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EinmalEins für „moderne“ Staatsbürger

Einige schlaue Köpfe haben einmal behauptet, das herausragendste Merkmal der Mo­der­­ne wäre das einer um sich greifenden Berechenbarkeit. Leider haben sie da­­bei über­sehen, dass zu einer richtigen Berechnung auch die jeweils passenden Rechen­mit­tel ge­hö­ren. So kommt es, dass eine anwachsende Menge von Interessenskalkülen in der mo­dernen Welt nicht zu Transparenz sondern zu „Unübersichtlichkeit“ und „Über­kom­plexität“ führt. Der Einfachheit halber könnte mensch auch von einer aus­ufern­den Orien­tierungs­lo­sigkeit sprechen. Das passende Umfeld also, um Eier als Hüh­ner zu verkaufen. Zugespitzt for­mu­liert: Die Moderne unterscheidet sich von allen bis­he­ri­gen Epochen gerade darin, dass sie es ermöglicht, nicht nur Einige oder Viele son­dern Al­le in Dummheit einzulullen.

So wundert es kaum, dass die „modernen“ Volksparteien aktuell versuchen, den gemei­nen Bür­ger für dumm zu verkaufen, indem sie so tun, als gäbe es plötzlich eine völlig neu­­­­ar­tige po­li­tische Debatte um Mindestlöhne und eine Verschärfung des Strafrechts für Mi­­gran­tIn­nen. Dabei reichen schon vier Finger, um das angebliche Neue als Wieder­kehr des ewig Glei­chen darzustellen. Das dritte Jahr der derzeitigen Bundesregierung ist an­ge­bro­chen und damit auch der Vorwahlkampf. Dementsprechend rechnen die gro­­­ßen Wahl­stra­tegen die dumpfesten Vorurteile ihrer Anhängerschaft fürs erste einfach hoch. Mo­bi­li­sie­rung der Stammwählerschaft heißt das dann. Da haben wir einerseits die Rechts­kon­ser­va­tiven, denen der Staat sowieso nie genug Gewalt anwenden kann und die, historisch gesehen, von der CDU bedient werden. Andererseits die Links­so­zia­listen, für die die staatliche Vorsorge selbst dann nicht weit genug geht, wenn der Stadt to­tal be­­stimmen würde, was überhaupt ‚da sein‘ kann bzw. Existenzrechte wie Vollstreckungs-Ti­tel zuspräche. Klassischerweise das Klientel der SPD.

Und ganz logischerweise würde in dieser Gemengelage jeder konkret politische Inhalt die ideologische Integrität der jeweiligen Lager nur ge­­fähr­den. Da darf dann auch ein gewisser Roland Koch (CDU), seit seiner Korruptions-Affäre bekannt als „Schweinchen Babe“, härtere Stra­­fen für „Ausländer“ fordern und dabei auf Schmusekurs zur NPD gehen. Denn wem die wohltätig verteilten Lebensmittelkarten nicht aus­­rei­chen, der wird sowieso nie begreifen, was man hierzulande unter ‚deutscher Leitkultur‘ versteht. Dass in einem „modernen“ Rechtsstaat ein­­zig die Richter am konkreten Fall über die Angemessenheit der Strafe entscheiden, solche Details interessieren im Kampf ums stumpfeste Res­­sen­timent von Rechts so wenig, wie die unliebsame Frage nach den Ursachen, welche eine Kriminalisierung bestimmter Be­völ­ke­rungs­schich­­ten notwendig bedingen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der eiserne Roland nicht verrechnet hat und die Sicherheitsverwahrung von Mi­­grantInnen in Gefängnissen statt in Auffanglagern den Bürger nicht am Ende noch teurer kommt.

