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„Das Geheimnis von LE“

Wie die inszenierte Doku den Umgang mit Leerstand thematisiert

 

Klingt ja eher wie ein Ausverkauf, dieser Titel. Da kommt eine Künst­lerin angereist und will einen Film über Leipzig drehen, ist ja so eine span­nende Stadt. Und dann will sie diese Span­nung festklopfen, das Brachen­geflüster gar ins Kino bringen?

Die Hamburgerin Anke Haarmann war von der Galerie für zeitgenössische Kunst Anfang 2004 direkt beauftragt worden, „ein künstlerisches Projekt über schrum­pfende Städte in Ostdeutschland zu realisieren“. Die GfzK beteiligt sich, zusammen mit der Stiftung Bauhaus Dessau und der Archi­tekturzeitschrift archplus, an einer Initiative der Kultur­stiftung des Bundes namens „Schrump­fende Städte“. Diese shrinking cities widersprächen „dem seit der Indust­ri­ellen Revolution gewohnten Bild der ›Boom­town‹, einer von stetigem wirt­schaft­­lichen und demographischen Wachs­tum gepräg­ten Großstadt, sie provozieren aber ebenfalls ein Umdenken im Hinblick auf tra­di­ti­onelle Vorstellungen der europä­ischen Stadt und auf die zukünftige Ent­wick­lung urbaner Welten.“ (1) Verschie­dene wissenschaftliche und Kunstprojekte, u.a. in Detroit, Manchester, Ivanovo, aber auch Halle, wollen dokumentieren und kul­turelle Perspektiven entwickeln. Dabei entstand aus die­sen Arbeiten u. a. eine gleich­­namige Aus­stellung, die bald eröff­net wird. (2)

Leipzig sei Boomtown und Leerstands­gebiet zugleich – diese Spannung interes­siere Anke Haarmann besonders. Zusam­men mit der Dresdner Filme­macherin Irene Bude ging sie also auf die Suche nach Per­sonen und Gruppen in ver­schie­denen Vier­­teln, mit denen sie zusammen dann sieben verschie­dene Episoden entwickel­ten: vom Idealtyp Waldstrassenviertel zum Härtefall Ost, über das Wintergarten-Hoch­haus, den Bunten Garten, das Wohn­pro­jekt Gieszer 16, die Fein­kost und den Brühl. Im Osten wurden be­we­gen­de Pro­jekte entdeckt: eine Nachbar­schafts­werkstatt und eine leider nur einjährige Bepflanzung eines Hinterhofes mit Grün­kohl, der dann in einem Hap­pen­ing vom Kollektiv geerntet, gleich zubereitet und kostenlos ausgeteilt wurde. Im Winter­gar­tenhochhaus posierte man hingegen sehr bürgerlich und schwel­gte in Erinne­run­gen an verschiedene Besiedlungsver­suche des Hauses durch die LWB: Die Jun­kies und harten Sozialfälle seien schlimm ge­we­sen, als dann aber die „Spätaussiedler“ ins Haus kamen, sei es besser geworden, die konnten ja wenigst­ens noch ein Stück­chen Deutsch.

Nach dem Prinzip der Spiegelung zeigte die folgende Episode die „Bunten Gärten“ in Anger-Crottendorf, in denen vom „brücken­schlag e.V.“ MigrantInnen­integration in natura betrieben wird: Scha­fe, türkisch-deutscher Salatzucht­versuche, Hilfe bei Ämter­gängen und Arztbesuchen.

Daß es in Leipzig einmal die Welt­haus­­besetzer­­spiele gegeben hat, erfährt man dann von zwei Comicfiguren, die in der Erinnerung an die Hochzeit von Arthur und Karla (siehe S.14f) schwelgen (mit Originalvideoausschnitten!) und sich dann von der G16 aus zu einer sehr ab­strak­ten Rettung der „Frischkost“ aufma­chen. Am Ende hört man noch das senti­men­tale Dona nobis pacem auf der Geige eines Ex-Bewohners der abzureißen­den Brühl-Hochhäuser.

Ein ziemliches Sammelsurium also. Die gestellten Szenerien, gezeichnete Elemente und die prekären Realitäten vermischten sich in diesem Stündchen Film eher ins Graue. Keine Hintergrundinformationen, keine Konfrontationen und die halbherzig aufgenommenen Porträts zeigten kaum Authentizität. Die gewollte Inszeniertheit und eine gewisse Beliebigkeit bei der Aus­wahl der Szenerien verspielten leider das Existentielle des Themas.

Sind alternative Projekte und Hausbe­setzun­gen eine Medizin gegen Leerstand?

In der dem Film folgenden Podiums­dis­kus­sion zwischen einer Stadtplanerin, zwei Ver­tretern der „Hausbesetzerszene“ (Birgit und Karo aus der G16), einem Ex-Fein­kost-Mitbetreiber (Thomas Pracht) und einem „Quartiersmanager“ (jemand, der leer­stehende Häuser vermittelt) wollte man dann für die Unkonkretheiten des Fil­mes entschädigt werden. Leider moder­ier­te die Frau von Radio Blau aber immer schön an den Grenzlinien des Themas vor­bei, stellte ewig lange Fragen für ihr Radio und das Publikum war relativ gefrustet. Da sprang die Künstlerin selbst einmal für die Spannung in die Presche und fragte nach den bestehenden „Verun­mög­lichun­gen“ verwaltungs­technischer Art, die Bra­chen­nutzung erschwere und politisch zu be­wer­ten wäre.

Die Stadtplanerin hingegen mahnte im­mer wieder an, dass Häuser nicht einfach besetzt werden könnten und gut, ihre In­standhaltung wäre sehr aufwendig und meis­tens könnten die NutzerInnen sich dies nicht vorstellen, geschweige denn rea­lisieren. Von der G16-Seite wurde dann noch betont, daß sie keine politi­schen Ver­treter ihres Anliegens bräuchten, wie die Stadt es gerne hätte, die verschie­dene Teil­neh­mer­Innen des Projektes nicht als Ver­hand­lungspartner akzeptiere. Eine poli­tische Konformität sei eben nie angestrebt wor­den. Damit traf sie den Nagel auf den Kopf und formulierte endlich, was keine intel­lektuelle Auseinan­der­setzung der Welt überwinden kann – den Widerspruch zwi­schen den „Besit­zern“ und den Besetzern. Am 27.11. läuft „Das Geheimnis von LE“ zum Vormittags­brunch in den Passage Kinos, am 25.01.06 in der NaTo. Wo Platz ist, soll auch Leben möglich sein!

 

clara

(1) www.gfzk.de
(2) 26.11.05-02.02.06, GfzK, Karl-Tauchnitz-Allee

Lokales

Tanzen gegen Arbeit

Pfützensprünge auf der „Karli“

 

Montags blau machen wollten einige auch kurz vor der Wahl. Am 12. Septem­ber fanden sich um die 100 Leute nach­mittags am Connewitzer Kreuz zu­sammen, um „gegen Arbeit für mehr Spaß“ zu de­mons­trieren. Dem zu­sätz­lichen Motto „Reclaim the streets!“ (siehe Kasten) konnte die Veranstaltung schon allein dadurch, dass sie angemeldet worden war, aber auch in ihrem sonstigen Verlauf nicht gerecht werden. Die Polizei störte dennoch mit lächer­lichen Auflagen, wie z.B. durch eine Aufforderung, sämt­liche Nietenarm­bänder bei den Teil­nehmer­Innen zu ent­fernen, da diese potentielle Waffen dar­stellen würden.

Trotzdem: im strömenden Regen über die Karl-Liebknecht-Strasse zu flanieren, hat nicht nur im Frühling Laune gemacht, als die Politparade „Global Space Odyssey“ durch die Straßen gedonnert war: Dort war es in diesem Jahr ja auch ziemlich feucht­fröhlich zuge­gangen, als ca. 500 Frei­drehen­de zu elektronischer Musik aller Art aus den liebevoll deko­rierten Parade­wagen von Connewitz über Schleus­sig zum Volkspark zogen und sich zwar als De­monstration, dennoch selbst­be­stimmt und lebenslustig an verdutzten Bürger­Innen vorbeifreute. Am Haupt­wagen war damals zu lesen: „Das System ist schwarz-rot-ocker – Und bald fällt es vom Hocker!“

Dem dahinter stehenden An­liegen, un­ge­stört von „normalen“ Lebens­mustern und Macht­struk­tu­ren zu le­ben, soll­­te in der Sep­tem­ber­demo ein wei­teres Mal Aus­­druck ver­liehen werden. Auf den kurzen Kund­­­­ge­bungen am Volks­­haus und vorm Ver­wal­tungs­­­ge­richt ka­men Ver­tre­ter­Innen der anti­faschis­tischen „Ini­tia­tiv­gruppe 1. Ok­to­ber“, der libertären Anti-Wahl-Gruppe, des Er­werbs­lo­sen­syn­di­kates der FAU Leipzig und der freien Theater­gruppe „Sehstörung“, die zusammen mit anderen politisch mo­tivierten Partyorgani­satoren die Demo auf die Beine gestellt hatte, zu Wort:

