Archiv der Kategorie: Feierabend! #39

„Leipziger Zustände“ in Runde zwei

Seit Ende 2008 berichtet die Internet-Dokumentationsplattform chronik.LE (siehe FA! #32) über „rassistische, faschistische und diskriminierende Ereignisse in und um Leipzig“. Die Initiative veröffentlicht aber auch in gedruckter Form, in der Broschüre „Leipziger Zustände“, deren zweite Ausgabe im November 2010 erschien. Hier findet mensch viel Wissenswertes, z.B. über neonazistische Umtriebe in Leipzig und Umgebung. Aber auch das Weltbild der Neonazis (etwa ihre Idee vom „deutschen Volk“) wird analysiert, ebenso wie die Rolle der Frauen in der rechten Szene. Ebenso wird die Situation von Migrant_innen in Leipzig beleuchtet, die Medinetz-Initiative (siehe FA! #38) vorgestellt, das neu errichtete Uni-Gebäude auf seine Behindertentauglichkeit geprüft und nachgeschaut, welche Folgen die Hartz-IV-Gesetze für Leipziger Erwerbslose hatten. Dass es auch angenehm sein kann, die Arbeit loszuwerden, zeigt dagegen ein Interview mit dem Hausphilosophen des Leipziger Centraltheaters, Guillaume Paoli, der über seine Erfahrungen in der Bewegung der „Glücklichen Arbeitslosen“ berichtet. Und auch Thilo Sarrazin kriegt sein Fett weg, wenn erklärt wird, wie Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung genutzt werden, um Stimmung gegen Randgruppen zu machen.

So löblich, wie der Inhalt ist, lässt sich nur darüber meckern, dass diskriminierende Einstellungen hier immer wieder „menschenverachtend“ genannt werden. Schließlich richtet sich Diskriminierung (anders als allgemeine Misanthropie) immer nur gegen bestimmte Menschengruppen, und genau das macht sie politisch so gefährlich. Nur ein Detail, aber „Sprache ist nicht `neutral`“, das wissen die Autor_innen ja auch selber. Ansonsten: Weiter so!

(justus)

Wir haben blockiert – Du auch?

November 2010 – der Gorleben-Castor der Superlative: Es war der längste Castor­trans­port aller Zeiten. Es war einer der teuersten Transporte aller Zeiten. Es war der größte Protest aller Zeiten. Angefangen hat es wie in jedem Castorjahr. Die verschiedenen Ko­ordi­nierungsgruppen trafen sich in kleinem Kreis und begannen die Planung für den Castor­protest im November 2010. Doch in diesem Jahr war vieles anders. Früher als sonst startete die Mobilisierung auch bei X-tausendmal quer, einer Initiative, die seit vielen Jahren die Castortransporte nach Gorleben mit Sitzblockaden auf Straße und Schiene blockiert und mit einer viel intensiveren Kampagne als noch in den letzten Jahren in die Vorbe­reitung startete.

Eine neue Website ging online, ein neues Logo wurde entwickelt. Der Newsletterversand startete bald und brachte es bis zum Ende der Kam­pagne auf über 4000 Empfänger_innen. Mehrere tausend Menschen erklärten im Vorfeld online ihre Absicht, an den Aktionen teilzunehmen oder ihre Solidarität mit den Ak­ti­vi­st_innen. Plakate, T-Shirts, Aufkleber wurden produziert. Infoveranstaltungen bundesweit angeboten. Mobilisierungsclips für die Aktion von X-tausendmal quer liefen in über 90 Kinos in ganz Deutschland. In einer bundesweiten Trainingskampagne fanden weit über 60 Aktionstrainings mit insgesamt über 1000 Teilnehmenden statt. Diese Großkam­pag­ne von X-tausendmal quer wurde von einem immer größer werdenden Team von Ehrenamtlichen über 10 Monate vorangetrieben.

