranoid erscheint…?

Aber was können wir machen?

Für den Anfang sorgt dafür, dass alle eure Bekannten einen E-Mail-Anbieter nutzen, der SSL/StartTLS unterstützt. In Bezug auf E-Mail ist dies der derzeit verlässlichste Schutz vor der Überwachung unserer sozialen Netze. Schaut euch in einer freien Stunde auch mal GnuPG (2) an, das freie Verschlüsselungstool. Informiert euch auch darüber, was die Gegenseite alles an Überwachungstechnik aufzubieten hat. (3)

Wenn es euch möglich ist, surft jede Webseite mit dem https-Protokoll statt dem http-Protokoll an; das gewährleistet zumindest die Verschlüsselung der transportierten Inhalte.

Und wie steht es um Telefonverbindungen, Internet-Chats und soziale Medien? Die Riseup-Vögel haben nicht auf alles eine Antwort, doch arbeiten wir daran. Eines wissen wir jedoch: Privatsphäre und Sicherheit lassen sich nicht durch individuelle Lösungen erreichen. Wenn wir Sicherheit wollen, brauchen wir eine kollektive Antwort und einen gemeinsamen Ansatz zum Aufbau einer alternativen Infrastruktur.

Anmerkung: Unsere hierarchie-kritische, anarchistische Seite will hinzufügen, dass wir nicht glauben, Verbindungsleute seien die wichtigsten Aktivist_innen, weil wir alle fest davon überzeugt sind, dass im Ökosystem jeder Bewegung viele kritische Nischen existieren, die alle gleich wichtig sind. Doch sind auch Verbindungsleute notwendig – so wie die Arbeit, die Du und Du und Du beiträgst.

riseup.net / Rote Hilfe Leipzig

(1) Wir haben uns an dieser Stelle für den technisch präziseren Begriff „Verbindungs-Daten“ entschieden, statt des allgemeineren, aber häufiger benutzten Begriffes „Meta-Daten“, um dem generell laxen und verwischenden Umgang in der Presselandschaft entgegen zu treten.
(2) www.datenschmutz.de/moin/VerSchlüsselung
(3) www.datenschmutz.de/moin/%C3%9Cberwachungstechnik

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 3)

Operaismus für Anfänger_innen

Bevor wir in den dritten Teil unserer Operaismus-Reihe einsteigen, ist es wohl sinnvoll, noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, auf das, was bisher geschah: 1961 gründete sich in Turin die Zeitschrift Quaderni Rossi. Die Initiative dazu ging von Raniero Panzieri aus, der zuvor lange Zeit in der sozialistischen Partei Italiens (der PSI) aktiv gewesen war. Seiner Einschätzung nach hatten sich die Gewerkschaften und die linken Parteien, die PSI ebenso wie die kommunistische PCI, gründlich von ihrer proletarischen Mitgliederbasis entfremdet. Die rasante Modernisierung der norditalienischen Industrie hatte neue Probleme und Konfliktfelder ge­schaffen, aber die Organisationen der Arbeiterbewegung wussten darauf nicht zu reagieren.

Die Gruppe aus dem Umfeld der Quaderni Rossi setzte es sich dagegen zum Ziel, die Verhältnisse in den Fabriken zu erforschen. Wichtig war dabei vor allem die Initiative von Romano Alquati, mit der ich mich im letzten Heft be­schäftigt habe. Für Alquati sollten die Arbeiter_innen nicht passive Objekte der Untersuchung sein, sondern diese selbst vorantreiben. Dieser Plan konnte nur bedingt umgesetzt werden, aber immerhin gewann man bei FIAT und OLIVETTI wichtige Einsichten in das Innenleben der Fabriken. Gerade unter den jungen Arbeiter_innen war die Unzufriedenheit allgemein verbreitet – und Alquati meinte, dass gerade diese „neuen Kräfte“ in den Klassenkonflikten, die sich bereits am Horizont abzeichneten, eine zentrale Rolle spielen würden.

Aufstand auf der Piazza Statuto

Der Wendepunkt kam schneller als vermutet. Das Jahr 1962 markierte den Übergang von der Ära des „Wiederaufbaus“ und der relativen Ruhe der 50er Jahre zu einem neuen Zyklus der Klassenkämpfe. In vielen Unternehmen standen neue Tarifverhandlungen an. Bei diesem Anlass entlud sich der Unmut, der sich schon lange angestaut hatte. Zentrum der Unruhe war Turin, wo auch die Redaktion der Quaderni Rossi ihren Sitz hatte.