„Arbeit macht krank!“

Harry von der Sehstörung machte in einem erfrischend authentischen Rede­beitrag u. a. auf gesundheitliche Risiken einer unter Druck und Zwang arbeitenden Gesellschaft als Betroffener aufmerksam. Dankbarkeit könnten weder ältere Ge­nera­tionen noch der Staat verlangen, wenn mensch nicht arbeitet und trotzdem lebt. Reichtum sei in den Händen heutiger BesitzerInnen eine Waffe, so der Sprecher, mit der nicht Armut getilgt, sondern der Reichtum anderer ver­mindert wer­den soll. Reich sei aber nur, wer seinen Lebens­sinn nicht bloß in Konsum und Arbeit sucht. Für ein Leben nach eigenen Vorstellungen muss u. a. entschieden gegen die Aus­grenzung alternativ bzw. un­kommer­ziell arbeitender Menschen vorgegangen werden, indem mensch sich nicht aus der Mitte des sozialen Raumes ver­drängen lässt. Ohne Ein­tritts­geld und nötiges Kleingeld ließe sich das Leben auch genießen, ließen sich trotzdem kulturell wertvolle Erfahrungen machen. Wenn die Polizei in letzter Zeit nicht nur in Leipzig vermehrt alternative Parties stört oder gar Festivals brutal auflöst (siehe dazu S.20ff im Heft, „CzechTek), würde das Nein zu verordneten Spielen und verord­netem Brot nur umso lauter. Ein Sprecher der Anti-Wahl-Gruppe ­wies später darauf hin, dass gegen Ausbeutung und Vereinze­lung nur ge­mein­sam gekämpft werden kann. Weder in einem Patent­rezept noch im Arbeiten ge­geneinander oder im War­ten auf bessere Zeiten, sondern im Zusam­menschluss liege der Schlüssel für ein selbst or­ganisiertes und freies Leben aller.

Auch wenn es keine fetzigen Sprechchöre gab und – wie so oft – mitunter auf offene Türen bei den Beteiligten und nasstaube Ohren bei den meisten Zuhörern gestoßen wurde, motivierend war´s trotzdem. Denn ob nun kritische AktivistInnen, kultur­schaffende oder einfach Leute, die sich das Feiern nicht verbieten lassen wollen – zusammen tanzt sich die Revolution immer noch am besten.

 

clara

Reclaim The Streets

„Holt euch die Strassen zurück!“ Die Aktionsform aus Großbritannien erfreut sich dort spontaner Beliebtheit, wo der öffentliche Strassenraum nur noch für Einkauf und Transport genutzt werden darf und wo Leute genau das wenigstens zeitweise ändern wollen. Die treffen sich dann spontan zum Musik hören, spielen, den Verkehr aufhalten u. ä. und sind in der Lage, ihr Aktionsfeld beliebig zu wechseln, je nachdem, wie schnell die Ordnungshüter vor Ort sind.

U. a. in Berlin findet das Konzept häufig Gefallen, siehe z.B. rts.squat.net/: „Reclaim the streets ist keine Or­ga­ni­sa­tion – rts ist Desorganisation! rts ist keine politische oder sonstwie geartete Gruppe. […] Gemeinsam ist das Ziel, auf lustvolle Art und Weise die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.“

Kino gegen Diskriminierung

Die Galerie für zeitgenössische Kunst (GfzK) ist nicht nur Schauplatz intellektueller Projekte von angesagten KünstlerInnen. Im Altbau stellt die Galerie in diesem Herbst ihre Räumlichkeiten auch für eine Filmreihe des Antidiskriminierungsbüros Leipzig zur Verfügung, das an sechs Mittwochabenden die Hauptaspekte von Diskriminierung (laut EU-Richtlinie) thematisierte: Rassistische Zuschreibung, Religion bzw. Weltanschauung, sexuelle Identität, Geschlecht, Lebensalter und Behinderung.

Im Vergleich zu zahlreichen anderen Län­dern ist Deutschland, bzw. Sachsen im Ver­gleich zu anderen Bundesländern, was seine Antidiskriminierungspolitik und –kul­tur betrifft, immer noch ein Entwick­lungs­land.“ So eine Mitarbeiterin des seit zwei Jahren existierenden Antidiskrimi­nierungs­büros Leipzig. Die Filmreihe mit dem Titel „views on discrimination“ (Sichtweisen auf Diskriminierung) sollte als Angebot „möglichst niedrigschwellig“, das hieß kostenlos in einem neutralen Raum über relativ leicht zugängliche Spiel­filme, einen Anstoß bieten, sich mit ver­schie­denen Aspekten und Problemen der Dis­­kri­mi­nie­rung zu beschäftigen.

Am 21. September ging es los mit der Doku „Blue Eyed“ (BRD 1996), die einen häufig praktizierten Workshop der ameri­ka­­nischen Lehrerin und Antirassistin Jane Elliot dokumentiert. Um Rassismus in der Praxis erlebbar zu machen, wurden die TeilnehmerInnen darin zunächst in blau­äugig und nicht blauäugig unterteilt und dann einen Tag lang unterschiedlich be­handelt. Nach vielen Stunden bloßem War­ten wurden die Blauäugigen in einem Tagungsraum permanent diskriminiert, v.a. durch die stark autoritär handelnde Elliot, die den vor ihr auf dem Boden Sitzenden im Beisein der „guten“ Teil­neh­mer­­Innen immer wieder ihre geschwächte Po­­­sition vor Augen führte. In der an den Film anschließenden Diskussion im Bei­sein eines Psychologen wurden sehr unter­schied­liche Meinungen zu dieser Art Training deutlich. Ein Anwesender hatte selbst an einem an Elliots Methode orien­tierten Workshop mit seiner Schul­klasse teil­genommen und angemerkt, dass die Er­­fahrung eher beängstigend und we­nig reflektiert wirkte. Da­­nach hätte es kei­ne kon­kre­ten Hilfe­stel­lungen zu Hand­lungs­alterna­tiven gege­ben. Die durch die Me­thode aus­ge­­übte psy­chische Ge­walt wurde von vielen Dis­kussions­teil­nehmer­Innen kriti­siert. Wie im Work­s­hop ebenfalls the­ma­­tisiert, ist dabei je­doch die Relativi­tät die­ser Gewalt zu beachten: rassistisch diskriminierte Men­schen er­le­ben jeden Tag ungleich härtere Situa­ti­onen. Auch der Entstehungskontext soll­te be­achtet werden: Die ge­sell­schaft­lichen Ver­hältnisse der frühen 60er Jahre in den USA lieferten sicher einen Hinter­grund, indem eine „härtere Gangart“ plausibler war, als hier und heute. Wie vor dem Film er­läutert wurde, ist Rassismus bei weitem kein reines Problem rechts­­ex­tremer Krei­se. Prak­ti­ziert wird er viel­mehr auf den Ebenen von Insti­tu­tionen, z.B. über den Zugang zu Bil­dung, durch öffentliche Thematisierung bzw. Tabu­isierung und auf individueller Ebene, in der Mitte der Gesellschaft, auch ohne ein aus­differen­ziertes rassistisches Welt­bild. Wenn also nach solch einem Workshoptag aus­reichend über die Er­fahrung der Dis­kriminierung reflektiert wird, kann sie den Wahrnehmungs­horizont eines Men­schen bezüglich rassistischer Alltags­situa­tio­nen durchaus erweitern.

Die Spielfilme „Yasmin“ (GB/BRD 2004) und „Uneasy Rider“ (F 2000) wurden in den folgenden Wochen gezeigt, um Religion und Behinderung im Dis­kri­mi­nierungs­kontext zu thematisieren.

Über den vierten Film, „The Laramie Pro­ject“ (USA 2002), wurde im Anschluss kontrovers diskutiert: Wie geht man mit den sich bezüglich der Toleranz und Ak­zeptanz von Homosexualität immens unterscheidenden Bewußtseinsstadien und Umgangsformen in provinziellen bzw. städtischen Lebensräumen um? Ist ein tolerierendes Umfeld gleich ein Garant für ausreichenden sozialen Kontakt zu Gleich­ge­­sinnten? Im Film wird zwar die Thema­tik der sozialen Konstruktion von Ge­schlecht nicht behandelt, dafür bietet er aber einen, wenn auch sehr emotionalen Einblick in die Auswir­kungen eines homophoben (Ab­neigung gegenüber oder Angst vor Homo­sexuali­tät) ge­sell­schaft­lichen Klimas.

Speziell um die Ungleichbehandlung von Frauen drehte sich „Girl­fight“ (USA 2000), in dem es um den Auf­stieg einer jungen Sport­lerin in der männer­domi­nier­ten Welt des Boxens geht. „Montags in der Sonne“ (Spanien 2002) bildete Ende Oktober mit dem Aspekt Alters­dis­kri­mi­nierung den Abschluss der Reihe.