Begleitet von Höhepunkten, wie der Großdemonstration am 18. September in Berlin und dem Streckenaktionstag am 24. Oktober mit Aktionen an über 70 möglichen deutschen Durchfahrtsorten des hochgefährlichen Müllzuges, wurde das Thema Castortransport nach Gorleben immer größer, wichtiger und bekannter. Auch gab es in diesem Jahr neue Initiativen und Gruppen wie die große Kampagne Castor?Schottern! oder die sehr erfolgreiche Südblockade. Und es gab die „guten Alten“, die BI Lüchow-Dannenberg oder die bäuerliche Notgemeinschaft. Die gegenseitige Unterstützung und Solidarität waren auch in diesem Jahr an allen Stellen spürbar. Sowohl im Vorfeld, als die Staatsanwaltschaft bspw. Versuche startete, die öffentlichen Unterstützer_innen der Kampagne Castor?Schottern! zu kriminalisieren, als auch während der gesamten Aktionstage.

Anfang November begann die heiße Phase. Mit der Eröffnung des Camps in Gedelitz am 3.11. begann X-tausendmal quer die intensive Vorbereitung auf die Aktion. Mit täglichen Ak­tions­trainings, Workshops zur Bezugsgrup­pen­findung, Sprecher_innenräten, Infozelt, Info­ver­anstaltungen zum aktuellen Stand der Dinge wurde von uns alles getan, um die vielen Ak­tivist_innen in die Strukturen einzubinden, ihnen eine möglichst gute Vorbereitung zu ermöglichen.

Am Freitag, den 4.11. fuhr der Castor-Transport dann planmäßig los – kam aber nicht weit. Bereits nach wenigen Kilometern begannen die Gegenaktionen. Mehrere Blockaden auf französischem Boden, gefolgt von Blocka­de­aktionen kurz hinter der Grenze, Kletterak­tio­nen und angeketteten Menschen auf den Schienen. Unterdessen fand am Samstag in Dannenberg die bisher größte Demonstration in der Geschichte der Wendland-Proteste statt. 50.000 Menschen kamen aus dem ganzen Bundesgebiet und auch aus Nachbarländern wie Österreich oder der Schweiz, um der deutschen Regierung klar zu machen, dass sie mit der aktuellen Politik nicht einverstanden sind, dass sie den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft fordern, dass sie sich von Regierung und deren geheimen Verabredungen mit den Atomkonzernen hinters Licht geführt sehen. Und genau das ermutigte viele tausend Menschen in diesem Jahr nach der Demonstration einen Schritt weiterzugehen. Den Schritt von der Teilnahme an einer Demonstration hin zum aktiven zivilen Ungehorsam.

So auch bei X-tausendmal quer. Am Sonntag, den 5.11. gingen über 1.000 Menschen vom Camp Gedelitz aus auf die Straße. Die Blockade vor dem Zwischenlager begann, weitgehend unbehelligt von der Polizei, die zu dem Zeitpunkt damit beschäftigt war mehrere tausend Aktivist_innen an der Schiene von ihren Aktionen abzuhalten. Knapp 45 Stun­den blockierten die Aktivist_innen von X-tausendmal quer die Straße zum Zwischenlager. Am Dienstag ließen sich 4.000 Menschen von der Straße vor dem Zwischenlager tragen. Über 1.000 von ihnen hatten dort zwei Nächte geschlafen, vor der klirrenden Kälte geschützt durch Stroh, Schlafsäcke und Ret­tungsdecken. Tagsüber bereiteten sie sich mit Trainings in gewaltfreiem Handeln auf die Räu­mung vor und hielten sich mit Tee, Suppe und Bewegung warm.

Die Initiative X-tausendmal quer wertet die Blockade des Zwischenlagers und die Proteste der vergangenen Tage als wichtigen politischen Erfolg. „Der entschlossene massenhafte Protest der letzten Tage ist ein starkes politisches Signal: Die Endlagerfrage ist ungelöst, Gorleben kein geeigneter Standort und die Verlängerung von AKW-Laufzeiten lebensfeindlich“, erklärte deren Sprecherin Luise Neumann-Cosel, „Die schwarz-gelbe Energie­poli­tik ist unverantwortlich und nicht durchsetzbar. Die Polizei konnte die Straße räumen, doch die Regierung kann den Konflikt nicht aus­räumen.“

