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Denk ich an Dessau in der Nacht…

Ob mit Nazi-Demonstrationen, rassistischen Vorfällen, einem rechtslastigen Fußballverein, polizeilichem Fehlverhalten oder fragwürdigen Gerichtsent­schei­dungen – die Vielfalt und die Hartnäckigkeit mit der sich die Stadt Dessau in den Negativschlagzeilen hält ist beachtlich, wenn nicht gar rekordverdächtig. Traurige Höhepunkte bildeten zwei Todesfälle, die auch überregionale Beachtung fanden: Alberto Adria­no, der im Jahr 2000 von Neonazis zu Tode geprügelt wurde und Oury Jalloh, der 2005 unter weiterhin ungeklärten Umständen im Gewahrsam in einer Polizeizelle verbrannte.

Diese „Dessauer Verhältnisse“, so die Sammelbezeichnung im lokalen linksalternativen Spektrum (1), lassen auch hartgesottene Kenner der (ost)­deu­­tschen Provinzgesellschaft schockiert und kopfschüttelnd innehalten. „Den rassistischen Konsens brechen, Dessauer Verhältnisse angreifen!“ war dann auch das Motto einer Demo, an der Ende Februar diesen Jahres einige hundert Leute teilnahmen. Es hätten einige Tausende sein müssen. Verdient wäre es in jedem Fall.

Vorangegangen waren zwei Ereignisse, die in keinem direkten Zusammenhang miteinander stehen, die aber eben genau dort gründen, wo in Dessau so vieles verortet ist: im ganz banalen einvernehmlichen Rassismus.

Das eine Ereignis bezieht sich auf den Polizeieinsatz bei der diesjährigen Demonstration zum Gedenken an Oury Jalloh am 7. Januar. Hier war die Polizei massiv gegen Personen vorgegangen, die die Parole „Oury Jalloh – das war Mord!“ skandierten. Dabei wurde unter anderem der Anmelder der Demonstration, der Guineer Mouctar Bah, bewusstlos geschlagen. Dieser hatte sich in den vergangenen Jahren sehr offensiv in einer Initative für die Aufklärung der Todesumstände Jallohs eingesetzt. Und diese Forderung beinhaltet nun einmal, dass von Seite der ermittelnden Behörden auch die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, dass Jalloh sich damals 2007 nicht selbst angezündet hat, wie immer behauptet, sondern von den anwesenden Beamten getötet wurde. Eine schwerwiegende Forderung angesichts der möglichen Konsequenzen, der wohl auch deshalb bis heute nicht nachgekommen wurde. Und eine Forderung, die bei der Polizei auf wenig Gegenliebe stößt. Weshalb diese nun offenbar den Zeitpunkt für gegeben sah, zurückzuschlagen und den Störenfrieden mal zu zeigen, wo der Hammer hängt.

Das hier gezeigte Ausmaß polizeilicher Repression hat nicht nur szeneintern für Empörung gesorgt. Der direkte Zusammenhang mit dem immer noch laufenden Prozess zum Fall Oury Jalloh hat auch verschiedene NGOs und einige Parteipolitiker zu deutlicher Kritik angeregt. Diesen zufolge hat die Dessauer Polizei willkürlich und ohne irgendeine rechtliche Handhabe die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Demonstrant_innen missachtet. Es werden zudem rassistische Motive vermutet. Das einzig Gute an der ganzen Sache: Neben der Kennzeichnungspflicht von Beamten im Einsatz wird nun von verschiedenen Seiten auch die Einrichtung einer unabhängigen Ermittlungsinstanz im Falle von polizeilichem Fehlverhalten gefordert.(2)

Das zweite Ereignis, das den Auslöser für die Demonstration im Februar lieferte, war eine Messerstecherei Mitte Januar in der Dessauer Innenstadt. Hier soll ein afrikanischer Asylbewerber einen Mann schwer verletzt haben – ausgerechnet einen Spieler eben jenes lokalen Fußballvereins ASG Vorwärts, bei dem sich Neonazis nicht nur im Fanblock tummeln, sondern auch im Verein, als Trainer und Spieler (3). In Folge des Vorfalls kam es gleich zu zwei Demonstrationen, die von stadtbekannten Angehörigen des rechten Spektrums initiiert wurden und an denen auch viele Neonazis teilnahmen, die sich mit Sprechchören auch deutlich zu erkennen gaben. Zu diesen gesellten sich auch unzählige vermeintlich „normale Dessauer Bürger“ , die die Gelegenheit nutzten, ihrer Wut gegen Gewalt und Kriminalität von Ausländern im Besonderen und Allgemeinen Luft zu machen.

Das ohnehin schon abweisende Klima gegenüber Minderheiten und ganz besonders gegenüber „den Negern“ – sowas hört man in Dessau häufiger – hat sich also nochmal verschlechtert. Und so schloss der Aufruf zur Februar-Demo auch folgerichtig: „Angesichts dieser neuen Dimension des rassistischen Normalzustandes ist eine klare, antifaschistische und antirassistische Intervention in der Stadt von Bauhaus und Zyklon B bitter nötig.“ Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer Unterstützung. Ja, die hat Dessau verdient. Nicht weil es Dessau ist, sondern weil sich hier ein paar Menschen weiterhin gegen die herrschenden Zustände auflehnen, sich nicht mit ihrer Opferrolle abfinden, sondern sich zusammenschließen und ihren Ansichten Ausdruck verleihen. Vor allem auch deshalb, weil es in unserer zersplitterten, zerstrittenen und von Zweifeln geplagten Szene so selten passiert, dass Mi­grant_innen, Antifa und antirassistische Initiativen nicht nur das gleiche fordern, sondern tatsächlich gemeinsam aktiv werden.

teckla

(1) dessauerverhaeltnisse.blogsport.de
(2) u.a. Amnesty International: www.amnestypolizei.de
(3) Hintergründe dazu bspw. www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1183521/

Lokales

Kriegspropaganda statt Sportjournalismus

Fußballdeutschland macht´s möglich

Es gab sie schon immer – hysterische und reißerische Mediendebatten, in denen vor lauter Aufbauschen und Skanda­lisieren jede Differenzierung vergessen wird. Müßig also, mit Plädoyers für besonnenen und reflektierten Journalismus mal wieder an die Verantwortung der Medien zu appellieren. Müßig – aber nichtsdestotrotz notwendig. Womit das Fazit vorweggenommen wäre. Jetzt also zur Einleitung:

Bevor der Nationalsozialistische Untergrund seinen direkten Durchmarsch an die alleinige Spitze, den Thron der medialen Öffentlichkeit vollzog, beherrschte für mehrere Wochen ein Thema die Berichterstattung der Republik, welches ansonsten eher marginal in der Presse auftaucht: Fußballfans. Gewalttätige Fußballfans. Zündelnde Fußballfans. ‘Sogenannte’ Fußballfans. Gefährliche Fußballfans. Eine ganz schlimme Sache, der plötzlich vom hinterwäldlerischen Käseblatt bis zur renommierten überregionalen Wochenzeitung, vom öffentlich-Rechtlichen bis zum Privatsender nachgegangen wurde. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Gefährdung unser aller Sicherheit sowie der Fortexistenz des Lieblingssports der Nation in Gestalt des marodierenden Fans zum vielbeschworenen Horrorszenario, dem sich dann folgerichtig nicht mehr nur das Medieninteresse widmete. Auch Politi­ker_innen allerorts richteten ihre empörten Blicke auf die besorgniserregenden Bilder. Gefordert wurde resolutes Durchgreifen und man überbot sich in Ankündigungen harter Sanktionen, die schnell den Rahmen des geltenden Rechts zu sprengen drohten.

Anstoß für diesen Hype gaben die Vorkommnisse im Rahmen des DFB-Pokalspiels zwischen Dynamo Dresden und Borussia Dortmund. Hier wurde vor, bei und nach dem Spiel recht kräftig randaliert, es gab gewaltsame Auseinandersetzungen vorwiegend zwischen Fans und Polizei, es gab kaputtes Stadioninterieur und Verletzte, verstörte Unbeteiligte und unschuldig Betroffene. Das soll als Zusammenfassung reichen. Sich damit ganz bewusst dem Vorwurf der Relativierung und Verharmlosung aussetzend, kann man anfügen: solche Szenarien hat fast jeder Fußballfan und regelmäßige Stadion­besucher egal welcher Liga, welches Vereins und welchen Alters schon erlebt. Was der ganzen Sache jetzt aber eine, vermutlich sogar die, besondere Dosis Brisanz verlieh, war der Fakt, dass das Spiel live im ZDF übertragen wurde und damit jeder Fernsehzuschauer Zeuge des „Gewalt-Wahnsinns“ werden konnte. Das Spiel war ohnehin sehr gut besucht, die Livesendung vergrößerte das Publikum dann aber doch ganz wesentlich und lud die Krawallmacher nochmal extra ein, diese Bühne auszunutzen. Wofür? Um ihre sinnlose Gewalt quasi in die Wohnzimmer der Menschen zu tragen. Schließlich handelt es sich bei diesen Fußballfans um ausgemacht rücksichtslose Gestalten. Bestes und viel bemühtes Beispiel dafür: der Umgang mit Pyrotechnik. Verwerflich genug, dass diese Personen Feuerwerkskörper benutzen, obwohl dies verboten ist und sie damit gegen die geltenden DFB-Vorschriften und die Stadionordnungen verstoßen. Sie nehmen auch die Gefährdung von Gesundheit und Leben ihrer Mitmenschen in Kauf, indem sie eben dieses illegal eingeschmuggelte pyrotechnische Teufelszeug während ihrer Gewaltorgien abfackeln und umherschleudern. Da wird der Fanblock zum Schützengraben.

Dass Dresdner Fans beim besagten Skandalspiel dann auch neben all den anderen Exzessen bengalische Fackeln zündeten, bot somit auch zuerst dem ZDF und dann vielen anderen eine hinreichende Grundlage für Diffamierung und Kriminalisierung.

