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Schillernd verdunkeln

Neofolk, Neonazis, Medien und Experten

„Als Nazi versteht hier sich keiner an diesem Abend“. So begann der Bericht der Leipziger Internet-Zeitung (L-IZ) über das Konzert der amerikanischen Neofolk/Industrial-Band Blood Axis, das am 20. August 2011 in der Theaterfabrik stattfand (1). Eine Veranstaltung, die schon im Vorfeld für Kontroversen sorgte. Schließ­lich gelten Blood Axis nicht ohne Grund als Neonazi-Band. Wer sich z.B. stilecht schwarz-weiß-rot gestaltete Kruckenkreuze (das Symbol der österreichischen Faschisten) aufs Plattencover packt, braucht sich über Kritik nicht wundern.

Ebenfalls auf der Bühne der Theaterfabrik stand am 20. August der britische Musiker Andrew King. King hatte vormals bei Sol Invictus gespielt, musste die Band aber verlassen, nachdem er für rassistische Äußerungen in einem Interview öffentlich in die Kritik geraten war (2).

Auch der Merseburger Uwe Nolte trat im Vorprogramm auf, ein Musiker, der allem Anschein nach gute Kontakte zur Hallenser Neonazi-Szene pflegt (3). Aber so genau wollte es der L-IZ-Reporter vermutlich gar nicht wissen.

Neovölkische Realitätsverluste

Nicht so genau wissen wollte es auch der Leipziger Kulturwissenschaftler Alexander Nym (u.a. Autor des Buches „Schillerndes Dunkel – Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene“), der in mehreren Artikeln für die L-IZ den Experten vom Dienst machte.

So erklärte Nym, die Vorwürfe gegen Michael Moynihan, den Frontmann von Blood Axis, seien zwar irgendwie gerechtfertigt. Es sei aber so, „dass der Mann solche Aktionen zusammen mit Boyd Rice als agents provocateurs unternommen hat“, wobei er leider nur ein wenig die „Ironie vermissen ließ“ (4).

Stimmt. So veröffentlichte Michael Moynihan in seinem Verlag z.B. 1992 die gesammelten Werke des US-amerikani­schen Neonazis James Mason – eine Aktion, die wirklich jede Ironie vermissen lässt. Wie der Mangel an Ironie sich bei Moynihans langjährigem Koopera­tions­partner, dem Sozialdarwinisten und Industrial-Musiker Boyd Rice, äußert, werden wir gleich sehen (5). [zu Moynihan und Rice siehe unten, Exkurs 1]

Bleiben wir vorher noch ein wenig bei Alexander Nym. Dieser meint, erst in den Neunzigern, und gerade wegen der antifaschistischen Kritik seien „echte Rechte in die Post-Industrial-Szene reingekommen, zum Großteil aus dem NSBM [National Socialist Black Metal], die von Industrial Culture und deren Schocktradition keine Ahnung hatten und tatsächlich glaubten, Neofolk und Death In June etc. sei ‚racially conscious music’. Die Kritiker haben nichts begriffen, aber die Szene unangenehmer gemacht, die Anfang der Neunziger dezidiert antifaschistisch eingestellt war, aber ihre Faszination und das historische wie ästhetische Interesse am Dritten Reich nicht verleugnet hat.“ (6)

Es gilt also: Lieber nicht kritisieren – sonst kommen die Nazis! Was das Neofolk-Publikum angeht, so sei es dahingestellt, inwiefern dieses Anfang der Neunziger dezidiert antifaschistisch eingestellt war. Was die Haltung der prägenden Bands und Künstler betrifft, war diese jedenfalls keineswegs antifaschistisch, von ‚dezidiert’ ganz zu schweigen. An diesem Punkt zeigt Nym ein Maß von Realitätsverleugnung, dass man bei einem Experten eigentlich nicht erwarten sollte.

Bleiben wir nur mal beim Stichwort der ‚racially conscious music’: Schließlich äußerte sich der bereits erwähnte Boyd Rice schon Mitte der 80er Jahre sehr ausführlich zum ‚Rassenbewusstsein’ der Neofolk-Szene – in einem von etwa 1986 stammenden TV-Interview mit dem US-amerikani­schen Neonazi Tom Metzger.

Auf die Bitte Metzgers, doch ein paar „rassenbewusste Sänger oder Bands in Europa oder Großbritannien“ zu nennen, antwortete Rice: „Es gibt zum Beispiel einen Typen namens David Tibet. Er hat eine Band namens Current 93, die sich mehr und und mehr in eine rassenbewusste Richtung bewegt. Und er ist befreundet mit ein paar Leuten, die sich Death In June nennen, die sehr rassisch orientiert sind. Und es gibt eine andere Band, Above The Ruins, mit einem Typen, der auch bei Skrewdriver spielt.” [siehe unten, Exkurs 2]

Es folgte ein etwas wirrer Exkurs zum Thema Industrial-Musik: Diese sei (so Rice) wirklich „weiße” Musik, im Gegensatz zu einem Großteil der populären Musik, die viele Einflüsse von den Schwarzen übernommen hätte.

Metzger: „In dem Sinne, dass moderne Musik im Großen und Ganzen ein Propa­gan­da­instrument jüdischer Interessen, der Schwarzen usw. ist, während wir jetzt eine Form von Propagandakunst für die weißen Arier entstehen sehen?“

Rice: „Ja, ja, das denke ich auch.“

(Mit den Suchbegriffen ‚Boyd Rice’ und ‚Tom Metzger’ lässt sich dieses Interview übrigens problemlos bei Youtube finden – für eventuelle Übelkeit übernimmt die Redaktion keine Haftung.)

Sieht so aus, als müsste Alexander Nyms Neofolk-Geschichtsschreibung drastisch revidiert werden. Der angebliche agent provocateur Boyd Rice war schon 1986 ein lupenreiner Neonazi und Rassist. Irgendein Hintersinn von ‚Provokation’ oder ‚satanisch-nietzscheanischer Amoralität’ lässt sich seinem stumpfen Geblubber beim besten Willen nicht unterschieben. Und gerade Rice bemühte sich offenbar eifrig, Neofolk als ‘racially conscious music’ darzustellen – wogegen der „Experte“ Alexan­der Nym heute lieber antifaschistischen Initiativen die Schuld zuschieben will.

Und was die angebliche Unterwanderung durch ‚echte Rechte’ angeht: Richtig ist daran nur, dass es ab Mitte der Neunziger eine Annäherung von Neofolk- und NS-Black-Metal-Szene gab.

Es ist allerdings schon ein wenig dreist, auf diese Weise ausgerechnet Michael Moynihan rechtfertigen zu wollen. Eben jener hatte schließlich großen Anteil an dieser Annäherung und bemühte sich z.B. mit seinem Label Storm Records eifrig, der NSBM-Szene bessere Vertriebsmög­lichkeiten zu eröffnen.

Hoppla! Neonazis!

Wir lernen: Alexander Nym ist eben kein Experte, sondern leider nur ein Insider, was in dem Fall ein riesiger Unterschied ist – in der Neofolk-Szene kann man sich eben nicht unbedingt darauf verlassen, was ein Musiker einem erzählt.

Gerade wegen Nyms Insider-Status lohnt es sich allerdings, genauer hinzuhören, was er sagt. Und schließlich ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn nachdem er im Fall von Blood Axis noch eifrig bemüht war, jedes Problem zu leugnen, zeigte sich Nym plötzlich umso betroffener von den „offen aggressiven Verhaltensweisen, die bei der neujährlichen ‚Neofolk-Rauhnacht’ in der Leipziger Theaterfabrik gezeigt wurden“. [zur ‚Neofolk-Rauhnacht‘ siehe unten, Exkurs 3]

Zu diesen Verhaltensweisen zählt Nym z.B. das „wiederholte Zeigen des Hitlergrußes während des Auftritts von Triarii“. (Genau gesagt machte ein Musiker auf der Bühne den ‚römischen Gruß’, aus dem Publikum wurde mit Hitlergrüßen geantwortet.) Desweiteren pöbelten „österrei­chische ‚pan-germanische’ Schlägertypen einen Konzert­gänger an, weil dieser kein Deutsch sprach (nicht der einzige Zwischenfall dieser Art). Andere brachten Trinksprüche für ein ‚judenfreies neues Jahr’ aus, ohne das kleinste Anzeichen von Selbstironie, politischer Satire oder schwarzem Humor (nicht, dass irgend­was davon etwas so Geschmackloses rechtfertigen würde).“

Die Zitate stammen aus einem englisch­sprachigen Text, den Nym Mitte Februar unter dem pathetischen Titel „Ruf zu den Waf­fen“ auf der Website des Industrial Culture Research Net (7) veröffentlichte. Die Neofolk-Szene, so der Tenor, drohe von Neonazis unterwandert zu werden. Da müsse man jetzt aber doch mal was tun.

Denn eigentlich hatte die Szene mit Nazis nie was am Hut, die ganze Nazisymbolik sei immer nur Provokation gewesen, und überhaupt seien die Neofolker, so Nym, seiner langjährigen Szene-Erfahrung nach „eher gefühlsbetont, verletzt, unkonventionell, die Ausgestoßenen und Verbannten, insgesamt intelligenter und emotionaler als das übliche testosterongeladene Rockpublikum.“ Zumindest, wenn man die bösen NS-Black-Metaller vergisst, die die Szene unterwandert haben…

Wenn jedoch Zwischenfälle wie bei der „Neofolk-Rauhnacht“ zur Norm würden, so Nym, würde es der „eher gesittete, freundlich gesinnte Neofolker (der sehr oft über hohe Bildung und ein überdurchschnittliches Einkommen verfügt) vielleicht eher ver­meiden, in potentiell gefährliche Situationen zu geraten. Er würde nicht hunderte Ki­lometer reisen und die Hotelkosten zahlen, um obskure Bands zu sehen und Gleich­ge­sinnte zu treffen, um dann dafür angegriffen zu werden, dass er ‚nicht Nazi genug’ sei.“

Man merkt, hier spricht ein Snob. Statt politische Überzeugungen zu kritisieren, stößt Nym sich nur an schlechten Umgangsformen und schlechtem Geschmack. Oder um es mal polemisch zu verkürzen: Gegen Nazis hat er gar nichts einzuwenden – er hat nur was gegen Naziproleten. Wer über Abitur und gutes Einkommen verfügt, muss jedenfalls nicht befürchten, von Nym als Neonazi oder Rassist erkannt oder gar kritisiert zu werden.

Schließlich gedeihen seiner Meinung nach „Rassismus, Bigotterie und Ignoranz vor allem unter einfachen Gemütern, den Ungebildeten und sozial Benachteiligten“. Also vor allem unter den arbeitslosen Bewohnern ostdeutscher Plattenbausiedlungen. Als Rassismusexperte bewegt Nym sich damit locker auf dem Niveau der Bild-Zeitung von ungefähr 1992.

Mehr Widersprüche!

Freilich ist nicht alles falsch, was er sagt. So betont Nym zu Recht, dass die Szene seit langem stagniert, sowohl was ihre Größe, als auch was ihre Inhalte betrifft: „Philosophisch beschränkt sich der Referenzrahmen des Genres zunehmend auf einen ‚provokanten’ Kanon von Figuren der konservativen Revolution, des 2. Weltkriegs und der Neuen Rechten […] Ästhetisch gesehen war der Zug schon abgefahren, als der Begriff ‚Neofolk’ geprägt wurde. Neue Impulse sind nicht zu erkennen.“

Bahnbrechend avantgardistische Werke sollte mensch von der selbsternannten ‚konservativen Avantgarde’ eben nicht erwarten. Und was die Provokation angeht, ist die Neofolk-Szene mittlerweile unge­fähr so provokant wie eine Schnabeltasse – vor allem an­gesichts eines Publikums, dass exakt so eine ‚Provokation’ erwartet.

Folgerichtig beklagt auch Nym die lähmende Langeweile, die nicht nur ihn während des Triarii-Konzerts ergriff: „Was die Band vor einem Publikum spielen ließ, dass sich nicht im Geringsten provoziert fühlte, noch irgend etwas von den angeblichen Widersprüchen bemerkte, auf welche die Neofolk-Szene so stolz ist. Vielleicht, weil es keine solchen Widersprüche gab? Während die Musiker dafür bekannt sind, Sympathien für die Nazi-Diktatur zu hegen, bot ihre Performance keine ästhetischen Brüche oder Denkanstöße, um jene zu verstören oder zu verwirren, die vor der hohlen Simulation monumentaler Heldenhaftigkeit in platter Bewunderung versanken.“

Tja, so was kommt von so was. Wer mit dem Dritten Reich sympathisiert, der will mit der Verwendung von Nazi-Symbolik nun mal keine Verstörung, sondern Zustimmung erreichen, zielt also nicht auf Provokation, sondern auf Propaganda ab. Dass das Ergebnis dann furchtbar eindimensional ist, versteht sich von selbst – um genau diese eine Dimension geht´s bei Propaganda ja gerade. Es wäre witzlos, ihr das vorzuwerfen.