Wichtig ist an dieser Stelle auf folgendes hinzuweisen: Bei der Räumung der Blockade vor dem Zwischenlager wahrte die Polizei zum großen Teil die Verhältnismäßigkeit und trug die Blockierer_innen einzeln von der Straße. Allerdings war die Polizei dazu nicht an allen Orten in der Lage. Es kam zu Übergriffen, bei denen friedlichen Demonstrant_innen aus weni­ger als 50cm Entfernung Reizgas direkt in die Augen gesprüht wurde. Ganze Waldabschnitte wurden mit CS-Gas vernebelt, so dass sämtliche dort Anwesende unterschiedslos betroffen waren. Polizeibeamte – darunter in min­destens einem Fall sogar ein Polizeisani­tä­ter – wurden dabei beobachtet, wie sie ohne Vor­warnung und sichtbaren Grund auf Demonstrant/innen einprügelten. Durch diese Vorgehensweise wurden insgesamt mehr als 1000 Menschen verletzt. Ein professioneller Kletterer, der sich an einen Baum gekettet hat­te, wurde von einem Polizeibeamten ohne Vorwarnung in vier Meter Höhe mit Reizgas der­art attackiert, dass er vom Baum stürzte.

Der Widerstand in Gorleben war groß und ein unübersehbares Signal an die Verantwortlichen in der Regierung. Nun gilt es den Druck auf die Bundesregierung weiter aufrecht zu erhalten und zu steigern. Die nächsten Gelegenheit bietet sich trauriger weise noch in diesem Jahr. Mitte Dezember rollt der nächste Castorzug. Zwar nicht ins Wendland, aber nicht weniger umstritten und gefährlich. Er transportiert vier Castoren aus dem französischen Cadarache in das Zwischenlager nach Lubmin bei Greifswald. Wir werden wieder blockieren! Du auch?

J.M.

weitere Infos unter:

lubmin-nixda.de und x-tausendmalquer.de

Wer Laufzeitplus sät – wird Schotter ernten

Neues Laufzeitplus – neue Antworten: Schottern… die Unterhöhlung der Gleise durch Entfernen der Steine. Keine neue Aktionsform, auch nicht in der wend­ländischen Anti-Castor-Tradition, genauso wenig wie die eingesetzte 5-Finger-Grup­pentaktik*. Neu sind das Ausmaß der medialen Bewerbung, die solidarische Co-Existenz im Reigen etablierter Aktionsformen und die massenhafte Zustimmung zur erklärten Gesetzesüberschreitung.

Dank der Kriminalisierung im Vorfeld zeigt sich die Polizei, trotz der zeitlichen Nähe zu den Über­giffen auf Stutt­gart21-Geg­ner_in­nen, von ihrer hässlichsten Seite. Aufgrund der Massenbeteiligung wird nicht verhaftet, sondern die Strategie beinhaltet Wasserwerfereinsatz, Pfefferspray, Schlagstöcke und Pferde. Doch die außergewöhnliche Wirkung der Aktion lässt sich weder in geschotterten Metern, noch am Anteil an den ca. 36 Stunden Verspätung des Castors messen. Sie liegt vielmehr in den politischen Kosten und der wochenlangen medialen Auseinandersetzung. Mit 4.000 Menschen hat die Aktion, neben zivil ungehorsamen Sitz- oder Treckerblockaden, die Grenze dessen verschoben, was „Mensch“ sich zutraut. Und körperliche Wunden heilen, aber das Gefühl „dabei gewesen zu sein“ bleibt und die Überzeugung wächst.

