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Alles Pop oder was?

Play

„Pop“ oder „Popkultur“ sind allgegen­wärtig und wie immer, wenn jeder ein Wört­chen mitreden will, weiß am Ende kei­­ner mehr genau, worum es geht. Da wird einmal von „Pop“ als Musikstil ge­re­det, dessen populärer Charakter von ei­ni­gen wesentlichen Elementen abhängt: ein­gängige Melodie, saubere Produktion, ein bestimmter Aufbau (Strophe, Refrain, Stro­phe, Refrain…).

Zum anderen gibt es Pop als „Popkultur“. Die lässt sich zum einen gegen die „Hoch­kultur“ abgrenzen: Popkultur erhebt nicht den Anspruch, Kunst zu sein, sie be­­ruht auf industrieller Massenproduk­tion und soll entsprechend massenhaft kon­­sumiert wer­den können. Popkultur wird auch als „Jugendkultur“ verstanden, als expressive All­tagskultur verschiedener Grup­­pen, die sich durch bestimmte Codes voneinander ab­grenzen. Diese Codes umfassen Musik und Kleidung, Em­bleme ebenso wie be­stimmte Wertvor­stel­lun­gen. In der Kul­tur­soziologie wird dies auch als Bricolage be­zeich­net: Vorge­fundene Bruchstücke der Kul­­tur werden an­geeignet und neu zu­sam­men­gefügt – so etwa Iro­ke­senfrisuren und Sicher­heits­na­deln im Punk oder die Klei­dung der briti­schen wor­king class durch die Skinheads Ende der 60er. Die so ent­stehen­den Codes mar­kieren auch einen ge­mein­­sa­men Lebens­stil. Subkultu­ren sind bei ih­rer Entstehung an einen be­stimmten so­­zia­­len Kontext gebunden. So markiert die An­­eignung der Kleidung der britischen Ar­­beiterklasse durch die Skin­heads eine Ver­­bundenheit zu diesem Mil­ieu, ebenso wie z.B. die Entwicklung des Reggae wesentlich von der damit verbundenen Party- und DJ-Kultur der jamaikanischen Soundsystems geprägt war.

Auch gegen diese Subkulturen lässt sich die Popkultur abgrenzen. Die Grenzen sind hier fließend, denn zugleich erhält sie von dort neue Impulse. Zu „Pop“ wer­den die Sub­kulturen, indem sie von ihrem ur­­sprüng­lichen Kontext gelöst und einem Mas­sen­publikum zugänglich gemacht wer­­­den. Die Triebkraft dabei ist der Markt, der die Subkulturen den Bedin­gun­­gen der Mas­sen­produktion unterwirft (wo­­bei hier nicht der Mythos einer „ver­lorenen ur­sprüng­lichen Unschuld“ be­­dient werden soll).

Dies setzt einen widersprüchlichen Pro­zess in Gang: Zwar werden die „Kultur­güter“ der jeweiligen Subkultur zu Massen­produkten, sie bewahren aber einen Teil ihrer Funktion der Abgrenzung nach außen. Dies entspricht einer all­ge­mei­nen Tendenz der Marktwirt­schaft, zum einen Kaufanreize durch eine be­haup­tete „Exklusivität“ des jeweiligen Pro­­duktes zu schaffen, zum andern aber das Produkt möglichst oft verkaufen zu wol­len, wodurch eben diese Exklusivität wie­­der untergraben wird. Dies führt zu ei­ner ständigen Aus­differenzierung des gesam­ten kul­­turellen Feldes.

Rewind

Da die Popkultur so allgegenwärtig ist, kam auch die Linke nicht um die Frage he­­rum, was denn davon zu halten sei. Die Traditions­marxisten, für die die Ökono­mie das A und O war, konnten es sich ein­­fach machen – sie interessierten sich eh nicht für den kulturellen „Überbau“. Falls doch, wurde die Popkultur nur als Aus­­druck bürgerlicher Ideologie gesehen, als Mittel, um das Proletariat zu manipu­lie­ren und ruhig zu stellen. Dieser Sicht liegt freilich nicht nur ein verkürztes Ver­­ständnis von Ideologie zugrunde, wo­nach alle kulturellen Erscheinungen sich un­­mittelbar auf ökonomische Interessen zu­­rückführen lassen. Der Begriff der „Ma­ni­pulation“ unterstellt auch ein weitge­hend passives Publikum, das alles, was ihm angeboten wird, widerspruchslos schluckt.

Die Ende der 60er entstehende Neue Lin­ke dagegen erhielt ihre besondere Form ge­rade durch die Verbindung von Protest­be­­wegung und Popkultur (sie­he auch hier). Zwei Strategien der po­litischen Praxis auf dem Feld der Kultur bil­deten sich dabei heraus: Gegenkultur und Subversion. Eigene Parallel­strukturen sollten aufge­baut und dann von diesen aus das „Es­tablishment“ unter­wan­dert werden. Auf brei­terer Basis wurden die­se Strategien aber erst ab Ende der 70er an­gewendet. Wäh­rend vorher nur ein paar Bands wie Ton, Steine, Scherben ihre Platten selbst ver­öffentlichten, wurde das DIY-(Do-It- Yourself-)Modell mit dem Punk zu einer all­gemeinen Praxis (siehe hier).