Die mehrwöchige „Krawall-Krise“ führte mitunter zu absurden Höhepunkten: So wurde das Kreisligaspiel Westfalia Weth­mar – Blau-Weiß Alstedde irgendwo im Ruhrgebiet aufgrund der aufgedeckten Ankündigung von Bengalos durch Weth­marer Fans zum Hochsicherheitsspiel: „Im Internet sollen die Ultras zum Bengalo-Einsatz aufgerufen haben. Die Vereine reagieren geschockt“, so die Lünener Regionalausgabe der Ruhrnachrichten. Hier schmunzelt man noch, während einen andere Meldungen dann doch ärgern.

So schafft es der Autor in einem Kommentar der Süddeutschen, die Zwickauer Fans, die beim Spiel mit dem Gesang „Terrorzelle Zwickau, olé olé olé“ ihrer rechten Gesinnung Ausdruck verschafften, als „Brandstifter“ zu bezeichnen, gegen die eben genauso couragiertes Vorgehen vonnöten sei, wie gegen solche Fans, die Pyrotechnik nutzen – gegen „Brandstifter“ eben, die unseren schönen Sport kaputtmachen.

Und gänzlich verfehlt kommt zwischen­zeitlich der Focus daher, der unter dem unsäglichen Titel „Zeichen gegen Gewalt. Dortmund schickt Ultras nach Ausch­witz“ vom vorbildlichen pädagogischen Umgang der Borussia zu berichten weiß. Deren Geschäftsführer erläutert die bewährte Methode, den offenbar problematischen Anhänger_innen, die sich als nicht ganz so regelkonform erweisen, eine Bildungsfahrt nach Auschwitz zu zahlen und wird mit den Worten zitiert: „Dort haben alle vor Augen geführt bekommen, wo Ge­waltexzesse hinführen.“ Hallo?

Wie eingangs festgestellt: Das ist alles nichts Neues. Empörungsjournalismus und dumme, undifferenzierte, hysterische, skandalisierende, verallgemeinernde mediale Ausgeburten sind alltäglich. Die Themen ändern sich, die Methoden bleiben. Aber das ist nicht nur kein Grund, es ist vielleicht sogar der Grund, sich immer wieder damit auseinanderzusetzen. Und einen besseren Journalismus einzufordern, der auch der Aufgabe gewachsen ist, sich der realen Probleme in den Fußballstadien anzunehmen, die es tatsächlich gibt und die sich eben nicht auf Gewalt und Feuerwerk herunterbrechen lassen. Ein Nazi, der nicht zuschlägt oder mit Böllern herumspielt, ist immer noch ein Nazi. Der Familienvater, der den Schiedsrichter als „schwule Sau“ beschimpft, braucht immer noch Nachhilfe in Sachen Homofeind­lichkeit und Diskriminierung. Und die Presseleute, die in ihrer VIP-Lounge von afrikanischen Spielern als „schwarzen Perlen“ schwärmen, während Affenrufe durch Fanblocks schallen, ja, die sind leider auch immer noch da.

teckla

Schlandort

Blonde Bestien und antideutsche Kinnhaken

Bereits im letzten Jahr erschien beim „Archiv der Jugendkulturen“ in Berlin der Sammelband „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics“. Schon der Titel verweist auf den sehr breiten Ansatz und so handelt es sich bei dem Buch auch nicht um eine konkrete Studie zum benannten Phänomen, son­dern eher um einen Rundumschlag. Hier wird alles unter die Lupe genommen, von NPD-Wahlkampf-Comics der letzten Jahr­zehnte bis hin zu italienischer Kriegs­pro­­pa­gan­da der frühen 1940er Jahre, von „Super­man vs Hitler“-Strips zum bahnbrechenden „Maus“-Comic eines Art Spiegelmann. Hier wird die Reproduktion rassistischer Klischees in Mainstream-Comics wie „Tim und Struppi“ ebenso betrachtet wie die Schattenwelten antilinker Hasscomics in Skinhead-Fanzines oder die hier­zu­lande eher unbekannten Ab­gründe zum Beispiel der aktuellen anti­zi­ga­nis­tischen Hetze per Comic in Ungarn. Selbst Neben­schau­plätze der „Nazi­sploitation“ und die fragwürdige Darstellung von NS-Täterinnen in der Sparte der erotischen Comics finden Beachtung. Alles in allem, das lässt sich so vorwegnehmen, bietet der Sammelband einen reichen Fundus sowohl an ressentimentgeladenen Bildwelten als auch ihrer gezeichneten Kritik und bietet allein aufgrund der Fülle an Material einen bislang einzigartigen Zugang zu dem Themenspektrum. Zugrunde lag dem Werk eine Tagung, die im Vorjahr stattgefunden hatte. Neben den genannten Ansätzen spielte hier die Frage nach der Rolle von NS- und Holocaust-Comics im Schulunterricht eine zentrale Rolle, die auch im Buch breite Beachtung findet.

„Wir zeigen euch, wer hier die Fremden sind! Feuer!“ – Die Comic-Adaption der deutschen Science-Fiction-Schmonzette „Perry Rhodan“ aus den 1960er Jahren ist nur ein Beispiel von vielen dafür, wie faschistoide Züge, rassistische Stereotype und antisemitistische Weltbilder in einer ganzen Reihe von populären Comics vertreten sind – Comics, die einem breiten Pub­likum zugänglich waren und sind und weitestgehend als völlig unbedenklich angesehen werden. Ob es nun der zitierte futuristische Held Perry Rhodan ist, der hier mal wieder im Dienste der Zivilisation die Ver­nichtung einer gesamten außerirdischen Kultur anordnet oder sein US-amerikanisches Vorbild Flash Gordon, spielt kaum eine Rolle. Viele der Abenteuer, gerade auch jene aus dem Superhelden- und Science-Fiction-Milieu, lassen in Wort und Bild keinen Zweifel daran, mit welchen ideologischen Grundlagen sie hantieren.

Das ist aber natürlich längst kein Geheimnis mehr, eben­so­wenig wie im Fall der vom Kolonialherrenblick durchdrungenen „Tim und Struppi“-Alben, bei denen selbst der Autor und Zeichner Hergé zugegeben hat, zeitgenössische rassistische Klischees und Vorurteile doch sehr unhinterfragt wie­der­gegeben zu haben. Und über die Comicszene hinaus bekannt ist auch der re­vanchistische Geist von „Fix und Foxi“-Schöpfer Rolf Kauka. Dieser besorgte seinerzeit die „Asterix“-Erstver­öffentlichung in Deutschland mit seinen eigenen Abwandlungen: So deutet er das gallische Heldenduo zu den grimmigen Germanen Siggi und Babarras um, welche die Trutzburg Bonnhalla gegen anrennende Völkerstürme verteidigen und sich am leidigen Schuldkomplex (ja, es ist der Hinkelstein…) abarbeiten müssen. Dass viele Autoren und Zeichner bei aller Fan­tasie aus ihren eigenen beklemmenden Welt­bildern nicht herauskamen und -kommen, systematisiert und veranschaulicht der Herausgeber des Sammelbandes, Ralf Palandt, schon in der ausführlichen Einleitung des opulenten Werkes.

Natürlich kommt der Befund nicht überraschend: Denn wenn es Antisemitismus, Rassismus und andere Ideologien der Un­gleichwertigkeit in der „gesellschaftlichen Mitte“ gibt, warum sollten dann gerade Comics verschont davon sein? Tatsächlich herrscht aber Palandt zufolge in Deutschland die Lehrmeinung vor, es gebe gar keine Comics von rechts. Das wäre ja „undeutsch“. Das erklären dann aber Vorwort und einige der Beiträge anhand zahlreicher Bei­spiele zum offenkundigen Nonsens und widerlegen auch den Mythos, Comics habe es vor 1945 in Deutschland nicht gegeben. Keinesfalls war die Verbreitung von Comics im NS verboten: So gab es vor dem Krieg nicht nur US-Publikationen zu kaufen, sondern entstanden mit Reihen wie „Mucki’s lustige Streiche“ auch Sprech­bla­sen­ge­schichten aus deutscher Feder. Und Comics von extrem rechts sind in der BRD seit den 1980ern zu finden, auch jenseits der Nazi-Skin-Fanzines. Man ver­zichtet halt nur oft auf die englische Be­zeichnung und greift zur „Bildge­schichte“. So goss der Nationaldemo­kra­tische Hochschulbund Ende 1979 in einer Publi­ka­tion den Mauertod eines linken Journalisten in Comicform – nicht ohne den Hin­weis, dass mit Wilhelm Busch angeblich der erste Comic-Zeichner ein Deutscher war. Bundesweite Öffentlichkeit erlangten rechte Comics mit dem illustrierten Beileger der NPD-Schulhof-CD (2005) und dem NPD-Wahl­kampf­comic „Enten gegen Hühner“ (2009). In letzterem wird der rechtschaffende Schnabeltier-Staat vom artfremden, gackernden Federvieh heimgesucht. Und der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache ruft im Nach­barland als blassblauer Superheld in Strumpfhosen einen Jungen mit Zwille zur xenophoben Gewalt auf.

Bil­dergeschichten, so viel wird klar, eignen sich bestens zum Transport simpler Welt­bilder. Sie haben aber auch Potenzial zur Kritik, wie der Autor Ole Frahm argumentiert. In seiner kürzlich erschienen Comic-Theorie „Die Sprache der Comics“ geht er von der Grundthese aus, dass Comics im vergangenen Jahrhundert „eine parodistische Ästhetik“ etablierten, welche „die rassistischen, sexistischen und klassenbedingten Stereotypien reproduziert und zugleich aufgrund ihrer immanent erkenntniskritischen Anlage reflektiert“. Wenn immer wieder auch antisemitische Stereotype durch sogenannte Funnys und Fantastisches geistern – wie etwa Frahm im Sammelband schildert –, so können sie diese eben auch explizit aufs Korn nehmen.