Wandertag in Köhlingen … Die Nacht bleibt bis zum großen Weckruf mit dem Megafon fünf Uhr morgens für viele schlaflos aufgrund einer eisigen Kälte. Als der Startschuss für den acht Kilometer langen Marsch fällt, ist es immer noch finster und eiskalt. Aber entschlossen laufen wir fast polizeifrei bis zum Beginn des Waldes. Nur kurz entsteht Gerangel, als berittene Beamte versuchen, Luftmatratzen oder Strohsäcke zu entreißen. Aber uns begleiten begeisterte und anfeuernde Rufe aus Fenstern wend­ländischer Bevölkerung. Angekommen am Waldrand ist dann Kondition gefordert. Dort stehen wir einer Polizistenkette gegenüber und bekommen das erste Mal zu spüren, wie sich Knüppel und Tritte anfühlen. Zwar werden die Schotterer weit auseinandergezogen aber die Polizisten haben keine Chance. Nach einigen Versuchen, einem Knüppel am Schienbein und einem Stoß komme ich durch die Polizeikette und finde mich mit einigen im Wald wieder, jedoch niemanden aus meiner Bezugsgruppe und niemanden, der Ahnung vom Gelände hat. Wir treffen wenig später auf eine andere Kleingruppe und tauschen persönliche Angaben für den Fall einer Verhaftung aus. Dann geht es noch einmal gefühlte hundert Kilometer durch den Wald, bis endlich die Schienen in Sicht sind. Dieses Wegstück bleibt nicht so unentdeckt. Wir kreuzen immer wieder berittene Einsatzkräfte, sehen Einsatzwagen in einiger Entfernung und laufen sogar Teilstrecken mit ihnen zusammen. Am Gleis angelangt ist Freude spürbar, denn andere sind bereits da und es finden sich einzelne aus Bezugsgruppen wieder, so dass wir wieder gewaltig an Personenstärke gewinnen. Jedoch bietet sich uns ein Anblick von dicht an dicht gestellten Sixpacks auf den Schienen und einer undurchdringbar scheinenden Polizeikette mit finsteren Mienen davor.

Der erste Schotterversuch erfolgt dann geschlossen, in vorderster Front Grüppchen mit Planen, Luftmatratzen oder Strohsäcken und dahinter Demonstranten, die schieben – an Schottern aber ist nicht zu denken. Einige gelangen zwar auf die Schiene und dann mit knapper Not auf die gegenüberliegende Böschung, sind nun aber vom Rest der Gruppe abgeschnitten. Dort sieht man kurze Zeit später ein Was­ser­­werferfahrzeug als Antwort. Das passt zur Atmosphäre auf unserer Seite, die durchdrungen ist von Aggressivität, die durch blitzende Knüppel und überdimensionale Pfeffersprayspritzen entsteht, die die Polizisten nicht nur in den Händen halten, sondern auch eifrig einsetzen. Der Wald ist schon jetzt vernebelt von dem ganzen Reizgas und detonierten Tränengaskartuschen. Fotografen werden immer wieder zurückgedrängt und viele Verletzte müssen durch eigene Sanitätern an den Augen und am Kopf behandelt werden. Dennoch ist es auch ein überragendes Gefühl, denn wir sind so unglaublich viele. Wir sind Mädchen und Frauen, Jugendliche und über 50-jährige, Erfahrene und Unerfahrene, Jungs und Männer und jeder schätzt selbst ein, wie weit er/sie in Kontakt mit der Polizei geht. Und wir sind solidarisch. Wird einer geknüppelt, sind sofort Hände da, die ihn wegziehen und Körper, die sich dazwi­schen schieben.

Für den Moment ist die Lage verhältnismäßig ruhig. Wir stehen den Einsatzkräften gegenüber: Die Polizisten auf den Gleisen, die Demonstranten einige Meter daneben. Doch dann wird neu organisiert. Wir sind wütend über das widerliche Vorgehen der Polizei. Wir teilen uns in drei große Gruppen, eine läuft nach links durch den Wald und eine nach rechts, und ziehen so die Polizeieinheiten weiter auseinan­der. Die dritte Gruppe bleibt und stößt immer wieder ohne großen Erfolg nach vorn. Erneute Lagebesprechung. Wir, die geblieben sind, probieren eine neue Taktik. In kleineren Gruppen versuchen wir nun nadel­stichartig auf die Gleise zu stürmen und ziehen uns dabei weiter in die Länge. Vereinzelt gelingt es an die Schienen zu kommen, aber nicht wirklich den Schotter abzutragen, denn sofort spüren wir Pfefferspray und Schlagstöcke, die uns wegdrängen.