Ver­lässlicher ist da schon die SPD. Besser spät als nie hat man sich ausgerechnet, dass die eigenen Arbeitsmarktreformen der letzten Jah­re zu ei­nem massiven Lohndumping und zur Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten geführt und eine Unmenge von Ne­ben­wi­der­sprü­chen in der roten Ecke produziert haben. Peter Hartz, besser bekannt als „Mister VW“, ist ja mittlerweile auch anderweitig straf­rechtlich ver­urteilt. Nach diesen ganzen Pleiten versucht man deshalb jetzt, der völligen Desintegration des eigenen Lagers ent­ge­gen­zu­wirken, indem man der Wäh­lerschaft die Einführung flächendeckender Mindestlöhne suggeriert. Und wer will schon nicht mehr Lohn für Arbeit im Ka­pitalismus. Lei­der scheint man bei der SPD zu vergessen, dass diese Rückkehr zu „ursozialistischen“ Positionen nur dann wirklich wirk­sam wäre, wür­de man auch gleichzeitig zur staatlichen Preiskontrolle zurückkehren. Mal ganz abgesehen vom büro­kra­tischen Aufwand durch­greifender Kon­trollen und der faktischen Aushebelung der Tarifautonomie. Denn letztlich würde dieser Mindestlohn gleich­zeitig in vie­len Fällen der ma­ximale sein und gewerkschaftliche Kämpfe erheblich erschweren. Immerhin: Den Staatsfetisch des links­sozialistischen Klien­tels hat man da­mit punktgenau bedient und welcher ernsthaft engagierte Gewerkschafter wählt heutzutage schon noch SPD.

Was am Ende bleibt, ist die einfache Formel: Aktuelle Debatte minus heiße Luft istgleich Nichts-Neues bzw. zusammengekürzt: Die große Koa­li­tion entspricht dem nationalen Konsens. Dass dieser wiederum die beiden Lager fest umspannt und den Bürger in seinem heißen Traum vom starken Staat bestätigt, das sehen unsere Berufspolitiker zwar sehr genau, aber irgendwie muss man ja zu Wahlkampfzeiten Pro­fil entwickeln. Da­rum die beiden Debatten, fein säuberlich getrennt. Und das Ausweichen auf Anachronismen fällt ja angesichts der Bil­dungsregression gar nicht weiter auf. Gegen solchen Dummfang von CDU bis SPD hilft nur eines: politisches Bewusstsein und mehr Selbst­bestimmung, Widerstand und die Verwaltung der Bedürfnisse aus eig’ner Hand. Das sind die Rechenmittel, um die Manipulation von oben auszuhebeln. Die Volksparteien kön­nen sich derweil ruhig erneut zum Zentrum zusammenschließen, denn solange dieses nie­mand wählt, haben MigrantInnen auch hierzulande Zu­kunftschancen und die Arbeiterschaft die begründete Aussicht, an der eigenen Pro­duktion fair und gerecht beteiligt zu werden.

Lasst Euch also nicht bequatschen und gebt Euch die Mittel selber an die Hand! Post­moderne, you are welcome!

(clov)

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht…

Treffen sich zwei griechische Anarchos. Meint der eine: „Du, wollen wir unsere Mollies lieber am Anfang der Demo oder am Ende werfen?“ Darauf der andere: „Ach, hör bloß auf mit deinem Theoriescheiß!“

Das kam in letzter Minute: Kurz vor dem Ende des Jubiläumsjahres versuchte die griechische radikale Linke noch, ein Remake des Mai `68 auf die Bühne zu bringen. Ganz hat es nicht geklappt, Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Ein wenig dankbar kann mensch den griechischen Anarchist_innen dennoch sein. Immerhin widerlegen sie (im Verbund mit der allgegenwärtigen Finanzkrise) sehr schlagfertig die These vom „Ende der Geschichte“. Ganz so krisensicher ist der Kapitalismus anscheinend doch nicht.

Aber eine Straßenschlacht macht noch keine Revolution, auch wenn die Polizei dabei ausnahmsweise mal den Kürzeren zieht und das Kampfgetöse dabei so laut wird, dass es auch von der „bürgerlichen“ Presse im Ausland nicht ignoriert werden kann. Interessanter als die spektakulären Bilder von brennenden Autos und marodierenden „Chaoten“ ist allemal, was am Rande geschah und geschieht, bei den Besetzung von Universitäten, Rathäusern und Gewerkschaftszentralen. Solche Ansätze einer weitergehenden Selbstorganisierung werden von der Mainstream-Presse lieber ignoriert. Nicht nur, weil es eben nicht spektakulär genug aussieht, wenn Leute gemeinsam diskutieren, wie sie künftig leben wollen, sondern auch, weil gerade das die Leser_innen auf gefährliche Ideen bringen könnte: Das Infragestellen der geltenden Eigentumsordnung ist für unsere Gesellschaft allemal bedrohlicher als ein Angriff auf die Polizei.