Mit dem Anfang der 80er in Groß­bri­tan­nien aufkommenden „New Pop“, des­sen Pro­tagonist_innen zu einem guten Teil durch den Punk sozialisiert worden wa­ren, nahm auch die geplante subversive Un­ter­wanderung des Mainstreams kon­kre­­te­re Formen an. Vor allem die herge­brach­­­ten Geschlechterrollen wurden in Fra­­­ge gestellt. Zu keiner Zeit hatten so vie­le offen homosexuelle Künstler_innen im Popbusiness Erfolge gefeiert – seien es nun die Village People (die sich musika­lisch auf die schon in ihren Anfängen stark von Homosexuellen geprägte Dis­coszene be­­zogen), Frankie Goes To Holly­wood, Bronski Beat oder die Pet Shop Boys. Und auch Heterobands wie Duran Duran sa­hen mit hochtoupierten Haaren und Make-up reichlich feminin aus. Auf der an­­deren Seite standen Künstlerinnen wie Grace Jones mit ihrer androgynen Aus­strah­lung, und Madonna. Der „neue Pop“ war auch eine Gegenbewegung zum Punk, dem aggressiven, mackerhaften Auf­­­treten der Punks wurde ein sauberes, „wei­­ches“ Image entgegengestellt, der be­haup­teten Authentizität des Rock ein be­wusstes Spiel mit Image und Selbst­sti­lisierung.

Vor diesem Hintergrund von Punk und neu­em Pop entstand in Deutsch­land eine Pop­linke, die diese Vorgänge journalis­tisch begleitete. Mit theoreti­schen Be­zügen zu Poststruktura­listen wie Foucault, Baudrillard und Derrida wurde versucht, in den Popdis­kurs zu intervenie­ren. Pop wur­de als Mit­tel begriffen, um in die Ge­sell­schaft hineinzuwirken, In­halte zu trans­portie­ren, wobei gerade der Wa­ren­charakter von Pop als Vorteil angesehen wurde, da über diesen ein brei­tes Publi­kum erreicht werden konnte.

Stop

Heute lässt sich die Linke nicht mehr so gern auf die Popkultur ein. Die Pop­linke ist zum Großteil den Bach runter ge­gangen, das einstige Zentralorgan Spex ver­liert immer mehr Profil, ehemalige Protagonisten suchen sich andere Betäti­gungs­felder. Auch hier in Leipzig lässt sich diese Distanzierung beo­bachten.

„Das Terrain, in dem wir als Conne Island ste­hen, ist verloren, das wissen wir selber“, lautete es etwa im Jahre 2003 vom CI-Plenum (1). Das Zitat stammt aus der Aus­einandersetzung um die Band Mia, die kurz zuvor mit „Was es ist“ eine Loblied auf Deutschland verfasst hatte. Der Auftritt im Conne Island wurde folgerich­tig abgesagt. Aber was ist gemeint, wenn es heißt, man hätte „das Terrain ver­loren?“ Warum wundert man sich darüber, wenn sich falsches Bewusstsein auch im Pop Ge­hör verschafft? Scheinbar hat mensch tat­säch­lich mal an die grenz­über­schreiten­de, in­ternationalistische Di­mension von Pop­mu­sik geglaubt.

Mit der ist es momentan tatsächlich nicht weit her. In Zeiten sinkender Verkäufe be­dient die Musikindustrie lieber ein fest um­rissenes Marktsegment und liefert den na­iven Mittelstandskids etwas, womit sie sich identifizieren können: deutsche Wert­arbeit. Dabei ist es durchaus nicht so, dass der internationalistische Charakter des Pop reine Illusion wäre. Gerade ihre Wa­ren­förmigkeit verleiht der Popkultur einen uni­versellen Charakter – sie soll sich ver­kaufen, und zwar an möglichst viele Men­schen. Aber auch dies wird dem Pop zum Vor­wurf gemacht – meist mit Rück­griff auf Adornos „Kul­tur­industrie“ – Ka­pi­tel in der „Dialek­tik der Auf­klärung“. Popkultur bleibe letztlich in der Wa­ren­form gefan­gen, die alle noch so kri­tischen Inhalte ihrer Substanz beraube.

Das mag so sein. Nur: Warum sollen, wenn sich Pop wirk­lich restlos auf die Warenform re­du­zieren ließe, nicht auch Mia im Conne Island spielen? Warum nicht der Aggro-Berlin-Knallkopf Bushido oder gar die Naziband Landser? Genauer: Wenn die Kulturindustrie kritische, eman­zi­pa­to­rische Inhalte zur beliebig aus­tausch­­baren Chiffre macht, warum gilt das nicht auch für andere Inhalte, also etwa den homo­phoben, sexistischen und sons­tigen Quark, den Bushido abson­dert?

Man kommt also nicht um die Einsicht he­rum, dass es – bei aller Gleichheit in der Wa­renform – im Pop dennoch inhaltli­che Un­terschiede gibt und dass diese eine Rol­le spie­len. Es mag der Plattenfirma egal sein, ob nun Bushido auf Platz 1 der Hit­pa­rade steht oder eine feministische Band wie Le Tigre. Das heißt nicht, dass man das Feld der Popkultur umstandslos dem „Geg­ner“ überlassen sollte. Natürlich ist „Pop“ genauso Teil des kapitalistischen Sys­­tems wie die restliche Ge­sell­schaft auch. Aber gerade das ist ein Ar­gu­ment da­für, das Projekt „Pop“ nicht vor­eilig über Bord zu werfen: Wenn es oh­nehin kein „Außen“ gibt, keinen Bereich der Ge­sell­schaft, der nicht der kapitalis­tischen Lo­gik un­terworfen wäre, dann muss man zur Überwindung der herr­schen­den Zu­stände eben auf das zurück­grei­fen, was die­se Ge­sellschaft anbietet und versuchen, es im ei­genen Sinne zu nutzen.