Zwischendurch entsteht eine bizarre Situation. Hunderte grölende und lachende Demonstranten, die mit Planen und Luftmatratzen wedeln, stehen fünf berittenen Beamten gegenüber, deren Pferde scheuen und rückwärts auf die Hundertschaften vor ihrer grünen Kleinbuskolonne galoppieren. Irgendwann, jegliches Zeitgefühl schwebt mit dem Tränengas zwischen den Bäumen, marschieren wir alle in den Wald hinein und es wird auf einer Wiese Pause gemacht. Leute aus dem Camp sind mit der mobilen Küche unter­wegs, werden behindert weiterzufahren und tragen die Suppen- und Teekessel kurzerhand zu Fuß zu uns in den Wald. Endlich ist Zeit, sich Informationen über andere Aktionen einzuholen. Wir bejubeln die ersten der 5.000, die sich bei Harlingen auf die Schienen setzen und hören einzelne erfolgreiche Schottermeldungen. Wir hören auch die Rechtfertigung der Polizei, dass Aktivisten zuerst angegriffen haben. Tatsächlich aber ist der Protest geprägt von einer sehr entschlossenen Gewaltfreiheit, die immer wieder mit den Megafonen propagiert wird.

Nachdem sich eine kleine Gruppe auf den Weg zurück ins Camp begeben hat, geht’s für den erstaunlich großen Teil der Verbleibenden weiter, wieder durch den Wald und erstmal im Zickzack, um Verwirrung zu stiften. Trotzdem immer wieder Polizisten, überall. Aber wir, geeint, solidarisch und uns selbst mit Anti-Castor-Parolen aufmunternd, blockieren hinter uns den Weg mit Baumstämmen und Ästen. Wir sehen wieder Gleise und gleichzeitig, dass die Gleise so tief in der Böschung liegen, dass keine Fahrzeuge und undurchdringlichen Poli­zisten­ketten uns den Weg versperren. Sofort stürmt die große Masse der Aktivisten unorganisiert hin­unter und …schottert. Endlich! Die nächste Stunde ist gekennzeichnet von Hinunterstürmen und Hinaufrennen, Schottern und Prügel beziehen, tränenden Augen die behandelt werden und Aufforderungen an die Polizei, die Gewalt einzustellen.

Wir bewegen uns immer weiter, um nicht festgesetzt zu werden, gleichzeitig rücken Fahrzeuge hinter uns näher – die Baumstämme halten sie nicht so lange auf. Die noch übrigen Planen und Luftmatratzen kommen zum Einsatz. Unsere Pressebegleitung ist enorm zusammengeschrumpft. Einer, mit dem ich angereist bin, läuft vor mir wie blind mit brennenden Augen die Böschung hoch. Ich stütze und ziehe ihn gleichzeitig von den näher rückenden Einsatzkräften weg in den Wald hinein. Hin zu einem Sanitäter, der bereits mehrere Augenpaare ausspült. Erst Kochsalzlösung, dann klares Wasser. Schmerz­­lindernde Augentropfen sind alle. Wieder ziehe ich ihn weiter, hin zur Gruppe, weg von der aufrückenden Gefahr.

Wir sind alle an einer Stelle angekommen, die eine kleine Lichtung hat und uns Rückzugsraum und damit Schutz bietet. Es ist noch circa eine Stunde Zeit, bis es anfängt dunkel zu werden und wir den Wald verlassen müssen, wenn wir den Weg zurück zum Camp noch finden wollen. Wir sind erschöpft, aber euphorisch. Einige begeben sich zur Sitzblockade bei Harlingen, einige auch auf den Rückweg und alle sind glücklich, als es heißt, es sind Shuttlebusse organisiert, die uns an der Straße abholen.

Eine große Gruppe jedoch bleibt, und Delegierte der verbleibenden Aktivistengruppen entscheiden über einen weiteren Vorstoß. Der Punkt, an dem wir uns jetzt befinden, ist dafür ungünstig. Zu lange Zeit am selben Ort, viel Zeit für die Polizei personellen Nachschub aufzufahren. Und unser Einsatz von Körpern für den Widerstand ist sichtbar. Überall rote Augen, humpelnde Aktivisten und provisorische Armstützen. Wasserwerfer, Pfefferspray, Schlagstöcke und Pferde haben deutliche Spuren hinterlassen. Das Plenum führt ins Nichts. Es lässt sich kein Konsens finden weiterzuziehen, hier vor Ort anzugreifen oder aber den Rückzug anzutreten. Dann nimmt uns die Zeit die Entscheidung ab … und ein langer, ereignisreicher Tag neigt sich dem Ende entgegen.