Dabei zeigen sich ausgesprochen pädagogische Werke von staatlichen Institutionen nicht selten als peinlich-naiv wie „Ha­ni­sau­land“ der Bundeszentrale für Politische Bildung, wo „Hass-Hasen“ mit Möhrenklau die Demokratie untergraben. Oder eben unter nur spärlich verschleierter ideologischer Brille gezeichnet wie die „Andi“-Reihe, die vom nordrhein-westfälischen Innenministerium in Auftrag gegeben wurde und seither in diversen linken Kreisen als illustrierte Version der Extremismustheorie gilt.

„Andi“ dominiert dann auch das schmale Kapitel über Antirechts-Comics im Buch. So kommt der Erfinder des „Bildungs­comic für Demokratie und gegen Extremismus“ Thomas Grumke zu Wort. Der Referent in der Abteilung Verfassungsschutz im NRW-Innenministerium preist die „subversive Verunsicherung“ der Reihe, die als eine Art „Inspektor-Colombo-Pädagogik“ „extremistische“ Weltanschauungen hinterfragen soll. Warum das im Falle Andi auf so langweilige Weise geschieht, erklärt Grumke nicht. Immerhin scheint Herausgeber Ralf Palandt der Comic so sauer aufzustoßen, dass er ihn im Vorwort ausführlich kritisiert. Es wird zudem empfohlen, „Andi“ bes­tenfalls zusammen mit dem „Mandi“-Comic pädagogisch zu verwenden, einem Anti-“Andi“ von der Mar­burger Antifa-Gruppe 5

Interessanter und wohl auch in Sachen Information erfolgversprechender als staatlich bestellte Bildgeschichten sind jene – zum Teil gegen den Mainstrich gebürstete –, die in anderen Beiträgen diskutiert werden. Dabei tritt ein ganzes Genre von Holocaust-Comics zu Tage, die hierzulande zu Unrecht im Schatten der gefeierten „Maus“-Geschichte von Art Spiegelmann stehen. So ist zu erfahren, dass die erste die Deportationen thematisierende Tierfabel („Die Bestie ist tot“) bereits 1944 zu Zeiten der Résistance in Frankreich erschien, in der Hitler als braune Bestie bildlich zum Leitwolf des deutschen mörderischen Rudels wird. Hellsichtig und im Struw­wel­petergewand attackierte die britische Hitler-Satire „Trüffel­esser“ schon 1933 den militanten Antisemitismus. Im Mi­ni­heft „Micky in Gurs“ wird der Mäuseprotagonist mit dem KZ-Grauen konfrontiert. Der Zeichner Horst Rosen­thal hielt 1942 im Internierungslager Gurs/Frankreich die Ver­hör- und De­mü­ti­gungs­praxis fest – kurz nach dessen Fertigstellung wurde er in Auschwitz ermordet.

Solche historischen Wertstücke einem breiteren Publikum vorzustellen macht den Sammelband allein schon zu einer lohnenden Lek­türe. Diese wird durch die Diskussion zeitgenössischer Comics und ihren Um­gang mit Shoah und Nationalsozialismus noch ergänzt, die auch das Risiko von Verklärung und Vereinfachung mit­einbeziehen. Demnach können sich Comics als Medien mit niedrig­schwelligem Zugang auszeichnen, denen im Mix aus Text und Bild eine differenziertere Erinnerungskultur gelingt als manch ritualisiertes Gedenken. Im Comic-Albumformat gedruckt, kommt im Band auch das Grafische gut zur Geltung. Denn mit den Unmengen an Bildmaterial ist er eine beispiellose Materialsammlung, die obendrein mit dem Komplettabdruck von Bernie Kriegsteins weitgehend unbekannt gebliebenem „Master Race“ (1955) aufwartet – einer dichten, virtuos erzählten Short Story über die NS-Vernichtungspolitik. Beim Durchstöbern dieses Fundus stößt man aber immer wieder auch auf komische Momente, die bei allem Ernst des Sujets eben zum Charakter des Comics gehören. So wie in einem Superman-Strip: Der Hüne packt Hitler am Schlafittchen und droht: »Ich würd’ dir liebend gern einen absolut nicht-arischen Kinnhaken verpassen«.

Bei aller Lobpreisung des Bandes sollen aber auch kritische Anmerkungen nicht unterlassen werden. Ein Problem stellt sich bei der Lektüre nämlich nicht trotz sondern wegen der Materialfülle und dem bewussten Verzicht auf Einschränkungen des Themas. Die Tour de Force durch das ganze Comic­uni­­ver­sum erscheint so mitunter un­ko­or­di­niert und zerfahren. Da wird mal chronologisch vorgegangen, dann wieder gar nicht; hier werden didaktische Fragen aufgeworfen, da ästhetische, dann diskutiert ein kurzer Absatz Aspekte der Zensur an, und schon fährt die Achterbahn weiter zur nächsten Fragestellung. Gerade die Einleitung erfüllt hier ihren Zweck nicht optimal, sie verwirrt mehr als zu klären und kann so gerade auf die im Comicgenre etwas unbedarften Leser_innen überfordernd und abschreckend wirken. Wer sich dieser Herausforderung jedoch stellt, wird eine Menge entdecken und erfahren.

waldschratt/teckla

Ralf Palandt (Hrsg.): »Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics«, Archiv der Jugendkulturen, Berlin 2011, 450 S., 36 €

Ausgelesen

Ein Heimblock für Nazis

Fußballbegeisterte Leipziger Neonazis können aufatmen. All jene, die sich beim 1. FC Lok nicht mehr so wohl fühlen, seit dort gegen einige offen rechts agierende Fangruppen Stadionverbote ausgesprochen wurden, die zwar nicht konsequent durchgesetzt werden, aber trotzdem die befreite Stimmung mitunter vermiesen, all jene also, die seit langem nach einer neuen Vereinsheimat suchen, können jetzt endlich jubilieren: bei der Sportgemeinschaft Leipzig Leutzsch (SG LL) sind sie herzlich willkommen. Hier gibt man sich laut Vereinssprecher Jamal Engel zwar unpolitisch („Politik hat beim Fußball nichts zu suchen“) aber eben auch rechtsoffen („Bei uns stehen Linke, Rechte und Menschen aus der Mitte zusammen im Block. Nur Extreme bleiben draußen“).

Spätestens bei dem Spiel im Wettbewerb um den Sächsischen Landespokal zwischen der SG LL und dem Roten Stern Leipzig am 4.9.2011 haben der Leutzscher Verein, der die Nachfolge des insolventen FC Sachsen Leipzig angetreten hat, und seine Fans recht deutlich gezeigt, was man hier unter ganz normal, rechts und gar nicht extrem versteht. Da wurden per Sprechchor und Wechselgesang allerlei traditionelle Variationen des Leutzsch/Deutsch-Reimschemas bemüht: „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“ und „Wenn das der Führer wüsst´, was Chemie Leipzig ist, dann wär er auch in Leutzsch, denn Leutzsch ist deutsch!“. Aber auch andere, in der deutschen Fußballwelt durchaus manch­mal als rechts und diskriminierend verpönte und sanktionierte Gesänge fanden hier wieder einmal Anklang. Im „U-Bahn-Lied“ baute man die schnelle Verbindung von Connewitz nach Auschwitz oder forderte verkürzt „Sterne in den Zug“ denn „Roter Stern – Juden, Juden, Juden!“. Dagegen kam der Reim „Teutonisch, barbarisch, wir Leutzscher, wir sind arisch!“ dann fast drollig daher. Begleitet wurde dies von einer breiten Palette von Gesten und Armbewegungen, die keiner gesehen haben will. Der Schiedsrichter griff trotz Meldungen durch Sicherheitsbeauftragte und Spieler nicht ein. Im Spielbericht steht: „Den Hinweisen des Mannschaftskapitäns gegen Gesänge im Stadion vorzugehen, konnte der SR nicht folgen, da diese vom SR-Team nicht wahrgenommen wurden“. Jamal Engels Kommentar: „Ich befasse mich nicht mit Politik. Im Spielberichtsbogen steht nichts dergleichen drin, also muss ich mich nicht damit befassen.“ So einfach ist es. Das neue Paradies für Nazis. Entschuldigt: nur für unpolitische Nazis natürlich. Alles andere wäre zu extrem.

teckla

Ein Link mit dem Soundtrack zu diesem Artikel: www.vimeo.com/28640380

Über die Notwendigkeit der Überwindung des Extremismus-Modells

„Es gilt, Extremismus in jedweder Form zu bekämpfen.“ Dies Mantra ist aus den letzten Jahren hinlänglich bekannt. Es ist zu einem festen Bestandteil der (partei-)politischen Rede geworden. Es wird in Medienberichten ebenso wie in Kommentaren, Leser_innenbriefen und Foren wiedergekäut. Und es stört. Auch das wurde schon vielfach geäußert und in zahlreichen Debatten ausgetragen. Die „Extremismus-Debatte“ hat quasi Hochkonjunktur. Am häufigsten wird sich von Gegnern der „E“-Formel dabei an der Gleichsetzung von „Rechts“ und „Links“ gestoßen und vor der Gefahr gewarnt, derart die rechte Seite zu verharmlosen. Mitunter schließt sich dem die Kritik an, dass mit dem „E“-Modell solche menschenfeindlichen Einstellungen wie Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, die nicht nur am „rechten Rand“ auftauchen, nicht erfasst und damit vernachlässigt werden. Seltener werden die zentrale Idee des „Extremismus“, seine theoretische Basis und das zugrundeliegende Gesellschaftsmodell angezweifelt. Zu fest verhaftet scheint dafür der „E“-Begriff in unserem Sprachgebrauch, zu überzeugend und unanfechtbar das Bild der guten, heiligen, goldenen, gesunden Mitte, die vor extremen Auswüchsen bewahrt werden muss. Dabei liegen gerade hier die spannenden und, auf die politische Praxis bezogen, enorm dringlichen Fragen verborgen. Denn das „E“-Modell ist in den letzten Jahren weit in die Handlungsräume zivilgesellschaftlicher Initiativen und Vereine vorgedrungen. Die „Extremismusklausel“ (siehe FA! 39 und 41) ist das beste Beispiel dafür, aber auch andere, vom Bund unabhängige Stiftungs- und Fördermittelrichtlinien sprechen eine ähnliche Sprache. Das „E“-Modell wird hier zum Leitbild. Dabei gibt es nicht nur Handlungsrichtungen und -bedingungen vor (wenn gegen Rechts-“E“, dann auch gegen Links-“E“ und Ausländer-“E“), es bestimmt auch, wer überhaupt agieren darf (alles nicht-“E“).