Auch wenn die zahlreichen BesucherInnen für das jeweilige Thema meistens schon sensibel waren, ließen sich doch oft Positionen vertiefen und Perspektiven er­weitern. Das Anti­dis­kriminierungsbüro ist zufrieden und möchte in Zukunft weiterhin mit Seminaren, Plakat­kam­pagnen und Beratungs­ange­bo­ten für ein umfassendes Anti­dis­kri­mi­nierungsgesetz und für den horizontalen Abbau jedes diskriminierenden Verhaltens arbeiten. Ob aber die fällige Umsetzung der euro­päischen Richtlinien oder mehr politischer Wille, wie es sich das Büro wünscht, an strukturellen Ausgrenzungs­mechanismen und einer verbrecherischen Migrations­po­li­tik etwas ändern würde, steht auf einem anderen Blatt.

clara

Kontakt:
Antidiskriminierungsbüro e.V., Haus der Demokratie, Bernhard-Göring-Straße 152
04277 Leipzig, Fon: 0341/3065145, info@adb-sachsen.de

„Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen!“

Antirassismus im StuRa

Ein StudentInnenrat ist nur für universitäre Politik zuständig. Und dort gibt es ja wohl keine rassistischen Vorurteile. Oder doch? Auch wenn es in Leipzig im Gegensatz zu manch anderer Universität leider kein direktes Referat für Antirassismusarbeit gibt, konnte auch in diesem Semester wenigstens eine Anlaufstelle für dieses Thema besetzt werden: mit Rico Rokitte, 26, seines Zeichens Student der Erziehungs- und Politikwissenschaften sowie der Philosophie. Feierabend! hat nachgefragt, wie der so tickt und was er vor hat…

FA!: Wie bist du zum Thema Anti­rassismus gekommen?

R.: Ich glaube, wenn du anfängst, dich mit der Perversion unserer „zivilisierten“ Ge­sellschaft zu beschäftigen, kommt Rassis­mus als ein krankhafter Auswuchs (von Tausenden) sofort heraus. Für mich ist es nur ein Teilgebiet, mit dem ich mich be­schäftige, wenn auch jetzt mehr. Aber da es im StuRa keinen Bereich „Ver­än­derung der Gesellschaft“ gibt, ist Anti­rassis­mus mein momentanes Hauptthema.

FA!: Wofür steht die Stelle im StuRa und was willst DU draus machen?

R.: Die AntiRa-Stelle im StuRa ist erst rela­tiv neu (ein halbes Jahr) und deutsch­land­weit in StuRas/Astas auch nicht oft ver­treten. Bisher hatte eine sehr kompe­tente Studentin (Sylvia) diese Stelle inne, die sie auch mitgegründet hatte. Ich glaube, für sie war Anti-Rassismusarbeit erst mal eine Aufarbeitung anti­faschis­tischer und antirassistischer Strukturen an der Uni. Und durch den Versuch einer öffentlichen Diskussion ein Problem­be­wusstsein zu schaffen.

Die Mitarbeit im StuRa ist für mich des­wegen wichtig, weil ich denke, dass man die Diskussion in den Organisationen und Be­trieben führen und nicht nur von außen kri­tisieren sollte. Und gerade in der Stu­dierendenschaft mit ihrem ach so toleran­ten Mäntelchen gibt es viel zu tun.

FA!: Was für ein „Mäntel­chen“?

R.: Ich denke und lese, dass Studenten als to­lerant, offen etc. gesehen werden. Dies ist aber praktisch nicht so, auch wenn sich na­tionale, rassistische und autoritäre Um­triebe anders äußern als außerhalb der Uni – keine Skins, keine offene Gewalt etc.. Im Gesamten jedoch sieht es auch nicht an­ders aus – die durch die Soziali­sation ge­setzten Verknüpfungen werden meist un­reflektiert weitergeführt. Auch wenn es sich nicht überall in einer Mitgliedschaft in Burschenschaften und Corps oder an­deren perversen Unter­drückungs­ver­bin­dungen äußert. Ich denke, dass die meisten Studenten sich unter einem AntiRa-Sprecher jemanden vorstellen, der gegen jegliche rassistischen Auswüchse vorgeht und informiert. Ich werde sicherlich Informationen über und die Bekämpfung von auftretendem Rassis­mus weiterhin vorantreiben, halte das aber allein für zu kurzatmig. Es ist wichtig, gegen Nazis, Nationale und Gewalttäter zu kämpfen, aber ich denke, es muss darüber hin­aus­gehen. Besonders hier an der Universität (in einem Bildungsbetrieb) sind viel mehr Ein­flussmöglichkeiten vorhanden.

Anti-Rassismusarbeit ist bei mir stark mit Prä­vention und einer lebens­welt­orien­tier­ten Sichtweise verbunden. Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen, die aus Uninformiertheit, nie erlebter Demokra­tie, Unmündigkeit und autoritärer Struk­tu­ren in der Gesellschaft besteht.

Ne­ben der Erstellung von Readern zu Burschenschaften, Rassismus an der Uni etc. möchte ich dieses Semester damit be­ginnen, einen Diskurs über Gesellschaft und Rassismus zu eröffnen. Praktisch kann das zu Beginn nächsten Jahres durch einen an­visierten Kongress, bzw. einem Work­shop­­wochenende zu diesem Thema ge­schehen. In Zusammenarbeit mit den Fach­schaften und weiteren studentischen Gruppen soll da praktisch unser ei­gener Ein­fluss, z.B. durch spätere Berufe, ana­ly­siert und verbildlicht werden. Das be­trifft vor allem Pädagogen, Soziologen u. a..

FA!: Kann da dann jedeR hingehen?

R.: Natürlich soll dieser Kongress be­ziehungs­weise Workshop für alle Inter­essierten offen sein.

FA!: Wo außerhalb der Uni und mit wem sollte die Auseinandersetzung mit Rassis­mus vorangetrieben werden?

R.: Rassismus ist in Europa und anderswo in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Sicherlich äußert es sich bei Dozenten an­ders als bei der Studierendenschaft. Doch tragen wir fast alle diese unheilvollen Kei­me in uns. AntiRa- Arbeit muss durch alle uni­versitäre Strukturen gehen und nicht nur in der Studentenfreizeit an­setzen. Ich hoffe, dass da mit Dozenten, Fachschaften etc. eine Zusammenarbeit möglich ist. Besondere Hoffnung setze ich auf Studen­ten, die sich in bestehenden oder noch zu gründenden Gruppen finden lassen, auch um mehr als Rassismus anzugehen.

FA!: Wo sind dir im hochschulpolitischen Rahmen Grenzen gesetzt?

R.: Eigentlich darf ich den universitären Rah­men nicht verlassen und mich auch nicht in die Lehre einmischen. Das ist der Rahmen. Doch kann Antirassismus sich nicht so entfalten, wir leben ja nicht in der Uni. Praktisch sind dem aber durch Zu­­sammenarbeit und Unterstützung ein­zelner Studenten, Projekte oder Lehren­­den keine wirklichen Grenzen ge­setzt.

FA!: Danke für das Gespräch und viel Erfolg!

clara

Keine Angst vor Politik

– Methoden kritischer Kunst am Beispiel –

Einer von 365 „Orten des Tages“ im „Land der Ideen“ (siehe Kommentar) wurde am 17. Juni auch in Leipzig gefunden: Die von einigen Aktiven liebevoll „Spinne“ genannte Baumwollspinnerei hat sich in den letzten Jahren zu einem richtigen Mikrokosmos entwickelt. Da zu dieser „Auszeichnung“ aber ehemalige Oberbürgermeister und andere von einem kulturellen Elite-Standort in Leipzig sprachen und Mützen für den „Fanclub Deutschland“ verteilt wurden, konnte der Eindruck aufkommen, es handele sich hierbei um ein Projekt auf dem kulturellen Niveau einer Fabrikeinweihung oder eines Sportevents. Schade, denn nicht nur die zahlreichen Galerien – zuletzt eröffnete „Pierogi“ aus Brooklyn, New York – machen auch so von sich reden: Die gemeinnützige „Stiftung Federkiel“ bespielt seit 2002 eine mehrere Fußballfelder fassende Ebene in der Halle 14 mit thematisch orientierten Jahresausstellungen. Die mittlerweile fünfte dieser Art ist noch bis Ende September (Fr, Sa, 11-18/So 14-18 Uhr) offen und widmet sich der „Kultur der Angst“ (siehe FA!#22). Kurator Frank Motz hat über zwanzig internationale KünstlerInnen eingeladen, ihre Positionen zu entwickeln und zu präsentieren. Wie im Einführungstext überzeugend dargestellt, ist Angst als eine „Schlüsseltechnologie der Macht“ und „marktbestimmendes Verkaufswerkzeug“ allgegenwärtig, weswegen ein besonderer Wert auf Projekte mit po­litischen Ambitionen gelegt wurde. Zwei nord­amerikanische Künstlergruppen – das Critical Art Ensemble und The Yes Men – stechen dabei durch einen besonderen Aktivismus hervor; nach einem stichprobenartigen „Rundgang“ soll dieser näher gebracht werden.

Kriegerische Kultur

m modernen Army-Look mit weißen Ripphemden und Camouflage-Hosen kämpfen auf den zwei „Panorama-Gemälden“, die als Startrampe in die Ausstellung fungieren, junge Menschen verschiedener Hautfarbe; es sind auch kleine Kinder darunter. Ob gegeneinander kann man nicht direkt sagen, die Waffen haben keine realistische Ausrichtung, alles ist sehr sauber. Die Moskauer Künstlergruppe AES+F hat durch eine Montage der Fotografien von jugendlichen Agenturmodellen mit digital erstellten Tieren, Pflanzen und Architekturen aus aller Welt, die dann auf Leinwand ausgedruckt worden ist, eine starke Inszenierung entwickelt: The Last Riot II (Die letzte Aufruhr), 2006. Schöne neue Kriege?