Dabei muss die ökonomische Basis der Popkultur freilich mitberücksich­tigt wer­den. Das Agieren auf der Dis­kurs­ebe­ne macht nur dann Sinn, wenn es da­­rauf ab­zielt, von dieser Ebene wieder run­ter­zu­kommen, materielle Verände­run­­gen zu er­rei­chen. Alles symbolische Da­ge­gen­sein hat sich letztlich an der Praxis zu be­weisen. Hier liegen auch die Grün­­­de für die Krise der „Poplinken“. Man hat sich in einer men­talen und wirt­schaft­lichen Nische ge­mütlich einge­rich­tet – ein Hinterfragen der eigenen Position ist auch ein ökonomi­sches Risiko. Der Rück­­griff auf kritische The­orie zielt dabei nicht mehr auf Ver­änderung ab, sondern wird zum Abgren­zungs­merkmal: „Wir“ ge­gen die böse Welt da draußen (als würde die sich so einfach aussperren lassen). Künstler­_innen, Jour­nalist_innen und Publikum bestätigen sich dabei wechselsei­tig in ihrer Position.

Fast Forward

Auch beim Pop gilt, dass Pauschalurteile meist am Kern des Problems vorbeigehen. Dass Popkultur „an sich“ emanzipatorisch sei, kann nur glauben, wer die Augen hart­näc­kig vor der Realität verschließt – Pop als total von der Kulturindustrie ver­ein­nahmt zu verwerfen, ist das­ selbe in Grün. Im beiden Fällen er­übrigt sich eigenes Handeln, ent­we­der, weil das „Gute“ ohnehin siegen wird oder weil es eh schon verloren hat. Beides ist Blödsinn: Zu­min­dest von den In­halten her, ist Pop nur das, was mensch draus macht.

Als Mittel zum Beispiel gegen sexistische und rassistische Stereotype hat sich die Pop­­­kultur schon als nützlich erwiesen – ge­rade ihrer „Künstlichkeit“ und man­geln­den „Authentizität“ wegen, als ein Feld, wo Menschen sich bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad selbst aussuchen kön­nen, wer oder was sie sein wollen. Die Ein­­sicht, dass Iden­tität nicht „angeboren“, son­dern Re­sul­tat eigener Entscheidung ist, dass mensch sich sein „Selbst“ durch be­wusste Tä­­tigkeit erarbeitet, entzieht star­ren Rollen­zuschreibungen den Boden.

Das Problem dabei ist, dass solche Zu­schrei­­bungen nicht nur diskursiv erzeugt wer­­den – sie sind auch von materiellen öko­nomischen und politischen Struktu­ren bedingt. Ohne eine grundlegende Ver­än­derung eben dieser lässt sich z.B. sexistische Diskriminierung zwar in ihren Aus­­wirkungen abmildern, aber nicht aus der Welt schaffen. Wenn Popkultur eman­zi­patorisch wirksam werden will, muss sie al­so ihre eigene Bedingtheit durch ma­te­rielle Zwänge mitbedenken. So ist es zu­min­dest eine zwiespältige Sache, wenn bei Bands wie Chumbawamba oder Rage Against The Machine die Ka­pi­talismus­kritik in Warenform daherkommt. Die ka­pi­­talistischen Struk­tu­ren lassen sich nicht ein­fach so für die ei­genen Zwecke über­neh­men – vor allem, wenn es darum gehen soll, den Kapitalismus abzu­schaffen.

Eine mögliche Antwort darauf ist der Auf­bau von eigenen Strukturen, wie es die DIY-Szene tut – im Punk und Hardcore, aber auch in anderen musikali­schen Nischen (freie Improvisa­tion, Industrial usw.). Die Anfang der 90er in den USA entstandene Riot-Grrrl-Bewe­gung (die in den letzten Jahren durch die Lady­feste eine Neuauflage erhielt) ist ein Bei­­­spiel dafür, wie die DIY-Strategien der Selbst­­er­mäch­ti­gung und selbstorganisier­ter Kultur, die Kritik an Sexismus (auch in­nerhalb der eigenen Szene) mit Kritik an Kapitalismus und Herrschaft allge­mein, politisches Engagement und lustvol­ler künstlerischer Ausdruck verbunden wer­den können.

Natürlich findet auch dies im Rahmen der ka­­pitalistischen Gesellschaft statt, gewisse Inkonsequenzen lassen sich also nicht ver­meiden. Der Wert dieser Pra­xis muss sich da­ran messen lassen, wie weit es gelingt, sich den marktwirtschaft­li­chen Spielregeln zu entziehen. Coole Indie-Kleinkapitalis­ten, die ihr Minus an ökonomischem Kapital gegenüber den Majorlabels durch ein Plus an symboli­schem Kapital (Nähe zur Basis usw.) kom­pensieren, gibt es schließ­lich schon genug. Und auch wenn die Indielabels ihre Stel­lung gegen­über den Majors dadurch zu fes­tigen ver­suchen, dass sie sich als die „besseren“ Ka­pi­talisten in Szene setzen, ist die einstige Front­stel­lung zwischen „Indie“ und „Major“ ohne­hin längst bis zur Unkennt­lich­keit auf­geweicht – nicht umsonst sind die meisten be­deutenderen Indielabels wie SubPop, City Slang oder L´Age d´Or längst nur noch Unterabtei­lungen der großen Majors. Und selbst wenn das (noch) nicht der Fall ist, sagt es nichts über den eman­zi­patorischen Gehalt des eigenen Han­delns aus, wenn man zu­fällig etwas weni­ger verdient als an­dere.