Der Weg bis zur Straße ist lang. Ich humpele irgendwann den Anderen hinterher und lasse alles Revue passieren. Wie fremd doch diese Art der Aktion meinem alltäglichen Leben ist und meine bisherigen Demonstrations- und Aktionserfahrungen übersteigt. Doch obwohl ich merke, dass mein Knöchel immer dicker wird, obwohl meine Beine schmerzen und ich die Hämatome förmlich wachsen spüre und auch die Erschöpfung kaum noch auszuhalten ist, bin ich berauscht. Ich habe Prügel von Beamten bezogen, weil ich einem, dem die Luft abgequetscht und einem, dessen Gesicht brutal in die Erde gedrückt wurde, helfend zur Seite gesprungen bin. Ich wurde von einem Beamten in den Dreck gestoßen, getreten und geprügelt, weil ich es spaßig fand, mit einer anderen Frau hinter eine endlos große Polizeikette zu rennen, um ironischerweise zu rufen „Bullen einkesseln“. Auch wenn ich glücklicher als viele andere war und keine direkte Ladung Reizgas in die Augen bekommen habe, brennen und tränen sie von den Wolken, die noch immer im Wald hängen. Aber es macht mir nichts aus. Das couragierte Auftreten gegen brutales Polizeivorgehen ließ mich nicht den körperlichen Schmerzen nachhängen, sondern Entschlossenheit, Tatkraft und Energie in mir wachsen. Dieses stumpfsinnige und sinnlose Knüppeln, Treten und Schla­gen auf die wehrlosen Körper von Menschen, immer wieder und wieder, diese uniformierte Demonstration von Macht war genau das, was mich stundenlang lebendig hielt. Ich habe gesehen und gespürt, wie das System gehorchend dort zuschlägt, wo Menschen aufbegehren, weil sie nicht einverstanden sind. Und genau das, denke ich, hat meine Berauschtheit verursacht. Bei keiner anderen Aktion habe ich ein derartiges Gefühl an Solidarität und einen so einheitlichen Konsens von Gewalt­freiheit unter so unglaublich vielen Menschen gespürt, ungeachtet dessen, dass sie auf Beamte trafen, die mit aller Härte vorgingen. Der Erfolg ist ein gemeinsamer, geprägt von der Gewaltfreiheit Tausender.

(monadela)

* Bei der Fünf-Finger-Taktik handelt es sich um genaue Absprachen in und zwischen verschiedenen Bezugsgruppen über das Be­wegungsverhalten, um an größeren Polizeisperren „vorbeizusickern“ und danach wieder zusammenzufinden. Sie wurden schon bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 erfolgreich erprobt.

Im Überblick: Die Aktiven der Anti-AKW-Proteste

Da wir Euch trotz dreier Artikel zu den Protesten gegen den 12. Castortransport ins Wendland keine chronologische Übersicht der Ereignisse liefern, findet Ihr hier zumin­dest alle wesentliche Akteure und ihre Aktionen kurz vorgestellt.

Aktionsbündnis Südblockade

Es ist wohl der allgemeinen Proteststimmung im Schwabenländle zu verdanken, dass es bei diesem Castortransport schon an der deutsch-französischen Grenze zu einer großangelegten Sitzblockade auf der Schiene kam. Das relativ spontan zusammengetretene Aktionsbündnis Südblockade schaffte es am Samstag, den 06.11. bereits bei Berg (Pfalz) zeitweilig mehr als 1.500 Menschen zu einer geschlossenen Gleisblockade zu bewegen. Der Castor­zug mußte deshalb auf eine Ersatzroute aus­wei­chen und einen Umweg nehmen. Die Räumung erfolgte weitestgehend friedlich, von Übergriffen, gleich welcher Seite, ist nichts bekannt. Das Bündnis konnte durch die erfolgreiche Aktion unterstreichen, dass es nicht nur möglich, sondern auch taktisch wertvoll sein kann, den Castorzug bereits zu blockieren, bevor er das Wendland erreicht.

www.castor-suedblockade.de

Castor? Schottern!