Neben dem Themenstrang um Kinderarbeit- und –pornografie ist es u.a. auch Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen, bzw. einer Islamisierung der westlichen Welt, womit sich die Gruppe beschäftigt. Sie stilisieren dabei gesellschaftliche Konflikte und Tabus provozierend zu etwas Schönem, etwa als Unterwäsche-Performances mit russischen Kindermodels in Ba­rock­­­sälen („Erlkönig“) und goldenen Skul­­pturen der Kinder (siehe Abb.) oder z.B. eine den Koran und Kopftuch tra­gen­de Freiheits­­­statue („Das Islam-Projekt“).

Mandy Gehrt aus Leip­zig zeigt auch Kopf­­­­­­­tü­cher: an sich, an freiwilligen Rollen­­spie­ler­­in­­nen, an der Wand. Den Spagat zwi­schen den verschiedenen prä­sen­tierten Posi­ti­o­nie­run­gen zur Kopf­­­tuch­-Debatte bekommt mensch wahr­schein­­­lich am besten in einem der angebotenen „Islam-Loves-Peace“ – Klei­­­dungs­­­stücke hin, die eine solidarischen und alltäglichen Umgang mit dem Islam fördern sollen. Islamo­phobie, binationale Ehen, Frauen im Islam – die Künstlerin thematisiert in kleinen Filmen, nach intensiven Recherchen im Betrof­fenenkreis, Konflikte im Alltag und mit den Behörden aus der Sicht islamischer MigrantInnen – nur, dass sie die selbst spielt bzw. von anderen Deutschen spielen lässt. Diese anregend ungewöhnliche Art des Perspektivwechsels spiegelt konsequent die Art des Abbaus von Vorurteilen im Weiter­tra­gen konkreter Erfahrung. Die Plattform in der Raum­mit­te soll weitere Kom­­mu­nikati­on ermöglichen, wie es vor­her auch schon öf­ter ein tem­­porär eröffneter Laden ge­tan hatte.

Weniger nach­­haltig ist in mei­nen Augen die Arbeit der Schwe­­­din Ma­ri­an­ne Fri­­berg, deren zwei Videos „No time to fall“ die bei­den An­tritts­reden George Bushs zu seiner jeweiligen Regie­rungs­periode zeigen. Alle Wortbeiträge sind heraus geschnitten, so dass nur Applaus, Räuspern und die dümmliche Mimik eines von sich überzeugten Präsidenten übrig bleibt. Das ist genauso simpel, wie amüsant.

Kollektive Erinnerung und andere Spaziergänge

Das deutsche Passagierflugzeug „Landshut“ war 1977 von RAF-solidarischen TerroristInnen entführt worden. Bei Dubai stand es zwei Tage in der Wüstenhitze, bevor die Anti-Terror-Einheit GSG9 es in Mogadischu befreien konnte. Zwei Filmaufnahmen werden für Philipp Lachenmann zur Basis einer Video­­­­in­stal­la­tion mit dem Namen „Spa­ce_Sur­rogate“. Durch digitale Ver­vielfäl­ti­gung erscheint ein­mal die „Lands­­­hut“ als flimmernde Fatah­mor­gana, der zweite „Bild­­film“ zeigt die Grup­pe der GSG9 in An­kara – ein Haufen junger Männer in Schlag­­­­­­­hosen, die in lang­samen, gemor­phten Schrit­­ten eine Straße entlang gehen. Lachenmann hinterfragt die Reprä­sen­ta­­ti­ons­­leis­tung me­­di­aler Bilder und Prozesse des kol­lektiven Gedächtnisses. Die individuelle Zeit­­­er­­fah­r­ung oder das Ersetzen von Bil­dern in der Er­in­nerung kön­nen dem­nach die Wahr­­neh­­­mung der Ge­schich­­­te stark prägen.

Das dritte Aus­stel­­lungs­objekt La­chen­manns dreht sich um eine andere Ge­­schichts­­­ent­wick­lung: „Gated com­­­mu­­nities“ (um­zäun­­ten Wohn­gebie­ten) in den reichen Vierteln von Los Angeles. Das „Bel Air Bouquet“ entfaltet sich in einem Schilderwald aus Logos von privaten Sicherheits- und Überwachungsfir­men, die er allesamt „beim Joggen“ heimlich aus dem sicheren Boden holte.

Auch der Schweizer Christoph Draeger hat einen gefährlichen Raub für die Kunst begangen: in einem ungarischen Katastrophen-Test-Areal entwendete er einen Mitschnitt einer Übungsaktion aus den Zeiten des Kalten Krieges, wo ein Atomkrieg bzw. seine Konsequenzen geprobt worden waren.

Zum Selber-Machen wollen die Instruktions-Kunsträume von Nedko Solakov und Noboru Tsubaki anregen. Wer sich traut, kann das Gesicht eines Propheten an die Wand malen oder einen Teil der neuen Mauer gestalten, die der sozial radikal agierende Tsubaki zwischen Israel und Palästina ausmacht und in einem Internet-Projekt problematisiert. Im September kommt er für einen Workshop nach Leipzig.

Die Ohrfeigenperformances Yarbossin Meldibekov´s zeigen wiederum eine ganz andere Art des Einsatzes. Er ließ sich in Kasachstan auf der Straße immer wieder ohrfeigen, um auf den traditionellen Despotismus und die mangelnde Zivilcourage hinzuweisen.

Bio-Art?

Die mindestens fünf schon seit 1987 zusammenarbeitenden KünstlerInnen des Critical Art Ensemble (CAE) bezeichnen sich selbst eher als „taktische Medienpraktiker“, die hybrid und künstlerisch zwischen Technologie, Theater und Theorie changieren. Dabei kämpfen sie als „Wir-versuchen-alles-Amateure“ prinzipiell produktiv gegen übermächtige und fehlerhafte Systeme und praktizieren eine lokal und publi­kums­angepasste Medienwahl. Dokumentarfilme zu verschiedenen Projekten sollen ihren Beitrag zum „Faktor Angst“ in die Ausstellung tragen. Aus einem Positionspapier:

Die Verwendung der symbolischen Abstraktion von Angst als austauschbarem Zeichen war schon immer ein hilfreiches Mittel, um die perversesten Bedürfnisse der Autorität zu rechtfertigen und zu verfestigen. Diese folgen der Ausweitung einer militarisierten Ordnung und der Abschaffung individueller Eigenständigkeit.“

Der Film „Marching Plague“ thematisiert Biowaffen-Forschung und deren „Ökonomie der Sinnlosigkeit“. Nach der Nutzung chemischer Waffen im Ersten Weltkrieg sei schnell sowohl ein hohes Interesse vorhanden, als auch die geringe „Effektivität“ von Bakterien u.ä. in diesem Zusammenhang klar gewesen. Bumerangeffekte, die problematische Haltbarkeit der Stoffe und „stärkere“ Alternativen sind schon 1932 als Gegenargumente in der innermilitärischen Diskussion aufgetaucht. Die gezeigte Aktion fand 2005 nahe einer schottischen Insel statt: Die Künstler­Innen setzten über zwanzig Meerschweinchen und eine Betreuerin auf einem Floß aus und besprühten dieses aus einiger Entfernung mit einer Flüssigkeit, in der der pestähnliche, aber harmlose Bacillus subtilis in hoher Konzentration enthalten war. Damit wurde detailgetreu die 1952 von der britischen Marine durchgeführte „Operation Caul­dron“ nachgestellt, bei der Pest-Viren als Schiff-zu-Schiff-Waffen getestet worden waren. Bei beiden Tests konnten jedoch keine bzw. nur vernachlässigbare Ergebnisse erzielt werden (ein Meerschweinchen hatte ein paar Bakterien auf dem Fell).

Vor dem Hintergrund aktuellerer Fälle, wie der nachweislich durch übertriebene Darstellung geschürten Anthrax-Panik-Welle, kann diese Arbeit als Metapher für die Absurdität der „bio-warfare“-Forschung gelesen werden. Die ideologisch und physisch mit PolitikerInnenimage und Konsumanregung operierende Inte­res­sen­­lage wächst beständig und die Budgets für militärisch-medizinische For­schungs­institutionen werden kräftig aufgestockt, um sowohl biologische Waffen, als auch Gegenmittel zu finden. Obwohl weder Massenangriffe mit Biowaffen noch massenhafter Schutz vor ihnen wahrscheinlich sind, wird getan, so der Vorwurf an die US-amerikanische Regierung, als handele es sich dabei um das Gesund­heitsrisiko Nr.1.

Dass die Angst vor Bioterror den Staat schwer beschäftigt, erlebt Steve Kurtz, einer der Hauptprotagonisten des CAE, vor Gericht, seit im Mai 2004 seine Frau an einer Herzattacke gestorben war. Die Polizei hatte, als sie in die Wohnung gekommen waren, wegen verdächtiger Reagenzgläser des Ehepaares die „Joint Terrorism Task Force“ des FBI verständigt. Die beschlagnahmten zunächst die gesamte Wohnung und nahmen unter anderem ein Manuskript für das Buch zum „Marching Plague“ – Projekt mit, im Film „Body of Evidence“ sieht man u.a. FBI-Mitarbeiter in Intensivschutz-Anzügen, wie sie die Wohnung betreten.