Genau das tut Nym aber, der mit Blick auf Triarii klagt: „Es wäre viel interessanter (und lustiger) gewesen, wenn sie sich selbst nicht als platt affirmative, sondern widersprüchliche Künstler präsentiert hätten, nicht als reine Verkörperungen ihrer Lieblings-Ästhetik, und dem Publikum etwas zum Nachdenken gegeben hätten, statt eine muffige Feier [des Dritten Reichs].“

Klar. Wenn Landser keine Nazi-Band wären, dann würden sie auch bessere Texte schreiben… Aber weil Nym eben glaubt, es ginge im Neofolk irgend­wie um Provokation und Denkanstöße, unterstellt er der Band, sie würde es eigentlich nicht so meinen, sie könnte und wollte doch eigentlich intelligente, herausfordernde Kunst machen, die über blanke Affirmation hinausreicht. Es braucht vermutlich langjährige Szene-Erfahrung, um das für logisch zu halten…

So ist es auch gut gemeint, aber wenig aussichtsreich, wenn Nym dazu aufruft, doch zum eigentlichen Gehalt der Sache, zur Provokation zurückzukehren, und rhetorisch fragt: „Wie würdest du reagieren, wenn beim nächsten Neofolk/Martial-Industrial-Gig jemand in deiner Nähe den römischen Gruß machen oder auf der Bühne Sieg Heil! rufen würde? Richtig, du würdest dich nicht drum kümmern. Vielleicht würdest du mit den Schultern zucken bei solch einem deplatzierten Zeichen des Mangels an eigenständigem Denken. Aber du würdest dich wohl nicht trauen, dem entgegenzutreten“…

Wir erinnern uns: Einige Zeilen weiter oben wurde noch gewarnt, Hitlergrüße und ähnliche „Geschmacklosigkeiten“ könnten von der Ausnahme zur Norm werden – jetzt sagt Nym, dass Hitlergrüße bei Neofolk-Konzerten ganz alltäglich sind. Aber natürlich ist auch das Hit­lergrüßen eigentlich nicht so gemeint, nur Ausdruck eines „Mangels an eigenständigem Denken“ und nicht etwa von politischer Überzeugung. Weil die geäußerten Gedanken so furchtbar doof sind, können es eben nicht die eigenen Gedanken der Leute sein.

Na gut, auch Nym hat es eigentlich nicht so gemeint: ‚Mangel an eigenständigem Denken’, das ist so ähnlich wie ‚geschmacklos’, nur eine Phrase. Das sagt man eben so, wenn man politische Einstellungen kritisieren will, ohne inhaltlich darauf einzugehen. Mit Inhalten will Alexander Nym sich nicht beschäftigen, folglich muss er das Problem als reine Formfrage behandeln. Im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten der Szene haben die bei der ‚Neofolk-Rauhnacht’ anwesenden Neonazis eine eindeutige Aussage gemacht – diese ‚Geschmacklosigkeit’ ist das einzige, was Nym ihnen vorzuwerfen weiß.

justus

(1) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/08/Neofolk-in-der-Theaterfabrik-Barditus-Andrew-King-Blood-Axis.html
(2) So klagte King, der Westen habe seine „kulturelle und moralische Überlegenheit“ verloren, und sprach von einem „Rassengedächtnis“, an das er mit seiner Musik appelliere. Mehr dazu unter www.whomakesthenazis.com/2011/06/andrew-king-and-traditionalism.html
(3) siehe newdawnfades.blogsport.de/2008/04/03/rechte-neofolk-konzerte-in-halle/
(4) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/06/Theaterfabrik-Leipzig-Neofolk-Band-Blood-Axis.html
(5) Moynihan, Rice und Mason traten Anfang der 90er auch gemeinsam in der Show des TV-Predigers Bob Larson auf. Eine Audiodatei davon ist auf der Website von Boyd Rice leicht zu finden.
(6) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/06/Blood-Axis-in-der-Theaterfabrik-Extremismusstelle-Veranstalter-Stimmen.html
(7) siehe icrn.blogspot.com/2012/02/alexander-nym-call-to-arms.html

Exkurs 1: Boyd Rice & Michael Moynihan

Der Industrial-Musiker Boyd Rice hat durch sein seit 1975 bestehendes Projekt NON einen gewissen Kultstatus in der Szene. Rice ist Mitglied der Church Of Satan. 1984 gründete er die Abraxas Foundation, einen ‚satanistisch-faschistischen think tank’, dem auch Michael Moynihan 1989 beitrat. Im selben Jahr ging Moynihan mit Rice auf Japantournee, und arbeitete auch in der Folge eng mit diesem zusammen. Eine Zeitlang teilten sich die beiden sogar ein Appartement *.

Anfänglich eher dem Satanismus und Nazi-Okkultismus zugeneigt, wandte Moynihan sich später dem Heidentum zu. In politischer Hinsicht vertritt er mittler­weile einen völkischen Regionalismus, eine Ordnung von „kleinen, homogenen Stammesgesellschaften“ jenseits des Nationalstaats**.

Mit der NSDAP hat das nur bedingt etwas zu tun, vielmehr bewegt Moynihan sich damit voll im Mainstream der US-amerikanischen Rechten. Diese hegt seit jeher großes Misstrauen gegenüber der Washingtoner Zentralregierung, die verdächtigt wird, sich mit fremden Mächten gegen das eigene Volk verbündet zu haben – die ‚ZOG’, die ‚zionist occupation government’ ist ein fester Begriff in der amerikanischen Rechten. So ist der wichtigste Bezugspunkt für die rechten Militias auch nicht der Nationalstaat, sondern vielmehr die eigene Scholle, die man notfalls auch mit der Knarre verteidigen will.

* siehe oraclesyndicate.twoday.net/stories/605560/
** www.radicaltraditionalist.com/tyr.htm

Exkurs 2: Death In June, Current 93, Above The Ruins…

Die Band Death In June wurde 1981 von Douglas Pearce und Tony Wakeford gegründet. Diese beiden waren zuvor in trotzkistischen Gruppen aktiv gewesen, begannen aber nun, sich für den ‚national-bolschewistischen’ Flügel der NSDAP zu interessieren. 1982* trat Tony Wakeford der National Front bei. Nachdem dies 1984 publik wurde, stieg Wakeford bei Death In June aus und gründete noch im selben Jahr die Band Above The Ruins.

Ein Mitglied dieser Band war Gareth Smith, zeitgleich in den Neonazi-Organisationen Blood & Honour bzw. Combat 18 aktiv. Parallel zu Above The Ruins spielte Smith bei der Naziskin-Band No Remorse (nicht bei Skrewdriver). Smith war auch noch dabei, als Above The Ruins sich 1987 in Sol Invictus umbenannten.

Ein weiteres Mitglied von Above The Ruins/Sol Invictus war Ian Read. Read spielte parallel auch bei Current 93 und Death In June mit. Um 1990 herum leitete er den Wachschutz bei diversen Neonazi-Kongressen**.

Etwa 1988 trat Tony Wakeford bei der National Front aus . Smith und Read mussten Sol Invictus verlassen. Wakeford, pflegte aber noch lange nachher Kontakte, etwa zum NF-Aktivisten Richard Lawson. Dieser machte z.B. bei Wakefords Hochzeit 1998 den Trauzeugen.

David Tibet gründete 1983 Current 93. Ab 1985 wirkte er bei Death In June mit, später auch bei Sol Invictus. Eine Zeitlang wohnte er auch mit Ian Read und Douglas Pearce zu­­sammen, 1988 teilte er sich eine Wohnung mit Tony Wakeford, der zu der Zeit bei Current 93 den Bass übernahm***. Trotz dessen hat Tibet sich später vehement und durchaus glaubwürdig von Fa­­schismus und Rassismus distanziert.

* www.whomakesthenazis.com/2010/09/tony-wakeford-on-manoeuvres.html
**siehe www.stewarthomesociety.org/wakeford.html bzw. FA! #33
***siehe www.stewarthomesociety.org/wakeford2.htm

Exkurs 3: Neofolk-Rauhnacht

Bei diesem Neujahrskonzert traten rechtsoffene Bands wie Dernière Volonté und Triarii auf. Organisiert wurde das Konzert von der Equinoxe Organization*, einer Veranstaltungsgruppe, die nicht nur politisch unbedenklichen Bands (etwa Brighter Death Now und Gerechtigkeits Liga im November 2011) ein Forum bietet, sondern auch zwielichtigen bis neonazistischen wie Death In June oder Der Blutharsch.

Neofolk-Silvesterpartys wie die ‚Rauh­nacht’ haben in Leipzig schon eine gewisse Tradition. Ähnliche Veranstaltungen wurden vom rechten Label Eis & Licht über mehrere Jahre im Leipziger Hellraiser-Club organisiert. Als unange­kün­digter „Special Act“ traten dort auch Von Thronstahl auf – eine Band, deren Frontmann Josef Klumb u.a. durch seinen Hang zu antisemitischen Verschwö­rungstheorien und seine Kontakte zu organisierten Neonazis bekannt ist (s. FA! #34).

*siehe dazu auch www.conne-island.de/nf/182/21.html

Lokales

Wirtschaftswunder und Papiertiger

Immobilienkrise und Protest in China

Schon in unserer #42 haben wir über Arbeiter_innen-Unruhen und die wirtschaftliche Lage in China berichtet. Mittlerweile ist es Zeit für ein Update. Was die Unruhen angeht, stellen z.B. die Vorgänge in der südchinesischen Hafenstadt Wukan eine neue Qualität dar. Immerhin haben hier die Partei und die Sicherheitskräfte über Wochen hinweg gänzlich die Kontrolle über die Lage verloren – mehr dazu weiter unten.

Aber auch die Immobilienblase scheint schneller zu platzen, als wir es vermutet hätten. So fielen die Immobilienpreise für Peking allein im November 2011 um 35%. Auch in Shanghai sahen Immo­bi­lien­firmen sich gezwungen, die Preise für Eigentumswohnungen um bis zu ein Drittel zu reduzieren (1).

Abstürzende Neubauten

In einigen Städten, z.B. Ordo und When­zou, ist die Immobilien- in eine ausgewachsene Kreditkrise übergegangen, mit allem was dazugehört – ruinierte Geschäftsleute, die sich aus Verzweiflung von Häuserdächern stürzen, inklusive. In Shanghai sammelten sich aufgebrachte Käu­fer­_innen, die kurz zuvor noch Appartements zu höheren Preisen erworben hatten, vor den Firmenzentralen, um Rückzahlungen zu verlangen – mancherorts gingen sie zu handfester Randale über, zertrümmerten Fensterscheiben und verwüsteten Innenräume.

Das chinesische Radio berichtete, dass etwa die Hälfte der Maklerfirmen in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Shenzhen die Türen schließen mussten. Der Umsatz der Stahlindustrie (der zu einem Gutteil aus der Produktion von Stahlkonstruktionen für den Häuserbau herrührt) sank zwischen Juni und Dezember um 15%. Etwa 100 von verschiedenen Kommunen angesetzte Landverstei­gerungen endeten ohne Verkäufe. Die von der Stadt Peking erzielten Einkünfte aus Landverkäufen san­­ken im letzten Jahr um 15%.

Damit befinden sich die Kommunen in der Klemme: Denn der Verkauf von staatlichem Grund und Boden ist ihre wich­tigste Einnahmequelle. Wenn diese wegfällt, ist unklar, ob sie die Kredite zurückzahlen können, die zur Finanzierung großzügiger Infrastruktur-Projekte aufgenommen wurden. Die Immobilienblase bedroht also auch die Grundlagen des bisherigen rasanten Wachstums, das im letzten Jahrzehnt jährlich 8 bis 10% des BIP betrug.

Denn dieses konnte seit Beginn der weltweiten Krise 2007 nur noch durch staatliche Konjunkturmaßnahmen und Kredite aufrechterhalten werden. So investierten staatliche Stellen und Firmen in den Bau von Flughäfen und die großzügige Ausweitung des Autobahn- und Schienennetzes (2). Gleichzeitig floss ein großer Teil der Kredite in den Immobiliensektor, verschuldete Regionalbehörden verkauften im großen Stile Land an staatliche Unternehmen.

Die Gelder wurden also nur zwischen verschiedenen staatlichen Instanzen umgeschichtet. Der wichtigste (und wohl auch einzige) Effekt dabei war, dass die Preise in die Höhe getrieben wurden – wobei auf die großflächige Ansiedlung ausländischer Firmen und ein damit verbundenes Anwachsen der Arbeitsbevölkerung in den Städten spekuliert wurde. Aus dieser Erwartung heraus wurden auf dem Immo­bilienmarkt riesige Überkapazitäten aufgebaut – so wird die Zahl der leer stehenden Eigentumswohnungen derzeit auf bis zu 65 Millionen geschätzt (die Gewerbeimmobilien sind dabei noch gar nicht mitgezählt). Das milliardenschwere Konjunk­turpaket trug also beträchtlich dazu bei, die schon vorher bestehende Immobilienblase noch mehr aufzublähen.

Und auch auf das jetzige Absacken der Immobilienpreise reagierte die Zentralregierung, indem sie die Banken anwies, den bedrängten Schuldner_innen mit Notkrediten auszuhelfen. Ein weiteres unkontrolliertes Fallen der Preise konnte damit vorerst verhindert werden. Aber auch die Regierung befindet sich in der Klemme: Uneingeschränkte Kreditvergabe dürfte die bestehende Blase nur weiter vergrößern, während diese ohne Kredite endgültig platzen würde.

Der Aufstand von Wukan

Die Krise könnte aber auch die sozialen Konflikte im Land verstärken. Einen möglichen Vorgeschmack boten im Dezember die Unruhen in der südchinesischen Hafenstadt Wukan. Anlass war dabei der geplante Verkauf von Gemeindeland an ein Bauunternehmen. Die Stadtverwaltung hatte seit Mitte der 90er Jahre immer wieder solche Verkäufe getätigt, obwohl das Land mehr oder weniger öffentliches Eigentum ist. Denn wer vom staatlichen Haushaltsregister der Landbevölkerung zugerechnet wird, hat damit automatisch ein auf 30 Jahre beschränktes Nutzungsrecht für ein Stück Ackerland.