DIY dürfte auch der technologischen Entwicklung wegen an Bedeutung gewin­nen. Dank der Compu­ter­tech­nik ist es heute kein Problem mehr, Mu­sik in guter Qualität und zu niedrigen Kos­ten aufzu­neh­men, und das Internet macht es mö­glich, diese ohne den Umweg über eine Plattenfirma allgemein zugäng­lich zu ma­chen. Während die Musikindus­trie da­durch in eine Krise gerät, deren Ausgang noch unklar ist (siehe Seite 30), öffnet sich hier ein neues Feld für einen lebendi­gen Untergrund, für experimentelle, inno­vative Musik ebenso wie für eine Praxis, die politische und künstlerische Belange mit­einander zu verbinden ver­sucht.

(k.rotte & nils)

(1) den dazugehörigen Text könnt ihr unter www.conne-island.de/nf/105/17.html nachlesen.

Revolte im Kulturpalast

1968 und die Popkultur

Popmusik wird seit jeher mit dem Auf­begehren in Verbindung gebracht, wenn schon nicht gegen die Gesellschaft als sol­che, dann immerhin gegen die Elternge­neration und ihre Regeln. Das fing schon bei Elvis an, der für manche konservative Zeit­genossen seine Hüften doch etwas zu auf­reizend kreisen ließ. Diese hatten in den 60er Jahren noch weit mehr Grund zum Kopfschütteln, denn gemessen an dem, was dieses Jahrzehnt an gewagten Fri­suren, Experimenten mit freier Liebe und exzessivem Drogen­konsum mit sich brach­te, erschien Elvis als reinster Muster­knabe.

Man mag von dieser Verbindung von Pop und Rebellion halten, was man will – Fakt ist, dass eben sie einen wesentlichen Teil des Reizes von Popmusik ausmacht. Heu­te scheint diese Beziehung von Rebellion und Pop fraglich geworden zu sein – Pop scheint sich ins System integriert zu ha­ben. In den späten sechziger Jahren sah das noch anders aus. Da schien die Verbindung von Rock´n´­Roll und Revo­lu­tion so naheliegend, dass etwa Jerry Rubin, ein Sprecher der US-amerika­nischen Polit-Hippies (der so­genann­ten Yippies) sagen konnte: „Die Neue Linke, ein auserwähltes, angekotztes Kind, entsprang dem kreisenden Becken von Elvis“ (1). 1968 schienen symbo­lisches und ganz reales Aufbegehren, Rock´n´­Roll und politischer Protest untrennbar verbunden.

Der Mythos 1968

1968 gilt als gesellschaftliche Aufbruchs­zeit, als „Kulturrevolution“ oder „nach­träg­­liche Entnazifizierung“ der deutschen Ge­sell­schaft – als Modernisierungsschub al­so, der den Weg frei machte für unsere heu­tige „rundum demokratische“ Gesell­schaft. Dieses Bild wird – gerade heute zum 40. Jubiläum – von Fernsehen und Presse immer wieder gern bedient. Dabei wird freilich säuberlich getrennt zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ ´68: Neue Lebensformen und Frisuren, das Aufbe­geh­ren gegen starre Strukturen und den Krieg in Vietnam werden bejubelt, revolutionäre Bestrebungen, Kommu­nismus und RAF verteufelt.

Nicht, dass es an der RAF viel zu glorifi­zieren gäbe. Aber dabei wird auch alles andere entsorgt, was über den Status quo hinausweisen könnte. Ehemalige Akteure wie Rainer Langhans, der sich vom Aushängeschild der Kommune 1 zum hirnweichen Esoteriker zurückent­wickelt hat, kommen da zu neuen Ehren. Die dahinter stehenden Bedürfnisse sind offensichtlich, schließlich entstammen auch viele Journalisten dieser Generation. So kann man sich wechselseitig auf die Schultern klopfen und sich versichern, dass in der von einem selbst so erfolgreich modernisierten Gesellschaft jede weitere grundsätzliche Opposition überflüssig sei. Indem man „68“ auf flower power, ein bisschen Sex (Uschi Obermaier!), Drugs und Rock´n´Roll reduziert (plus ein paar unverbesserliche Fanatiker, die sich vortrefflich in der Rolle der „bad guys“ machen), verwandelt man es in ein leicht verdauliches Produkt, das nirgendwo für Magengrimmen sorgt.

Dabei ist nicht alles falsch, was da ge­schrieben wird. Die „Modernisie­rungs­these“ hat es längst zu akade­mischen Ehren ge­bracht. „68“ ist dem­nach im Zu­sammen­hang mit der sozio­öko­nomi­schen Ent­­wick­lung der Nachkriegsgesell­schaft zu sehen, als eine Bewegung, die nur unter den Bedingun­gen ei­ner voll ent­wick­el­ten for­disti­schen Produk­tions­weise ent­stehen konn­te. Jedenfalls gewann der Kon­sum­sek­tor in den westlichen Indus­triestaaten nach 1945 rapide an Bedeu­tung. Die zunehmende Rationalisierung und Auto­ma­ti­sie­rung der Arbeit führte zu enormen Pro­duktions­zuwächsen. Auf der anderen Sei­te hatte der Krieg mit seinen Millionen Toten und dem anschließenden Wieder­auf­bau für weite Teile der Bevölke­rung einbe­zie­hendes Wirtschafts­­wachs­tum mit geringer Arbeitslosenzahl gesorgt. Hin­zu kam der „Kalte Krieg“, der es not­wendig machte, die „Arbeiterklasse“ mit „so­zialpartnerschaftlichen“ Mitteln ruhig zu stellen. Ein starker Mittelstand bildete sich heraus, traditionelle Klassenverhält­nisse wurden aufgeweicht.