Schon Anfang des Jahres traten die Arbeiter_innen bei Lancia und Michelin in den Streik. Bald schlossen sich die Belegschaften der anderen Metallbetriebe an. Und anders als in den Jahren zuvor wurde diesmal auch in den ­FIAT-Fabriken – Gießerei, Flugzeug­werk, Luftfahrttechnik und Walzwerk – die Arbeit niedergelegt. Auf dem Höhepunkt waren in Turin 250.000 Arbeiter_innen im Streik.

Die Unternehmensführung von FIAT bemühte sich, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie schloss nicht nur mit der ‚gelben’ (also von der Unternehmerseite selbst aufgebauten) Gewerkschaft SIDA eine separate Vereinbarung ab. Auch die sozialistische Gewerkschaft UIL (Unione Italiana del Lavoro) war zu gesonderten Verhandlungen bereit. Der Vertrag, auf den sie sich schließlich mit dem Management einigte, beinhaltete zwar Zugeständnisse beim Lohn, aber wesentlich wichtigere Fragen z.B. der Arbeitsorganisation wurden darin gar nicht berührt.

Es gelang freilich nicht, mit diesem Schachzug die Streikenden zu spalten und den „Frieden“ wieder herzustellen. Eher im Gegenteil: Am 7. Juli wurde nicht nur wie geplant gestreikt und die ganze Stadt lahmgelegt. Am frühen Nachmittag sammelte sich außerdem eine Menge von aufgebrachten Arbei­ter_innen vor dem Sitz der UIL auf der Piazza Statuto. Die Zahl der Protestierenden (viele von ihnen waren selbst Mitglieder der Gewerkschaft) wuchs rasch, bald belagerten Tausende die UIL-Zentrale. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die sich rasch zu Straßenschlachten auswuchsen und drei Tage andauerten.

Die „scontri di Piazza Statuto“ (Zusammenstöße auf der Piazza Statuto) waren in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Nicht nur trat hier deutlich zu Tage, wie sehr die wechselseitige Entfremdung zwischen den Arbeiter_innen und den sie vertretenden Organisationen mittler­weile gediehen war. Zugleich betrat hier zum ersten Mal unübersehbar die Figur des „Massenarbeiters“, die bald eine zentrale Rolle in der operaistischen Debatte einnehmen sollte, die politische Bühne.

Schon Romano Alquati hatte in seinen Untersuchungen bei OLIVETTI und FIAT die Rolle der jungen, gering qualifizierten Arbeiter_innen erkannt und beschrieben. Diese „Massenarbeiter“ zeigte sehr spezifische Merkmale: Sie waren typischerweise männlich (FIAT begann erst ab 1970 verstärkt Frauen einzustellen), zwischen 20 und 30 Jahre alt, und stammten zumeist aus dem verarmten, agrarisch geprägten Süden Italiens. Die Fabrik war für sie zunächst ein fremdes Terrain. Sie hatten wenig Bezug zur Kultur der älteren Arbeitergeneration, die oft noch von der Erfahrung der Resistenza, des antifaschistischen Wider­stands, geprägt war, und standen den Gewerkschaften und linken Parteien distanziert gegenüber. Und die stupide, monotone Arbeit am Fließband bot ihnen kaum Gelegenheit, sich einen „Berufsstolz“ zuzulegen, wie er bei den älteren Facharbeitern noch verbreitet war. Daraus ergaben sich auch andere politische Perspektiven. Eine Selbstverwaltung, also die eigenverantwortliche Übernahme der Produktion konnte für die jungen Arbeiter_innen nicht das erste Ziel sein – wenn sie politisch aktiv wurden, dann aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass sie diese Produktion ganz sicher nicht weiterführen wollten. Das schlug sich auch in ihren Aktionsformen nieder, z.B. in Sabotageakten, bei denen auch die Zerstörung der Ma­schi­­nerie in Kauf genommen wurde.

Die Spaltung

Die neuartige Qualität der Ereignisse brachte auch die Redaktion der Qua­derni Rossi in schwere innere Konflikte. Während sie die Streiks sehr gründlich analysierten, äußerten sie sich zu „den Ereignissen auf der Piazza Statuto“ nur sehr zurückhaltend.