Die Landverkäufe waren dabei lange Zeit kein großes Problem. Weil die rund 20.000 Einwohner_innen der Stadt vorrangig vom Fischfang lebten, wurden die rechtlichen Ansprüche auf Land nicht geltend gemacht. Im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise sind die Einkünfte aus der Fischerei aber bedroht – das Ackerland gewinnt also als zusätzliche Einkommensquelle an Bedeutung.

Der Protest begann am 21. September 2011, zunächst friedlich. Aber nachdem drei Protestierende bei einer Demonstration vor der örtlichen Zentrale der KP festgenommen worden waren, belagerten am Folgetag mehrere hundert Menschen das Polizeirevier und verlangten die Freilassung der Verhafteten.

Nachdem die Unruhen sich auch mit massiver Polizeigewalt nicht unter Kontrolle bringen ließen, lenkten die Behörden scheinbar ein: Die Protestierenden sollten eine 13köpfige Delegation wählen, um Verhandlungen einzuleiten. Was wie ein Entgegenkommen aussah, diente aus Sicht der Obrigkeit aber wohl nur dazu, die vermeintlichen „Rädelsführer“ der Unruhen ausfindig zu machen. Diese Vermutung liegt angesichts der weiteren Entwicklung nahe: So wurden Anfang Dezember fünf der Delegierten von zivil gekleideten Polizisten aus einem Straßenrestaurant entführt.

Der nächste Schlag folgte zwei Tage später: Etwa tausend bewaffnete Polizisten rückten auf die Stadt zu. Die Ein­wohner_innen reagierten, indem sie die Zufahrtstraßen mit Barrikaden versperrten. Nach zweistündigem Schlagabtausch zog sich die Polizei zurück.

Am darauf folgenden Tag kam die Nachricht, dass einer der Entführten, der 43jährige Xue Jinbo, im Polizeigewahrsam einem Herzinfarkt erlegen sei. Entgegen dieser offiziellen Verlautbarung war der Delegierte aber in der Haft offenbar gefoltert und wahrscheinlich ermordet worden. Der Sohn des Opfers, dem die Leiche gezeigt worden war, berichtete, diese hätte deutliche Zeichen von Misshandlungen aufgewiesen. Diese Nachricht löste neuen Aufruhr aus. Die aufgebrachte Menge stürmte Verwaltungsgebäude, der örtliche Parteisekretär, der die Stadt seit 30 Jahren regiert hatte, wurde in die Flucht getrieben.

In den folgenden Wochen beschränkte sich die Polizei darauf, die Zufahrtsstraßen zu blockieren, die Lieferung von Lebensmitteln zu unterbinden und die Ein­woh­ner_innen am Verlassen der Stadt zu hindern. Auch die Fischereiflotte von Wukan wurde im Hafen festgehalten. So sollte einerseits Druck auf die Protestierenden ausgeübt, andererseits eine Ausweitung des Protests auf die umliegenden Ortschaften verhindert werden. Eine lückenlose Blockade gelang aber nicht: Bewohner_innen der Nachbarorte brachten Reis und andere Nahrungsmittel in die Stadt. Die Einwohnerschaft von Wukan organisierte sich derweil selbst. So wurde ein neues Stadtkomitee gewählt und für den Kontakt nach außen ein Pressebüro eingerichtet. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung wurde organisiert, ebenso ein nächtlicher Streifendienst, um für Sicherheit zu sorgen.

Einige Zeit blieb unklar, wie die Zentralregierung sich positionieren würde. Letztlich schreckte sie aber davor zurück, den Aufstand mit allen Mitteln niederzuschlagen – wohl aus Angst vor einer möglichen Ausweitung der Unruhen innerhalb Chinas und öffentlicher Aufmerksamkeit im Ausland. Der verantwortliche Parteisekretär wurde seines Amtes enthoben.

Das ist in solchen Fällen nicht ungewöhnlich und entspricht einem teils vermeintlichen, teils realen Interessengegensatz von Zentral- und Lokalregierung: Einerseits wälzt die Zentralregierung die Verantwortung für unpopuläre Repressionsmaß­nahmen auf die Lokalregierungen ab. Denn solange sich Proteste nur gegen „korrupte“ lokale Eliten richten, lassen sie sich kontrollieren und stellen keine Gefahr für die politische Ordnung im Gesamten dar. Andererseits hat die Staatsführung, im Gegensatz zu den lokalen Behörden, auch tatsächlich ein Interesse an der Eindämmung der Korruption.

Der Posten des Parteisekretärs wurde nun mit einem Repräsentanten des Protestkomitees besetzt. Ein deutliches Zeichen dafür, wie großes Interesse die Staatsführung an der Befriedung des Konflikts hat. Die Lokalbehörden haben derweil angekündigt, bereits veräußertes Land zurückzukaufen. Verhaftete Demons­tran­t­_innen wurden freigelassen und eine offizielle Untersuchung zum Tod von Xue Jinbo in Aussicht gestellt.

Damit ist zumindest in Wukan wieder Ruhe eingekehrt. Allerdings wird es für die Regierung zunehmend schwierig, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Die Zahl der landesweiten Unruhen wächst seit Jahren beständig. So wird geschätzt, dass es im letzten Jahr ungefähr 180.000 ‚Massenzwischenfälle’ gab. Die nun drohende Wirtschaftskrise könnte zusätzlich dazu beitragen, dass die sozialen Verhältnisse auch in China in Bewegung geraten – mit möglicherweise weltweiten Auswirkungen.

justus

(1) www.foreignaffairs.com/articles/136963/patrick-chovanec/chinas-real-estate-bubble-may-have-just-popped
(2) vgl. Wildcat #85, Herbst 2009, „Alle Hoffnungen richten sich auf China“
(3) www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/china/8954315/Inside-Wukan-the-Chinese-village-that-fought-back.html

Nachbarn

Kommt Zeit, kommt Arbeit

Leiharbeit bei BMW Leipzig

Wo wäre Deutschland bloß ohne seine Leiharbeiter_innen? 75% der Arbeitsverträge, die im letzten Jahr abgeschlossen wurden, betrafen sog. „atypische Arbeitsverhältnisse“. Rund ein Viertel aller Beschäftigten werkelt heute im Niedriglohnsektor vor sich hin. Deutschland zeigt, wie man es machen muss: Wenn die Löhne nur tief genug sind, dann klappt´s auch mit der Konjunktur.

Was im Großmaßstab recht ist, ist im Kleinen nur billig: Auch bei BMW Leipzig spielen die Leiharbeiter_innen eine wichtige Rolle. Seit Eröffnung des Werkes im Jahr 2005 ist ein knappes Drittel der dortigen Belegschaft in Zeitarbeit tätig – derzeit 1100 von gesamt 3800 Angestellten, in allen Bereichen der Produktion von der Fließbandarbeiterin bis zum Ingenieur. Die Verträge sind jeweils auf ein Jahr befristet und werden nach Bedarf verlängert.

Im Dezember 2011 verweigerte der Betriebsrat aller­dings seine Zustimmung, als die Geschäftsleitung 33 neue Zeitar­bei­ter_innen anheuern wollte. Die Zeitarbeit müsste endlich reduziert werden, fand der Betriebsrat, die Leute bräuchten feste Verträge. Die BMW-Geschäftsleitung klagte daraufhin beim Leipziger Arbeitsgericht, um ihren Willen auf diesem Wege durchzusetzen.

Am 15. Februar 2012 hat das Gericht nun in einem ersten Verfahren der Geschäftsleitung recht gegeben: Der Betriebsrat sei nicht befugt, auf diese Weise gegen die Besetzung von Stellen mit Leiharbeitern vorzugehen.

In einer anderen, für den Betriebsrat entscheidenden Frage erklärte sich das Gericht schlicht für nicht zuständig: Das Verfahren sei nicht geeignet, um zu klären, wie lange jemand legitimerweise in Zeitarbeit beschäftigt werden dürfe. Im §1 des Ende 2011 novellierten Gesetzes zur Arbeit­nehmerüberlassung wird Leiharbeit als „vorübergehende Beschäftigung“ definiert – die genaue Bedeutung des Wortes „vorübergehend“ bleibt dabei allerdings unklar.

So sind manche BMW-Beschäftige schon seit acht Jahren in Leiharbeit tätig. Der Betriebsrat konnte zwar durchsetzen, dass die Leiharbeiter_innen mittlerweile den gleichen Lohn wie die Festangestellten erhalten – allerdings abzüglich der weiteren Zuschläge wie z.B. Weihnachtsgeld. Auch vor möglichen Entlassungen sind sie deutlich schlechter geschützt.

Von gewerkschaftlicher Seite wird aber auch die Ausglie­de­rung bestimmter Teilaufgaben in Logistik- und Zulieferfirmen kritisiert. Bei diesen Firmen arbeiten in Leipzig etwa 2000 Menschen, wovon die Festangestellten meist deutlich schlechter bezahlt werden als die direkt bei BMW Beschäftigten. Und auch diese Zulieferfirmen beschäftigen Leiharbeiter_innen, die wiederum schlechter bezahlt werden als die Festangestellten.

justus

Lokales

Occupy Everything!

Soziale Bewegung in den USA

Ein Text über die amerikanische Occu­py-Bewegung? Wurde dazu nicht schon genug geschrieben? Und ist das überhaupt eine richtige Bewegung und nicht nur ein Medien-Hype?

Das sind berechtigte Einwände. Trotz all seiner fragwürdigen Seiten ist das Phänomen aber immer noch viel zu interessant, um es einfach zu ignorieren. Natürlich ist der Protest inhaltlich diffus, oft von geradezu rührender Naivität geprägt, mitunter auch einfach nur doof. Anderer­seits bewegt sich hier noch viel zu viel, als dass sich schon ein abschließendes Urteil fällen ließe – positive Überraschungen sind längst nicht ausgeschlossen. Auch der folgende Text ist also ein Patchwork, selektiv und ganz und gar voreingenommen. Ein Versuch, interessante Punkte aufzuzeigen, die sonst in der Berichterstattung eher zu kurz kommen, und zu schauen, wo sich hier vielleicht etwas wirklich Revolutionäres anbahnt…

Baby, We´re All Anarchists Now

Ein interessanter Aspekt ist zweifellos der Internationalismus der Bewegung: Die Protestierenden in New York, Baltimore oder Oakland verfolgen sehr genau, was auf dem Tahrir-Platz in Kairo passiert. Und umgekehrt ebenso: Nachdem Ende Oktober die Camps in Oakland und Atlanta gewaltsam von der Polizei geräumt wurden, demonstrierten ägyptische Akti­vist_innen vor der amerikanischen Botschaft in Kairo, um ihre Solidarität zu zeigen. Als es wiederum Ende November in Ägypten heftige Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant_innen und Sicher­heitskräften gab, wurde in den USA vor ägyptischen Botschaften gegen die Repression demonstriert. Dass sich die Proteste weltweit in dieser Weise aufeinander beziehen, ist ein wichtiger und ermutigender Aspekt.

Zweitens: Neben der medialen Öffentlichkeit schaffen die Platzbesetzungen auch eine innere Öffentlichkeit. Menschen, die sich sonst kaum begegnet wären, treffen aufeinander, arbeiten über Wochen hinweg zusammen, debattieren… Die Besetzungen schaffen ein Umfeld für kollektive Lernprozesse – und es ist noch nicht abgemacht, was dabei am Ende herauskommt.

Ein dritter interessanter Aspekt ist, dass die Be­wegung klassisch anarchistische Elemente aufgreift. Das betrifft nicht nur die Ab­grenzung gegenüber Parteien, sondern vor allem die basisdemokratische Ent­scheidungsfindung durch Vollversamm­lun­gen und Konsensbeschlüsse. Auch der Anth­ropologe David Graeber (der sowohl bei den Industrial Workers of the World als auch bei Occupy Wall Street aktiv ist) weist auf diesen Punkt hin. In einem Artikel (1) be­tont er die anarchistischen Grundprinzi­pien der Bewegung und das neue Verständnis von Demokratie, das sich hier zeige.

Die Aktivist_innen, schreibt er, „weigerten sich, die Rechtmäßigkeit der politischen Autoritäten dadurch anzuerkennen, dass sie For­derungen an diese Autoritäten richten; sie weigerten sich, die Legitimität der herrschenden Rechtsordnung anzuerkennen, indem sie einen öffentlichen Raum besetzten, oh­ne um Erlaubnis zu fragen; sie weigerten sich, Repräsentant_innen zu wählen, die hät­ten bestochen oder korrumpiert werden können; sie bekundeten, wenn auch gewaltfrei, dass das System als ganzes korrupt und abzulehnen sei; und sie waren bereit, der unausweichlich gewalttätigen Antwort des Staates zu trotzen.“ Gerade diese anar­chistischen Prinzipien hätten wesentlich zum Erfolg der Bewegung beigetragen.

Dass in Zusammenhang mit dem Protest so offen und positiv von Anarchismus geredet und die vage Formel der „echten Demokratie“ in diesem Sinne gefüllt wird, ist immerhin bemerkenswert. Über die zentrale These Graebers lässt sich aber streiten. Basisdemokratische Entschei­dungs­struktu­ren bieten eben nur die Möglichkeit, keine Garantie für wirkliche Selbstermächtigung. Ein beträchtlicher Teil der Bewegung, so ließe sich sagen, kämpft mit anarchistischen Mitteln für sozialdemokratische Ziele.