Dies äußerte sich in einer enormen Stei­gerung des Einkommens. Der Freizeit- und Konsumsektor gewann gegenüber der Pro­duktion an Bedeutung. Dies führte zu Konflikten zwischen der jüngeren Genera­tion und den in ihren Werten noch stark der Sphäre der Produktion verhafteten El­tern. Dazu trug auch die rasch wachsende Massenkultur und die aufkommenden Massen­medien bei.

Macht kaputt, was euch kaputt macht

Die wachsende Bedeutung der Massen­me­dien hatte Adorno schon in den 40er Jah­­ren erkannt. Die positive Sicht der Kon­­sumsphäre als „Reich der Freiheit“ teil­­te er jedoch keineswegs. Für ihn war die von der „Kulturindustrie“ verwaltete Frei­zeit nur der Bereich der Reproduktion als notwendiges Gegenstück der Produk­tion: „Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie (…) ver­spricht, ist es bestellt wie mit der Entfüh­rung der Tochter im amerika­ni­schen Witz­blatt: der Vater selbst hält im Dun­keln die Leiter. Kulturindustrie bietet als Pa­­radies den­selben Alltag wieder an“ (2).

Die französischen Situationisten sahen das ähn­lich, widersprachen aber Adornos pessi­mistischer Einschätzung der Perspek­ti­ven. So sahen sie schon 1957 einen „Kampf um die Freizeit“ sich vollziehen, „dessen Bedeutung für den Klassenkampf nicht genügend analysiert wurde. Heute ge­lingt es der herrschenden Klasse, die Frei­zeit zu nutzen, die das revolutionäre Pro­letariat ihr abgerungen hat, indem sie ei­nen breiten industriellen Freizeitsektor entwickelt, der ein unübertreffliches Werkzeug zur Ver­dummung des Proleta­riats durch Sub­produkte der mystifi­zierenden Ideolo­gie und des bürgerlichen Geschmacks dar­stellt“ (3).

Diesen lückenlosen Zusammenhang des „Spektakels“ galt es zu durchbrechen, passive Konsumenten in aktive Gestalter ihres eigenen Lebens umzuwandeln. Im Gegensatz zur vulgärmarxistischen „Ver­elen­dungs­theorie“ (die Leute machen Re­volution, wenn es ihnen schlecht genug geht), sahen die Situa­tionisten gerade im An­wachsen von Kon­sum und Freizeit die Mög­lichkeit zur Ent­­­ste­hung poten­tiell sys­tem­spren­­gender Be­­dürfnisse. Die­se galt es bewusst zu ma­chen und zu stär­ken.

Die amerikani­schen Yippies hau­­ten zehn Jah­­­­re spä­ter in die glei­che Kerbe: „Sie [die in­tellek­tuellen Radikalen] er­klären uns, dass nach den Gesetzen des Mar­xismus Re­vo­lution nur aus der wirt­schaft­lichen Aus­beu­tung er­wächst. Ei­ne Revo­lution wird es nur dann geben, wenn es zu einer neuen wirt­schaft­lichen De­pres­sion kommt. Für uns – eine revo­lutionäre Be­wegung, die nicht aus der Armut, sondern aus dem Überfluß entstand – bieten ihre The­orien keine Erklärung. (…) Die Yippies betrachten die weiße Mittelstands­jugend als eine revo­lutionäre Klasse. (…) Der Kapitalismus wird untergehen, weil er seine eigenen Kinder nicht zufrieden stellen kann“ (4). In der situationistischen Theorie einer „Ökonomie der Bedürf­nisse“ könnte der Schlüssel zum Verständ­nis der Ereignisse liegen.

Gegenkultur

Fakt ist, dass ab Mitte der 60er ein deutliches Anwachsen dissidenter Verhal­tens­wei­sen in der Jugend der westlichen Staa­ten zu verzeichnen war. Popkultur war da­bei das Mittel der Wahl, um die Frontstellung zur Elterngeneration deut­lich zu machen. Eine „Gegenkultur“ ent­stand, zunächst in den USA, bald auch in Europa, die sich u.a. mit Underground­zeitschriften, Comics, Land- und Stadt­kom­mu­nen usw. eigene Infra­struk­turen und Ausdrucksformen schuf. Der Rock­´n´­Roll spielte dabei eine wichtige Rolle. Diese „Gegenkultur“ verstand sich nicht unbedingt poli­tisch. Es ist auch relativ gleichgültig, ob Musiker wie die Rolling Stones selbst irgendwelche kultur­revolu­tionären Ab­­sichten hegten oder deren ju­gendliche Hö­rer z.B. mit dem Tragen lan­ger Haare ein politi­sches State­ment ma­chen woll­ten – die „Gegen­kultur“ definierte sich eher durch einen bestimm­ten Lebensstil als durch eine Ideo­logie.