Einzelne Funktionäre der Turiner CGIL (des kommunistischen Gewerkschaftsverbands) und der Metallgewerkschaft FIOM hatten die Intervention zwar zunächst unterstützt. Und schon im August 1961 war es gelungen, einen Streik in den FIAT-Eisenhütten zu organisieren, der sehr dazu beitrug, den Rückhalt der FIOM unter den Arbeiter_innen zu verstärken – bei den nachfolgenden Wahlen zur Betriebskommission schnitt die Gewerkschaft jedenfalls deutlich besser ab. Danach wurden die Gewerkschafter_innen jedoch von der PCI (der kommunistischen Partei) unter Druck gesetzt und brachen die Kooperation mit den Quaderni Rossi ab.

Raniero Panzieri versuchte in dieser verfahrenen Lage zu vermitteln. Er hoffte bis zuletzt darauf, eine Erneuerung innerhalb der alten Arbeiterbewegung zu erreichen und konnte sich nicht dazu durchringen, mit den linken Parteien und Gewerkschaften zu brechen.

Aber auf lange Sicht ließ sich die Konfrontation nicht vermeiden. Die Aktivist_innen aus dem Umfeld der Zeitung waren zwar nur eine kleine und politisch weitgehend machtlose Gruppe. Aber indem sie sich auf das Terrain der Fabrik begaben, brachten sie zugleich die eingefahrene Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Partei, die säuberliche Trennung von „Ökonomie“ und „Politik“ durcheinander. Das mochte noch angehen, solange sie sich „nur“ auf die Untersuchung beschränkten. Aber sobald die Einmischung eine offen politische Form annahm, konnte dies – gerade in einer so angespannten Lage – nicht mehr hingenommen werden. Als einige Aktivist_innen im Frühjahr 1962 während des Lancia-Streiks Flugblätter vor den Fabriktoren verteilten, führte das bereits zum offenen Konflikt mit der Gewerkschaft.

In der Folge wurden die beteiligten Mitglieder der PCI aus der Partei ausgeschlossen (1). Zugleich zerlegte sich die Redaktion der Quaderni Rossi in ihre Bestandteile. Die Spaltungslinie verlief zwischen jenem Teil der Redaktion, der sich am Vorbild der amerikanischen Industrie­soziologie orientierte und wenig politische Ambitionen hatte, und denen, die an die neuen Kämpfe der Arbeiter_innen anknüpfen und eine revolutionäre Politik machen wollten. Panzieri schlug sich letztlich auf die Seite der „Wissenschaftler“, während die anderen die Redaktion verließen – sie gründeten die Zeitschrift Classe Operaia („Arbeiterklasse“), deren erste Ausgabe Ende 1963 erschien. Auch Romano Alquati schloss sich dieser Fraktion an, da er mit dieser das Ziel teilte, politisch zu intervenieren – der vermeintlichen „Neutralität“ der Industriesoziologie stand er dagegen skeptisch gegenüber (2).

Die Quaderni Rossi erschienen zwar noch bis 1968, aber nach dem plötzlichen Tod Panzieris (er starb 1964 überraschend an einer Hirnembolie) war das Konzept praktisch erledigt. Nennenswerte revolutionäre Impulse gingen von der Zeitung jedenfalls nicht mehr aus.

Eine neue Arbeiterzeitung?

Classe Operaia dagegen sollte nun „eine neue Form der Arbeiterzeitung“ darstellen – so schrieb Mario Tronti in seinem Artikel „Lenin in England“, der in der ersten Ausgabe erschien (3) und als eine Art Gründungs­manifest aufgefasst werden kann. Der Titel des Textes deu­te­te schon an, was Tronti vor­schweb­te: Einerseits eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Arbeiterbewegung und des Marxismus (England), um von da aus eine entschiedene revolutionäre Politik zu betreiben – dafür stand der Name Lenins, mit dem Tronti sich offenbar identifizierte.

Tronti hatte seine ersten politischen Erfahrungen in Rom, in der Jugendorganisation der PCI gesammelt und war 1961 mit seiner Gruppe zur Redaktion der QR gestoßen. Schon in seinem Artikel „Fabrik und Gesellschaft“, der in der zweiten Ausgabe der Quaderni Rossi erschien (4), fiel er als scharfsinniger Marx-­­Interpret auf. Tronti spielte eine wichtige Rolle dabei, den Operaismus in eine ausformu­lierte Theorie zu überführen. Das war sein unbestrittenes Talent, aber (wie sich zeigen wird) auch seine Schwäche: Denn was als empirischer Befund durchaus richtig war, wurde leicht zu Unsinn, wenn man darauf eine große Geschichtsphilosophie aufbauen wollte.