Die Kampagne der Initiative Castor?Schottern! war neu und einzigartig. Bereits im Vorfeld der Aktionen wurde öffentlich ausgesprochen, dass die AktivistIn­nen einen kollektiven Rechts­bruch begehen werden. Unter Mißach­tung der Bannmeile und polizeilicher Anordnungen wollte die Initiative zur Schiene zwischen Lüneburg und Dannenberg vordringen und diese durch das Entfernen der Schotter­steine vorübergehend unbefahrbar machen. Der aus vielen kleineren Gruppen bestehende Initiative gelang es dadurch, ca. 3.000-4.000 Menschen zu mobilisieren und deren Kräfte zu bündeln. Während des gesamten Sonntags (07.11.) versuchten sie, in kleineren und größeren Bezugsgruppen immer wie­der auf die Gleise zu kommen und waren da­bei polizeilicher Repression ausgesetzt. Die hatte nicht nur versucht, die Initiative zu kriminalisieren, sondern setzte an diesem Tag auch ausschließlich auf Gewalt gegen die AktivistInnen, die sich jedoch nicht provozieren ließen und ihrer gewaltfreien Linie treu blieben. Verhaftungen konnte die Polizei nicht vorweisen, stattdessen über tausend verletzte DemonstrantInnen – ein Armutszeugnis. Die Initiative konnte als Erfolg verbuchen, zwar weniger Gleisbett beschädigt zu haben, als erhofft, dafür aber um so mehr Polizeikräfte verwickelt und damit den großen Sitzblockaden den notwendigen Aktionsschatten verschafft zu haben.

 

www.castor-schottern.org

Aktionsbündnis WiderSetzen

Das wendländische Aktionsbündnis WiderSetzen engagiert sich bereits seit 2001 in der Anti-AKW-Bewegung und hat sich seitdem aus der engen Zusammenarbeit mit X-tausendmal quer zu einem eigenständigen Bündnis weiterentwickelt. WiderSetzen etablierte im Schatten der SchotterInnen am Sonntagmittag (07.11.) eine Sitzblockade mit zuerst 600 Menschen auf den Gleisen vor Harlingen. Die Stelle war gut gewählt. Bis in den Abend wuchs diese Sitzblockade bis auf zeitweilig 5.000 BlockiererInnen an. Die InitiatorInnen sprachen darauf von der „Un­räumbarkeit“ der Blockade. Erst tief in der Nacht gelang es der Polizei durch Verhandlungen das Aktionsbündnis zum Aufgeben zu bewegen. Die „friedliche“ Räumung verlief weitestgehend verhältnismäßig, allerdings auch wesentlich schneller, als erhofft.

 

www.widersetzen.de

Greenpeace und Robin Wood

Spektakuläre Aktionen – das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner dieses David-Goliath-Paares der Umweltbewe­gung. Beide Gruppen sind seit langem auch in der Anti-AKW-Bewegung aktiv. Während Robin-Wood-AktivistInnen entlang der gesamten Strecke durch mehrere Abseilaktionen auf sich aufmerksam machten, gelang Greenpeace diesmal der ganz große Coup. Ein als Biertransporter getarnter LKW konnte am Montagabend (08.11.) von Akti­vistInnen derart präzise vor den Toren des Verladekrans platziert werden, dass die Castoren weder auf der Nord- noch auf der Südroute den Bahnhof verlassen konnten. Drei AktivistInnen verankerten sich in Windeseile in dem präparierten Inneren des LKWs derart, dass dieser ohne lebensbedrohliche Verletzungen selbiger nicht mehr bewegt wer­den konnte. Die Räumung dauerte bei­nahe die ganze Nacht.

 

www.greenpeace.org

www.robinwood.de

X-tausendmal quer

Die AktivistInnen von X-tausendmal quer zählen zu den erfahren­sten der Bewegung. Seit vielen Jahren organisieren sie schon erfolgreiche Sitzblockaden gegen die Castor­züge. Es war auch diesmal wichtig und richtig, schon frühzeitig, also am Sonntag (07.11.) zeitgleich mit den SchotterInnen und WiderSetzen, aktiv zu werden. Die von der Initiative auf der Straße direkt vor dem Lager in Gorleben etablierte Sitzblockade konnte so bis Dienstagmorgen (09.11.) ausharren und war zeitweilig über 4.000 Menschen stark. (Weiteres hierzu auf Seite 20)