Von der El­tern­­ge­ne­ra­tion wur­­­­de sie ge­rade des­halb als An­griff auf ihre her­ge­­brach­ten Wer­te verstan­den, z.B. auf die gän­gige Ge­schlech­ter­ord­nung. Die Frisur wurde zum Kampf­platz, als hätte man damit den archimedischen Punkt der Gesellschaft ge­troffen. Die Palette der Reaktionen reichte von Beschimpfungen über Entlassungen am Arbeitsplatz bis zur „pädagogischen“ Körperverletzung vom familiären Patriar­chen – und mitunter noch ein Stück weiter. Symptomatisch ist dafür ein Interview, welches geführt wurde, nach­dem im Mai 1971 auf dem Campus der Kent State University (Ohio) vier De­mons­trant­­Innen von der Nationalgarde ge­tötet worden waren:

 

„Mutter: Jeder, der sich in den Straßen einer Stadt wie Kent mit langen Haaren, dreckigen Klamotten oder barfuß blicken lässt, verdient es, erschossen zu werden.

Frage: Ist langes Haar ein Grund, er­schossen zu werden?

Mutter: Ja. Wir müssen diese Nation reinigen, und wir werden mit den Lang­haarigen anfangen.

Frage: Würden Sie es gutheißen, dass einer Ihrer Söhne erschossen wird, nur weil er barfuß herumläuft?

Mutter: Ja“ (5).

 

Die Weigerung, sich den gängigen Ver­haltensmustern anzupassen, die Haare zu schneiden, einer geregelten Arbeit nachzu­gehen, usw. wurde als Angriff auf die Grundfesten der Gesellschaft ange­sehen, eine Bedrohung, der es mit allen Mitteln zu begegnen galt. Da das „Estab­lishment“ selbst harmloseste Regelver­stöße mit Repression beant­wortete, war es nicht verwunderlich, dass die „Gegen­kultur“ sich zunehmend politisierte. Wenn simpler Hedonismus diese Gesell­schaft zu solchen Reaktionen veranlasste, muss­te diese grundlegend verändert wer­den. Das Glücksversprechen der Konsum­ge­sell­schaft sollte real ein­gelöst werden.

Auch Drogen wie LSD spielten dabei eine wic­h­tige Rolle, eine Entwicklung, zu der der ehemalige Harvard-Professor Timothy Leary einen entscheidenden Beitrag leis­te­te. Das „psychedelische Programm“ könn­­te man als „Rousseau´sche Revolte“ be­­zeichnen: Gesellschaft und Erziehung ent­­fremden demnach den Menschen von sei­­nem wahren Selbst, was wiederum zu des­­truktiven Verhaltensweisen führt. Dro­gen wie LSD können dazu dienen, diese Kon­­ditionierungen rückgängig zu machen und so einen grundlegenden gesell­schaft­lichen Wandel hervorrufen. Auf lan­ge Sicht führte dieser Ansatz zu einer un­po­litischen Neo-Mystik, die das indivi­duelle Bewusstsein als Dreh- und Angel­punkt ausmachte und folglich glaubte, sich mit der Veränderung materi­eller Struk­turen gar nicht erst aufhalten zu müssen.

Eine gewisse Zeit gingen der Konsum psy­chedelischer Dro­gen und politische Ra­dikalität aber gut zusammen. Auch in der Mu­sik schlug sich dies nieder, Bands wie Pink Floyd wurden mit eks­ta­ti­schen Endlos-Soli und neu­artigen Sound­effek­ten zu Aushänge­schildern des Psy­chedelic Rock.

Gegen die Arbeit

Drogenkonsum bedeutete auch eine Verweigerung gegenüber den Leistungs­forderungen der Gesellschaft. Dies ver­band sich gut mit einem Programm der all­gemeinen Arbeitsverweigerung, wie es die Antiautoritären praktizierten. Eben dies wurde ihnen von sozialdemokrati­schen und marxistisch-leninistischen Traditions­linken immer wieder vorgewor­fen. Die amerikanischen Yippies hatten für diese An­griffe nur Spott übrig: „Die Yippies wer­den die Linke erst dann ernstnehmen, wenn sie anfängt, Comic-Hefte zu drucken. Wir müssen Politik so einfach machen wie Rock´n´Roll-Texte. (…) Die Lin­ke macht den Kommunismus zu einer Re­ligion (…) Ein christlicher Trip von vorn bis hinten. Lernen und Opfer brin­gen für die Revolution. Das Leiden wird dich und die Arbeiterklasse befreien“ (6).

Wahr­scheinlich lag das Scheitern der Re­volte auch darin begründet, dass die Arbeiterklasse gar nicht befreit werden wollte. Außer in Frankreich, wo sich die Arbeiter_innen mit wilden Streiks und Fabrikbesetzungen dem Protest der Stu­dent_innen an­schlossen, wurde die Bewe­gung vorrangig von subprole­ta­rischen und (klein)­bür­ger­lichen Grup­pen­ getragen. Ein ernsthafter Angriff auf die Grundlagen der kapitalis­tischen Öko­nomie war so nicht möglich. Auch dies hat der Be­wegung von 1968 den Cha­rakter einer „Kulturre­volution“ gegeben – der Revolte blieb als Be­tätigungs­feld nur die Kultur übrig. Die weitgehende Wie­der­ein­gliederung der gegenkulturellen Be­strebungen ins „Sys­tem“ war somit unvermeidlich.