Leider scheinen die griechischen Radikalen das gern mal zu vergessen. Das ist auch der große Unterschied zum französischen Mai ‘68. Im Gegensatz zu damals werden eben noch keine Fabriken besetzt. Die Ereignisse in Griechenland mögen also einen ganz netten Aufstand darstellen, ein Auftakt zur demnächst folgenden Weltrevolution sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Aber immerhin rufen sie eine wichtige Tatsache in Erinnerung: Dass Geschichte noch immer das Ergebnis menschlichen Handelns ist – und dass es nicht immer nur die „großen Persönlichkeiten“ sind, die Geschichte machen.

(justus)

enorm abnorm

Stehst Du auf Mangas, sympathisierst mit Cosplay oder stehst gar im schlimmen Verdacht, homosexuell zu sein? Dann hast Du es dieser Tage leicht, der „bizarre[n] Welt des Jonathan H.“ zugerechnet zu werden. Den Anfang November im Leipziger Elsterbecken zerstückelt aufgefundenen Toten nehmen Bild, Dresdner Morgenpost und LVZ derzeit zum Anlass, wieder einmal ihre Ansichten von Norm und Abnorm zu (re)konstruieren. Mit Lügen und wilden Vermutungen über persönliche Verhältnisse und Eigenschaften Jonathans und der schon obligatorischen Täter-Opfer-Umkehr bei deviant markierten Personen wird Jonathan posthum zum sonderbaren Perversling, der zwangsläufig so enden musste. Also Leute, die Ihr in der „Manga-Szene“ oder der „Homosexuellen-Szene“ zu finden seid – Ihr bewegt Euch auf ganz dünnem Eis! War doch schon immer klar. Nun, was uns da außer der Empörung übrig bleibt, ist wohl nur die rücksichtslose Diffamierung aller Bild-, Mopo– und LVZ-Redakteur_innen und ja, auch der Leser_innen als passive Erfüllungsgehilfen dieser Schweinepresse. Oder um es frei nach Max Goldt zu sagen: „Diese Zeitungen sind Organe der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu einer dieser Zeitungen beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel.” Punkt.

(shy)

Heraus zum Sturm aufs „Große Haus“!

Der gemeine Demokratiefan hierzulande verhält sich zur Sub­ven­tion wie der gemeine Schlaraffe zum fliegenden Brathuhn. Bei­­­den ist selbstverständlich, die Quelle all ihres Glücks und Leidens nicht zu erforschen, sondern stattdessen entweder träge dahinzu­düm­peln oder mit aufgeplusterten Backen zu motzen. Und beiden Hal­tungen ist gleich, dass sie einzig an die „unsichtbare Hand“ ei­nes überirdischen Gönners, ob nun Gott, Staat oder ewigen Koch al­ler Köche, glauben wollen. Ähnlich in Leipzig: Da wundert sich der kulturbegeisterte Bürger doch tatsächlich, dass die Stadtver­wal­­tung unter dem Eindruck des allgemein schrumpfenden Staates, Fehl­investitionen, Korruption und der Schuldenbelastung im ge­gen­­wär­tigen Haushalt die sogenannte „Freie Kulturszene“ nur mit we­nig Geldern beschenken will, während der Hauptteil des Kuchens an die großen Bühnen geht. Als wäre es je im Interesse der Verwal­tung gewesen, die „subkulturellen Sümpfe“ jenseits des Zentrums ernst­­haft zu fördern. Klar, wer hätte nicht gern einen Goldesel in der Garage, aber Spott bei­seite, angesichts der sich anbahnenden öko­­logischen Kata­strophen, der geostrategischen Konflikte und wirt­schaftlichen Krisen, ist das Herbeigerede einer Wetterlage, die puren Geldregen brächte, mehr als illusorisch. Das heißt nicht, dass sich alle verkriechen und wir jetzt fortan Kultur hinten anstel­len sollen oder uns diese nicht mehr leisten. Im Gegenteil! Kultur bie­tet genau jenen Raum, wo mit neuen Ideen, Entwürfen und Prak­tiken experimentiert werden kann, sie bleibt ein unerläss­licher Kreativmotor einer lebendigen Gemeinschaft der Men­schen. Und ohne diese, vielmehr als ohne das große Geld, werden wir für die Zukunft schlecht aufgestellt sein. Solidarität und ver­stärkte Bündnisarbeit zwischen großen und kleinen Bühnen und mit der Off-Szene bis hin zum aktiven Zuschauer, das ist das Ge­bot der Stunde. Und es gibt hierfür auch konkret eine Chance, denn wer die „ganze Szene“ im Auge hat, dem wird bereits aufge­fal­len sein, dass die Intendanz am Leipziger Schauspielhaus zur nächsten Spielzeit wechselt. Der Neue heißt Sebastian Hartmann und kommt von der Volksbühne Berlin. Es wird viel umstruktu­riert dieser Tage. Schenkt man den ersten Verlautbarungen Glau­ben, soll das Haus sich weiter öffnen und mehr an Willen /Be­­­dürf­­nissen des Umfeldes orientieren. Die Neue Szene voll­zieht nicht nur einen Namenswechsel zur Skala, sondern soll auch in­haltlich eher eine halböffentliche Experimentierbühne wer­den. In der Spinnerei dagegen entsteht ein festes theater­pä­da­gogisches La­bor namens Spinnwerk. Deshalb meine Empfehlung zum Schluss: Kulturleute die­ser Stadt, macht Euch auf und stürmt die Große Bühne des neuen Centraltheaters, anstatt Euch vom müden Palaver der Stadtoberen ein­schläfern zu lassen!