Dies galt etwa für die Feststellung ­Panzieris, dass die Einführung des Fließ­bands nicht nur die Produk­tivität steigerte, sondern den Unternehmern auch dazu diente, bestimmte widerständige Ver­haltensweisen der Arbeiter_innen zu kontrollieren. Tronti zog daraus eine kühne, aber keineswegs zwingende Schlussfolgerung: Das Proletariat geht dem Kapital­verhältnis voraus, es sitzt dem Kapital gegenüber also immer schon am längeren Hebel.

In „Lenin in England“ formulierte er dies so: „Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muss das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf.“ Laut Tronti war also „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen nachgeordnet, sie kommt nach ihnen“. (5) Das Proletariat treibt die kapitalistische Entwicklung voran, die letztlich unumgänglich in der Revolution enden muss.

Das klang als These erstmal ziemlich schmissig und originell. Dennoch führte Trontis Forderung nach einer „neuen marxistischen Praxis“ ihn umgehend zur einem altbekannten Modell zurück: zur „Arbeiterpartei“ (mit Betonung auf „Partei“). Ähnliches ließ sich über die gesuchte „neue Form der Arbeiterzeitung“ sagen. Was Tronti vorschwebte, war „eine Zeitung, die nicht unmittelbar alle partikularen Erfahrungen wiederholt und aufnimmt, sondern sie in einem allgemein politischen Diskurs fokussiert. Die Zeitung ist in diesem Sinne ein Kontrollpunkt“… Dabei müsse das gängige Verfahren entschieden umgestülpt werden. Denn: „Der politische Diskurs überprüft die Korrektheit der partikularen Erfahrung und nicht umgekehrt. Denn der politische Diskurs ist der umfassende Klassenstandpunkt und daher die wirkliche materiale Gegebenheit.“ (6)

Schon hier zeigte sich die fatale Neigung Trontis, alle Schwierigkeiten und offenen Fragen durch Rhetorik zu überspielen. Die zuletzt zitierte Aussage war jedenfalls kaum mehr als die großspurige Ankündigung, man werde sich künftig durch die Fakten nicht mehr irritieren lassen: Wenn der „politische Diskurs“ der Theoretiker die „wirkliche materiale Gegebenheit“ darstellt, dann kann die Theorie natürlich nur recht behalten – wenn die Tatsachen ihr widersprechen, sind sie eben nicht korrekt.

Auch in politischer Hinsicht ließ das nichts Gutes erahnen: Letztlich war es eben Aufgabe der Intellektuellen, die „Parteilinie“ festzulegen, an der sich die Erfahrungen und Interessen der Arbeiter_innen zu bemessen hatten. Wenige Sätze weiter distanzierte Tronti sich zwar vom leninistischen Modell der Avantgarde-Partei. Freilich nur, weil er davon ausging, dass die benötigte politische Organisation bereits bestehe und schon entdeckt sei – in der „kompak­ten sozialen Masse“ der Arbeiterklasse. Antonio Negri formulierte das wenig später noch etwas schmissiger: „Heut­zutage ist die ganze kämpfende Arbeiterklasse die Avantgarde.“ (7) Den Kleinkram und die mühsame Aufbauarbeit konnte man sich da natürlich sparen…

Von der Klasse … zurück zur Partei

Ohnehin lagen Rationalität und Irrationalität auf den Seiten von Classe Operaia dicht beieinander. Das wird deutlich, wenn man zum Vergleich Romano Alquatis Artikel über den „Kampf bei FIAT“ heranzieht, der ebenfalls in der ersten Ausgabe der Zeitung erschien (8). Alquati analysierte darin die wilden Streiks, zu denen es Mitte Oktober 1962 in den FIAT-Walzwerken gekommen war. Dabei verwarf er zunächst einmal entschieden die Vorstellung, dass Arbei­ter_innen nicht organisiert seien, nur weil sie keiner Organisation angehörten oder den bestehenden Organisationen distanziert gegenüberstanden. Er betonte: „Der ‚Wildkatzen’-Streik ist keine anarchoide Protestform von Arbeitern, die unfähig sind, in kollektiver und organisierter Form zu kämpfen; im Gegenteil: Er erfordert ein hohes Niveau an Organisation und Zusammenhalt“. Der wilde Streik sei gerade deshalb so bedeutsam, weil er gezeigt habe, dass „sich bei FIAT eine Arbeiterorganisation entwickelt, die stark genug ist, einen solchen Streik durchzuführen – absolut außerhalb der historischen, offiziellen Organisationen.“