Laut Vorladungen verfolgte das FBI Straftaten nach Abschnitt 175 des US Bio­logical Weapons Anti-Terrorism Act von 1989, der durch den „USA Patriot Act“ nach dem 11. September erweitert wurde. Durch die Erweiterung verbietet dieses Gesetz den Besitz von „jeglichen biologischen Stoffen, Giften oder Herstellungsmitteln“, der nicht gerechtfertigt ist durch eine „prophylaktische, schützende, gutgläubige Forschung oder einen anderen friedlichen Zweck.“ Man ging also von einer künstlerischen Bedrohung aus. Da die gefundenen Bakterien und Utensilien aber einem üblichen High-School-Biologieunterricht-Equipment entsprachen, musste der Vorwurf des Bioterrorismus dann auf eine Postbetrugsbagatelle runtergeschraubt werden. Trotzdem steht bis heute die Drohung einer Höchststrafe von 20 Jahren Haft dafür im Rechtsraum, obwohl es sich um eine gängige Austauschpraxis zwischen Wissenschaftlern gehandelt hatte. Der angestrebte Präzedenzfall wird sich wohl noch eine Weile hinziehen – die Solidarität durch zahlreiche WissenschaftlerInnen und Bürger­rechtlerInnen ist erfreulicherweise groß, auch KünstlerInnen unterstützen das CAE in diesem Prozess.

Die Gruppe „The Yes Men“ beispielsweise verkauft online einen Film über sich, dessen Erlös an den Gerichtskostenfond geht. Auch inhaltlich finden sich gemeinsame Punkte, wenn das CAE etwa erklärt, dass unsere wandelreiche Zeit für subversive politische und soziale Veränderungen produktiv sein und das aktive Konstruieren und Manipulieren der Darstellung durch­aus Einfluss auf den Diskurs haben kann.

Für die zwei Hauptprotagonisten der „Ja-Sager“ mit wechselnden Namen ist es inzwischen schon relativ schwierig geworden, ihrem Ziel nach subversiv zu agieren, oft müssen sie sich Leute suchen, die ihre Auftritte durchführen. Denn die Yes-Men mischen sich wirklich ein: Auf den verschiedensten Konferenzen haben sie sich schon als eingeladene Vertreter einer bestimmten Firma mit abstrusen, überspitzten Ideen und Produkten präsentiert, immer unsicher, ob ihre „Identitätskorrekturen“ aufgingen. Der größte Coup gelang ihnen 2004, als sie sich zum 20. Jahrestag der Chemiekatastrophe im westindischen Bhopal, in deren Auswirkung ca. 20 000 Menschen sterben mussten, im Internet als Dow-Chemicals (den verantwortlichen Konzern) ausgaben und die lang ersehnte finanzielle Entschädigung der Hinterbliebenen ankündigten. Die Yes-Men wurden als Dow-Repräsentanten angesehen und „Jude Finisterra“ durfte selbst die Nachricht an das Nachrichtenpublikum der BBC. Kurz darauf musste der Konzern sich öffentlich dazu bekennen, keinerlei Zahlungen zu übernehmen und die Nachricht dementieren. 2005 traten die Yes-Men wieder „für“ Dow auf einer Konferenz in Erscheinung, wo sie den „Dow Risk Calculator“ vorstellten, eine Software für Unternehmen zur Ermittlung eines Produk­tions­ortes mit großer Risikobereitschaft in der Bevölkerung.

Vor kurzen hat wieder einer angebissen: auf der unechten Homepage wurden die beiden als Vertreter des großen Energiekonzernes Halliburton ausgemacht und eingeladen. Auf einer Konferenz für Versicherungsmanager zum Thema Katastrophenschutz in Florida Anfang Mai 2006 präsentierten also ein gewisser Fred Wolf und sein wissenschaftlicher Kollege Dr. Goody nach langer Forschungsarbeit den „Halliburton SurvivaBall“. Nachdem alle möglichen klimatischen und soziale Katastrophen besprochen waren, wurde die „gated community für einen“ vorgeführt: ein riesiger Stoffball zum Reinklettern mit vielen Funktionen: genügend Stauraum für Nahrung, medizinische Versorgung und Arbeitsgeräte, eine abschreckende Verteidigungsinfrastruktur, die Andock-Möglichkeit für andere Bälle, um ein „managerial agregate“ in funktionaler Differenzierung zu bilden, etc. So könne man sogar die Firmenmission fortführen, selbst wenn eine Epidemie oder Klimakatastrophe menschliches Leben unmöglich gemacht haben oder Migration und Krieg selbiges gefährden. Schließlich hätte selbst die schreckliche Pest trotz allem zur wunderbaren Renaissance geführt und auch das noch ältere Projekt der Arche Noah sei ja durchaus erfolgreich verlaufen. Die Errungenschaften der heutigen Wissenschaft ermöglichten also die absolute Sicherheit für diejenigen, die sich früh genug darauf vorbereitet haben. Die Fragen aus dem Publikum zur finanziellen Machbarkeit, der sperrigen Umsetzung und ob der SurvivaBall auch ausreichend vor Terrorismus schütze, würden, so die Vertreter, in der weiteren Planung Beachtung finden.

Derlei Eingriffe werden nicht nur viel eher für bare Münze genommen, sie rütteln auch auf eine besondere Weise an den Strukturen der Macht, zum Nachahmen empfohlen! Die Stiftung Federkiel hatte sich jedenfalls in weiser Voraussicht an der Entwicklung des Produktes beteiligt und wird in naher Zukunft ihre Exemplare der SurvivaBalls erhalten und in der laufenden Ausstellung präsentieren. Es lebe die Freiheit der Sicherheit!

(clara)

Muscha heißt Beschützer

– Porträt eines als Kind von den Deutschen verfolgten Sinto –

Ich war bereits zwölf Jahre alt und konnte mehr verstehen, als die Erwachsenen glaubten. Nur eines konnte ich nicht verstehen, warum die Menschen so dumm sind, um Kriege zu führen und sich selbst zu vernichten. Das hatte doch der liebe Gott bei der Erschaffung des Menschen bestimmt nicht gewollt. Die Tiere ermorden sich ja auch nicht massenweise. Solche Gedanken kommen einem, wenn man einsam in einem Zimmer ausharren muss.

Mein Zimmer wurde nun nicht mehr bewacht und verschlossen und angebunden war ich auch nicht mehr. Das war auch nicht nötig, denn für eine Flucht wäre ich viel zu langsam gewesen. Auch hatte ich immer noch ganz schöne Schmerzen im Bauch und in den Beinen. Natürlich bekam ich auch Besuch. Mutti und Vati kamen getrennt zu den Besuchszeiten.

Eines Tages, vielleicht war es auch in der Nacht, standen plötzlich Fremde in meinem Zimmer, um mich abzuholen. Einen Pfleger erkannte ich wieder. Es war der Mann, der mir vor der Operation die Bauchfusseln abrasiert hatte. Er sagte mir, ich solle ganz leise sein, nicht sprechen und nur das tun, was man mir sage. Neben der Tür stand noch ein Mann, den ich schon einmal bei meinen Eltern gesehen hatte. Es war Onkel Peter. In der Tat ging ich auch freiwillig mit ihnen mit. Es wurde nicht gesprochen. Nur durch Zeichen verständigten sie sich.

Später habe ich erfahren, dass der SS-Mann Bartelt meine Eltern davor gewarnt hatte, dass man mich nach der Operation in das KZ Bergen-Belsen bringen wollte. Dort hätte ich in meinem Alter niemals überlebt. Die sozialdemokratischen Widerstandskämpfer wussten das und setzten alles auf eine Karte, um mein Leben zu retten. Diese Menschen bezeichnete man mir gegenüber als Angehörige des Roten Kreuzes. Jedenfalls brachte man mich an den Goldberg in der Nähe von Halle, wo man mich in einem Gartenhäuschen versteckte. “

(aus dem Buch: „Und weinen darf ich auch nicht…Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – Eine Kindheit in Deutschland“, 2002)

Ein Kinder-Leben

Am 6. Januar 1932 wurde Josef Muscha Müller in Bitter­feld geboren und es sollte 54 Jahre dauern, bis er dort auf eine Spur seiner Herkunft stieß. Doch eins nach dem anderen: Er konnte noch nicht ganz alleine laufen, da holten Otto und Minna Hinz, die von Königsberg nach Halle gekommen waren, wo sie sich weiterhin im kommunistischen und sozialdemokratischen Spektrum bewegten, den Kleinen aus dem Kinderheim in Grölwitz bei Halle und nahmen ihn in Pflege. Obwohl Sinti-Kinder nicht adoptiert werden durften, arrangierte eine Frau vom Jugendamt diese Rettung. Später sollten noch andere Rettungen folgen, denn Muscha zählte als „Zigeuner“ in Nazi-Deutschland zum „unwerten Leben“. 1940 wurde er von der Berliner „rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ registriert. In der Schule wurde er vom Lehrer und den Mitschülern gedemütigt und misshandelt und noch Ende 1944 von einem Dr. Rothmaler sterilisiert. Bei einer späteren Konfrontation mit dem Arzt sollte dieser dazu bemerken: „Und das was ich getan habe, habe ich getan für das deutsche Volk!“

Vom Krankenhaus aus sollte das Kind in das KZ Bergen-Belsen verschleppt werden, der Widerstandskreis der Eltern konnte ihn jedoch davor bewahren, indem sie ihn bis Kriegsende versteckt hielten. Dabei kam es nach mehreren Gestapo-Verhören zum Suizid eines der widerständigen Aufpasser, „Onkel Peter“, der verhindern wollte, dass er selbst das Versteck preisgibt. Nach der Befreiung klärten die Eltern ihn über seine Herkunft auf und rieten ihm gleichzeitig, nicht über sie zu sprechen, da sie weiterhin eine Rassenverfolgung in Deutschland befürchteten.