(clov)

Go, Horst, go!

Manche Ideen sind viel zu naheliegend… Im Januar 2013 sind wieder OBM-Wahlen. Da braucht auch der örtliche CDU-Anhang einen Kandidaten. Und wer wäre dafür besser geeignet als der notorische Horst Wawrzynski? Die CDU und der Polizei­prä­sident – passt wie der Schlagstock aufs Auge.

Zum Glück kann Horst nicht nur die Dirty-Harry-Pose, sondern zur Not auch ultrabrutal menscheln: „Ich kenne die sozialen Brennpunkte, die Sorgen der ‘kleinen Leute’ und die schlechten Straßen. Ich weiß von den Schulruinen, den fehlenden Kitas und vielen anderen drängenden Problemen. Als Polizeipräsident konnte ich das nicht ändern – als Oberbürgermeister werde ich es ändern!“ Wackere Worte. Aber die Sorgen der kleinen Leute lösen sich vermutlich nicht in Luft auf, wenn man mal ordentlich draufhaut…

Aber wenigstens wissen wir jetzt, was diese ständigen „Kom­plex­kontrollen“ sollen. Großrazzien und flächendeckendes Filzen – wenn das keine clevere Werbestrategie ist! Als frischgebackener OBM-Kandidat muss man sich eben um Bürgernähe bemühen. Oder in Wawrzynskis eigenen, erfrischend ungelenken Worten: „Der Dienstleistungsgedanke für den Bürger liegt mir wirklich am Herzen“. Manch Bürger hat sich bei so viel Nähe schon üble Platzwunden zugezogen. Aber Schwamm drüber, „ein Oberbürgermeister ist kein Schönwetterkapitän“, sondern muss „Entscheidungen fällen und Verantwortung übernehmen“. Genau! Knüppel oder Pfefferspray, das ist hier die Frage…

justus

Arbeitgeber aller Länder, vereinigt euch!

Die Wahl ist vorüber, der Koalitionsvertrag steht. In einem sind FDP und CDU sich einig: „Leistung muss sich wieder lohnen“, besonders die Leistung der hart arbeitenden Unterneh­mer_innen. Alle anderen sollen den Gürtel enger schnallen für den Standort Deutschland. Die geplante Steuersenkung von jährlich etwa 14 Milliarden Euro muss ja auch finanziert werden.

Wie der Arsch auf den Eimer passt da das Jammern des früheren Berliner Finanzsenators Sarrazin darüber, „dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“. Sarrazins Forderung: “Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: Weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht.” Damit wiederholt Sarrazin nur, was der englische Ökonom Thomas Malthus schon vor 200 Jahren behauptete: Der Kapitalismus ist kein Problem, die Armen vermehren sich halt nur wie die Karnickel.