Allein durch Hedonismus und Verwei­ge­rung ließ sich die kapitalistische Gesell­schaft nicht überwinden. Diese erwies sich als anpassungsfähiger als erwartet – die Verweigerung wurde ignoriert, vom He­donismus das übernom­men, was für die ei­genen marktwirt­schaftlichen Zwecke brauch­bar war. Dennoch verdient es ge­rade dieses he­donistische Element der 68er-Revolte, be­wahrt und gegen den Irr­glauben verteidigt zu werden, die Ernst­haf­tigkeit einer Hal­tung beweise sich durch den Grad an Lei­den, der damit ein­hergeht. `68 war auch ei­ne Revolte gegen die Arbeit, für ein lust­volles, selbstbe­stimmtes Leben – darin liegt ihr emanzi­pa­­torischer Gehalt, den es gegen alle Befürworter_innen von „revolu­tionärer“ Askese und Märtyrertum stark zu machen gilt. Denn (um hier einen situatio­nistischen Slogan zu zitieren, der im Mai 1968 an vielen Pariser Häuser­wänden zu finden war) „wir machen die Revolution schließlich nicht, um arm zu bleiben“.

(k.rotte & nils)

 

(1) zitiert nach Helmut Salzinger, „Rock Power – wie musikalisch ist die Revolution?“, Seite 8, Fischer Taschenbuch Verlag, 1972.

(2) zitiert nach Horkheimer/Adorno „Dialek­tik der Aufklärung“, S.162, Reclam 1989.

(3) „Rapport über die Konstruktion von Situatio­nen“, zitiert nach „Beginn einer Epoche“, S. 40-41, Edition Nautilus 1995.

(4) Salzinger 1972, S. 127.

(5) zitiert nach Penny Rimbaud, „The last of the hippies“, zuerst erschienen im Booklet der „Christ – The Album“-LP von Crass.

(6) Jerry Rubin, zitiert nach Salzinger 1972, S. 126.

Antreten zum Zapfenstreich

Das Problem ist bekannt: Eigentlich steht die Linkspartei ja für alles Gute und Schöne ein – beim ersten Anzeichen von Erfolg jedoch werden die eigenen Ideale schnurstracks über Bord geworfen. Auch der Leipziger Ordnungs­bürger­meister Heiko Rosenthal (Die Linke.) hat seine Lektion in Sachen staatstragendes Ja-Sagen gelernt. Ob es um den Kampf gegen Grafitti-Sprayer geht, oder darum, Neonazi-Demonstrationen möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen (siehe FA! #28), Sach­zwangs­ver­walter Rosenthal ist mit dabei. Was muss, das muss halt. Wie dieses Prinzip sich in der Praxis äußert, konnte mensch nun beim Leip­ziger Bürgerfest beo­bachten. Bei diesem war auch die Bun­deswehr vor Ort, um für ihren Ver­ein die Werbetrommel zu rühren und der ört­lichen Jugend zu erklären, dass der Tod für´s Vaterland vielleicht doch eine ernsthafte Alter­na­tive zu einer Existenz als Hartz-IV-Empfänger wäre. Einige junge Menschen, die dagegen protes­tier­ten, wurden von Feldjägern und Security gewaltsam des Platzes verwiesen. Heiko Rosen­thal hingegen ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit Ge­neral­­major Reinhard Kammerer ein Bierfass anzu­zapfen. Muss ja. Auch der Standort Leipzig wird schließlich am Hindukusch ver­teidigt. Hirn aus­schalten, gerade halten, in die Ka­meras der lokalen Presse grinsen und ver­suchen, dabei möglichst staats­män­nisch auszu­schauen: So klappt´s auch mit der SPD.

(nils)

Kameras gegen Angstgefühle

Die Folgen des Streits vor der Disko­thek „Schauhaus“, der Anfang März diesen Jahres zu heftigen Auseinander­set­zungen zwischen Jugendlichen, Türste­hern und Polizei in der Leipziger Innen­stadt führte, bei denen ein Unbeteiligter erschossen wurde, sind längst noch nicht überwun­den. Wie man das erschütterte Sicherheits­empfinden der Bürgerinnen und Bürger wieder herstellen könne, war das Thema einer Sitzung des Leipziger Stadt­rats am 18. Juni. Die Stadt­rätin Peggy Liebscher (CDU) stellte dabei einen Antrag, wonach erstens ein „vollumfängliches Si­cher­heits­konzept“ erarbeitet und zweitens geprüft werden sollte, ob an „Krimi­nali­täts­schwerpunkten in Leipzig zusätzliche Video­über­­wa­chungs­technik zum Ein­satz kom­men“ könne. Die Stadt­ver­waltung habe be­reits er­klärt, bis Ende des Jahres „ein Sicherheitskonzept zu den Schwer­punk­ten Fußball und Sicherheit sowie Sau­berkeit und Ordnung vorlegen“ zu wollen. Auch die rechtlichen Möglich­keiten zur Ausweitung der Videoüber­wachung sollten geprüft werden.

Der Sprecher der SPD, Claus Müller, be­an­tragte eine getrennte Abstimmung der beiden Punkte des Antrags. Die Fraktion schließe sich der Forderung nach Er­arbei­tung eines Sicherheitskonzepts mehrheit­lich an – die Ergebnisse müssten in eine noch zu erarbeitende Polizeiver­ordnung ein­fließen. Dass im Umfeld von Fußball­spie­len und Demonstrationen rechtsextre­mistischer Gruppierungen, „aber auch zu Silvester in bestimmten Stadtteilen“ ein großer Aufwand betrie­ben werden müsse, um die „Sicherheit unbe­tei­lig­ter Bürger“ zu gewährleisten, sei nicht mehr hinnehm­bar. Bei der Video­über­wachung müssten aber die Kompe­tenzen klar verteilt sein: Eine Über­wachung des öffentlichen Rau­mes sei nur der Polizei erlaubt. Deren Aufgabe, und nicht die der Stadtverwaltung, sei es im übrigen auch, nach geeigneten Standorten für neue Kameras zu suchen.