Jedenfalls beschreibt z.B. Malcolm Harris, ein Autor des libertären Jacobin Mags, die Lage deutlich anders als Graeber. Es gäbe zwar einen anarchistischen Anteil bei den Protesten, aber es sei auffällig, dass „Anarchist_innen und Occupier mittlerweile zu zwei getrennten – wenn auch überlappenden – Gruppen geworden sind. Auf der Straße wird das noch offensichtlicher. Als ich übers Wochenende bei Occupy DC war, erzählte mir ein Kerl, den ich dem Äußeren nach als Anarcho eingestuft hätte, wie ein anderer Demonstrant ihn von der Fahrbahn zurück auf den Bürgersteig, in den von der Polizei kontrollierten Demozug gestoßen hatte. Das gleiche habe ich in New York erlebt, und ich wette, anderswo passiert Ähnliches. Aus Chicago gab es Gerüchte, dass einige Occupier Flugblätter mit Namen und Fotos von ´bekannten Anarchisten´ gedruckt hätten, und gewisse Komitee-Mitglieder von OWS haben angedeutet, man müsse die autonomen Gruppen aus der Bewegung herausdrängen.“ (2)

Solche selbsternannten Ordnungshü­ter_in­nen scheinen ein typisches Phänomen bei den Protesten zu sein. Dabei werden oft schon banale Ordnungswidrigkeiten als Verstoß gegen den Grundsatz der Friedfertigkeit gewertet und mit teils recht rabiaten Mitteln dagegen vorgegangen. Auch aus Oakland wurde wiederholt über solche Demons­trant_in­nen berichtet, die sich als Hilfs­sheriffs aufführen und z.B. versuchen, vermeintliche „Unruhestifter“ auf eigene Faust festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Die Forderung nach regelkonfor­mem Verhalten übt aber auch diskursiven Druck aus – so werden mit dem stetig wiederholten Hinweis, man wolle einen „friedlichen Protest“, auch notwendige Debatten über den Umgang mit Polizeigewalt unterbunden.

In einem anderen Text kommentiert Malcolm Harris dazu sarkastisch: „Ich weiß, dass Occupy Wall Street Leitlinien für das Verhalten bei Demonstration entwickelt hat. Und obwohl ich das generell nicht mag, sollten wir doch gemeinsam ein paar Regeln aufstellen, wie wir auf der Straße mitein­ander umgehen. Wenn Gewaltlosigkeit dazugehört, dann sollten wir auch klarstellen, dass es ein inakzeptables Verhalten ist, jemanden anzugreifen, nur um Privateigentum zu schützen. Das gilt auch für andere Verhaltensweisen, die den Grundsatz der Gewaltlosigkeit verletzen, z.B. der Polizei bei Verhaftungen zu helfen oder Leute auf die vorgeschriebene Marschroute zurückzuschubsen. Diese Diskussion würde vielleicht helfen, sich darüber klar zu werden, wer wirklich eine interne Bedrohung für die Besetzungen darstellt.“ (3)

Der „Generalstreik“ in Oakland

Nicht alle Demonstrant_innen wollen sich freilich mit der Polizei verbrüdern. Als am 10. Oktober in Oakland zwei Camps errichtet wurden, benannten die Akti­vist_innen den von ihnen besetzten Platz in Oscar Grant Plaza um – Oscar Grant, ein farbiger Jugendlicher, war Anfang 2009 in Oakland von einem Polizisten erschossen worden. Also eine klare Ansage an die Polizei…

Die Cops bemühten sich, ihrem schlechten Ruf gerecht zu werden: In der Nacht vom 25. zum 26. Oktober wurde sowohl die Oscar Grant Plaza als auch ein zweites, in einem Park in der Nähe gelegenes Camp mit brachialer Gewalt geräumt. Der Irakkriegs-Veteran Scott Olson wurde von einer Tränengaskartusche getroffen, die ein Polizist in Kopfhöhe in die Menge gefeuert hatte. Er erlitt einen Schädelbruch und lag mehrere Tage im Koma.

Die geräumten Plätze wurden mit Zäunen abgesperrt. Allerdings kehrten die Beset­zer_innen bald zurück, die Zäune wurden demontiert und die Camps wieder aufgebaut. Als Antwort auf die staatliche Repression riefen sie zum Generalstreik auf: Am 2. November sollte die gesamte Stadt lahmgelegt werden. Unterstützung für dieses Vorhaben kam nicht nur von der örtlichen Lehrergewerkschaft, sondern auch von der ILWU (International Long­shore and Warehouse Union), der Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen.

Obwohl klar war, dass bei einer Vorlaufphase von gerade mal einer Woche kein Generalstreik im vollen Sinne des Wortes herauskommen würde, war der Aktionstag doch ein großer Erfolg. Viele Inha­ber_innen kleinerer Läden unterstützten den Streik. Eine Reihe von Banken hatte der erwarteten Ausschreitungen wegen geschlossen, bei anderen Filialen zertrümmerten im Laufe des Tages autonome Grüppchen die Fensterscheiben. Auch das Gebäude von Oakland Whole Foods, einem Lebensmittelunternehmen, das für seine gewerkschaftsfeindliche Politik bekannt ist, wurde mit Farbbeuteln beworfen.

Am frühen Nachmittag machte sich ein Demonstrationszug (nach Polizeiangaben etwa 7000, nach Presseberichten bis zu 20.000 Menschen) auf den Weg zum Hafen von Oakland, um dort die Zufahrten zu blockieren. Dieses Vorgehen hatte vor allem rechtliche Hintergründe: Eine Klausel in den Arbeitsverträgen untersagt den Hafenarbeiter_innen Solidaritätsstreiks jeder Art (4). Sie können aber die Arbeit niederlegen, wenn durch unvorgesehene Ereignisse ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet scheint – die Demonstration sollte also einen Vorwand für die Arbeitsniederlegung schaffen und so juristische Repressalien zu vermeiden helfen.

Schon seit den Morgenstunden ging der Hafenbetrieb nur schleppend voran, weil viele Arbeiter_innen sich krank gemeldet hatten. Nachdem die Zufahrten mit Streikpostenketten blockiert waren, war der Hafen (immerhin der fünftgrößte Frachthafen der USA) bis spät in die Nacht hinein gänzlich lahmgelegt – für die Stadt und die Reedereien bedeutete das einen Verlust von etwa 8 Mio. Dollar! Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil es weit über bloß symbolische Aktionen hinausgeht. Auch die Trennung von „sozialen Bewegungen“ und „Klassenkampf“, wie sie in den letzten Jahrzehnten vorherrschte, wird dadurch ein Stück weit aufgehoben.

Mittlerweile wird geplant, die Aktion in größerem Maßstab zu wiederholen und am 12. Dezember die Häfen der gesamten Westküste zu blockieren (5). Damit soll nicht nur gegen die Repression der vergangenen Wochen demonstriert werden. Zugleich wollen die Besetzer_innen damit die streikenden Hafen­arbei­ter_in­nen in Longview (Washington) unterstützen.

Besetzen!

In der Nacht zum 3. November wurde zudem ein leerstehendes Gebäude besetzt. Dieses hatte ehemals der Traveller´s Aid Society gehört, einer Non-Profit-Organisation, die sich für Obdachlose einsetzt, war aber wegen der Kürzung der staatlichen Zuschüsse geschlossen worden. In einem Statement erklärten die Akti­vist_innen: „Uns ist klar, dass nach dem Eigentumsrecht so ein Akt als unbefugtes Betreten oder gar Einbruch gilt […] Aber während die Blockade des Hafens – eine Aktion, die millionenschwere Verluste verursachte – ungehindert ablaufen konnte, wur­de der Versuch, ein einziges leeres Gebäude zu besetzen, von der Polizei umgehend brutal unterbunden. Warum? Weil sie diesen nächsten logischen Schritt der Bewegung mehr fürchten als alles andere […] Sie sagen: Ihr könnt in eurem rattenverseuchten Park campen, solange ihr wollt. Aber in dem Moment, wo ihr das Eigentumsrecht antastet, werden wir euch mit all unseren Mitteln bekämpfen.“ (6)

Das ist sicher ein gutes Statement. Die Aktion selbst lief aber nicht ganz so glorreich ab, wie es hier dargestellt wird. Eine Beobachterin kritisiert z.B. in einem anonymen Kommentar, dass das Ganze „eher wie eine anarchistische Glamour-Pose aussah, und nicht wie ein gezielter revolutionärer Akt mit dem Ziel, das Gebäude wirklich zu übernehmen und zu halten. Es hängt mir zum Hals raus, dass direkte Aktionen nur der schönen Pressebilder wegen gemacht werden. Es hängt mir zum Hals raus, wenn Barrikaden nur gebaut werden, um sie dann auf der Stelle zu verlasse, sobald die Polizei das Feuer eröffnet.“

Die Beobachterin kritisiert auch das Verhalten des schwarzen Blocks am Streiktag und in der folgenden Nacht: „Die Scheiben von Geschäften einzuschlagen, die den Streik unterstützt haben, war einfach nur dumm und kontraproduktiv. Und zu sehen, wie Leute aus dem schwarzen Block vor der Polizei flüchteten, statt das Camp zu beschützen, das sie mit ihren Aktionen gefährdet hatten, wobei sie viele kranke Menschen, Straßenkids und Obdachlose wehrlos zurückließen, war dermaßen mies, dass ich es gar nicht ausdrücken kann…“ Der Kommentar endet: „Ich möchte, dass die Leute sich der Polizei entgegenstellen […] Ich möchte, dass Häuser dauerhaft besetzt und nicht binnen Stunden geräumt werden […] Ich möchte eine bessere Taktik und ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Leuten, die von unserem Verhalten betroffen sein könnten – und davon habe ich letzte Nacht nichts gesehen.“ (6)

Wie dem auch sei: Hausbesetzungen werden auch an anderen Orten als logischer nächster Schritt der Bewegung gesehen. Auch im nordkalifornischen Chapel Hill besetzten Aktivist_innen ein Haus, wurden aber bald von schwer bewaffneter Polizei geräumt. Und drei Wochen nach dem eher unrühmlichen ersten Versuch gab es in einem Außenbezirk von Oakland eine weitere, scheinbar erfolgreichere Besetzung.

Andernorts haben sich weniger spektakuläre, aber nachhaltigere Initiativen entwickelt, die in eine ähnliche Richtung zielen – so z.B. die seit 2009 bestehende Anti-Eviction Campaign in Chicago. Diese unterstützt Menschen und Familien, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen konnten. Die Kampagne organisiert nicht nur juristische Unterstützung und öffentliche Proteste, sondern unterstützt auch Aktionen, bei denen sich die Menschen den benötigten Wohnraum einfach aneignen.

Solche Initiativen kommen vor allem aus den nicht-weißen Communities, die von den Folgen der Wirtschaftskrise besonders schwer betroffen sind. Und obwohl Occupy nach wie vor eine weitgehend „weiße“ Veranstaltung ist, erhalten auch die sozialen Bewegungen in den schwarzen und Latino-Communities neuen Auftrieb und Unterstützung durch den Protest.

In einem Interview erklärt J.R. Fleming von der Chicagoer Kampagne dazu: „Wir werden eine größere Beteiligung der Schwarzen sehen, wenn wir anfangen, die tausenden Häuser und Wohnungen zu besetzen, die jetzt im Besitz der Banken sind. Du kannst den ganzen Tag in der Innenstadt verbringen und demonstrieren, aber wenn du hier ins Viertel zurückkommst, bist du immer noch obdachlos oder nah dran, es zu sein. Wenn wir diese Häuser hier in der Nachbarschaft besetzen, dann wäre das die Art von Besetzungen, die wirklich was bedeutet für die Leute, die wirklich einen Unterschied macht.“ (8) Das ist ein wichtiger Punkt: Der öffentliche Protest mag wichtig sein, ändert aber wenig an den alltäglichen Problemen der Leute.

Ein ähnliches Ziel wie die Chicagoer Kampagne verfolgt die Initiative Take Back The Land aus Miami, die schon 2006 von dem Anwalt Max Rameau gegründet wurde. In einem Interview beschreibt Rameau das Vorgehen bei der Aneignung von Wohnraum: „Wir gingen dort hin, machten uns mit den Verhältnissen im Viertel vertraut, schauten uns das Haus an und fanden es in gutem Zustand. Dann sprachen wir mit den Leuten im Viertel und meinten: Schaut, dieses Haus steht leer. Wir haben eine Familie, die eine Bleibe braucht. Wir würden sie gern hier unterbringen. Das wäre gut für die Familie und auch gut fürs Viertel, wenn hier nicht so viele Häuser leer stehen. Wir hätten gern eure Unterstützung dafür. Und wir machten eine Pressekonferenz und brachten die Familie dort unter, und alle Nachbarn unterstützten das. Die Familie lebt jetzt seit etwa drei Monaten dort. Und die Nachbarn haben sich bereit erklärt, dass sie, wenn die Polizei kommt um diese Familie zu räumen, dass sie dann die Räumung verhindern, durch Blockaden.“ (9)

Das eröffnet eine wichtige Perspektive: Immerhin wurden im Zuge der Immo­bilienkrise Zehntausende Menschen aus ihren Häusern geworfen. Und umgekehrt ist die Wall Street zwar ein symbol- und öffentlichkeitsträch­tiger Ort – aber mehr als öffentliche Aufmerksamkeit lässt sich dort eben nicht erreichen. Nur wenn der Protest sich mit konkreten sozialen Kämp­fen verbindet, wird hier eine Bewegung entstehen, die auch über den medialen Hype hinaus von Bedeutung ist. Dieser Hype lässt sich ohnehin nicht ewig aufrechterhalten. Irgendwann ist der Protest eben keine Neuigkeit mehr, und jeder Versuch, mit immer noch spektakuläreren Aktionen etwas daran zu ändern, führt unvermeidlich in eine Sackgasse.