Auch Peter Sloterdijk (neben Habermas der populärste deutsche Philosophendarsteller) nutzte die Chance, sich als freischaffender Ideologielieferant zu profilieren. In einem FAZ-Artikel kommt Sloterdijk nach diversen Kreuz- und Querden­kereien zu einem überraschenden Fazit: Das jetzige System sei gar kein Kapitalismus, sondern ein steuerstaatlicher „Semi-Sozialismus“, die Produktiven drohten heute von den Unproduktiven, die Unternehmer von der Unterschicht ausgebeutet zu werden. Von welchem Elfenbeinturm aus Sloterdijk diese drohenden Zeichen der Zeit gesichtet hat, bleibt sein Geheimnis. Im Feuilleton wird er dafür trotzdem als wacker gegen die linke Meinungsdiktatur streitender Freidenker bejubelt. Eben jene, die sonst gern verkünden, der Klassenkampf sei Schnee von gestern, rufen damit zum Klassenkampf von oben auf. Da hilft nur Klassenkampf von unten.

(justus)

Same procedure as every year

Die Abläufe sind bekannt, dennoch ist die Aufregung groß. So führten die Anfang Februar bekanntgewordenen Miß­brauchs­­fälle an einer Berliner Jesuiten-Schule zu regen De­batten über die Zustände in der katholischen Kirche. Ebenso über­raschend scheint die Nachricht über „Ekel-Mutproben“ bei der Bundeswehr die Öffentlichkeit getroffen zu haben. Angehörige eines Gebirgsjägerbataillons sollen Kameraden gezwungen ha­ben, bis zum Erbrechen rohe Leber zu essen und Alkohol zu trin­ken. Derlei Rituale waren Ende der 90er Jahre offiziell untersagt worden (was im Umkehrschluss heißt, dass sie bis dahin gängige Praxis waren), werden aber offenbar weiterhin gepflegt.

Neu ist das nicht. Ebensowenig wie die Art der Reaktion: So beklagte der Wehrbeauftragte des Bundestags, Reinhold Robbe, es gebe wohl ein Alkoholproblem in der Truppe. Ganz ähnlich versuchte Papst Johannes Paul II. abzu­wie­geln, als 2002 Mißbrauchsvorwürfe gegen katholische Priester laut wurden: Die Kirche habe eben ein Problem mit Homosexuellen. Wenn sich der Skandal trotz allem nicht umgehen lässt, wird radikale Aufklärung versprochen, wie es Verteidigungsminister Guttenberg und der Chef der deutschen Jesuiten jetzt tun.

Ändern werden diese stereotypen Reinungsrituale nichts. Dass in einem autoritären Männerverein wie der Bundeswehr Erniedrigungen und merkwürdige Männlichkeitsrituale an der Tagesordnung sind, ist kein Wunder, ebenso wie der Fakt, dass die au­toritären Strukturen der Kirche und das dort gepflegte welt­frem­de Enthaltsamkeitsideal sexuellen Mißbrauch befördern. Die ve­rmeintlichen Auswüchse folgen der inneren Logik dieser Institutionen. Die demonstrative Distanzierung und Abstrafung von einzelnen Übeltätern lässt diese Logik unangetastet und dient letztlich nur dazu, baldmöglichst zum „Normalzustand“ zurückkehren zu können. Dieser Normalzustand ist der eigentliche Skandal.

(justus)

Alle Jahre wieder …

Da 2012 ja (endlich) die Welt untergehen wird, erleben wir dieses Jahr glücklicherweise auch die letzte Fußballweltmeisterschaft und damit eines der nervigsten gesellschaftlichen Ereignisse der postfordistischen Spaßgesellschaft. Neben vielen anderen nationalistischen Happenings sind die alle vier Jahre wiederkehrenden die schlimmsten. Demokratische Wahlen aller Art, die olympischen Sommer- UND Winterspiele, die „Wetterschaukel“ El Niño oder der 29. Februar machen uns in einer Regelmäßigkeit das Leben zur Hölle, die einer PMS locker das Wasser reichen können. Ein Begleiteffekt des internationalen Schwanzvergleichs mit dem ledernen Rund ist DIE mediale Aufmerksamkeit, die einen Mantel des Desinteresses über alle anderen stattfindenden Ereignisse deckt. Das bietet durchaus Möglichkeiten und so werden auch in diesem Jahr parallel wieder allerlei Härten durch den Bundestag gewinkt, die Otto­normalnationalist hinterher so überraschend treffen wie Italien 2006 im Halbfinale. Bleibt zu hoffen, daß die schwarz-rot-goldene Pest sich eher auf Connewitzer Inseln zurückzieht, als gröhlend die Straßen zu überschwemmen.