Erst 1986 sollte der damals 54-jährige jedoch bei einem Besuch in Bitterfeld zufällig von seinem Taufnamen „Muscha“ erfahren, eine Nonne zeigte ihm die Kirchenbücher, in denen noch ein weiterer Name auftauchte: Vinzenz Rose Müller – wahrscheinlich ein Zwillingsbruder, ein Stück Hoffnung auf ein Stück Familie. Leider fand er ihn aber bis heute nicht. Ein in den 50ern gescheiterter Adoptionsversuch eines kleinen Jungen durch Muscha und seine Frau verstärkte zusätzlich sein lebenslang wiederkehrenden Gefühl der Einsamkeit.

Doch der inzwischen 74-jährige hat eine Berufung: Kinder. In einer Berliner Kinderpsychiatrie arbeitete er als Pädagoge, auch nach der Rente noch ehrenamtlich. Er geht aber auch in Kindergärten und Schulen, um aus seiner Kindheit zu erzählen. Dabei veranstaltet er immer eine Art Rollenspiel, bei dem er sich selbst und die anderen in bestimmte Situationen bringt und verschiedene Personen dargestellt werden, selbst in die Haut seiner Peiniger schlüpft Muscha.

Diesen Stil benutzte er auch kürzlich auf zwei Veranstaltungen der „Zeitzeugengespräche“ in Jena und Leipzig, für die er als „Ersatz“ für den erkrankten Hugo Höllenreiner eingesprungen war. Weniger glücklich verliefen leider die Mobilisierung und inhaltliche Vorbereitung zu dieser Reihe. Für die ca. 50 BesucherInnen war die sicher ungewohnte Art der Wissensvermittlung nichts desto trotz sehr aufschlussreich, da die Perspektive eines Kindes erfahrbar werden konnte. Vor der Leipziger Veranstaltung am 2. Juni bekam ich freundlicherweise die Gelegenheit, ein Gespräch bzw. Interview mit Muscha zu führen, das nun hier in Teilen zu lesen sein wird. Am Ende des Abends sagte Muscha, und das bedeutet „Beschützer“: „Ich bitte euch von ganzem Herzen, lasst so was nie wieder zu, wenn ihr davon erfahrt. Kämpft dagegen an, wenn man gegen wehrlose Kinder vorgeht.“

Interview

FA!: Bist du eigentlich inzwischen als Verfolgter anerkannt?

Ja, ich bin anerkannter „Verfolgter des Nazi-Regimes“, nach 30 Jahren Kampf. Ich war in der DDR seit 1947 anerkannt, als jüngstes verfolgtes Kind. Und dann wollte ich die Überschreibung im Westen haben, die habe ich nicht bekommen. Ich war als junger Mann in deinem Alter in einem Prozess, da sagte die Richterin zu mir: „Verschwinden sie sofort, sie sind kein Verfolgter!“ Und ich wollte etwas sagen. – „Halten sie ihren Mund und sie fliegen raus hier! Und wer ist eigentlich die Dame?“ – „Na ja, meine Begleitung.“ Sie war Journalistin, das habe ich der aber nicht gesagt. Aber in ihrem Artikel bei der taz ging es knallhart gegen das Gericht. Später bin ich mit Hans-Joachim Vogel und so zusammen gekommen, das waren also SPD-Leute. Die sagten: „Das kann doch nicht wahr sein!“ – „Es ist aber Tatsache, ich habe das auch schriftlich, dass ich nicht anerkannt wurde.“ Und da haben sie im Abgeordnetenhaus einen Beschluss gefasst und haben die Gesetzgebung zur Anerkennung geändert. Und als die Mauer wegging, wurde ich auf einmal anerkannt. Aber eine Entschädigung habe ich nie bekommen. Na ja, ich habe gut verdient. „Und eine Rentensache?“ – „Ja, das könnten wir eventuell machen. Aber nicht so, wie die jüdischen Verfolgten!“ Ich habe in Hamburg, aber auch in Amerika die Sinti und Roma vertreten, in Polen zum Weltkongress, um wenigstens etwas zu kriegen.

FA!: Konntest du nach dem Krieg mit deinen Pflegeeltern über die Geschehnisse sprechen?

Na ja, am Anfang habe ich natürlich gefragt, warum der – sag ich jetzt mal – Neger, wir kannten keinen anderen Ausdruck dafür, zu mir gesagt hat: „Jetzt bist du frei, du schwarzer Zigeuner.“ – „Was ist ein Zigeuner?“, fragte ich. Und da haben sie mich erst mal aufgeklärt und mir gesagt, dass sie nicht meine Eltern sind. Da habe ich natürlich einen vollen Schock gekriegt und wollte es nicht glauben und habe geschrien. Erst später habe ich das richtig begriffen, als sie es mir wieder gesagt haben: „Deine Eltern sind nicht mehr da.“ Sie konnten mir nicht sagen, ob sie tot sind. Aber sie waren auch noch nicht verfolgt worden, denn das war ja erst 1932, die Machtübernahme war ja später.

FA!: Habt ihr auch über den Widerstand gesprochen?

Ja, es kam öfter mal zu Gesprächen. Da hatte ich doch z.B. mal in einer Weinkammer gestöbert und Flugblätter gefunden. Und da habe ich dann gefragt: „Ich kann mich erinnern, wie ihr gemeckert habt, weil ich die Flugblätter gefunden habe. Warum waren die denn da drin?“ Das ist eine Frage von einem 12-jährigen Kind. Dann hat der Vater gesagt: „Pass mal auf: Wir haben dir doch immer erzählt, dass die Kollegen, die da immer kamen, Sportkameraden sind. Das waren aber keine Sportkameraden, das waren Kameraden des Widerstandes.“ Und dann hat man mir auch erklärt, was der Widerstand war, wer die Nazis waren. „Du hast doch gesehen, wenn sich die HJ mit dem Kommunistischen Jugendverband geprügelt haben. Und da war ein Widerstand auch zwischen den Erwachsenen gegen die Nazis.“

Die Sache mit der Sterilisation kam so: Ich bin total verknallt gewesen und bin zum Papa gegangen und habe gesagt: „Du, ich hab da ´ne dufte Mieze und wir wollen heiraten. Und da hat er gesagt: „Was willst du machen?“ – „Na heiraten, wie du, ganz einfach.“ – „Sag mal, weißt du, wieso du damals im Krankenhaus warst?“ – „Was hat denn das damit zu tun?“ – „Da bist du doch operiert worden.“ – „Ja, am Blinddarm.“ – „Schau doch mal nach, ob das stimmt.“ – „Wieso?“ – „Mein Junge, du sollst dir das mit dem Heiraten überlegen, du bist sterilisiert worden. Und die Ehe ging damals auseinander denn sie wollte dann zuletzt doch ein Kind haben. Das war eine schwierige Situation für Sterilisierte. Von den Frauen, die man sterilisierte, haben sehr viele Selbstmord begangen. Die haben auch teilweise heftigere Schmerzen gehabt als Männer und die psychische Belastung haben sie einfach nicht überwunden. Ich habe es eben durch mein Aufgabengebiet überwunden – nicht ganz, es kommt immer wieder zum Vorschein. „Da, guck mal, das ist eine Familie.“ Ich sehe in ihnen meine Familie, ob er das ist, oder du das bist. Ich sehe es nur so, aber es ist nicht meine Familie. Oder an Weihnachten, wenn andere feiern, dann sitzen wir beide alleine da, die Müllerin und ich, immer alleine. Wo werden wir denn eingeladen? Dadurch, dass ich ein bisschen bekannt geworden bin, habe ich natürlich einen Kreis, aber ich bin eben ein Sinto.

FA!: Ich habe noch eine grundsätzliche Frage: Was ist für dich Rassismus?

Die größte Schweinerei, die es überhaupt gibt. Wir sind nur ein Planet, ein Planet. Es gibt eine wunderbare Tierwelt, eine wunderbare Vegetation, aber einen unberechenbaren Menschen, der auf dem Planeten ist und es wird ihn auch immer wieder geben.

Also, ich würde mir wünschen, dass es dahin geht, dass alle Menschen gleich sind egal welcher Hautfarbe, egal, welcher politischen Einstellung, sie darf nur nicht kriegerisch sein. Wir müssen alle einfach gleich sein, so wie wir geschaffen wurden, so sollten wir bleiben.

FA!: Aber wie kommt man denn da hin? Wie kann man dem Rassismus begegnen?