Ordnung. Macht. Extremismus

Diese Wirkmächtigkeit und Funktionalität des „E“-Modells sind Untersuchungsgegenstand des im Juli erschienenen Sammelbands Ordnung. Macht. Extremismus. Herausgegeben wurde das Buch vom Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (1), zugrunde liegt eine im November 2009 stattgefundene Tagung in Leipzig. Diese folgte laut Tagungsbericht drei Fragestellungen: „Erstens, derjenigen nach Genealogie, Begründungslogik und Attraktivität des an die Totalitarismustheorie anknüpfenden „E“-Begriffs, der insbesondere von Eckhard Jesse und Uwe Backes als Ordnungsmarker für das politische Spektrum vorgetragen wird, zweit­ens der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem „E“-Modell und der Frage nach konzeptionellen Alternativen und drittens, der Rolle des Modells in Praktiken und Programmen, sowie konkreten Anstrengungen, Handlungskonzepte für den Umgang mit Neonazismus, Alltagsrassismus etc. ohne Rückgriff auf die „E“-Formel zu entwickeln. (…) Die allesamt kritischen Tagungsbeiträge näherten sich der „E“-Formel mit dem Verdacht, einem petitio principii aufzusitzen: Die E-Formel is begging the question, sie setzt als Axiom voraus, was sie behauptet, offen zu legen: Die Aufteilung von Gesellschaft in Mitte und extreme Ränder.“ (2) Ein großer Teil dieser Beiträge wird nun auf nahezu 400 Seiten in 16 Texten wiedergegeben. Aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven und mittels diverser Methoden werden das „E“-Modell, seine Grundlagen und Begrifflichkeiten in all ihren Dimensionen, normativ wie deskriptiv, beleuchtet und hinterfragt. In drei Teilen, Kritiken, Praktiken und Alternativen stellt sich dem_r Leser_in eine breit aufgefächerte kritische Abrechnung mit dem „E“ dar. Die Artikel folgen dabei keinem einheitlichen Weg, Hintergründe und Ausrich­tungen variieren und sie bauen nicht aufeinander auf. Gemeinsamer Nenner ist die tiefe Skepsis dem „E“-Modell gegenüber. Es scheint ihnen allen darum zu gehen, diese Skepsis zu begründen, Probleme in Theorie und Praxis nachzuweisen und gleichzeitig nach Auswegen und Möglichkeiten zu suchen, das „E“-Modell zu überwinden.

Ausgangspunkte

Bei aller Vielfältigkeit der kritischen Ansätze, die in den Texten aufgeworfen werden, treten einige Aspekte in den Argumentationen wiederholt hervor.

So wird mehrfach auf die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des „E“-Modells eingegangen. Dies geschieht beispiels­wei­se diskurstheoretisch im ersten Teil des Buches, wobei aufgezeigt wird, wie der Begriff des „E“ in den 1970er Jahren Eingang in die deutsche Behördensprache fand und sich als Normativ zur Konstruktion und Beschreibung von Feindbildern in Verfassungsschutzberichten und im innenpolitischen Diskurs etablierte. (3) Zudem wird hier, wie auch an anderen Stellen des Buches, erläutert, wie der Begriff und das zugrundeliegende Gesell­schafts­modell in den Sozialwissenschaften behandelt und diskutiert wurden und werden. Deutlich wird hierbei, dass die „E“-Theorie außerhalb eines kleinen Flügels der deutschen Sozialwissenschaft, vor­nehm­­lich vertreten durch Uwe Backes und Eckhard Jesse, kaum Anerkennung, geschweige denn Anwendung in der Forschung findet. Anhand dieser durchaus ambivalenten Entwicklungsgeschichte versuchen die Autor_innen aufzudecken, wie sich die Wirkmächtigkeit und Allgemeingültigkeit des „E“-Modells hierzulande dennoch so konkurrenzlos durchsetzen konnte.

Einige Autor­­­­_innen fokussieren in diesem Zusammenhang auch den Part des „E“-Modells, der im öffentlichen Diskurs meist unhinterfragt bleibt: die „Mitte“, dieses vage Etwas, zu dem alle dazugehören wollen. (4) Der Idee dieser „Mitte“ scheint eine enorme Überzeugungskraft innezuwohnen, wobei es nahezu absurd erscheint, wie variabel und undifferenziert die Definition dieser allmächtigen „Mitte“ meist erfolgt. In einem Vergleich mit Großbritannien wird deutlich gemacht, wie hegemoniale Diskurse um nationale Identität die Ausgrenzung politischer Gegner_innen bestimmen und wie unterschiedlich diese Grenzziehung verlaufen kann. So wird diese, zusammengespitzt formuliert, in Großbritannien zwischen einer pluralistischen „community of british­ness“ und „extremistischen“ Rassist_innen vorgenommen, während die bundesdeutsche Grenzziehung zwischen „extremistischen Anti­de­mo­krat_innen und guten Demo­krat_in­nen“ verläuft. (5) Was also als unproblematische Mitte und was als problematisch erscheint, wird demzufolge mitnichten vom „E“-Begriff vorgegeben und determiniert. Es sind vielmehr die vorherrschenden Vorstellungen einer guten Gesellschaft, die dies bestimmen, und die daher bei der Suche nach Alternativen zum „E“-Modell hinterfragt werden müssen.

Das Verhältnis von „E“ und „Mitte“,“E“ und Demokratie spielt auch aus gesell­schafts­theoretischer Metaperspektive eine Rolle. Wie der Titel des Bandes „Ordnung. Macht. Extremismus.“ bereits andeutet, beschäftigen sich viele Fragestellungen mit den Zusammenhängen dieser Elemente und der Untersuchung der Kausalität dieses Verhältnisses. Dabei wird unter anderem auch die Herausforderung für die eigene Kritik am „E“-Modell deutlich: „Die Kritik des Extremismuskonzepts unter den bestehenden Verhältnissen muss sich dessen bewusst sein, dass das Konzept des Extremismus nicht nur wissenschaftliche Begleitmusik zu staatlicher Repressions- und Herrschaftspraxis ist, sondern vielmehr selbst Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und der Verdinglichung des Politischen.“ (6)

Suche nach Alternativen

Ein anderes, vielleicht das am häufigsten wiederkehrende Thema im Buch widmet sich dem konkreten Sprachgebrauch und der Nutzung des „E“-Begriffs sowohl in der Alltags- als auch in der Wissenschaftssprache. Während die Vermeidung des reinen „E“-Begriffs leicht fällt, stellen sich in Bezug auf den Begriff „Rechtsextremismus“ vielerlei Probleme ein. Nicht zuletzt trägt das herausgebende Forum den Begriff selbst im Namen. In dem Buch werden hierzu verschiedene Begriffsalterna­tiven diskutiert. „Extreme Rechte“ (7), „Neonazismus“ (8), „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (nach Heitmeyer) sind einige Beispiele. Die Problemstellung bei der Suche nach Begriffsalternativen ist jedoch eine größere, mit der sich nicht nur Sozialwissenschaftler_innen, wie sie in dem Band vertreten sind, auseinandersetzen müssen. Eine begriffliche Alternative muss zahlreiche Anforderungen erfüllen und auch in der politischen Praxis durch­setzungs­fähig und greifbar sein. Sie sollte inhaltlich präzise und nicht mehrdeutig sein. Sie muss zur Skandalisierung eines Problems herhalten können, ohne dabei, wie im Falle des „E“ das zu problematisierende Phänomen als etwas Außen­stehen­des zu definieren. „Es reicht also nicht aus, das Hufeisen der Extremismuskonzeption à la Jesse und Backes gerade zu biegen, die Kriterien zur Identifizierung und Markierung der politischen Ränder aufzuweichen (…) oder das politische Kontinuum um weitere Dimensionen zu ergänzen. Stattdessen erscheint es für eine veränderte Problematisierungsweise hilfreich, sprachliche Elemente aus einer simplifizierten Links-Mitte-Rechts-Topographie des politischen Raumes grundsätzlich zu vermeiden, um den durch das Extremismus-Verständnis vorgeprägten Denk- und Hand­lungs­raum nachhaltig zu verlassen.“ (9)

Mit diesen Aspekten sind nur einige der Themen angerissen, die in dem Sammelband behandelt und diskutiert werden. Gewiss sind nicht alle hier formulierten Ansätze der Kritik am „E“-Modell neu, viele Leser_innen, insbesondere Ken­ner_innen der Materie werden auf Parallelen zur Totalitar­is­mus­­de­batte verweisen und grund­sätz­lich neue Theo­rie­­ver­su­che ver­mis­­sen. Dies scheint aber auch gar nicht der An­­spruch des Buches oder der zu­grun­de­lie­gen­den Ta­gung gewesen zu sein. Viel­mehr ging es offenbar darum, zu sichten, was aus all den kritischen Ansätzen her­aus­zuholen ist, wo die Lücken liegen, wo Dis­sens und wo längst Konsens besteht. Damit bietet der Band der/dem Leser_in einen ausgezeichneten, breit angelegten Ausgangspunkt für die weiterführende Diskussion und die Suche nach Alternativen und Problemlösungen und formuliert auch deren Notwendigkeit: „Wir wollen die Ortsbestimmung des Gesellschaftlichen nicht den Dynamiken von Parteipolitik, Medien und Verfassungsschutz überlassen, und genauso wenig dem konservativen Flügel der Sozialwissenschaft.“ (10) Nicht nur den Autor_innen des Bandes und dem Forum für kritische Rechtsex­trem­ismus­forschung sei dafür viel Erfolg gewünscht.