Es wäre also Zeit, die Strategie zu wechseln, die Bewegung in eine Richtung fortzusetzen, in der die Medien lieber nicht mehr darüber berichten. Die Anti-Eviction Campaign zeigt, wie das geht: In einer unaufgeregten, alltäglichen Weise wird hier die gesellschaftliche Ordnung im Ganzen in Frage gestellt. Dort, wo die Bedürfnisse der Menschen nach einem schönen Leben mehr gelten als das Eigentumsrecht, wird es wirklich gefährlich für den Kapitalismus.

justus

(1) „Occupy and Anarchism’s Gift of Democ­racy“, libcom.org/library/occupy-anarchisms-gift-democracy-david-graeber
(2) jacobinmag.com/blog/2011/10/baby-were-all-anarchists-now/
(3) jacobinmag.com/blog/2011/11/people-who-hit-people/#more-2118
(4) Das US-amerikanische Streikrecht ist ohnehin sehr rigide. So erlaubt es der Taft-Hartley-Act von 1947 dem Präsidenten, jeden Streik zu beenden, wenn dieser das „nationale Interesse“ gefährdet. Aufgrund dieses Gesetzes stoppte George W. Bush z.B. 2002 einen Streik der Hafenarbeiter_innen (siehe FA! #3).
(5) www.occupyoakland.org/strike/
(6) www.bayofrage.com/from-the-bay/statement-on-the-occupation-of-the-former-travelers-aid-society-at-520-16th-street/
(7) www.indybay.org/newsitems/2011/11/04/18697383.php
(8) www.democracynow.org/2011/11/11/occupy_homes_new_coalition_links_homeowners
(9) chicagoantieviction.org/2011/11/media-chciago-anti-eviction.html#more

Nachbarn

Kosmoproletarische Solidarität

Weniger wie eine Zeitschrift, sondern vielmehr wie ein kleines Büchlein von 200 Seiten – so kommt der frisch erschienene Kosmoprolet #3 daher. Das lässt viel Inhalt erwarten. Und den bekommt der oder die geneigte Leser_in auch.

2007 erstmals erschienen, sieht sich der Kosmoprolet dem libertären Strang der marxistischen Theoriebildung verpflichtet, steht also in einer groben Traditionslinie von den Rätekommu­nist_innen der 20er Jahre bis hin zum italienischen Operaismus. Das ist nur zu begrüßen. Schließ­lich laufen in diesem Teil des linksradikalen Spektrums derzeit wohl die interessantesten Debatten ab.

Aber genug des höflichen Vorgeplänkels, kommen wir lieber zum Inhalt. Die Ausgabe wird von einem ziemlich langen Editorial eröffnet, dass sich der weltweiten Krise und den Perspektiven widmet, die diese für eine revolutionäre Praxis eröffnet. Das Fazit des Textes bleibt ambivalent, aber alles andere wäre auch naiv oder grob fahrlässig.

Es folgen Texte zum Arabischen Frühling, zur „Agrarfrage“ und zur Kritik der Gewerkschaften. Allesamt informativ, gut und klar geschrieben und solide argumentiert, doch zumindest mir wird hier wenig Neues gesagt. Aber das ist durchaus in Ordnung. Bei der Kritik geht´s schließlich nicht darum, irgendwelche Originalitätspreise zu gewinnen, und solange sich die Verhältnisse nicht grundlegend ändern, kommt man auch bei der Analyse nicht um Wiederholungen herum.

Spezieller ist da schon die Kritik der französischen Gruppe Théorie Commu­niste (TC) an den in Kosmoprolet #1 veröffentlichten „25 Thesen zur Klassengesellschaft“. Dieser Text ist einigermaßen schwierig, in einem dichten Theoriejargon geschrieben, der durch­aus schmissig wirkt, aber inhaltlich einige Fragezeichen hinterlässt.

Ist mensch zunächst noch geneigt, diese Unklarheiten der mangelhaften Übersetzung zuzuschreiben, macht die nachfolgende Gegenkritik die Sache schon beträchtlich klarer. Dort wird zu Recht bemängelt, dass Théorie Commu­niste keinen Begriff von ‚Natur’ hätten, und somit jeden Hinweis auf ‚Naturnotwendigkeiten’ nur als Ausdruck mangelnder Radikalität verstehen könnten. TC könnten ‚Arbeit’ nur als gesellschaftliches Verhältnis denken und verfielen so in den Glauben, dass mit der Arbeit im engeren Sinne (der erzwungenen Verausgabung menschlicher Arbeitskraft) zugleich auch die Arbeit im weiteren Sinne (als menschlicher Stoffwechsel mit der Natur) verschwinden würde. Das aber sei bestenfalls blauäugig, erwidern die Gegen­kriti­ker_innen:

Diese Position ist nur das Spiegelbild der erzbür­ger­lichen Ideologie, aus den unvermeidbaren Unannehmlichkeiten des Lebens die Unvermeidbarkeit von Herrschaft und Zwang abzuleiten. Die frei assoziierten Individuen werden lästige Notwendigkeiten zu regeln habe; wie sie das tun werden, wissen wir auch nicht, sind aber zuversichtlich, dass die Commune nicht an der Frage scheitern wird, wer morgen das Klo putzt.“ Ein schönes Zitat – den Rest möge bitte jede_r selber lesen…

Im nachfolgenden Text „Der Existenzialismus als Zerfallsprodukt revolutionärer Theorie“ kriegt dann das Unsichtbare Komitee und dessen Pamphlet „Der kommende Aufstand“ sein verdientes Fett ab. Wie wenig das Unsichtbare Komitee bei aller verbalen Radikalität in der Lage ist, die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, zeigt beispielhaft das folgende Zitat. So meint das Komitee:

Heute hängt Arbeiten weniger mit der ökonomischen Notwendigkeit, Waren zu produzieren, zusammen, als mit der politischen Notwendigkeit, Produzenten und Verbraucher zu produzieren, die Ordnung der Arbeit mit allen Mitteln zu retten.“ Man habe eben „bis heute keine bessere Disziplinie­rungs­methode als die Lohnarbeit gefunden“.

Die Arbeit dient also nicht der Produktion von Tauschwert, sondern nur der Disziplinierung – es geht nicht um ein Ausbeutungs-, sondern um ein reines Unterdrückungsverhältnis. Damit entfällt auch die Erkenntnis, dass die Lohnabhängigen mit ihrer Arbeit das Verhältnis (re)produzieren, das sie zur Arbeit zwingt – dass es das Produkt ihrer eigenen vergangenen Arbeit ist, das ihnen als ‚Kapital’ vergegenständlicht gegenübertritt. Vielmehr stehen sich in der Sicht des Unsichtbaren Komitees nun zwei voneinander unabhängige Parteien von ‚Unterdrückern’ und ‚Unterdrückten’ gegenüber. Die Revolution lässt sich somit nur noch als quasi-militärische Konfrontation denken, die Perspektive verengt sich „auf ein zukunftsloses Gerangel mit dem Staat und den ihm angeschlossenen Apparaten um die Dominanz auf dem Territorium.“

Der letzte Text, „Proletarische Bewegung und Produktivkraftentwicklung“ von Raasan Samuel Loewe, stammt schon von 1995. Eine genauere Erörterung ist schwierig, dafür taucht der Artikel zu tief in die Feinheiten marxistischer Theoriebildung ein. Der mit dem Neuabdruck verbundene Anspruch, den einmal erreichten Stand der Debatte zu dokumentieren, wird immerhin eingelöst. So kritisiert Loewe zunächst einmal treffend die verkürzte Auffassung der Sozialdemokratie und Bolschewiki, welche die Produktivkräfte platt mit den Produktionsmitteln identifizierten. Dies hatte dann auch gravierende Auswirkungen auf die politische Perspektive: Während Marx die Maschinerie als Mittel kapitalistischer Herrschaft noch durchaus kritisch untersuchte, begriffen die Bolschewiki die Fabriken (ähnlich wie den Staat) nur noch als nützliches Werkzeug, das einfach zu übernehmen und zu nutzen sei.

Aber auch die Gegenposition wird von Loewe ausführlich kritisiert, am Beispiel der ‚Produktivkraftkritiker’ Rainer Tram­pert und Thomas Ebermann (diese waren damals bei der Ökologischen Linken, einem Spaltprodukt der Grünen aktiv und könnten heute noch durch ihre Lesetouren und regelmäßigen Auftritte im Conne Island bekannt sein). Während Ebermann und Trampert den parteimarxistischen Fort­schrittsoptimismus nur mit einer Verteidigung des überkommenen Handwerks-Ethos und der kleinen Warenproduktion zu beantworten wissen, betont Loewe zu Recht, dass a) die vorkapitalistische Gesellschaft auch keine reine Idylle war und b) die Unterwerfung der Arbeitskraft unter die kapitalistische Produktionsweise längst nicht jede Hoffnung auf Revolution zunichte macht.

So weit, so gut – es zeugt immerhin von Courage, dass hier aus einer eher libertären Perspektive gerade der Teil der Marxschen Theorie angegangen wird, der am häufigsten zu objektivistisch-deterministischen (Fehl-)Deutungen den Anlass gegeben hat.

Die Lektüre lohnt sich jedenfalls, bei diesem und den anderen Texten. Schön zu sehen, dass hier noch jemand die Frage nach dem Ganzen und den Möglichkeiten seiner Überwindung stellt und nicht nur Ideologie, äh, Ideologiekritik macht. Neben der Wildcat ist der Kosmoprolet damit sicherlich eine der interessantesten Publikationen im deutschsprachigen Raum. Okay, gleich nach der Wildcat, denn schließlich ist bei dieser die Theorie mit einer langjährigen Praxis der Untersuchung und Intervention verbunden. Da kann der Kosmoprolet nicht ganz mithalten. Ein erster Schritt zur genaueren Untersuchung der heutigen Arbeitsverhältnisse ist immerhin der in dieser Ausgabe enthaltene „Fragebogen zur Leiharbeit“. Und trotz aller Einwände ist der Kosmoprolet ein kleiner und angenehmer Lichtblick in der hiesigen radikalen Linken, die sich in der eigenen Perspektivlosigkeit längst häuslich eingerichtet hat.

justus

www.kosmoprolet.org

Rezension

Michael Seidman: „Gegen die Arbeit“

Seidmans Buch ist ein Phänomen – dass eine 30 Jahre alte Dissertation heute noch größere Debatten auslöst, ist zumindestens ungewöhnlich.

Und ungewöhnlich umständlich gestaltete sich auch die Veröffentlichung dieser deutschsprachigen Ausgabe: Schon vor etwa zehn Jahren erarbeiteten FAU– und Wildcat-Aktivist_innen eine Rohübersetzung, die dann, mit einigen Jahren Verzögerung, von dem FAU-Mitglied Andreas Foerster nochmals überarbeitet und zu einem durchgängig lesbaren Text umgeformt wurde.

Dass das Buch nun so viel später im anarchistischen Graswurzelrevolutions-Verlag erschien, ist ebenso mutig wie begrüßenswert. Denn obwohl Seidmans Forschungsarbeit schon 1982 entstand, ist sie auch heute noch geeignet, einige liebgewonnene Legenden der anarchistischen Geschichtsschreibung ins Wanken zu bringen.

Dabei verfolgt Seidman den vordergründig recht unspektakulären Ansatz einer vergleichenden Sozialgeschichte. Das Buch gliedert sich entsprechend in zwei Teile, wobei der erste die Konflikte in den kollektivierten Betrieben während der spanischen Revolution ab 1936 behandelt. Im zweiten Teil werden die Ereignisse in Frankreich untersucht, wo nach dem Wahlsieg der linken ‚Volksfront’-Regierung im Mai 1936 eine Welle von Streiks und Fabrikbesetzungen begann.

Hier wie dort gilt Seidmans Interesse dem Arbeiter_innenwiderstand ‚von unten’, der sich immer wieder der Kontrolle der Parteien und Gewerkschaften (auch der ‚revolutionären’) entzog. Sein Anliegen, so erklärt Seidman mit Bezug auf die spanische Revolution, war es dabei, „eine ausschließlich politische oder ökonomische Bewertung zu vermeiden und stattdessen die sozialen Beziehungen in den kollektivierten Fabriken und Werkstätten zu erkunden“ [S. 245].

Revolte in der Revolution?

Genau an diesem Punkt beginnt die Verunsicherung, die das Buch in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Kreisen hervorgerufen hat. Immerhin ist die spanische Revolution für heutige Anarcho­syndikalist_innen immer noch das historische Vorbild schlechthin – im revolutionären Katalonien wurde tatsächlich in großem Maßstab versucht, das anarchistische Organisationsmodell, die kollektive Selbstverwaltung der Wirtschaft umzusetzen.

Aber wie Seidman zeigt, stieß dieses von der spanischen anarchistischen Gewerkschaft CNT verfochtene Konzept der Selbstverwaltung (also die Übernahme der Fabriken und deren Verwaltung durch die Arbeiter_innen selbst) bald auf Schwierigkeiten. So sahen sich die Aktiven der CNT rasch mit den gleichen Formen der Verweigerung konfrontiert, die sich zuvor gegen die Bosse gerichtet hatten – „Sabotage, Diebstahl, Absentismus, Zuspätkommen, Krankfeiern und anderen Formen des Arbeiterwiderstandes gegen die Arbeit und den Arbeitsplatz“ [S. 236]. Trotz höherer Löhne, höherer Sozialleistungen, verlängerter Wochenarbeitszeit und vermehrter Zahl an Arbeiter_innen sank in vielen Betrieben die Produktivität.