Ich weiß es nicht. Wenn der Mensch selbst es nicht will, er würde es vielleicht schaffen, aber er will es nicht. Schon ist der Unterschied da, der Nachbar ist der Türke, „Das sind die Türken, die sind ja ein dreckiges Volk!“, so geht das wieder los bei uns in Berlin. Oder vorhin: da habe ich meinen Spaß gemacht mit denen, die nur schwarze Klamotten tragen. Aber ich habe nicht gesehen, dass die irgendwie feindlich sind oder dass ich eine Abneigung gegen sie habe. Warum soll ich auch eine Abneigung haben, wenn ich überhaupt nicht weiß, was das für Menschen sind, was die überhaupt machen. Wenn das überall so wäre, dann könnte man sagen, es ist gut so, das ist der Planet des Friedens. Aber er ist es nicht.

FA!: Es ist ja eigentlich auch eine antifaschistische Tätigkeit, wenn man in die Schulen geht, so wie du das machst, so anschaulich und intensiv – wie reagieren die Kinder auf dieses Thema?

Also, ich muss sagen, die Kinder haben sehr gut reagiert. Das liegt aber daran, dass die das spielen. Manchmal hat das auch mit Erwachsenen geklappt. Die Kinder haben mir Briefe geschrieben, ich sollte wiederkommen, alles in der BRD hauptsächlich. Ich bin Stamm-Zeitzeuge an vielen Schulen. Das läuft ganz gut, jedenfalls besser, als ich es erwartet hatte. Die Kinder empfinden das richtig, manchmal habe ich Szenen erlebt, da haben sie so geweint, dass ich aufgehört habe, zu erzählen. Das ist so: ich trete dann auch irgendwie weg, ich bin in dem Moment dann nicht mehr da. Ich erlebe das noch einmal. Deswegen kommen dann auch immer wieder einmal diese Gefühlsausbrüche zum Vorschein, dass ich auf einmal nicht mehr sprechen kann und gegen die Tränen ankämpfe, denn das tut weh.

FA!: Du machst aber immer noch weiter?

Na ja, pass mal auf, mit 35 Jahren ist man ja schon ein bisschen langsam… Dass ich hier bin, ich wurde ja angerufen und habe Ja gesagt. „Du musst doch ein Ding am Koppe haben, wie kannst du denn das so auf die Schnelle machen?“ Das wird langsam zuviel, das ist schon anstrengend. […]

Ich gehe auch zu den Baptisten und mache da Kinderstunden. Also, das, was ich noch kann. Meine Frau ist gehbehindert, daran muss ich auch denken. Ich habe auch gesagt: „Müllerin, ich glaube, es wird das letzte mal sein.“ Es ist praktisch wie ein Abschied.

Bewegungskoordination

Bestandsaufnahmen und Begriffstützen vom 29. BUKO-Kongress

Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) ist ein unabhängiger Dachverband, dem über 150 Dritte-Welt-Gruppen, entwicklungspolitische Organisationen, internationalistische Initiativen, Solidaritätsgruppen, Läden, Kampagnen und Zeitschriftenprojekte angehören. Der Ursprung lag in den Solidaritätsbewegungen mit den Befreiungskämpfen im Süden. Sie versteht sich als Ort linker, herrschaftskritischer Debatten und sucht den offenen Dialog mit anderen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen.“ www.buko.info

Ein Internationalismus nach dem Internationalismus

Bis 2002 hieß die seit 1977 existierende Plattform noch „Bundeskoordi­nation entwicklungspolitischer Aktionsgruppen“. Die Kritik an früheren romantisierenden, nicht selbstkritischen Vorstellungen einer einheitlichen Seite der guten Unterdrückten führte auch in der Ausrichtung, z.B. den Arbeitsschwer­punkten, wie Rassismus und Flüchtlingspolitik, Weltwirtschaft, Alternativer Handel und die Pharma-, Rüstungsexport- und die Biopiraterie-Kampagnen, zu Veränderungen. Neben der drei bis vier mal im Jahr erscheinenden Zeitschrift „alaska“ hat die BUKO bisher auch schon diverse Positionspapiere und das Buch „radikal global“ ( Verlag Assoziation A., Hamburg-Berlin 2003) publiziert. In Abgrenzung zum Lobbyismus vieler Nicht-Regierungs-Organisationen nach 1989 wird eine Alternative zum Kapitalismus nicht ausgeschlossen, sondern nach wie vor angestrebt. Funktionsträger von Politik und Wirtschaft werden weiterhin nicht als Dialogpartner, sondern als Reproduzenten der Verhältnisse aufgefasst. Gefahren, wie die Konsens-Sucht einer vermeintlichen Zivilgesellschaft, in der alle gewinnen könnten und eine Pseudo-Vereinnah­mung detaillierter Forderungen zur Imagepflege der Macht­inhaberInnen müssen beachtet werden. Die zentralen Zielsetzungen der BUKO sind eine emanzipatorische Perspektive, eine antirassistische, antisexistische Haltung gegen jede Form struktureller Gewalt, Armut, Antisemitismus u.ä. im gemeinsamen Suchen von Handlungsperspektiven. Solidarität statt Almosen umschreibt den nicht karitativen, sondern politischen, autonomen Anspruch an die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bewegungen auf der Welt, der aber auch dafür sorgen soll, dass kritische Stimmen aus unterdrückten Ländern mehr Gehör finden. Daran geknüpft ist die generelle Ablehnung einer Teilhabe an den Machtverhältnissen, also deren Kritik und Kontrolle durch Widerstand von unten. Statt Doktrin steht aber der Netzwerkcharakter der Organisation an erster Stelle.

Seit 2005 ist die BUKO erfreulicher- und schwierigerweise selbstfinanziert. Deswegen wurde eine Kampagne ins Leben gerufen, nach der in diesem Jahr noch 150 mal 100 oder 1500 mal 10 Euro benötigt werden, damit die Vernetzungsarbeit weiter unabhängig laufen kann. Spenden in jeder Höhe und Tiefe werden gern entgegengenommen unter: VzF e.V./BUKO, Ev. Darlehensgenossenschaft Kiel, Konto­nr. 234 389, Blz. 210602 37, Verwen­dungs­zweck „BUKO braucht Kohle“.

buko 29: re:control – antworten, abweisen, aneignen

Vom 25. bis zum 28. Mai wurden in der TU Berlin Foren zu den Komplexen G8, Stadt/Sicherheit, Migration/Kolonialismus und Energie in mehreren Phasen abgehalten; insgesamt fanden über 100 Veranstaltungen mit WissenschaftlerInnen, Initiativen und Organisationen, wie z.B. The Voice, FelS, IMI, WEED, Gruppe B.A.S.T.A., Kein Mensch ist illegal u.v.m. und mit über 500 Interessierten statt. Leckere Bio-Küche, eine berli­nale Abschlussparty – fertig und voll kehrte ich zurück. Leider war es nicht möglich, an allen gewünschten Veranstaltungen teilzunehmen, da vieles parallel lief und sich stark auf bestimmte Zeiten konzentrierte. Aber auch ein gutes Gespräch auf der Zentral­wiese, der Sound der Samba-Trommel-Protest-Test-Kombo oder der herumliegende Lesestoff waren anregend, doch nun zu inhaltlichen Eindrücken:

Genderkicks

In einem gut besuchten Treffen zum Thema „Sicherheit, Geschlechterverhältnisse und feministische Bewegungsperspek­tiven“ wurde u.a. darauf hingewiesen, dass eine gemeinorientierte Produktion von Sicherheit sowieso nicht möglich ist und es um den Kampf gegen strukturelle Gewalt gehen sollte. Die Kriminalisierung von Prostitution und Migration durch Razzien, Denuntiations-Hotlines u.a. führt neben den Problemen Zwangsprostitution und Menschenhandel zu einer auch durch die Männerfußball-WM weiter verstärkten prekären Lebenssituation vieler Frauen. Die in einigen Städten installierten „Verrich­tungs­kabinen“ zeugen davon genauso, wie auf einer anderen Ebene die „Abpfiff-Kam­pagne“(www.abpfiff-­zwangs­­­­­­­­­­­­­­­pros­­ti­­tu­­tion.net). Mittler­weile staat­lich instrumentalisiert wird dort versucht, gegen die genannten Prozesse vorzugehen. „Darüber hinaus sollte für diejenigen, die als Zeuginnen in Prozessen aussagen, ein gesicherter Aufenthaltsstatus unabhängig vom Prozessausgang angestrebt werden.“ Diese Forderung der Kampagne allerdings ist zynisch und traurig zugleich: nach der Zwangsprostitution also noch drei Monate angstvoller Aufenthalt in Deutschland, um als Zeugin auszusagen, und dann wieder zurück, Abschiebung nach Gebrauch.

Stereotype Zuschreibungen von Gewalt und Territorialverhalten zu Männern und Sicherheitsstreben und Opferrollen auf Frauen klammern die konkreten Bedingungen von Gewalt aus, legitimieren die gängigen Maßnahmen und suggerieren passive Opfergruppen ohne Stimme. Demnach müssen Gegenperspektiven den Gedanken der Opfer mit Stimme, wie er z.B. bei den französischen „sans papiers“ praktiziert wird, aufnehmen, eine eigene Agenda erstellen, die Vernetzung vorantreiben und gegen die alltäglichen visuellen und sozialen Gewaltformen konfron­tativ, souverän und kreativ vorgehen.