Daran schloss Alquati nahtlos eine Kritik der gängigen Avantgarde-Konzepte an: „Der ‚Wildkatzen’-Streik bei FIAT eliminierte die alte Idee, nach der der Arbeiterkampf auf dieser Ebene von einem besonderen internen ‚Kern’ organisiert wird, der das Monopol über das antagonistische Arbeiterbewusstsein hat. Der Streik vom 15./16. Oktober ist direkt von der ganzen und kompakten ‚gesellschaftlichen Masse’ der Arbeiter der Werke, die daran teilgenommen haben, organisiert worden.“

Alquati verwendete hier exakt die glei­chen Worte wie Tronti, beide sprachen von den Arbeiter_innen als „kompakter sozialer Masse“ („compatta massa sociale“). Alquati meinte damit aber etwas durchaus Anderes – nämlich zunächst einmal nur, dass die Aktionen nicht bestimmten Personen oder Gruppen zugerechnet werden konnten. Und während Tronti bei der Rede von der „kompakten Masse“ wohl vor allem an Geschlossenheit und Kampfkraft dachte, verwies sie bei Alquati vor allem auf die Schwierigkeiten der Analyse: Die Masse war eben auch ziemlich undurchsichtig, und es ließ sich kaum sagen, was für kollektive Prozesse da im Inneren abliefen. (9)

Alquati argumentierte nicht nur theoretisch deutlich nüchterner. Dass er in seiner Untersuchungsarbeit konsequent von den „partikularen Erfahrungen“ der Arbeiter_innen ausging, bewahrte ihn auch vor revolutionären Allmachtsphantasien und parteipolitischen Ambitionen. Dagegen verloren Tronti und andere aus der römischen Gruppe die Vorgänge in den Fabriken mehr und mehr aus den Augen – mit der 1964 einsetzenden Rezession ebbten die Streiks ohnehin erstmal ab. Dagegen wurde wieder die kommunistische Partei der wichtigste Bezug für Tronti, der hoffte, die PCI „benutzen“ und gegen die Reformpolitik der PSI (der sozialistischen Partei, die seit 1963 zusammen mit den Christdemokraten regierte) auf einen revolutionären Kurs bringen zu können. Diese Annäherungsversuche stießen jedoch bei der Partei auf wenig Gegenliebe. Eher im Gegenteil: In einem im Frühjahr 1964 veröffentlichten Artikel griff z.B. die PCI-Zeitung L´Unità die Gruppe um Classe Operaia heftig an und beschuldigte sie, bezahlte Agenten des Kapitals zu sein.

Auch sonst blieb das Projekt, trotz aller hochgesteckten Ziele, politisch weitgehend einflusslos. 1967 hatte sich der Herausgeber_innenkreis hoffnungslos zerstritten. Die römische Fraktion trat wieder in die PCI ein, um künftig im Inneren der Partei eine „revolutionäre“ Politik zu betreiben. Die Veneto-Gruppe um Antonio Negri gründete derweil die Organisation Potere Operaio („Arbei­termacht“), die in den Fabrikkämpfen ab 1967 eine große, wenn auch nicht unbedingt glorreiche Rolle spielte. Ohnehin waren die Streiks und Unruhen des Jahres 1962 nur ein Vorgeplänkel. Im „Heißen Herbst“ 1969 schien die Revolution tatsächlich zum Greifen nah zu sein. Die autonomen Kämpfe der Arbeiter_innen bei FIAT und anderswo stürzten das italienische Kapital und den Staat in eine Krise, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Aber damit werde ich mich im nächsten Heft befassen.