Demgegenüber gingen die Gewerkschafts-Aktiven nun selbst mit Zwangsmethoden gegen solche ‚Disziplinlosigkeit’ und ‚mangelnde Arbeitsmoral’ vor. Nachdem die Akkordarbeit zu Beginn der Revolution abgeschafft worden war, wurde sie schnell wieder eingeführt. Ausgeklügelte Anreizsysteme sollten die Arbeiter_innen zu höherer Produktivität bewegen. Mit verschärften Kontrollen wurde gegen jene vorgegangen, die unbefugt der Arbeit fernblieben.

Zugleich wurde vielerorts dem technischen Personal unbeschränkte Weisungsbefugnis gegenüber den einfachen Arbeiter_innen erteilt, etwa was die Produktionsziele betraf. Die CNT vollzog also einen deutlichen Bruch mit ihren eigenen egalitären Ansprüchen – wobei dieser Bruch scheinbar in keiner Weise problematisiert, sondern vielmehr als in der Natur der Sache liegend gerechtfertigt wurde.

Dies zeigt etwa ein (von der CNT-Gewerkschaft der Seeleute stammendes) Zitat, dass die Vorrangstellung des technischen Personals wie folgt begründet: „Kann ein Ingenieur wie ein ungelernter Arbeiter angesehen werden? Der Ingenieur steht für kreatives Denken, und der ungelernte Arbeiter [ist] das Objekt dieses Denkens.“ Auch in der sozialen Revolution gebe es eben Ingenieure und Ungelernte [S. 192].

Dabei betont Seidman immer wieder, dass diese Entwicklung nicht nur den Zwängen und Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft geschuldet war. Die durch den Bürgerkrieg verursachten Schwierigkeiten (Blockaden, Zerstörungen durch Luftangriffe, Mangel an Devisen, Rohstoffen, Ersatzteilen, fehlende Absatzmärkte usw.) beschreibt Seidman zwar sehr ausführlich. Die Konflikte in den kollektivierten Betrieben sieht er allerdings anderswo begründet – nämlich im ‚produktivistischen’ Programm, das die CNT schon lange vor Beginn des Krieges vertreten hatte.

Henry Ford für Anarchisten

In ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung unterschied sich die CNT kaum von z.B. den russischen Bolschewiki: Mit der Übernahme der Produktionsmittel sollte die Abschöpfung des Mehrwerts durch die ‚parasitäre’ bürgerliche Klasse beendet werden. Ansonsten sollten die Arbeiter_innen wie bisher weiterarbeiten – nur jetzt eben selbstbestimmt. Diego Abad de Santillán, ein wichtiger Aktivist und Theoretiker der CNT, drückte das so aus: „Das Heil liegt in der Arbeit und der Tag wird kommen, da die Arbeiter es wollen. Die Anarchisten, die einzige Strömung, die nicht versucht auf Kosten anderer zu leben, kämpft für diesen Tag“ [S. 83].

Die Produktion sollte im Wesentlichen unverändert weiterlaufen. Santillán dazu: „Es ist nicht nötig, die derzeitige technische Organisation der kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören, sondern wir müssen sie nutzen. Die Revolution wird der Fabrik als Privateigentum ein Ende bereiten. Aber wenn die Fabrik bestehen und, unserer Meinung nach, verbessert werden muss, dann muss man wissen, wie sie funktioniert. Die Tatsache, dass sie gesellschaftliches Eigentum wird, ändert das Wesen der Produktion oder die Produktionsmethoden nicht“ [S. 82].

Die Fabrik sollte also nur ‚verbessert’, d.h. modernisiert und effizienter gestaltet werden. Als Modell schwebte den CNT-Aktiven dabei die vom amerikanischen Ingenieur Frederick W. Taylor um 1900 entwickelte ‚wissenschaftliche Betriebsführung’ und die standardisierte for­distische Massenproduktion vor.

Santillán: „Wir bevorzugen die Ford-Fabrik, in der es keine Spekulation mehr gibt, in der die Gesundheit der Belegschaft gewahrt ist und die Löhne steigen. Das Ergebnis ist besser als ein winziger Betrieb in Barcelona“ [S. 89].

Der Vergleich mit dem „winzigen Betrieb in Barcelona“ ist wichtig – die Begeisterung der CNT-Aktiven für die fordistische Fließbandproduktion erklärt sich vor allem aus den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, denen sie sich gegenüber sahen. Die spanische Industrie war derart rückständig und ineffizient, dass sie sich in der Weltwirtschaft nur dank der hohen Schutzzölle halten konnte. Soweit es moderne Betriebe gab, gehörten diese meist ausländischen Firmen. Das heimische Bürgertum dagegen hatte wenig Interesse an einer Modernisierung gleich welcher Art. So war die spanische Industrie in unzählige kleine und kleinste Unternehmen zersplittert, die Maschinerie veraltet, die Arbeit hart und die Löhne niedrig.

So verwundert es nicht, dass mit diesem Zustand verglichen den CNT-Aktiven die „Ford-Fabrik“ als fortschrittliches Gegenmodell erschien – ein rationales Mittel, um hochwertiger, schneller und müheloser zu produzieren und den Arbei­ter_innen zugleich höhere Löhne und bessere Versorgung mit Konsumgütern zu sichern.

Der Alptraum der Industriellen

Der Vergleich zu den Fabrikbesetzungen in Frankreich 1936, den Seidman im zweiten Teil seines Buches unternimmt, trägt sehr dazu bei, das Problem klarer zu machen, weil sich dort (anders als in Spanien) die fordistisch-tayloristische Produktionsweise bereits durchgesetzt hatte. [Abgesehen davon bietet dieser Teil eine präzise und materialreiche Untersuchung, aber wenig Anlass zu großen Kontroversen. Ich werde hier also auf diesen zweiten Abschnitt des Buches nur soweit eingehen, wie er zum besseren Verständnis des ersten beiträgt.]

Denn anders als die spanischen Anar­chist_innen meinten, war die fordistische Fabrik keineswegs nur ein neutrales Mittel, um besser und leichter zu produzieren, oder Ausdruck einer ‚reinen’ Eigenlogik der technischen Rationalität. Vielmehr drückte sich in ihrer ganzen Struktur ein spezifisches Klasseninteresse aus. Das fing schon bei der Architektur der Fabrikhallen an, die so angelegt waren, dass jede_r Arbeiter_in leicht überwacht werden konnte. Ausführlich beschreibt Seidman das Bemühen der französischen Unternehmen, wirksame Kontrollen für Stückzahlen und Qualität der produzierten Teile zu installieren. Dies geschah durch an den Maschinen angebrachte Zähler, aber auch durch die Vorarbeiter und Inspektoren, die dann wiederum in ihrer Überwachungsarbeit von Oberinspektoren überwacht werden mussten [S. 273ff].

Und nicht zuletzt war die Maschinerie selbst ein Mittel der Kontrolle, dass den Arbeitenden jede Bewegung und den Arbeitsrhythmus vorschrieb. Auch die ‚wissenschaftliche Betriebsführung’ F.W. Taylors zielte in eine ähnliche Richtung: Nicht nur das Werkzeug, sondern auch die Bewegungsabläufe der Arbeiter_innen sollten standardisiert und sämtliche überflüssigen Handgriffe ausgeschaltet werden.

Hier liegt der harte Kern von Seidmans Kritik*, die auch die spanischen Anar­chosyndikalist_innen trifft: Denn während die CNT in ihrer inneren Gewerkschaftsorganisation Hierarchien und Bürokratie immer zu vermeiden suchte, befürwortete sie zugleich in ihrem Wirtschaftspro­gramm eine Form der industriellen Produktion, die auf Bürokratie, zentrale Lenkung und Planung der Pro­duktionsprozesse zwingend angewiesen war – eine Form der Organisation, die darauf abzielte, jede unreg­lementierte Kooperation zwischen den Arbei­ter_innen zu unterbinden.

Aus dieser Grundsatzentscheidung für die ‚Ford-Fabrik’ ergaben sich dann entsprechende ‚Sachzwänge’, die für die CNT-Aktiven als nicht mehr verhandelbar erschienen, und ebenso entsprechende Widerstände seitens der Arbeiter_innen.

Es ist Seidmans großer Verdienst, dass er diesen alltäglichen Widerstand ins Blickfeld rückt, wie er die kapitalistische Arbeitswelt seit Anbeginn prägt. Die Formen der Verweigerung waren, wie Seidman schreibt, „diffus, undeutlich und sowohl individuell als auch kollektiv“. Die Arbei­ter_innen schlugen „keine Alternative vor zur Partei, zur Gewerkschaft oder zur privaten Kontrolle der Produktionsmittel.“ Dennoch dürfe ihre Verweigerung, so Seidman, „nicht als falsches oder mangelndes Bewusstsein abgetan werden.“ [S. 257]

Es wäre also vermutlich auch zu kurz gegriffen, die renitenten Arbeiter_innen nun zum ‚eigentlichen’ revolutionären Subjekt erheben zu wollen. Auch in Frankreich beschränkten sie sich auf das nahe­liegendste Ziel: sich der Arbeit so weit wie möglich zu entziehen. Sie kamen zu spät, gingen früher, dehnten ihre Pausen aus, stoppten eigenmächtig die Maschinen, verlangsamten den Arbeitstakt… Sie handelten nicht heroisch, sie wollten kein Programm umsetzen.

Das wirft auch Fragen für eine wie auch immer geartete ‚revolutionäre’ Organi­sierung auf. Um Kurzschlüsse zu vermeiden: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bleibt ein sinnvolles Ziel – solange diese sich in Privatbesitz befinden, wird sich der Arbeitszwang nicht beseitigen lassen. Und auch die anarchosyndi­kalistische Kritik an den hierarchischen Organisationsformen von Zentralge­werkschaften, Parteien usw. bleibt weiter­hin gültig.

Der Irrtum beginnt, wo man diese falschen Organisationsformen durch eine ‚richtige’ ersetzen will. Es gibt eben keine richtige Organisierung, die als solche schon revolutionär wäre. Es kann zweckmäßig sein, sich zu organisieren, aber der Zweck einer revolutionären Organisation besteht eben nicht in der Organisation als solcher. Es geht nicht darum, neue Mitglieder oder neue Einflussbereiche zu gewinnen (also die Praxis aus nicht-revolutionärer Zeit endlos in die Zukunft zu verlängern), sondern darum, neue gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den Menschen zu schaffen – womit dann auch die Unterscheidung von ‚Aktiven’ und ‚Unorganisierten’ tendenziell bedeutungslos werden müsste. Denn welches Konzept einer herrschaftsfreien Gesellschaft mensch auch haben mag: Wenn die ‘Unorganisierten’ bei dessen praktischer Umsetzung nicht mitreden dürfen, ist es mit der Herrschaftsfreiheit nicht weit her. Und ob eine Fabrik nun Privat-, Staats- oder Kollektiveigentum ist, bleibt eine rein scholastische Unterscheidung, solange die Leute hier wie dort keinen Einfluss auf Zweck und Mittel der Produktion haben. In diesem Sinne wäre ‚Revolution’ nicht als Umsetzung einer Utopie (im Sinne eines vorher aufgestellten Programms) zu denken, sondern vielmehr als Beginn eines Verhandlungsprozesses, um die Verhältnisse den Bedürfnissen jedes und jeder Einzelnen entsprechend neu zu ordnen.

Seidmans Buch zeigt, an welchen Klippen die spanischen Anarchist_innen dabei gescheitert sind. Damit wirft es wichtige Fragen auf – es wäre Zeit, sich damit auseinander zu setzen.

justus

Michael Seidman, „Gegen die Arbeit – Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011

* während manche Leute offenbar meinen, Seidman hätte nur die CNT schlechtreden wollen – siehe z.B. die Kommentare unter wordpress.com/2011/11/05/gegen-die-arbeit-aufruf-zur-diskussion/

Ausgelesen

Wandern für den Standort

Arbeitsmigration und Migrationspolitik in Deutschland

Eigentlich schien es kaum jemand zu interessieren, als am 1. Mai diesen Jahres nach siebenjähriger Verzögerung auch in Deutschland die sog. Arbeit­neh­merfreizügigkeit für Lohnabhängige aus osteuropäischen EU-Staaten in Kraft trat. Diese brauchen nun keine Arbeitserlaubnis mehr, um hierzulande eine Tätigkeit aufnehmen zu können. Na gut, die Gewerkschaften warnten vor möglichem Lohndumping, und in mehreren Städten demonstrierten am 1. Mai Neonazis unter dem Motto „Fremdarbeit stoppen!“ für ihr Recht, als Deutsche von deutschen Kapitalist_innen bevorzugt ausgebeutet zu werden.

Zu einem großen Ansturm osteuropäischer Arbeitssuchender kam es aber nicht. Kein Wunder, denn Deutschland hat sich auch so schon längst zum Europameister in Sachen Lohndumping entwickelt: Während die Reallöhne in allen anderen EU-Staaten stiegen, sanken sie hier­zulande von 2000 bis 2010 um etwa 4%. Mittlerweile haben sich deswegen z.B. die polnischen und die deutschen Durch­schnitts­löhne soweit angeglichen, dass sich die Auswanderung nach Deutsch­land schlicht nicht mehr lohnt.

Und wo ein besonderer saisonaler Bedarf an Hilfskräften bestand (etwa bei der Spargel- oder Erdbeerernte), konnten die Unternehmen auch vorher schon Saison­arbeiter_innen für bis zu sechs Monate anstellen – Deutschland schloss schon in den 90er Jahren entsprechende Verwal­tungs­absprachen u.a. mit Tschechien, Polen, Ungarn, Rumänien, Slowenien und Kroatien ab. Dies betraf vor allem niedrig qua­lifizierte Tätigkeiten, für die sich auf­grund der schlechten Bezahlung nicht ge­nug inländische Arbeitskräfte finden ließen.