teckla

(1) Das Forum für kritische Rechtsextremismusforschung ist eine Gruppe kritischer und engagierter Student_innen und Nachwuchswissenschaftler_innen innerhalb der Initiative “Engagierte Wissenschaft” und besteht seit 2005. www.engagiertewissenschaft.de/de/fkr
(2) hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=tagungsberichte&id=3054
(3) Holger Oppenhäuser: Das Extremismus-Konzept und die Produktion von politischer Normalität, in: Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.), Wiesbaden 2011, S. 35ff
(4) Tobias Prüwer: Zwischen Skylla und Charybdis: Motive von Maß und Mitte. Über die merkwürdige Plausibilität eines Welt-Bildes – eine genealogische Skizze. Ebd S. 59ff
(5) Elena Buck: Keine Gesellschaft ohne Grenzen, keine Politik ohne Gegner_innen. Auf dem Weg zu Kriterien demokratischer Grenzziehungen. Ebd. S. 281
(6) Matthias Falter: Critical Thinking Beyond Hufeisen. »Extremismus« und seine politische Funktionalität. Ebd. S.98
(7) Jörn Hüttmann: Extreme Rechte – Tragweite einer Begriffsalternative. Ebd S. 327ff
(8) Stefan Kausch/Gregor Wiedemann: Zwischen »Neonazismus« und »Ideologien der Ungleichwertigkeit«. Alternative Problematisierungen in einem kommunalen Handlungskonzept für Vielfalt und Demokratie. Ebd. S. 286ff
(9) Ebd. S. 294
(10) Anne Dölemeyer/Anne Mehrer: Einleitung: Ordnung.Macht.Extremismus. Ebd. S. 20

Ausgelesen

ARBEIT, ARBEIT, ARBEIT

Allgegenwärtig und unvermeidlich wird mensch mit dem Thema Arbeit immer wieder konfrontiert. Hat man welche, plagt sie eine_n, hat man keine, nerven Jobcenter und leere Portemonnaies. Obendrein erinnern Feiertage wie der 1.Mai daran, dass sich die Gesellschaft bereits seit Jahrhunderten kontrovers damit auseinandersetzt. Was früher als „Arbeiterkampftag“ tituliert wenigstens auf den Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital verwies, klingt heutzutage als „Tag der Arbeit“ befremdlich unkritisch und positiv. Wie die doofen 800 Neo-Nazis in Halle, die auf eine „Zukunft durch ARBEIT“ hoffen, sofern man „Fremdarbeiter stoppen“ würde, und dabei die Arbeit bis zum Äußersten idealisieren. Mehr Bodenhaftung haben da noch das Heer der ARBEITslosen, die trotz freier Zeit vornehmlich unglücklich sind, und die durch LohnARBEIT Erkrankten. Die zu alldem passende linksradikale Kritik am ARBEITsfetisch blieb in Leipzig jedoch weitgehend ungehört. Ob dies nun eher am allgemeinen Desinteresse, ihrem fehlenden Praxisbezug oder der unüblichen Datumswahl lag, bleibt offen. Auf jeden Fall aber fand der diesjährige 1. Mai für einige Leipziger_innen gleich vier mal statt: am 28.4.,30.4.,1.5.,2.5. und wurde in neun Begleitveranstaltungen des Mai-Bündnisses (siehe auch S. 12ff) thematisiert.

28. April: Kaputt durch Arbeit

Es war nur eine kleine Gruppe von etwa 20 Leuten, die sich am 28. April auf dem Willy-Brandt-Platz mit Transparenten und schwarz-roten Fahnen vor dem Hauptbahnhof einfanden. Anlass war der Workers Memorial Day, der internationale Gedenktag für die Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

Dieser wurde 1984 von der Canadian Union of Public Employees initiiert. Anlass war damals das 70. Jubiläum eines Gesetzes, dass einen Versicherungsschutz für Betroffene von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vorschrieb. Ein Jahr später machte der kanadische Gewerkschaftskongress den Workers Memorial Day zum jährlichen Gedenktag – eine Idee, die rasch auch international Anklang fand.

Anders in den USA oder Großbritannien ist der Workers Memorial Day in Deutschland noch kaum bekannt. Ihn auch in Leipzig zu etablieren, war eines der Ziele der von der Freien ArbeiterInnen-Union Leipzig organisierten Kundgebung. Aber nicht nur das: Das Fernziel ist (so der Aufruftext), dass künftig „niemand mehr in Folge der Abhängigkeit von Lohnarbeit zu Tode kommt oder gesundheitlich geschädigt wird.“

Bis dahin ist es unter den derzeitigen Verhältnissen noch ein weiter Weg. Das zeigte auch einer der Redebeiträge mit einer Aufzählung von Arbeitsunfällen, zu denen es in den letzten Monaten und Jahren in Leipzig kam. So war auch der Versammlungsort keineswegs zufällig gewählt. Nur wenige Meter entfernt wurde 1999 eine Kastanie gepflanzt – zum Gedenken an Arbeiter, die beim Bau der Promenaden im Hauptbahnhof ums Leben gekommen waren.

justus

30. April: Fusslahme Arbeitskritik

Leider wenig besucht war die Demonstration am 30.04. unter dem Motto „The future is unwritten – Für eine Perspektive jenseits von Arbeitswahn und Staatsfetisch“. Wohlmeinend geschätzte 200 vorwiegend junge Leute zogen reichlich lustlos und ohne viel Information für Interessierte im Gepäck durch die Innenstadt, um darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen die Lohnarbeit nicht so wichtig ist, wie weiten Teilen der Bevölkerung. Eine Vermittlung dieses Inhaltes blieb aber weitgehend aus und so stellte die ganze Veranstaltung sinnbildlich die Strategie des 1.Mai Bündnis Leipzig in Frage, einerseits wegen des Aufmarsches der Neonazis am 1. Mai in Halle mit der Demonstration auf den 30.04. auszuweichen, und andererseits rund um den 01.05. Diskussionen und Vorträge zum Thema Arbeit anzubieten, die zwar als innerlinke Auseinandersetzung gelten konnten, nicht jedoch als öffentlich wahrnehmbare Intervention in bestehende Diskurse und schon gar nicht der Aufklärung und Agitation weiterer Be­völkerungskreise dienten. Konkrete Forderungen zu den brennenden Fragen von Mindestlohn bis Arbeitszeitverkürzung, von betrieblicher Mitbestimmung bis hin zu direkter Unternehmensbeteiligung, ja selbst eine klare Positionierung zur EU-weit in Kraft getretenen Arbeitnehmerfreizügigkeit, blieben aus. Stattdessen übten sich die Demonstrant_innen an diesem Tag lediglich in der eigenen Selbst­gewißheit, dass Arbeit einfach Scheiße ist. Na und? Das weiß ja nun wirklich jedeR!

clov

1. Mai: „Zukunft durch Arbeit“?

Um rückblickend über den 1.Mai in Halle, die Nazidemo und die Gegenver­an­stal­tungen, zu schreiben, fallen mir spontan mehrere Ansätze ein. Da gäbe es zum Einen den Klassiker, die Erfolgsstory vom couragierten, antifaschistischen Bündnis, das zahlreich, lautstark, ja und natürlich auch mit bunter Vielfalt, die Nazidemo erfolgreich blockiert hat – nicht zu vergessen: friedlich! – ganz so, wie es zuvor auch angekündigt und eigentlich ja im Stadtrat beschlossen worden war. Am Ende klopfen sich alle auf die Schultern und freuen sich, dass sie das so gut hinbekommen haben. Der Klassiker, wie gesagt.

Dann gäbe es noch die ebenso traditionsreiche Alternative, den empörten Bericht mit einigen Zahlenbeispielen und einer ausgiebigen kritischen Analyse der in jedem Falle ganz grundsätzlich verfehlten Polizeistrategie, dem unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und all den anderen repressiven Maßnahmen, Einkesselungen, Platzverweisen, Pfefferspray und haste-nicht-gesehen. „Wären die Bullen nicht gewesen, hätte man nämlich!“ Auch hier kollektives Schulterklopfen, schließlich war der Wille da, der Weg nur von Polizei verstellt.

Ein ganz anderer, nichtsdestotrotz stark verbreiteter Ansatz wäre der Vergleich mit ähnlichen Ereignissen. Der macht sich online natürlich besser, da dank fortschrittlicher technischer Errungenschaften gleich Erlebnisberichte vergangener Nazidemos und Gegenveranstaltungen verlinkt werden können. Was war anders als am 16. Oktober, 13. Februar, Leipzig, Dresden, Berlin, usw.? Besonders schön für diejenigen, die aus­nahmsweise nicht dabei sein konnten und so erfahren, dass sie letztlich nichts verpasst haben.

Und last but not least gibt es diese Variante hier, sich mit abgeklärter Alter-Hasen-Attitüde über alle anderen lustig zu machen. Nicht gerade schön, weil gehässig gegenüber denjenigen, die eigentlich doch auch die „Guten“ sind. Und irgendwie haben sie ja auch recht, denn es war natürlich so eine Art Erfolg, dann doch noch eine Blockade hinzubekommen, und ja, die Polizei hat sich mitunter schon daneben benommen. Aber das ist an sich nichts besonderes. Und überhaupt – gab es an dem Tag überhaupt was besonderes? Etwas Erinnerns- und Berichtenswertes? Nicht wirklich. Gruselige Gestalten, dumme Gesänge, ekelerregende Reden von Neo-Nazis, die mir mal wieder einen Sonntag versaut haben. Das ist es, was mir im Gedächtnis bleiben wird. Und vielleicht ist das auch das einzig Wichtige und wenn auch nicht Überraschende, so doch Do­ku­mentationswürdige: Es gibt sie immer noch. Es sind immer noch zu viele. Und wahrscheinlich werden sie mir bald wieder einen Sonntag versauen.

teckla

2. Mai: Keine ARBEIT

„2. Mai – Tag der Arbeit …slosen“ steht auf dem Transparent, das da vor dem Leipziger Jobcenter im Wind flattert. Manche schauen ungläubig, als sie einen kleinen Blumenstrauß mit Banderole „Her mit dem Schönen Leben!“ in der Hand halten. Werden sie schon wieder verarscht? Manche schütteln den Kopf, andere freuen sich. Wichtiger aber als utopische Aufrufe ist für die PassantInnen der Amtstermin, der sie hierher gezogen hat und den Morgen der meisten ver­sauert. Etwa 10 AktivistInnen haben sich am Montagmorgen des 2. Mai vorm Jobcenter getroffen, um mit Blumensträußen, Flyern und Frühstückstisch auf feierliche Weise gegen die alltäglichen Schikanen zu demonstrieren. Unspektakulär, aber die Schwierigkeiten, ins Gespräch zu kommen, illustrieren das Dilemma einer linken Er­werbs­losen­politik: Einen Arbeitsplatz zu haben, verleiht einen Status. Arbeitslos zu sein, ist hingegen ein Manko, mit dem sich folgerichtig niemand gern identifiziert. „Ich bin nicht arbeitslos – ich hab einen 1€-Job“, erklärt denn auch ein Mann auf dem Weg ins Jobcenter, was ihn von „den Anderen“ unterscheidet. Auch wenn alle mit ALG2 zu tun haben – „einer von den HartzIV-Empfängern“ will niemand sein.