justus

(1) Vgl. dazu die detaillierte Darstellung von Wolfgang Rieland im Vorwort von Wolfgang Rieland/Romano Alquati, „Klassenanalyse als Klassenkampf – Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI“, Athenäum Fischer, Frankfurt a.M. 1974.
(2) Schon in seiner Untersuchung bei OLIVETTI hatte er dies bemerkt: „Unter den Genossen, aber auch unter dem Arbeitern in Ivrea besteht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Soziologie: viel Aktivisten dort kennen sie nur allzu gut […] denn sehr viele der bekanntesten italienischen Soziologen – und insbesondere die ‚linken’ – sind bei OLIVETTI ausgebildet worden […] Die Soziologie, die bei OLIVETTI blühte – und noch immer blüht –, so sagen diese Genossen, ‚haben wir dann am eigenen Leibe ausprobieren dürfen’: in der Gestalt der neuen Arbeitsrhythmen.“ Vgl. Rieland/Alquati 1974, S. 103.
(3) www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf
(4) Eine deutsche Übersetzung findet sich in Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 86ff.
(5) ebd. S. 87. Als geistiges Aufputschmittel für frustrierte Aktivist_innen funktioniert so eine Theorie natürlich wunderbar. Daraus erklärt sich wohl auch die Popularität Antonio Negris, der knapp vierzig Jahre später in seinem Bestseller „Empire“ noch ganz ähnliche Sätze von sich gab: „Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft zu übernehmen gezwungen ist.“ (vgl.Antonio Negri/Michael Hardt, „Empire“, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2002, S. 279).
(6) vgl. Ballestrini/Moroni 2002, S. 92. Bei den letzten beiden Sätzen halte mich hier allerdings an die Übersetzung von Bodo Schulze, da diese klarer verständlich ist. Vgl. Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10 (1989), S. 152. Schulze übt darin auch eine lesenswerte Kritik an Tronti und Negri. Online ist dieser Text unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm zu finden.
(7) Zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 90.
(8) www.wildcat-www.de/thekla/06/t06wild2.htm
(9) Das war kein Mangel seiner Theorie, sondern aus der Sache selbst bedingt. Bodo Schulze drückt das ziemlich treffend aus: „Autonomie ist ein zerbrechlich Ding – oder vielmehr: Autonomie ist gar kein Ding, sondern eine bestimmte Verkehrsform von Individuen, die sich zum Zweck der Zerstörung jeglicher Herrschaftsverhältnisse assoziieren. Diese Verkehrsform ist nicht theoriefähig.“ Vgl. Schulze, a.A.o., S. 167.

Theorie & Praxis

Zeckenrap: tight oder whack?

Rap als Mittel, um politische Inhalte zu vermitteln? Die Verbindung zwischen beiden ist sicher nicht neu – schon Public Enemy haben den Sprechgesang als Transportmedium für gesellschaftskritische Botschaften genutzt. Neu ist dagegen das Stichwort „Zeckenrap“, unter der diese Verbindung heute verstärkt verhandelt wird und mediale Aufmerksamkeit erfährt. Künstler_innen wie Neonschwarz, Sookee, Refpolk und andere texten gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen Sexismus, Homophobie, Nationalstolz und alles Schlechte in der Welt. Natürlich ist solche klare Positionierung und das politische Engagement der Zeckenrapper_innen allemal sympathisch. Aber ist nicht ein wenig zu verbissen? Kommt dabei nicht die Sprachkunst zu kurz, der Flow, oder vielleicht auch die politischen Inhalte selbst, wenn aus jedem Refrain eine Parole wird? Logisch – das mag letztlich reine Geschmacksfrage sein, und über Geschmack lässt sich bekanntlich endlos streiten. Also machen wir das einfach mal! Willst du Battle, kriegst du Battle!

PRO:

„Zeckenrap“. In letzter Zeit hörte man diese Bezeichnung durchaus öfter – gerade in der linken und anarchistischen Szene. Aber auch auf Seiten wie rap.de gewinnt er langsam an Aufmerksamkeit. Aber was ist es und warum sollte man es hören? Sind es nur gerappte Parolen und ist das immer schlimm? Mehrmals hörte ich auch Stimmen, welche die Qualität des Gehörten kritisierten. An dieser Stelle möchte ich einmal auf gestellte Fragen eingehen.