Wir sind gekommen, um zu bleiben!

VertreterInnen der migrationspolitischen Organisationen Kanak Attak und Transit Migration riefen zu einem Diskussionsforum unter dem Motto „No Integration“. Dem Zauberwort Integration wird seit geraumer Zeit von Gruppen wie Kanak Attak („Integriert uns am Arsch!“) und dem österreichischen Kulturverein Kanafi eine Absage erteilt. Da die Herrschenden inzwischen den positiven Bezug zum Begriff adaptiert und umgewandelt, also die Definitionsmacht übernommen hätten, sei nun in den Debatten von Rechten keine Rede mehr. Die sogenannte Ghetto- bzw. Parallelgesellschaft würde als Argument für einen Imperativ der Integration missbraucht, obwohl Migration ein prinzipiell exzessiver Prozess, also nicht integrierbar sei. Außerdem seien die verschiedenen MigrantInnennetzwerke die wichtigsten Orte der Integration und nicht die Politik. Dort finden ja alle Integration wichtig, nur sei damit zunehmend die aktive Assimilation von MigrantInnen gemeint, die sich in eine illusionierte Mehrheitsgesellschaft zu integrieren hätten. Dabei werden auch immer nur bestimmte MigrantInnengruppen thematisiert und zugleich unzulässige identitäre Zuschreibungen vorgenommen.

Demgegenüber fordert z.B. Kanafi das Recht auf eine flexible, selbstbestimmte Identität, gleiche Rechte und Respekt statt Toleranz. Sie lehnen nicht ab, Teil dieser Gesellschaft zu sein, das sind sie sowieso, auch wenn das einigen nicht passt.

Ob man überhaupt Rechte einfordern solle oder nicht eigentlich den Rechtsstaat an sich ablehnen müsse, wurde heftig diskutiert. Von PraktikerInnenseite wurde aber eingeräumt, die Frage auf Rechte zu richten, die eine Verbesserung der Lebenssituationen ermöglichten und insgesamt weiter führen. Eine Forderung nach Rechten ohne die Bedingung der Integration sei schließlich sehr wichtig. Es wurde auch auf den engen Zusammenhang zur Frage des nationalen Sozialstaates hingewiesen. Auch prägt dieser mit seinen Sonderregeln einen europäischen Prozess des Sozialabbaues und der Grenzverfestigung, die Praxis müsse daher auch mindestens auf europäischer Ebene laufen, wie es u.a. das Frassanito-Netzwerk anstrebt.

Mit den Ansprüchen einer angeblichen Mehrheit und dem Schlagwort Integration wird erneut eine Hierarchie aufgebaut und nicht auf Konflikte reagiert. Deswegen sollte der positive Bezug auf den Begriff von emanzipatorisch motivierten Menschen überdacht werden.

Wir sind hier, weil ihr unserer Länder zerstört!

Die verschiedenen Perspektiven auf das Thema Migration in linken Diskursen, die auch für die Anti-G8-Mobilisierung relevant sind, werden oft in die Pole „Festung Europa“ und „Autonomie der Migration“ eingeteilt. (Gregor Samsa in analyse& kritik Nr. 506, 19.05.06). Die einen führen an, dass jährlich immer weniger Asyl­be­wer­­­­ber­­In­nen über­haupt hier an­kä­­­men, dann auch fast immer nicht anerkannt. In Europa werden jährlich eine halbe Million abgeschoben, die „freiwilligen“ Ausreisen nicht mitgezählt. Die EU hat vor kurzem die deutsche Drittstaatenregelung übernommen, auch Libyen, Marokko und Weißrussland (die nicht einmal die Genfer Konventionen unterschrieben haben) sollen bald als sichere Drittstaaten gelten, von denen aus bei einer Einreise in die EU kein Asyl gewährt wird. Die Sicherung der Grenzen, u.a. durch Abschiebe- und Auffanglager in Marokko, der Ukraine oder etwa Mauretanien tun ihr übriges zur berechtigten Kritik an der europäischen Ab­schottungs­politik.

Die Autonomie der Migration beschreibt dagegen einen Formwechsel von Migration (nämlich die undokumentierte Einreise ohne Asylverfahren) durch die Änderung der Bedingungen. Es seien heute keineswegs weniger Flüchtlinge, die nach Europa einreisten. Die Politik zielte außerdem eher auf eine weitere Entrechtung billiger „Arbeitsnomaden“ als auf die Schließung der Grenzen. Die alltäglichen Kämpfe seien die eigentlichen sozialen Bewegungen und die permantente Entmündigung von MigrantInnen in der Opferrolle müsse aufhören.

Diese Ansichten schließen eigentlich nicht aus, sowohl MigrantInnen als handelnde Subjekte zu begreifen, als auch die strukturellen Ursachen der alltäglichen Benachteiligung bis hin zur Frage der globalen Verteilungsgerechtigkeit zu bekämpfen. Wichtig zu bedenken ist aber auch, dass nicht jeder Alltagskampf von Migran­tInnen auch emanzipatorisch ist. Die gemeinsame Vernetzung gegen den G8-Gipfel und darüber hinaus beinhaltet also hohe Anforderungen aber auch unge­kannte Potentiale.

Mobilisierungspläne zu Migration und G8

Auf dem BUKO-Kongress wurden aus genannten Gründen mehrere Mobili­sierungs­workshops angestrengt, die die Themen Migration und Anti-G8-Mobilisierung verknüpfen wollten. Die Bremer No-Lager-Gruppe hatte eine Aufrufvorlage „Für globale Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle“ im Gepäck, in der sie sich im Anschluss an die Strategie in Genua 2001 und an das 3. Europäische Sozialforum in London „gegen die neokoloniale Ausbeutung im Süden und rechtliche, soziale und politische Ausgren­zung im Norden“ ausspricht. Sie schlagen vor, die Forderungen als eine zentrale Säule der Mobilisierung festzulegen und eine Großdemonstration unter dem Titelmotto am Vortag des Gipfelbeginns zu veranstalten.

Vor Ort fand dieser Vorschlag durchaus Anklang, obwohl statt einer Großde­mons­tration in Ros­tock auch eine Demo mit konkreten Forderungen, an einem Flughafen oder Mi­gran­t­Innen-Heim, eine nachhaltige Wir­kung erzielen könnte. Neben weiteren Aktionen wurde vorgeschlagen, eine Art Tagesforum europäischer Migrati­ons­organisationen zu veranstalten, wenn schon mal alle da sind. Existentiell war für alle, dass mehr Input von Migran­tInnen-Gruppen erreicht werden muss. Eine breite Mobilisierung in diesem Bereich muss beachten, dass eine Demonstration für viele die einzig realisierbare Aktionsform ist. Einen gemeinsamen Bezugspunkt, vielleicht sogar einen Forderungskatalog zu erarbeiten, aber nicht nur bei den Menschenrechten stehen zu bleiben, ist wichtig; und auch Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Nazis sollten in diesem Zusammenhang Beachtung finden. Auf dem Anti-G8-Camp und auf dem europäischen Mo­bi­lisierungstreffen im Oktober werden diese Punkte hoffen­tlich weiter verbunden.

Dissenzen zum G8-Gipfel ´07

Beim Großplenum eines Spektrums, von dem sich der größte Teil seit dem letzten G8-Gipfel 2005 in Schottland als „Dis­sent“-Netzwerk bezeichnen würde, wurden vor allem bündnispolitische Probleme besprochen. Z.B. ist ein Gegengipfel von attac u.ä. mit angefragten Gästen wie Antonio Negri oder Jürgen Habermas in Planung. Von mehreren Anwesenden wurde ohne Widerspruch bekundet, dass sie daran nicht teil­­neh­men wollen würden, wenn dieser, wie es Gerüchte sagen, während des G8-Gip­fels stattfinden würde, da zu die­sem Zeitpunkt andere Aktivitäten im Vordergrund stehen werden. Der Dialog mit NGO´s und anderen zivilgesellschaft­lichen Institutionen sei dennoch wichtig, um eine Großdemon­stra­tion in Rostock am Samstag der Gipfeltage zu realisieren. Ersten Informationen zu Folge soll der Gipfel in Heiligendamm vom 8. bis zum 10. Juni 2007 über die Bühne gehen, die Demo wäre also am 9.Juni. Akut sind lokale Besonderheiten, wie der spätsommerliche Wahlkampf 2006 in Meck­lenburg-Vorpom­mern, der als „Testfall für das Verhalten linker Kreise“ gelten soll, vor allem weil am 17. Juli George Bush nach Stralsund kommen wird. Aber auch der Nato-Mi­li­tär­flug­hafen Rostock Laage und das „Bom­bodrom“ bei Witt­stock, ein Übungs­­­­­­ge­lände für kombinierte Luft- und Bodeneinsätze und allgemein Themen wie die Gen-Politik, AIDS oder ein etwaiger Krieg im Iran sollten bei der programmatischen und inhaltlichen Planung beachtet werden. Das nächste Treffen des dissent!-Ple­nums soll auf dem Anti-G8-Mo­­bi­­­li­­­­sie­r­ungs­camp, dass vom 3. bis zum 14. August (www.camp06.org) an der Ostsee bei Ros­tock stattfindet, am ersten Samstag (05.08.) sein.

(clara)