Das Dilemma zieht sich bis weit in linke Bewegungen. „Aktivistin“, „Künstler“ oder „Selbstständig“ sind weit attraktivere Selbstbeschreibungen als „ALG2-Em­pfängerIn“. So verständlich das ist, so verschleiert es doch die gemeinsame prekäre Situation. Auch wenn viele nicht direkt Arbeitslosengeld beziehen, so sind doch weite Teile der Gesellschaft direkt von der Höhe der Regelsätze betroffen: auch als wenig verdienende selbständige „Aufstocker“, beim Jobben in prekären Arbeiten oder auch als Festangestellte – überall stellen die HartzIV-Regelsätze den de-facto-Mindestlohn dar. So erklären sich auch die ständigen Angriffe auf die „luxuriösen Verhältnisse mit Hartz IV“ als indirekter Versuch, die Löhne zu drücken. Dieser allgegenwärtige Druck „wie kannst du es wagen, dem Staat auf der Tasche zu liegen“, verbunden mit den kleinen Schikanen des Alltags mag ein Grund für die gedrückte Stimmung der meisten sein, die da am 2. Mai am Frühstückstisch vorbei ins Amt einbiegen.

Ein paar bleiben doch stehen, trinken einen Kaffee, und geraten ins Gespräch. Alle haben üble Erlebnisse mit dem Jobcenter zu berichten, manche schreiben ihre Erlebnisse auch auf Zettel, die an einer Wäscheleine gespannt, die alltäglichen Schikanen dokumentieren sollen. „Geben Sie Ihre Mistpapiere her, sonst kriegen Sie nie wieder Geld von uns!“, bekam sie grad von ihrer Sachbearbeiterin zu hören, berichtet völlig aufgelöst eine Frau. Viele der Erfahrungen sind nicht so plakativ, lange verschachtelte Geschichten endloser Kleinkämpfe mit einer kafkaesken Bürokratie. Am Nachmittag dann, das Amt hat schon lange geschlossen, löst sich die Runde auf, der Frühstückstisch wird eingeklappt, und die Transparente eingerollt.

Und alle Fragen offen: warum ist diese Frage nach dem gesellschaftlichen Existenzminimum nicht zentrales Thema der Linken? Wie organisieren wir uns? Und wieso hat das Amt schon wieder mein Geld gekürzt?

Weil auch innerhalb der Linken viel zu viele mit diesen Fragen allein sind, gibt es seit einiger Zeit einen kleinen Erwerbslosentreff im Hausprojekt „Bäckerei“/Casa­blanca e.V.. Keine professionelle Beratung, eher ein Treffen mit der Möglichkeit, sich gemeinsam in die Materie einzuarbeiten, oder auch politisch diese Fragen zu diskutieren.

Treffen Mo/18Uhr (evtl. Termin nachfragen bei casablanca@riseup.net) / „Bäckerei“/Casablanca e.V. Josephstraße 12. Wer dazu kommen will, ist willkommen.

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Lokales

Ausbeutung als Alltag (Teil 2)

NS-Zwangsarbeit in Leipzig

Kriegswirtschaft und „Ausländereinsatz“

In der vorletzten Ausgabe des Feierabend! ( FA!#38) wurden in einem ersten Teil des Artikels verschiedene Aspekte der Geschichte der Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Leipzig zwischen 1939 und 1945 dargestellt. Es ging dabei darum, vor den Hintergünden des Systems der Zwangsarbeit in Deutschland und unter Berücksichtigung der herrschenden rassistischen und ideologischen Muster, die konkrete Leipziger Situation zu beleuchten. Hier waren während des Zweiten Weltkrieges ca. 100.000 ausländische Arbeitskräfte beschäftigt. Dies waren vor allem sogenannte „Zivilarbeiter“ – Frauen und Männer, die zum Teil in Folge von Anwerbungen aber in großem Umfang unter Zwang aus allen Teilen Europas zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht worden waren. Die größte Gruppe bildeten hierbei die „Ostarbeiter“ aus der ehemaligen Sowjetunion. Hinzu kamen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge sowie die bereits vor Kriegsbeginn zum Arbeitseinsatz herangezogenen deutschen „Ar­beits­­juden“. Zwangsarbeit fand in allen Bereichen der kommunalen Wirtschaft und Verwaltung, nicht nur, wie oft angenommen, in der Rüstungsindustrie statt. So waren bspw. viele „Ostarbei­terinnen“ in der privaten Hauswirtschaft beschäftigt, Verkehrsbetriebe griffen ebenso auf ZwangsarbeiterInnen zurück wie die Stadtverwaltung; ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene wurden für Bom­ben­räum­kom­mandos, die Müllabfuhr, den Bau von Luftschutzbunkern, Arbeiten auf dem Friedhof und den Schlachthöfen herangezogen. Kurzum lässt sich sagen, dass die Aufrechterhaltung des kommunalen Lebens nicht nur vom System der Zwangsarbeit, im Nationalsozialismus im allgemeinen als „Ausländereinsatz“ bezeichnet, profitierte, sondern von diesem abhing.

Dass Zwangsarbeit kein Phänomen war, das am Rande der Gesellschaft stattfand, sondern ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Lebens- und Arbeitswelt, zeigt sich an verschiedenen Punkten. Im ersten Teil sind beispielhaft hierfür die Formen der Unterbringung von Zwangs­arbei­terInnen beschrieben worden. Neu errichtete Barackenlager, umfunktionierte Kultureinrichtungen, Schulen oder Gast­höfe, Kleingartenanlagen oder Sportplätze waren über das gesamte Stadtgebiet verteilt.

KZ-Außenlager

Einen besonderen Aspekt in der Geschichte der Zwangsarbeit bildet die Errichtung von KZ-Außenlagern im kompletten Reichsgebiet. Ab 1943 wurde so in großem Umfang der Einsatz von Häftlingen auch in Betrieben ermöglicht, die sich nicht in unmittelbarer Nähe zu einem Konzentrationslager befanden.

In Leipzig wurden 1943 und 1944 insgesamt acht Außenlager eingerichtet. Diese gehörten dem Stammlager Buchenwald an, wobei die Häftlinge selbst aus verschiedenen Konzentrationslagern, wie aus Ravensbrück und Stutthoff herangezogen wurden. Die Betriebe, die als Nutznießer dieser Arbeitskraftbeschaffung hervortraten, waren in Leipzig und Markkleeberg mit den Erla-Werken, Junkers und ATG (Allgemeine Transportanlagen) vor allem in der Flugzeugproduktion tätig. Größ­te Arbeitgeberin war allerdings die HASAG (Hugo Schneider Aktiengesellschaft) in Leipzig-Schönefeld auf dem Areal des heutigen Wissen­schaftsparks zwischen Per­moser­straße und Torgauer Straße. Sie war einzige Herstellerin der Panzerfaust und eine der größten deutschen Muni­tions­fabrikantinnen überhaupt. Am Leip­ziger Stammbetrieb wurden ein Männer- und ein Frauenlager eingerichtet, wovon das Frauenlager mit über 5.000 Häftlingen das mit Abstand größte Leipziger KZ-Außenlager war.

Die Ausbeutung der Arbeitskraft von Häftlingen war nicht nur für Betriebe von Vorteil, sondern auch für die Konzentrationslager lukrativ. Vertragspartner für die Unternehmen, die sich um die Beschäftigung von Häftlingen bewarben, war die SS, an die auch der Lohn, eine Art Kopfgeld, für die ArbeiterInnen floss. Entsprachen die Häftlinge nicht den gewünschten Anforderungen der Betriebe, wurden diese relativ problemlos ersetzt. Bei der Ankunft der ersten Häftlinge im KZ-Außenlager in Leipzig-Grünau etwa wurden von Seiten der Firmenleitung der ATG die Ankömmlinge überprüft und fünf Frauen als „unbrauchbar“ ausgemustert. Diese wurden in den sicheren Tod zurückgeschickt und binnen weniger Tage durch „vollwertige“ Arbeiterinnen gemäß Vereinbarung ersetzt. [1] Das Schicksal, das ihnen bei mangelnder Leistung drohte, war den KZ-Häftlingen offenbar bekannt. Felicja Karay, eine überlebende Zwangsarbeiterin bei der HASAG, hat in verschiedenen Veröffentlichungen den Lebensalltag der KZ-Häftlinge dokumentiert. „Wir gingen zur Arbeit, kehrten ins Lager zurück, bekamen Suppe. Nur durchhalten! Nur nicht umfallen! Nur nicht auf Transport gehen!“ [2]

Für Felicia Karay war, wie für viele andere Häftlinge, der Arbeitseinsatz in den letzten beiden Kriegsjahren in Deutsch­land, nur eine letzte Station der Ausbeutung. Eine Vielzahl der HASAG-Zwangsarbeite­rIn­nen in Leipzig aber auch in anderen großen Außenlagern, wie in Meuselwitz oder Schlieben, kamen aus den HASAG-Außenstellen im Generalgouvernement. In Skarzysko-Kamienna, Tschen­stochau und Kielce hatte die HASAG bereits kurz nach Kriegsbeginn die Rüstungsbetriebe übernommen. Die dort ansässigen ArbeiterIn­nen, insbeson­dere das Fachpersonal, wurden unter Dienstverpflichtung in die deutschen Arbeitstätten geholt und durch polnische JüdInnen ersetzt. Wieviele Menschen in diesen Arbeitslagern starben, ist weiterhin unerforscht. Überlieferungen, wie denen von Felicia Karay, zufolge, wurden über dreißig Prozent durch die Arbeit, Krankheiten, aber auch willkürliche Hinrichtungen durch den Werkschutz getötet. Sie galten als entbehrlich, ihre Arbeitskraft war ersetzbar.