Der Sprecher der Linken lehnte die Forderung nach mehr Videoüberwachung ab, da es längst erwiesen sei, dass diese nicht mehr Sicherheit bringe. Auch die Fraktion der Grünen sprach sich dagegen aus – mehr Polizeistreifen seien schließlich ein wesentlich effizien­te­res Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Bei der ab­schlie­ßenden Abstimmung wur­de die Forderung nach mehr Videoüber­wa­chung abgelehnt, die Erarbeitung eines Sicher­heits­konzepts mehrheitlich ange­nom­­men. Ein erster Entwurf soll bis zum Ende des Jahres von Ordnungsbürger­meister Heiko Rosenthal (Die Linke.) vorgelegt werden.

(nils)

Für „Todesstrafe“ und „Nationalen Sozialismus“

Dass Neonazis jeden Fall von Kin­des­missbrauch für die eigenen Zwecke aus­schlachten und mit simplen Rezepten die Mehrheitsmeinung für sich zu ge­win­nen versuchen, ist nichts Neues. Der Fall der Ermordung der achtjährigen Michelle bekommt dadurch zusätzliche Brisanz, dass es sich beim Opfer zufällig um die Nichte von Istvan Repaczki han­delte, einem der Hauptakteure der Freien Kräfte Leipzig.

Repaczki und die Freien Kräfte nutzten die Gelegenheit und organisierten für den 21.8. einen Trauermarsch. An einem wei­te­ren Trauermarsch vier Tage später nah­men etwa 600 Menschen teil. Die trauern­den Bürger_innen ließen sich dabei von den zahlreich anwesenden Neonazis nicht stören. Dem Vorwurf einer politischen In­strumentalisierung des Falles widerspra­chen sie mit folgender Be­grün­dung: „Das Mitführen von Transparenten auf denen die Todesstrafe für Kinder­schänder ge­for­dert wird, ist angesichts des tra­gi­schen Er­eignisses vollkommen legitim. Di­ver­se Par­teifahnen, Flugblätter oder sonstiges sind unserem Kenntnis­stand zur Folge, nicht mitgeführt worden“ (1). Offen­sicht­lich ist es mit dem Ge­dächt­nis der Kame­ra­den nicht weit her – oder sie halten Trans­parente mit der Aufschrift „Natio­na­ler Sozialismus jetzt“ für unpolitisch (2). Zu­dem wäre es keinen Deut besser, wenn man sich tatsächlich „nur“ auf die For­derung nach „Todesstrafe für Kinder­schänder“ beschränkt hätte. Fakten wie die fehlende Wirkung solcher Maßnahmen auf Triebtäter werden dabei standhaft ig­no­riert, ganz abgesehen davon, dass die mög­liche Perspektive einer Gesellschaft, die sich anmaßt, Menschen ihr Existenz­recht abzuerkennen, keine besonders er­freu­liche ist. Politisch weitaus wirksamer sind da schon eher platte Parolen, die Er­schütterung und Wut in Rachsucht ver­wan­deln und mit der Angst der Bevöl­ke­rung spielen.

Die massive Präsenz von Neonazis bei den De­monstrationen konnten auch die Me­dien auf lange Sicht nicht ignorieren. Nach­dem Bürgerinitiativen und Antifa auf das Problem aufmerksam machten und sich sogar die Eltern der Ermordeten von dieser Sorte „Anteilnahme“ dis­tan­zier­ten, trennte sich die Spreu vom Weizen. An einer weiteren Kundgebung am 1. Sep­tember – ironischerweise ebenfalls zum Weltfriedenstag und zeitgleich zur Ver­lei­hung des Friedenspreis „LEIPZIG GEGEN KRIEG“ – nah­men etwa 280 Neo­nazis teil, die „Nor­mal­bürger_innen“ blie­ben diesmal wei­­test­gehend fern.

Die öffentliche The­matisierung war bit­ter nötig, immerhin sind Re­pacz­ki und die Frei­­en Kräfte Leip­­­zig keine Unbekannten mehr und bisher nicht durch übermäßig men­schen­freun­d­liches Ver­halten auf­ge­fallen (siehe FA! #28 und #29). So muss­te sich Repaczki Mit­te Juli, im Zu­sammen­hang mit einem Überfall auf das AJZ Bun­te Platte im letz­ten Jahr, vor Ge­richt ver­antworten. Er wurde beschuldigt, eine kör­perlich be­hin­der­te junge Frau als „ge­ne­tischen Dreck“ beschimpft und ge­äußert zu haben: „So was wie euch hätte man früher ins KZ gesteckt.“ Am Ende wurde Repaczki freigesprochen, das Ge­richt sah es nicht als erwiesen an, dass tat­sächlich er die be­tref­fenden Äußerungen von sich ge­geben hatte. Die Aussagen der Polizei und der Betroffenen seien wider­sprüch­lich, zudem seien die Angreifer bei dem Überfall ver­mummt ge­wesen. Die Staats­anwaltschaft erklärte dagegen, durch seine Brille sei Repaczki zwei­felsfrei zu identi­fizieren ge­we­sen. Im November sollen er und weitere Mitglieder der Frei­en Kräf­te wegen der bei dem Über­fall be­gan­gen­­en Kör­­per­ver­letzung erneut vor Gericht stehen.

(momo & nils)

(1) de.altermedia.info/general/ganz-leipzig-trauert-um-michelle-260808-2_15837.html, alle Fehler im Original

(2) Siehe: de.altermedia.info/general/achtjahrige-michelle-ermordet-220808_15747.html