Die Schlange ist lang. Alles läuft ein wenig unorganisiert, aber irgendwann ist man doch drin. Anfang des Jahres im SO36 in Berlin. Dort fand sie statt – die erste Zeckenrap-Gala. „Wir wollen der Szene nicht die Hand reichen – wir sind mehr so anschleichen, angreifen, brandzeichen tick tick boom!“ Da wird der/die geneigte Höhrer_in doch aufmerksam. Aha, was ist denn das? Und hört man weiter, kommen schnell Antworten. Es sind Leute wie Sookee, Johnny Mauser und Kurzer Prozess, welche dort auftreten. Die Texte sind vielfältig. Gesellschaftliche Missstände, wie die Vereinsamung von Individuen durch den Arbeitswahn (z.B. „Rain“ von Neon­­schwarz) oder Rassismus. Auch Anti­homophobie und Antisexismus sind Themen. Aber ebenso ganz anderes, dem Leben entsprungenes. Zeckenrap bietet also die ganze Palette an, und das Vorurteil, dass nur Parolen gerappt werden, kann sehr schnell behoben werden.

Natürlich werden Themen klar und unmissverständlich angesprochen, das ist langsam aber sicher auch mal bitter nötig bei einer Hip-Hop Szene, die leider immer noch sehr stark von Sexismus, Rassismus, Homophobie und Ähnlichem dominiert wird. Dass man dadurch bei manchen Menschen aneckt, ist unausweichlich. Aber was wäre der andere Weg? Die Themen weiterhin totschweigen? Wohl eher nicht. Ich höre schon die Stimmen der Menschen, die nun einwerfen: „Aber man muss es doch nicht so deutlich sagen und einfach besagte -ismen nicht gebrauchen, und außerdem darf doch die Sprache nicht derart eingeschränkt werden, nur weil manches plötzlich nicht mehr PC ist.“

Nun – zum Einen: Ja sicher, das gehört auch dazu und das muss auch nicht bei jedem Song immer gesagt werden. Aber es braucht meiner Ansicht nach auf jeden Fall Texte, bei denen Thematiken direkt kritisiert werden, um ein Umdenken anzuregen, auch wenn sich dadurch erst mal Einige „auf den Schlips getreten fühlen“. Und zum Anderen: Wenn man es für einen Verlust hält, wenn Bezeichnungen wie „Hurensohn“ u.ä. nicht mehr verwendet werden und man sich dadurch in seinem/ihrem Sprachgebrauch behindert sieht, dann sollte man vielleicht mal die eigene Einstellung überprüfen und überlegen, warum einem das denn so wichtig ist und ob es nicht andere Wege, Begriffe und Arten gibt, etwas auszudrücken.

Die Entwicklung schreitet schnell voran. Und Zeckenrap ist durchaus nicht immer gleich. Die Bezeichnung „Punk-Rap“ ist auch bereits gefallen, z.B. Special K. Marie Curry singt und rappt gleichermaßen. Die Beats sind wechselnd, mal an den klassischen Rap angelehnt, mal mit Electroklängen versetzt. Natürlich gibt es immer Menschen, denen dies und das nicht zusagt. Dafür ist Musik einfach auch Geschmackssache und über Geschmack lässt sich natürlich immer streiten.

Meiner Ansicht nach ist Zeckenrap eine echte Bereicherung für die „Rapszene“ – er wühlt auf, eckt an und regt Debatten an. Von mir gibt es ein eindeutiges PRO.

R!

CONTRA:

Rap als Mittel der Meinungsäußerung – eingängig, wirksam, mit viel Potential, nicht nur, was die Textfülle betrifft. Kein Wunder also, dass soziale Konflikte nicht nur in der Hip-Hop-Kultur immer wieder mittels Rap thematisiert wurden. Seien es Rassismus, Polizeigewalt oder die üblichen Probleme, die so ein Kapitalismus mit sich bringt.

Doch was heutigen deutschsprachigen „politischen Rap“ vom ursprünglichen, in der Hip-Hop-Kultur angesiedelten veränderungswilligen Sprechgesang unterscheidet, ist die soziopolitische Verortung der Musiker_innen und die damit einhergehende linksradikale Attitüde. Gerade in einem Land wie der BRD, in der die deutsche Vergangenheit tiefgehende politische Beschäftigung und ebenso tiefe Gräben zwischen linken Spektren ausgelöst hat, ist Rap kaum mehr ein Mittel, mit dem Unüberzeugte agitiert werden können. Im Gegenteil sind mit Beats unterlegte Kampfparolen ein noch schlechteres Mittel als Flugblätter auf Demonstrationen. So wie die Demos, die von massiver Staatsgewalt umrahmt nicht nur räumlich vom Rest der Gesellschaft isoliert werden, so isolierten sich über die Jahre auch linke Rapper_innen, die sich textlich radikalisierten. Anarchist Academy hätte schon in den 90ern als warnendes Beispiel dienen sollen. Den Mangel an Flow und Rhythmusgefühl mit dem aggressiven Style brennender Barrikaden zu ersetzen, führte nicht zum erhofften revolutionären Anstoß. Im Gegenteil, die Combo stieß damit in der Rap-Szene auf Widerstände, die eine Rezeption ihrer im Grunde inhaltlich wertvollen Texte behinderten. Die rebellische Attitüde, die Public Enemy noch zum Welterfolg verhalf, ist in Zeiten der immer stärkeren musikalischen und politischen Ausdifferenzierung eher ein Stein im Weg der „Aufklärung“ der Massen. Und sei es nur der jugendlichen Massen.