Lebens- und Arbeitsbedingungen

Die ZwangsarbeiterInnen im Reichsgebiet, KZ-Häftlinge wie auch Kriegsgefangene und „zivile“ ArbeiterInnen, waren anderen Lebens- und Arbeitsbedingungen als im Generalgouvernement ausgesetzt. Ab­hän­gig von Status, Art der Arbeit und Un­ter­bringung aber auch von Herkunft und entsprechender „rassischer“ Einordnung waren die Bedingungen, unter denen die Zwangs­arbeiterInnen leben und arbeiten mussten, unterschiedlich. Dennoch waren selbst die besser gestellten ausländischen Arbei­terInnen, wie z.B. Freiwillige aus verbündeten Staaten, dem Primat des „Ausländereinsatzes“ unterworfen. Oberstes Ziel war die günstige Gewinnung von Arbeitskraft für die deutsche Kriegswirt­schaft. Für das Gros der ZwangsarbeiterIn­nen bedeutete dies Ausbeutung, Terror und Verelendung. Tägliche Arbeitsdauer von 12 Stunden und mehr bei minimaler Verpflegung, ungenügender bis gar keiner Ausstattung mit Arbeitskleidung sowie kostensparender Unterbringung waren alltäglich. Viele ZwangsarbeiterInnen litten in der Folge der Lebens- und Arbeits­be­dingungen an Begleiterscheinungen von Mangel- und Unterernährung. Die unzureichende hygienische Ausstattung der mei­sten Lager führte zu vielen Krankheiten und ständiger Seuchengefahr.

Die Formen der Ausbeutung mochten variieren, grundsätzlich galt aber, dass der ein­zige Wert und Nutzen der nach Deutsch­land geholten Menschen in ihrer Arbeitsfähigkeit bestand und mit dieser endete. Kranke oder verletzte ArbeiterIn­nen oder auch schwangere Frauen, Kleinkinder und Neugeborene waren Belastung für Betriebe und Staat. Wenn keine Aussicht auf rasche Wiederherstellung der Arbeitskraft bestand, wurden diese in gesonderten Einrichtungen und Lagern dem Sterben überlassen oder auch auf Sondertransporten „zurückgeschickt“. Die Überlebenschance auf diesen Transporten kam der Deportation in Vernichtungslager gleich. Die meisten dieser Personen verschwanden einfach. Ihr Schicksal ist bis heute größtenteils ungeklärt.

Dem Primärziel des Systems des „Auslän­dereinsatzes“ folgend, war es jedoch nicht nur im Interesse der Betriebe sondern auch der beteiligten Institutionen, wie den Arbeitsämtern, den Aufwand einer „Entsorgung“ von Arbeitsunfähigen zu vermeiden und grundsätzlich die Arbeitskraft der ein­mal hierhergeholten Menschen zu erhalten. So lag es nicht an einer veränderten Fürsorgehaltung, dass sich im Verlauf des Krieges, insbesondere ab 1944, die Bedingungen für ZwangsarbeiterInnen zum Teil verbesserten. In dem Moment, als sich abzeichnete, dass der Nachschub an neuen ausländischen Arbeitskräften ausbleiben würde, wurden zunehmend Versuche unternommen, die Arbeits- und Lebensbedingungen für die ZwangsarbeiterInnen vor Ort zu verbessern. In Leipzig wurden bspw. Umzäunungen von „Ostarbeiterlagern“ entfernt und Essensrationen erhöht. Viele Betriebe versuchten mit Zugeständnissen oder Anreizen in Form von Lohnerhöhungen oder ähnlichem auf die Arbeitsmoral einzuwirken und forderten gleichzeitig von städtischen Einrichtungen eine Verbesserung der Lebensqualität jenseits des Arbeitsplatzes. Dies betraf vor allem die hygienischen Zustände, die Eindämmung von Seuchengefahren und die allgemeine medizinische Versorgung.

Kriegsende und Erinnerung

Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner wurden die Konzentrationslager aufgegeben und die Häftlinge auf sogenannte Eva­kuierungsmärsche geschickt. Dies galt auch für die Leipziger Außenlager, von wo die Märsche unter anderem in Richtung Oschatz, Riesa und Wurzen führten. Aufgrund der hohen Sterbeziffer durch Krankheit, Erschöpfung, Erschießungen und Tötungen bei Fluchtversuchen spricht man seit der Nachkriegszeit von diesen Märschen als „Todesmärschen“.

Einige Leipziger Häftlinge, die als zu krank oder gehunfähig für die Märsche befunden wurden, sollten auf den Befehl der Leitstelle der Gestapo in Leipzig „beseitigt“ werden. Sie wurden am 18. April 1945 während des Mittagessens in Baracken im KZ-Außenlager in Abtnaundorf eingeschlossen, diese wurden zugenagelt und angezündet. Von den 307 betroffenen Menschen verbrannten 84 bei lebendigem Leib, andere wurden bei Fluchtversuchen erschossen.

An die KZ-Außenlager von Junkers in Markkleeberg und der HASAG in der Permo­serstraße erinnern heute Gedenksteine, in der Theklaer Straße erinnert ein Obelisk an das „Massaker von Abtnaun­dorf“. Hier findet jährlich am 27. Januar im Rahmen der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz eine eher spärlich besuchte Kranzniederlegung statt. An die tausen­den anderen Opfer des Systems der Zwangs­arbeit in Leipzig wird allerdings nirgendwo erinnert.

(teckla)

[1] Irmgard Seidel, Leipzig-Schönau, in Wolfgang Benz, Barbara Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 3, München 2006, S. 494.

[2] Felicja Karay, Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten, Köln 2001, S.142.

Ausbeutung als Alltag

NS-Zwangsarbeit in Leipzig (Teil1)

Über die Geschichte Leipzigs im Nationalsozialismus wird zwar nicht grundsätzlich geschwiegen, sie ist aber dennoch, bis auf wenige Schlaglichter, kaum bekannt. Diese Schlaglichter beschränken sich, wie z.B. in der Online-Chronik der Stadt, auf das Jahr 1933, als die Nazis kamen, 1938, als die Reichspogromnacht „für über 13.000 jüdische Bürger der Stadt den Anfang vom Ende“ bedeutete, den schwersten Luftangriff am 4. Dezember 1943 und dann das Ende 1945 mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen. Dass Leipzig ein sehr funktionstüchtiges Rädchen in der NS-Maschinerie war, unter anderem als ein Zentrum der Kriegswirtschaft und Arbeitsort für annähernd 100.000 ZwangsarbeiterInnen, geht hieraus jedoch nicht hervor.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Deutschland mehr als zehn Millionen Fremd- und ZwangsarbeiterInnen in nahezu allen Wirtschaftszweigen und Bereichen des öffentlichen Lebens beschäftigt – ausländische ZivilarbeiterInnen, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge. Bis zu ihrer Deportation wurden auch noch im großen Umfang die jüdische Bevölkerung sowie „Zigeuner“ zur Zwangsarbeit herangezogen. Die sogenannten ZivilarbeiterInnen kamen sowohl aus den verbündeten als auch aus den besetzten Ländern zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. In den ersten Kriegsjahren konnten diejenigen, die den Versprechen von Lohn und Arbeit aus eigenem Antrieb, wenn auch nicht immer frei von äußeren Zwängen, folgten, den Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften zunächst noch decken. Durch den zunehmenden Wegfall deutscher Arbeitskräfte zugunsten des Fronteinsatzes und die gleichzeitig steigende Kriegsproduktion, wurde bald auf Maßnahmen der Zwangsrekrutierung von ZivilistInnen zurückgegriffen. Es gab in den besetzten Ländern repressive Sondergesetzgebungen, die den Einsatz im Reich erzwangen, es kam aber auch überall zu Verschleppungen, Deportationen nach spontanen Razzien usw. Einer der Verantwortlichen für diese brutale Form der Arbeitsmarktregulierung, Fritz Sauckel, der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ erklärte 1944: „Von den 5 Millionen ausländischen Arbeitern, die nach Deutschland gekommen sind, sind keine 200.000 freiwillig gekommen“ (1).