(shy)

Abgewrackt!

Alles schien so einfach – Die Krankheit heißt „Krise“, der heilende deutsche Tab­lettencocktail „Konjunkturpaket“. Um die ganze Medikation ertragen zu können, sollte die kleine süße „Abwrackprä­mie“ die geballte Chemie dann genießbar machen: Sie galt als finanzielles Schmankerl für die Bevölkerung, die gleichzeitig Milliarden in die Banken fließen sah, als arbeitsplatzerhaltende Maß­nahme für eine Wirtschaft, die stark auf die Automobilindustrie baut, als Me­tho­­de zur Förderung des Umweltschutzes und zudem als taugliches Mittel für die Jagd nach Wählerstimmen. Doch die Pille ist ziemlich bitter geworden: Als „Umweltprämie“ hatte eine autobaufördernde Maßnahme so­wieso nie eine Chance. In einem exportorientierten Wirtschaftszweig kann auch die Förderung von Neukäufen bei deutschen Staatsbür­ger_in­nen den Niedergang einiger Autofirmen nicht aufhalten, sondern maximal hinauszögern. Kurzarbeit ist inzwischen für viele Arbeitnehmer_innen die­ser Branche Realität geworden und die ganzen Leihar­bei­ter_innen, die als Erste abtreten mussten, können sich auch kein neues Auto kaufen. Schluss­end­lich ha­ben auch die Autokäufer inzwischen erkannt, dass sie dabei nicht wirklich Geld spa­ren. So taugt der Beschluss der beiden Koalitionspartner in­zwischen nicht mal mehr zum Wahlkampf, sondern enttarnte sich schnell als Stimmenfang. Was der Name der Prämie andeutet ist also auch inhaltlich Programm: Die Sache ist abgewrackt. Unsinnig, ausge­lutscht, unbrauchbar – auf den Müllhaufen der Geschichte damit. Und obendrein sollten da auch alle diejenigen hin, die immer noch wollen, dass sich der Patient Kapitalismus erholt.

(momo)

60 Jahre deutscher Herbst

Bald ist es soweit. Die Kakophonie des bundesweiten Wahlkampfpalavers wird verstummen, die Tage werden kürzer, die ersten Öfen werden befeuert und die deutsche Staatsgemeinde findet sich ein zum besinnlich-harmonischen Singsang auf das Heil und die neugewonnene Einheit des Reiches … ähm der Nation. 40 Jahre BRD plus 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland, wer würde da nicht die Korken knallen lassen? Und was hat diese geläuterte Republik nicht alles vollbracht: Den Marschall-Plan und das französische Atomschild, den ostdeutschen Un­rechtsstaat, Exportweltmeisterschaften bis zum Abwinken, Siemens, Bayern München, Hartz IV, die Lindenstraße, „sichere Renten“ und Autobahnen bis zum Horizont. All dies und noch viel mehr hat der deutsche Michel geschultert, trotz der fiesen Repa­ra­tionen und trotz der schweren militärischen Verwüstungen zweier Weltkriege. Einfach toll und endlich mal ein echter Grund, stolz zu sein. „Wir“ sind wieder wer! „Wir“ diktieren den Rhyth­mus der europäischen Zusammenarbeit, WIR schaffen die globale Energiewende. „Unsere“ Polizisten und Soldaten sind es, die für Frieden und Freiheit weltweit operieren. „Wir“ sind eben ein moder­nes, fortschrittliches Deutschland. – So oder so ähnlich werden die Demagogen allenorts tönen, wie die Muezzine von ihren Mi­naretten. Teils als Klei­ster zwischen den so­­zialen Schichten, teils als Angstdämp­fer für die Krisenbe­wältigung und deren Zu­mu­tungen. Hauptsache die Opferbereitschaft in der deutschen Gemeinde der Staatsgläubigen steigt. Denn die wird benö­tigt, wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Verwer­tungs­krise die Schwächsten im­­mer zuletzt und am stärksten trifft. In die­­sem Sinne, Leute denkt daran: Wie Geld be­­kanntlich nicht essbar ist, machen warme Wor­te noch keinen gemütlichen Win­ter. Laßt euch durch den grassierenden Na­tio­na­lismus nicht den Verstand ersticken!                

(clov)