Der gemeinsame europäische Arbeitsmarkt ver­größert nun zwar kurzfristig die Zahl der potentiellen Bewerber_innen, dürfte aber auch dazu beitragen, dass sich die Le­bensverhältnisse in den einzelnen EU-Staaten langfristig angleichen. Und damit schwin­den für die Lohnabhängigen die An­reize zur Migration, während für die Un­ternehmen die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte immer weniger Vorteile bringt. Schon jetzt klagt z.B. der Verband Süd­­deutscher Spargel- und Erdbeeranbauer, dass es immer schwieriger werde, Arbeitskräfte aus EU-Vertrags­staa­ten zu gewinnen und fordert darum, die be­­stehenden Anwerbeprogramme auch auf Weiß­­russland und die Ukraine auszudehnen.

Weitere Vorschläge kommen vom Sach­verständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), einem regierungsnahen Think Tank. Im September 2011 veröffentlichte dieser eine Studie, mit der „Chancen, Grenzen und Zukunftspers­pek­tiven für Programme zirkulärer Mi­gration“ ausgelotet werden soll­ten. Zirkuläre Migration, die durch Abkommen mit anderen Staaten geregelte, zeitlich begrenzte (auch mehrmalige) Ein- und Auswanderung von Arbeitskräften, böte nicht nur die Möglichkeit einer verbesserten Zu­wan­­derungs­steu­­e­­rung, son­dern soll auch die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsländer befördern. Ziel sei also „eine Triple-Win-Situation, in der Herkunfts-, Aufnahmeländer und Migran­ten gleichzeitig von den mehrfachen Wanderungen profitieren.“

Entsprechende Programme sollten, so der Vorschlag des SVR, in einem Pilotprojekt getestet und wissenschaftlich evaluiert werden. Daran sollen zu­nächst 500 bis 1000 Per­sonen teilnehmen, vor allem „Migran­ten mitt­lerer Qua­lifikation in Branchen, die für Deutsch­land und ein potenzielles Her­kunfts­land interessant sind: Gesundheitssek­tor […] Tourismus, Metall verarbeitende Industrie, KFZ-Sektor.“ Eine mehrfache Ein- und Ausreise sei aus entwicklungspoli­tischer Perspektive erwünscht. Die Dauer des Aufenthalts sollte aber jeweils nicht mehr als zwei Jahre betragen und vor allem „eine maximale Dauer von fünf Jahren nicht überschreiten, da sonst gemäß EU-Daueraufenthaltsrichtlinie (2003/109/EG) ein Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt entsteht.“

Während bei nicht oder niedrig qualifizierten Arbeitskräften also Wert darauf gelegt wird, dass sie das Land irgendwann wieder verlassen, sieht das bei Fachkräften anders aus. Hier werden seitens der Wirtschaft dauerhafte Möglichkeiten des Aufenthalts gefordert, da sonst zu viele Bewerber_innen abgeschreckt würden und es zudem unnötige Kosten erzeugen würde, ständig neue Expert_innen einzuarbeiten.

Seitens der Politik wird bereits Entgegenkommen signalisiert. „Die Fachkräftesicherung wird die zentrale Herausforderung der kommenden Jahrzehnte werden. Wenn wir nicht handeln, wird der Mangel zur Wachstumsbremse“, erklärte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf einer Pressekonferenz, bei der eine neue Studie der Unternehmensberatung Mc­Kinsey vorgestellt wurde. Dieser Studie zufolge sollen bis zum Jahr 2025 etwa 6,5 Mio. Arbeitskräfte fehlen, davon 2,4 Mio. Aka­de­mi­ker_in­nen.

Als Antwort darauf erklärte von der Leyen am 22. Juni, beim sog. „Fach­kräfte­gip­fel“ in Mese­berg, dass für Metall-, Fahr­­zeug­bau- und Elektroingenieure sowie Ärzte künftig die sog. Vor­rangprü­fung (also der Nachweis, dass es für die betreffende Stelle keine geeignete Be­wer­ber_in mit deutscher Staatsangehörigkeit gibt) entfallen solle.

Aber auch der sächsische Innenminister Markus Ulbig sorgt sich um Zukunft des Standorts: Schon im April brachte er eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat ein, die Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern soll. Während diese bislang ein jährliches Mindesteinkommen von 66.000 Euro nachweisen müssen, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, soll nach Ulbigs Plänen diese Summe künftig bei 40.000 Euro im Westen und 35.000 im Osten liegen. Fachkräfte mit Arbeitsvertrag sollen zunächst für zwei Jahre bleiben und nach deren Ablauf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen können. Zudem soll das Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Schon seit Herbst sind die sächsischen Ausländerbehörden angewiesen, das Verfahren in maximal vier Wochen zu erledigen.

Ein grundlegender Wandel der deutschen Einwanderungspolitik ist das allerdings nicht – die altbekannte Unterscheidung zwischen „Ausländern, die uns nützen, und solchen, die uns ausnützen“ soll künftig nur ein wenig effizienter getroffen werden.

justus

Schlandort

Nüchterne Wiesen

Was wäre eine Großstadt ohne eine zünftige Trinkwiese? In der Leipziger Innenstadt hat sich z.B. die Thomaswiese neben dem Hugendubel schon seit Jahren als Treffpunkt für meist jugendliche Wiesentrinker_innen etabliert, die sich dort im Sommer auf dem Rasen lümmeln, dröhnende Beatmusik auf mitgebrachten Kassettenrekordern hören und dabei ihr Dosenbier verzehren.

Der Leipziger CDU-Ortsgruppe ist diese Stätte des urbanen savoir vivre allerdings ein Dorn im Auge. Mitte November stellte diese deshalb einen Antrag: Der Stadtrat soll nun prüfen, ob man den öffentlichen Alkoholkonsum nicht einfach per Polizeiverordnung verbieten könne. Erst mal testweise vom 1. April bis zum 31. Oktober 2012, um bei Erfolg die Maßnahme dann auch in den Folgejahren fortzuführen. Das Trinkverbot soll nicht nur für die Thomaswiese gelten, sondern auch auf dem Bahnhofsvorplatz und am Weißeplatz in Stötteritz. Letzterer steht schon seit längerem im Fokus einer Ein-Mann-Kampagne, die ein besorgter Bürger gegen die ansässige Alkoholikerszene betreibt und nun offenbar auch die harten Herzen der Union erreicht hat.

Für vernunftbegabte Lebewesen ist so ein dreister Vorschlag allerdings einfach indiskutabel! Hoffen wir also mal, dass die Leipziger CDU die verdiente Schlappe einfährt, wenn am 14. Dezember über den Antrag entschieden wird. Denn: Wiesentrinken is not a crime!

justus

Lokales

Skandal! NPD von Neonazis unterwandert?

Wenn man Wert auf ein gutes Image legt, sollte man sich lieber keinen verurteilten Rechtsterroristen ins Haus laden. Schon gar nicht jetzt, wo die mediale Öffentlichkeit gerade mit Entsetzen bemerkt hat, dass Neonazis gelegentlich zu Rassismus und gewalttätigem Verhalten neigen.

Die Erkenntnis kam spät, aber irgendwann fiel der Groschen doch: Auf Druck der NPD-Führung wurde die für den 26. November geplante Veranstaltung mit Karl-Heinz Hoffmann kurzfristig abgesagt. Hoffmann leitete ab 1973 die „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die 1980 verboten wurde, nachdem eines ihrer Mitglieder mit einem Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest 13 Menschen getötet hatte. Die Leipziger Jungen Natio­naldemokraten hatten Hoffmann in das „nationale Zentrum“ in der Odermannstraße eingeladen.

Trotz der Absage konnte die NPD aber nicht über mangelnde Negativ-Publicity klagen. So gab es am 26.11. nicht nur eine bürgerliche Protestkundgebung, an der auch OBM Burkhard Jung teilnahm. Zudem beteiligten sich etwa 500 Menschen an einer Antifa-Demo, die von der Initiative Fence Off! (siehe FA! 40) organisiert worden war. Bereits am 24. September hatten etwa 2000 Menschen gegen das Zentrum in der Odermannstraße demonstriert.

Dass die NPD-Führung ihren Nachwuchs zurückpfeifen muss, ist nur das letzte Zeichen eines insgesamt zwiespältigen Verhältnisses: Einerseits bemüht sich die NPD seit Jahren um ein solides, „gutbürgerliches“ Image, andererseits kann sie nicht auf die jüngeren militanten Neonazis als Basis verzichten. Die Jungen Nationaldemokraten und das von diesen genutzte Zentrum in der Odermannstraße bilden die Schnittstelle zwischen Partei und „Freien Kräften“.

Näheren Aufschluss über das wechselseitige Verhältnis geben die unlängst von der GAMMA-Recherchegruppe veröffentlichten Daten* aus einem internen Forum des Freien Netzes (einer von den Freien Kräften betriebenen Website). Dieses Forum war nur einem engen Kreis von gerade mal 21 „Kadern“ zugänglich, bekannten Neonazi-Aktivisten u.a. aus Leipzig, Altenburg, Delitzsch und Geithain.

Die in den internen Debatten geäußerten Überzeugungen sind nicht überraschend: Die Aktivisten verstehen sich als Nationalsozialisten, pflegen antisemitische Ressentiments und befürworten gewalttätige Aktionen. Schon eher interessant ist ihre Haltung zur NPD. So schreibt User „Feldgrau“ zum Thema: „Meine Mutterpartei? Also ich glaube nicht das ich die NPD so bezeichnen würde…Sie ist für mich lediglich Werkzeug im politischen Kampf.“ Ein weitgehend instrumentelles Verhältnis also. Hinter dem Pseudonym „Feldgrau“ verbirgt sich übrigens Tommy Naumann, NPD-Kandidat bei den letzten Stadtratswahlen und Vorsitzender der sächsischen JN…

Spannungen zwischen NPD und Freien Kräften gab es schon länger. Nicht nur aus „ideologischen“ Gründen, also weil die NPD den Freien Kameraden nicht radikal genug und diese wiederum der Partei zu undiszipliniert waren. Sondern auch ganz banal des Geldes wegen: Wie der GAMMA Newsflyer schon Mitte 2010 berichtete, mussten die Freien Kräfte für die Nutzung der Odermannstraße monatlich 800 Euro an die NPD zahlen. Aber das Problem hat sich nun wohl erledigt: Für Ende September wurde dem Kulturverein Leipzig-West e.V., der als rechtliches Aushängeschild der Freien Kräfte fungiert, vom Vermieter, Steven Hahn aus Grim­ma, gekündigt. Gerüchten zufolge haben die Freien Kräfte mittlerweile einen neuen Treffpunkt in einer Kneipe in der Wurzner Straße gefunden.

justus

*gamma.noblogs.org/fn-leaks

Lokales

Die mit dem Patentrezept

Lyndon LaRouche und die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo)

Eine Partei

Wer ab und an aufmerksam durch die Leipziger Innenstadt läuft, hat sie sicher schon mal bemerkt, die Anhänger der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (kurz BüSo). Selbst bei nasskaltem Wetter stehen sie in der Fußgängerzone oder vor der Unibibliothek und versuchen, die Passanten für ihre Flugblätter und wirren Traktate zu interessieren. Auch bei den Montagsdemos gegen Hartz IV machten die BüSos mit Chorgesang und geballtem Auftreten auf sich aufmerksam. „Harmlose Spinner“ dürfte wohl das häufigste Urteil sein, wenn man da etwa eine „eurasische Landbrücke“ oder die Wiedereinführung der D-Mark fordert. Im Vergleich zu anderen Parteien ist die Bürgerrechtsbewegung Solidarität auch wirklich mehr als unbedeutend (bei der Bundestagswahl 2005 erreichte sie gerade mal 0,1%).

Daran allein kann man diese aber nicht messen, schließlich ist die BüSo Teil eines weltweiten Netzes von Gruppen und Organisationen mit Zweigstellen in allen wichtigen westlichen Nationen. An der Spitze desselben steht der amerikanische Millionär Lyndon LaRouche, in Europa übernimmt dessen Gattin, Helga Zepp-LaRouche die führende Rolle, als Vorsitzende der BüSo. Das Weltbild, welches LaRouche vertritt, ist dabei geprägt von reichlich kruden Verschwörungstheorien. In vielen seiner Äußerungen lassen sich antisemitische und homophobe Versatzstücke ausmachen, und angesichts der sehr hierarchisch-autoritären Organisationsstruktur und des Personenkults, den seine Anhänger um Lyndon LaRouche pflegen, ist es sicher nicht verkehrt, die BüSo als „Politsekte“ zu bezeichnen. Angesichts der zentralenRolle LaRoches wollen wir zunächst mal einen Blick auf dessen politischen Werdegang werfen.

Der Chef

Geboren wurde Lyndon Hermyle LaRouche als amerikanischer Staatsbürger 1922. Erstmals politisch in Erscheinung trat er 1948, als er der trotzkistisch geprägten Socialist Workers Party (SWP) beitrat, damals noch unter dem Pseudonym „Lyn Marcus“ (abgeleitet von Lenin und Marx). Mitte der 60er gründete er eine eigene Gruppe, das New York Labor Comittee, das 1968 eine wichtige Rolle im Studentenstreik an der Columbia University spielte. Dieses benannte sich später in National Caucus Of Labor Comittees (NCLC) um. 1973 machten LaRouches Anhänger mit der „Operation Mop Up“ („Aufwischen“) auf sich aufmerksam, bei der sie mit Knüppeln bewaffnet rund 40 Überfälle auf Mitglieder anderer linker Gruppen verübten (1). Die Gründe dafür sind nicht ganz klar. Möglicherweise war das ein Versuch LaRouches, seinen politischen Einfluss auszudehnen – er selbst nannte ein CIA-Komplott mit dem Ziel seiner Ermordung als Grund.