Doch nicht nur für agitatorische, aufklärerische Inhalte sollte gelten, sie besser in vermittelbare Form zu bringen. Auch das klassische Empowerment in Texten, die auf’s erste Hören unpolitisch daherkommen, birgt ein weitaus größeres emanzipatorisches Potenzial als der radikale Duktus, mit dem mitunter gegen Bullen und Kapital angesungen wird. Lieber guter Rap mit Liebe zum Hip Hop und dem ein oder anderen gesellschaftskritischen und politischen Einschlag als politischer Rap, bei dem die Form um den Text herum austauschbar geworden ist und lediglich dem Zeitgeist folgt.

Wie auch die Bezeichnung „Zeckenrap“, die mittlerweile als probate Eigen­beschreibung einer subkulturellen Identität zu Selbstvertrauen verhilft, gleichermaßen ein Symbol für das abschreckende Moment heutigen politischen Raps ist. Die meisten Menschen wollen nicht agitiert werden, sie wollen die Wahrheit nicht übergeholfen bekommen. Auch nicht mit musikalischen Mitteln. Es sollte eher gelten, Rap als Mittel zu erkennen, mit dem Inhalte vermittelt werden können, nicht vertont. Es sollte gelten, in erster Linie Musik zu machen. Musik, die durch ihre Authentizität den Themen Gehör verschafft, da wo eine politische Überladung nur den Zugang versperrt. Freilich nicht für die linksradikale Szene, die gern Rap hört, selbst. Dort funktioniert Zeckenrap als identitätsstiftendes (sub)kulturelles Medium hervorragend. Aber es wird aus diesem Sumpf heraus niemand in die Breite der Gesellschaft, und sei es nur der Hip-Hop-Kultur, Botschaften senden können wie einst Looptroop mit „Fort Europa“ oder KRS One mit „Sounds Of The Police“. Übrigens kein Zufall, dass KRS auf dessen B-Seite mit „Hip Hop vs. Rap” den grundlegenden kulturellen Punkt gleich mit ansprach: Rap will gelebt werden. In einer Kultur, die dieser Ausdrucksform einen sozialen und künstlerischen Rahmen bietet. Daher ist dies weniger ein Contra politischer Rap, als vielmehr ein Pro Rap und Pro Hip Hop.

shy

Nebenwidersprüche

Editorial FA! #49

Für Euch vielleicht das erste, für uns diesmal das allerletzte: Das obligatorische Editorial. Von Magen-Darm-Infekten und anderen unschönen Unwägbarkeiten des Lebens gestraft sitzt die einköpfig verbliebene Restredaktion nun vor dem fast fertigen Heft und saugt sich mit letzter Kraft diese Zeilen aus den wunden Fingern. Was hat uns dieses Heft schon wieder an Mühe bereitet, aber auch an ebensolcher Freude.

Wir haben unsere sommerlichen Demoerlebnisse dokumentiert, waren unter gemeinen Deutschen, gewannen wieder neue Schreiberlinge, die bspw. aus Kosovo berichten, bauten unsere Fußball-Sparte aus und ließen auch die Theorie & Praxis nicht zu kurz kommen. Ein – vergleichsweise – schmales Heft ist es geworden, die #49. Der Anlauf, den wir für die große Jubiläumsnummer #50 nehmen, macht sich schon bemerkbar. Und so wünschen wir Euch bis dahin eine angenehme Lektüre und nutzt die Wartezeit, pflegt Eure Zimmerpflanzen und backt Euren Nachbarn mal wieder einen Apfelkuchen!

Eure Feierabend!-Restredax