Bei Stellung und Behandlung der Zwangs- und FremdarbeiterInnen wurde nach Status, zivil oder kriegsgefangen, nach Herkunftsland und ganz deutlich nach den im NS geltenden rassisch-ideologischen Kriterien unterschieden. So galten „ausländische Arbeitnehmer aus den besetzten Gebieten im Westen und Norden des Reiches germanischer Abstammung“, d.h. niederländischer, dänischer, norwegischer und flämischer Herkunft, als den Deutschen gleichberechtigt. Das bedeutete auch, dass sie Einfluss auf ihre Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen hatten und nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge in ihre Heimat zurückkehren konnten. Dies galt auch für ArbeiterInnen aus den verbündeten Staaten. Deutlich schlechter gestellt waren ZivilarbeiterInnen aus besetzten Ländern sowie Kriegsgefangene. Unabhängig vom Grad der Freiwilligkeit ihres Arbeitsaufenthalts in Deutschland unterstanden sie einer Dienstverpflichtung, in der sie wenig bis keine Freiräume hatten, die sie nicht auf eigenen Wunsch beenden oder ändern konnten. Alle diese Menschen waren gezwungen bis zum Kriegsende in Deutschland zu bleiben. Auf der untersten Stufe der ZivilarbeiterInnen standen diejenigen aus dem Generalgouvernement Polen und die „Ostarbeiter“ aus der Sowjetunion. Sie waren starken Diskriminierungen ausgesetzt, mussten sich in der Öffentlichkeit mit einem Aufnäher kennzeichnen und unterlagen extremen Beschränkungen. So war den polnischen ZivilarbeiterInnen in Leipzig nach einem Beschluss aus dem Jahr 1941 die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, der Besuch von Gaststätten oder kulturellen Einrichtungen und das Betreten des Stadtzentrums untersagt. Eine ähnliche Stellung in der Hierarchie nahmen die polnischen Kriegsgefangenen ein, sowie die nach 1943 hinzukommenden italienischen Militärinternierten. In Folge des Waffenstillstandes Italiens mit den Alliierten wurden große Teile der italienischen Armee entwaffnet und zur Arbeit in Deutschland gezwungen. Eine letzte Gruppe, bei der in neueren Darstellungen mitunter nicht von Zwangsarbeit sondern von Sklaverei gesprochen wird, bildeten die sowjetischen und polnisch-jüdischen Kriegsgefangenen, Konzentrations- und Arbeitslagerhäftlinge, sowie „Arbeitsjuden“ aus Zwangsarbeiterlagern und Ghettos. Die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft diente den Deutschen als willkommenes und effektives Mittel zur Vernichtung dieser als „unwert“ erachteter Menschen.

Wirtschaft und Zwangsarbeit in Leipzig

In ganz Sachsen waren zu Kriegsbeginn noch verhältnismäßig wenige ZwangsarbeiterInnen im Einsatz (2). Anfangs wurden diese vor allem in der Landwirtschaft und somit im Umland eingesetzt. Das Einbinden ausländischer Arbeitskräfte war in der Region jedoch nicht unumstritten. Gerade der sächsische Gauleiter Manfred Mutschmann äußerte Vorbehalte und forderte, das deutsche Dorf müsse frei von nichtdeutschstämmigen Arbeitskräften bleiben. Nichsdestotrotz wurden aufgrund des wachsenden Bedarfs aber schon 1939 mehrere hundert polnische ZwangsarbeiterInnen, vornehmlich Kriegsgefangene, im Leipziger Umland eingesetzt. Ab 1940 begann das Interesse an ZwangsarbeiterInnen auch in der Leipziger Industrie zu wachsen und dies schlug sich ab 1942/43 auch in den Zahlen nieder. Bei der Heranziehung von ZwangsarbeiterInnen taten sich vor allem die etablierten Rüstungsunternehmen hervor, aber auch diejenigen, welche ihre Produktionspaletten im Sinne der Kriegswirtschaft umstellten oder als Zuliefererbetriebe für andere Firmen fungierten. Als Beipiel zu nennen wäre an erster Stelle die Hugo Schneider AG (HASAG), das größte sächsische Rüstungsunternehmen, das neben der Munitionsherstellung vor allem mit der Produktion der Panzerfaust eine wichtige Stellung einnahm. Die Erla-Maschinenwerke, die Allgemeine Transportanlagen GmbH (ATG) und die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke produzierten das Messerschmidt-Jagdflugzeug Bf109 sowie die Ju 88, das Standard-Kampfflugzeug der Deutschen Luftwaffe. Die Christian Mansfeld GmbH stellte erst Werkzeug- und Druckereimaschinen her, dann Raketenteile für die „V2“, die Rudolf Sack KG ergänzte bereits 1933 die Herstellung von Bodenbearbeitungsgeräten um die Produktion von Bomben und Granaten. Die Pianofortefabrik Hupfeld-Zimmermann konzentrierte sich auf die Produktion von Militärbedarf für die Luftwaffe. Unterschiedlichen Zählungen und Listen zufolge beläuft sich die Zahl der Rüstungsbetriebe in der Stadt im Jahr 1939 auf fast einhundert (3). Gleichzeitig gab es eine Reihe von Unternehmen, die, wenn auch nicht direkt an der Rüstungsproduktion beteiligt, als kriegswichtig galten. Während das Gros der ZwangsarbeiterInnen in dieser Branche verpflichtet wurde, waren auch in allen anderen noch aktiven Bereichen der städtischen Wirtschaft, vom Druckerei- und Verlagswesen, über Gärtnereien, den Einzelhandel, das Handwerk, bis hin zur Hauswirtschaft ausländische Arbeitskräfte beschäftigt. Die Leipziger Verkehrsbetriebe, die Deutsche Reichsbahn und die Post griffen zur Aufrechterhaltung ihres Betriebs ebenfalls auf ZwangsarbeiterInnen zurück. Ein sehr großer Anteil wurde zudem im kommunalen Dienstleistungs- und Versorgungssektor, wie dem Vieh- und Schlachthof, der Müllabfuhr und in der Stadtverwaltung eingesetzt. Gefährliche und schmutzige Arbeiten fielen vor allem jüdischen ArbeiterInnen und Kriegsgefangenen zu. Letztere wurden in Folge der Luftangriffe auch für Räumungsarbeiten herangezogen. Die weit verbreitete Vorstellung, dass sich Zwangsarbeit allein in der Kriegs- und Rüstungsindustrie abspielte, ist daher Illusion. Das „So einen hatte doch jeder“ (4), was in der Landwirtschaft galt, lässt sich auch für die Leipziger Wirtschaft anbringen.

Unterbringung

Die Unterbringung der ZwangsarbeiterInnen erfolgte auf ganz unterschiedliche Weise. Da Bestimmungen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zufolge „sowohl aus völkischen, sicherheitsmäßigen wie auch kriegswichtigen Gründen eine Unterbringung in Privatquartieren nicht möglich“ war, wurden an allen möglichen Plätzen Wohnlager errichtet. Es gab Firmenlager, die den ArbeiterInnen auf dem Betriebsgelände als Unterkunft dienen mussten. Waren diese Möglichkeiten nicht gegeben oder bereits ausgeschöpft, griffen viele Betriebe darauf zurück, Räume in der Umgebung in Lager umzuwandeln. Sie erhielten dabei, vermutlich aus städtischem Interesse am Wirtschaftsstandort und den zusätzlichen Einnahmen aus der Gewerbesteuer, Unterstützung von der Stadtverwaltung, die Gebäude und Grundstücke zur Verfügung stellte. Das waren unter anderem Gaststätten, wie z.B. das „Waldcafé“ in Connewitz, Kleingartenanlagen, wie beim Lager „Am Entenweiher“ in der Gartenanlage am Prießnitzbad. Ungenutzte Schulen und Turnhallen wurden genauso zweckentfremdet wie fremde oder auch stillgelegte Betriebsgelände und enteignete Gebäude. Das Brausebad Connewitz wurde zum Lager „Südbrause“, in der Zentralstraße 12 entstand das Gemeinschaftslager „Loge“. Es gab Lager mit anheimelnd klingenden Namen wie „Vogelsang“ oder „Schwarze Rose“. An verschiedenen Orten der Stadt, so auch auf Sportplätzen, wurden außerdem in großem Umfang Barackenlager errichtet. Viele der Lager waren überwacht und eingezäunt, insbesondere bei Kriegsgefangenen und den ZivilarbeiterInnen, bei denen aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen Fluchtgefahr bestand. Bei einer neueren Untersuchung des Leipziger Stadtarchivs konnten ca. 700 Sammelunterkünfte ermittelt werden, von denen 400 im Stadtgebiet lagen. Sie befanden sich sowohl in Wohn- als auch in Industriegebieten. In der Braustraße 28, Ecke Adolf-Hitler-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße und Feinkostgelände) befand sich beispielsweise das Lager Südbräu, welches von der Wirtschaftskammer betrieben wurde. Hier waren über hundert Menschen untergebracht, die in fast 70 Firmen arbeiteten, die über die ganze Stadt verteilt waren. Ein städtisches Kriegsgefangenenlager befand sich in der Gießerstraße 66 im auch heute noch existierenden Ballhaus Mätzschkers Festsäle. Von hier aus erfolgte der Arbeitseinsatz für Hafen-, Tiefbau- und Stadtreinigungsamt. Auch auf dem Hafengelände entstanden Gemeinschaftslager und Lager für Kriegsgefangenenarbeitskommandos.

Ab 1943 wurde in Leipzig zudem mit der Einrichtung von insgesamt acht Außenlagern des KZ Buchenwald begonnen. Die hier untergebrachten Häftlinge waren bei der HASAG, in den Erla-Werken, bei Junkers, ATG und Mansfeld beschäftigt (5).

Die nahezu flächendeckende Ausbreitung, sowohl was Arbeitsorte als auch Unterkünfte für die ZwangsarbeiterInnen betrifft, macht deutlich, wie selbstverständlich die Ausbeutung „nichtdeutschstämmiger Arbeitskraft“ in Leipzig war. Zwangsarbeit fand in der Nachbarschaft, im eigenen Betrieb, vor den Augen und im Beisein der Bevölkerung statt.

In der übernächsten Feierabend!-Ausgabe wird der Artikel fortgeführt und auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ZwangsarbeiterInnen und das Schicksal der KZ-Häftlinge eingegangen. Abschließend sollen einige erinnerungskulturelle Aspekte angesprochen werden.

(teckla)

 

(1) siehe Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart 2001, S. 36.

(2) siehe auch im Folgenden: Thomas Fickenwirth/Birgit Horn/Christian Kurzweg, Fremd- und Zwangsarbeit im Raum Leipzig 1939-1945. Archivalisches Spezialinventar. Hrsg. v. Stadtarchiv Leipzig, Leipzig 2004, S. 5-26.

(3) siehe Klaus Hesse, Rüstungsindustrie in Leipzig, Leipzig 2001.

(4) Roland Werner, „So einen hatte doch jeder im Dorf“ – Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft Thüringens 1939-1945, Erfurt 2006.

(5) siehe Wolfgang Benz/Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 3, Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006.