Angespornt durch Wahlerfolge der von LaRouche gegründeten US Labor Party dehnten sich dessen Aktivitäten auch auf Europa aus. So wurde – nach kurzer Vorlaufzeit – am 23. Dezember 1974 in Wiesbaden die Europäische Arbeiterpartei (EAP) gegründet. In den 80ern folgten dieser die Patrioten für Deutschland, und Anfang der 90er die Bürgerrechtsbewegung Solidarität. Diese sind Teil eines eng verzahnten Netzwerkes weiterer Organisationen(zu nennen wäre hier etwa noch der LaRouche-eigene Nachrichtendienst EIR und das Schiller-Institut). Das wichtigste Organ der Partei ist die Wochenzeitschrift Neue Solidarität, welche von der Dr. Böttiger Verlags-GmbH herausgegeben wird. Zu Anfang war die EAP noch marxistisch ausgerichtet, doch etwa 1977 vollzog sie einen rasanten Schwenk ins rechtskonservative Lager. Bemerkenswert dabei, wie Helmut Lorscheid und Leo A. Müller (in ihrem Buch „Deckname Schiller – Die deutschen Patrioten des Lyndon LaRouche“) anmerken, war die Geschlossenheit dieser ideologischen Neuausrichtung, die „sich gegenüber der Öffentlichkeit so reibungslos und einstimmig [vollzog], wie es nicht einmal die härtesten Zentralisten marxistisch-leninistischer Prägung zustande bringen“ – ein Beleg für die schon damals prägende Fixierung auf den Übervater LaRouche.

Dieser wurde 1989 wegen Betrugs zu einer 15jährigen Haftstrafe verurteilt, von welcher er jedoch nur 4 Jahren verbüßen musste. Auch aus dem Gefängnis heraus leitete er das von ihm geschaffene Netzwerk weiter. Wie schon öfters vorher trat LaRouche auch 2004 als Präsidentschaftskandidat der US-amerikanischen Demokraten an – wie stets mit eher mäßigem Ergebnis.

Das Weltbild

Trotz solcher gelegentlicher ideologischer Kurswechsel (die vor allem machtpolitisch begründet sein dürften), lassen sich einige feste Grundbestandteile von LaRouches Weltbild benennen. Zunächst einmal fällt sein maßloses Selbstvertrauen auf, welches die Grenze zum Größenwahn gern überschreitet und durch die vorbehaltlose Verehrung seiner Anhänger wohl noch wesentlich verstärkt wird. So muss man es zumindest verstehen, wenn er von sich erklärt: „Ich halte die Welt und ihr Schicksal in meinen Händen“. Seinen Anhängern gilt LaRouche als größter Denker der Gegenwart, der die Antwort auf so gut wie alle Probleme, seien sie philosophischer, ökonomischer oder sonstiger Art, kennt. Unter diesen Umständen versteht sich LaRouches unumstrittene Führungsrolle von selbst. Prägend für sein Weltbild und das seiner Anhänger ist dabei vor allem ein felsenfester Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten wirtschaftlich-technologischen Fortschritts. Vor allem die Kernkrafttechnik hat es ihnen dabei angetan. So trat Helga Zepp-LaRouche etwa in einem Wahlwerbespot 1980 vor dem AKW Biblis auf und erklärte: „Wählen Sie mich, damit Europa viele solcher Kernkraftwerke erhält.“ Ökonomische Entwicklung im Verbund mit einer Neuordnung des Finanzsystems wird dabei als Lösung aller Menschheitsprobleme propagiert. Zentral ist hier die Forderung nach einem „neuen Bretton-Woods“, d.h. einem Finanzsystem mit festen Wechselkursen und einer durch Goldvorräte gedeckten Währung. Eine groß angelegte Investitionspolitik nach dem Vorbild von Roosevelts „New Deal“ zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise soll nach LaRouches Vorstellung in kürzester Zeit sämtliche Wirtschaftsprobleme lösen, seien es Hunger, Armut oder Arbeitslosigkeit.

Das ist natürlich illusorisch – immerhin wäre ohne den Ausbruch des 2. Weltkriegs auch der „New Deal“ gescheitert, und ebenso erwies sich das Bretton-Woods-System als auf Dauer nicht tragfähig. Mit den wirtschaftlichen Fähigkeiten der LaRouchianer ist es eh nicht allzu weit her: Die EAP etwa war Mitte der 80er hoffnungslos bankrott – nicht zuletzt dank der unzähligen kostspieligen Konferenzen, die organisiert wurden, um einflussreiche Sympathisanten und Amtsträger zu beeindrucken.

Nichtsdestotrotz glaubt LaRouche felsenfest an seinen Heilsplan. Dem gegenüber steht die eifrig geschürte Überzeugung, eine Katastrophe weltweiten Ausmaßesstünde unmittelbar bevor – der finale Kollaps des Finanzsystems oder der 3. Weltkrieg, gerne auch beides zusammen. Verantwortlich dafür soll eine weltweite Verschwörung der „aristotelisch“ geprägten „Synarchisten“ (2) sein, die den Anhängern LaRouches, welche sich in der Tradition Platons sehen, gegenüberstehen. Derlei Rückgriffe auf philosophische Größen gehen jedoch einher mit einer eher schlichten Weltsicht. Auf der einen Seite der „Guru“ LaRouche, dessen Lehre allein Erlösung und Rettung vor der kommenden Katastrophe bietet, auf der anderen Seite eine Verschwörung dunkler Mächte, die dem entgegensteht. Die Indoktrination der neuen Mitglieder funktioniert wie bei anderen Sekten auch. So werden etwa Leute, die den BüSos unklugerweise ihre Telefonnummer gegeben haben, regelmäßig mit Anrufen belästigt. Die Mitglieder leben in Wohngemeinschaften zusammen, werden also auch damit von der Außenwelt abgeschottet und zu gegenseitiger Kontrolle motiviert (zusätzlich wird das Verhalten der Mitglieder natürlich noch von den Funktionären der Organisation kontrolliert). Die regelmäßigen Propagandaeinsätze dienen dazu, die Identifikation mit der gruppeneigenen Ideologie zu stärken. Und auch die von LaRouche verbreiteten Verschwörungstheorien tragen dazu bei, den inneren Zusammenhalt der Gruppe zu sichern: „Wir hier drinnen“ gegen „die da draußen“ (wobei zu denen „da draußen“ auch die Masse unwissender Normalsterblicher zählt).

Angesichts dieses paranoiden Weltbildes sind auch LaRouches regelmäßige antisemitische Ausfälle kaum verwunderlich. Als besonders krasses Beispiel sei hier aus einem 1978 erschienen Artikel LaRouches zitiert (3): „Die verächtliche […] Sophisterei, die die zionistischen Demagogen allen anbieten, die dumm genug sind […], ist die ´Holocaust´-These. Es wird argumentiert, dass die Judenverfolgung im Nazi-Holocaust den Zionismus zur existentiellen Bedingung für das ´jüdische Überleben´ mache, so dass jeder Antizionist nicht nur Antisemit ist, sondern jede Art krimineller Handlungen gegen Antizionisten wegen der mythischen ´sechs Millionen jüdischer Opfer des Nazi-Holocaust´ entschuldigt ist. Das ist schlimmer als Sophisterei. Es ist eine Lüge.“ Was LaRouche hinter solch pompösem Wortgeklingel versteckt, ist die Unterstellung, die „zionistische Mafia“ hätte den Holocaust selbst inszeniert, um die europäischen Juden zur Übersiedlung nach Israel zu bewegen. Dabei sieht er sich freilich nicht als Antisemit. Schließlich bekämpfe er ja nicht die Juden an sich, sondern bloß die „zionistische Mafia“ (die sich für ihn z.B. in der Anti Defamation League der Bnai Brith (4) verkörpert). Nur ist ein partieller Antisemitismus immer noch Antisemitismus.

Wohl aus taktischen Gründen hat LaRouche seine diesbezügliche Rhetorik freilich mittlerweile etwas gemäßigt. Dennoch bleibt der antisemitische Unterton, etwa wenn er von „Geldwechslern“ spricht, die die von ihm propagierten Reformen hintertreiben würden (6). Hier klingt deutlich das Klischee vom „wucherischen Geldjuden“ an.

Alte und neue Feinde und Freunde

Abgesehen davon beschränkt sich die Liste der Feinde LaRouches bei weitem nicht auf die Zionisten – auch eine ausgeprägte Homophobie lässt sich in zahlreichen seiner Äußerungen erkennen, und für Drogenabhängige forderte er gar schon mal die Todesstrafe. Mitte der 80er zählten zu seinen Feinbildern zudem „die Königin von England, der israelische Geheimdienst, Henry Kissinger, die Trilaterale Kommission, die Mafia, die Rockefeller-Banken und Jane Fonda“ (6), letztgenannte wohl ihres ökologischen Engagements wegen. Mittlerweile hat LaRouche sich auf die „Neo-Cons“, die Neokonservativen um Präsident Bush und namentlich auf Vizepräsident Dick Cheney eingeschossen. Den 11.9. interpretierte LaRouche als „Putschversuch“ dieses Kreises und Teilen des US-Militärs. In einem Interview vom 28. Juli 2005 (7) behauptete LaRouche z.B., diese seien drauf und dran, einen mit Atomwaffen geführten Weltkrieg vom Zaun zu brechen. Startpunkt dafür sei ein geplanter Angriff auf den Iran – dieser sei spätestens bis September 2005 zu erwarten. Cheney sei ein „Soziopath“ und die Welt befände sich nun „in einer ähnlichen Lage […] wie 1914 und 1939.“ Dass LaRouche selbst und seine Anhänger sich in den 80ern noch eifrig bemüht hatten, in rechtskonservativen Kreisen in den USA Einfluss zu erlangen und dabei selbst für die atomare Aufrüstung plädierten, vergisst er leider zu erwähnen.

Ohnehin sind die Leute, die LaRouche als seine Freunde zu betrachten pflegt(e), auch nicht grad sympathisch. Dazu zählte etwa der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu, ebenso wie Saddam Hussein, aber auch Louis Farrakhan, Oberhaupt der afro-amerikanischen, stark antisemitisch geprägten Nation Of Islam und, nicht zu vergessen, der Ku-Klux-Klan. Dabei dürfte es LaRouche weitgehend egal sein, mit wem er da paktiert, Hauptsache es hilft, um Macht und Einfluss zu erlangen – derzeit engagiert LaRouche sich übrigens stark für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China.

Aber auch bei Organisationen wie ATTAC versuchen die LaRouchianer Einfluss zu gewinnen (freilich eher erfolglos), ebenso wie sie versuchten, die Proteste gegen Hartz IV zu vereinnahmen. So führte die BüSo in Leipzig zeitweilig eigene Demos durch und nutzte die Montagsdemonstrationen ansonsten, um neue Mitglieder zu ködern, was leider von den Organisatoren geduldet wurde. Dies ging so weit, dass es einer BüSo-Anhängerin sogar erlaubt wurde, auf der Abschlusskundgebung einen längeren Redebeitrag zu halten. Schon 2003 hatte die LaRouche-Jugendbewegung (LYM) eine Vortragsreihe „an zwei Leipziger Schulen, einem Jugendclub sowie an der Universität“ organisiert, bei welcher eine gewisse Amelia Boynton Robinson von Solidarité & Progrès, der französischen Schwesterorganisation der BüSo auftrat. Die LYM ist auch regelmäßig mit Infoständen an verschiedenen Hochschulen präsent und hat damit ihre Mitgliederzahlen deutlich steigern können (8).

Dennoch sind BüSo und die anderen LaRouche-Organisationen freilich weit weniger wichtig, als sie sich selbst gern darstellen. Nichtsdestotrotz sollte man sie im Auge behalten, denn angesichts der starken Indoktrination der Mitglieder, der autoritären Struktur und des paranoiden Weltbildes, das von dieser Gruppierung vertreten wird, ist jedes neue Mitglied eines zuviel.

justus

(1) Solche Übergriffe waren wohl kein Einzelfall: So gab es 1982 in Bayern eine Reihe von Überfällen auf Wahlveranstaltungen der Grünen, die wahrscheinlich ebenfalls von Anhängern LaRouches ausgingen.
(2) Dieses Wort dürfte eine Eigenkreation LaRouches sein. Die Vorsilbe „syn-“ lässt sich mit „zsammen, gemeinsam“ übersetzen, gemeint ist also eine Gruppe von Personen, die sich zusammengetan haben, um Macht auszuüben.
(3) Aus The Campaigner, Vol.11, No.10, zitiert nach Lorscheid/Müller: „Deckname Schiller“ S.116
(4) Bnai Brith: dt. „Söhne des Bundes“, ein 1843 in New York gegründeter jüdischer Orden mit ethisch-karitativer Zielsetzung
(5) Siehe www.solidaritaet.com/neuesol/2005/33/larouche.htm
(6) Süddeutsche Zeitung, 5./7. 4. 1986, zitiert nach Beyes-Corleis: „Verirrt“, S.10. Die Trilaterale Kommission ist eine 1973 von David Rockefeller gegründete, ca. 300 Mitglieder zählende Gesellschaft mit dem Ziel, die ökonomischen Beziehungen zwischen den USA, Europa und Japan zu verbessern.
(7) Siehe www.solidaritaet.com/neuesol/2005abo/31/cheney.htm
(8) Siehe dazu lexikon.idgr.de/b/b_u/buergerrechtsbewegung-solidaritaet/bueso.php

Rechts aussen