www.x-tausendmalquer.de

BI Lüchow-Dannenberg & bäuerliche Notgemeinsamschaft

Ohne den Rückhalt in der Bürgerschaft und bei den Bauern, wäre der gewachsene Widerstand im Wendland so nicht möglich. Auch diesmal leistete die Bürgerinitiative tolle Koordinierungsarbeit. Die Bauern der Notgemeinschaft dagegen versorgten die Akti­vistInnen nicht nur rund um die Uhr mit Essen, Trinken, Decken und vielem mehr, es gelang ihnen vor allen Dingen mit einer verbesserten Taktik äußerst effektiv, die Lo­gistik der Polizei durch das „Abstellen“ ihrer Traktoren während der gesamten Aktionstage zu stören. Außerdem ketteten sich Bauern bei Laase und bei Gorleben mit Betonpyramiden an. www.bi-luechow-dannenberg.de

www.baeuerliche-notgemeinschaft.de

Andere

Der Widerstand ist breit und viele kleinere Gruppen und Einzelpersonen engagieren sich für ihn. Stellvertretend sei hier noch GANVA (Groupe d’actions non-violentes anti-nucléaires) aus Frankreich benannt, die durch das Anketten von drei AktivistInnen, den Castorzug erstmalig auch schon auf französischem Gebiet für 3 Stunden stoppen konnte, und der Republikanische Anwaltsverein (RAV).

ganva.blogspot.com
www.rav.de

 

New World Disorder?!

WikiLeaks als radikale Gegenöffentlichkeit – Kinderkrankheiten einer großen Idee

Bemüht mensch zur Zeit einmal Google zur Suche nach „wikileaks“, so werden über eine halbe Milliarde Ergebnisse angezeigt. Das ist mittlerweile mehr als ein gewisser „god“ und zeigt die enorme Popularität eines Projektes, das angetreten ist, um die Welt zu revolutionieren.

Seit unserem Artikel im letzten Heft, wo wir von spektakulären Veröffentlichungen des Projekts und sich abzeichnender struktureller Schwächen berichteten, hat sich viel getan. Zur Erinnerung: WikiLeaks, das ist die Webseite, die vor der Öffentlichkeit geheimgehaltene Dokumente von sogenannten Whistleblowern (also Geheimnisverrätern mit ethischer Absicht) entgegennimmt, auf Echtheit prüft und veröffentlicht. Wie beim jüngsten, noch laufenden Leak geschieht dies immer mehr in Zusammenarbeit mit etablierten Medien wie dem Spiegel, der New York Times oder dem Guardian. Die kooperierenden Zeitungen übernehmen dabei die logistisch notwendige Aufbereitung der enorm großen Datensätze und filtern die ihrer Meinung nach für die Öffentlichkeit bedeutsamen Teile heraus. Dazu gehören bei modernen Medienunternehmen natürlich vor allem die aufsehenserre­gendsten und gewinnträchtigsten Schlagzeilen, die sie so exklusiv nutzen können. Ob diese Zusammenarbeit jedoch Segen oder Fluch für den Whistleblowerdienst und sein Ideal der Informationsfreiheit ist, wird sich zeigen. Davor stehen allerdings noch einige ungelöste strukturelle Fragen, die für die unmittelbare Zukunft WikiLeaks’ von enormer Bedeutung sind.

One Man-Show?

Kurz nach der Veröffentlichung unseres ersten Artikels brachen sich die internen Zwistigkeiten bei WikiLeaks Bahn und erreichten mit der etwa einmonatigen „Sus­pendierung“ des deutschen Sprechers eine neue Stufe. Daniel Domscheit-Berg, wie der Aktivist mit richtigem Namen heißt, kritisierte grundlegend die strukturellen Schwächen WikiLeaks’, sowie die in seinen Augen einseitige Fokussierung der Veröffentlichungen. Damit traf er augenscheinlich wunde Punkte beim „Chef“ Julian Assange. Der habe jedoch „auf jede Kritik mit dem Vorwurf reagiert, ich würde ihm den Gehorsam verweigern und dem Projekt gegenüber illoyal sein“, so Domscheit-Berg. Assange sperrte dessen WikiLeaks-Mail und suspendierte ihn so de facto von seiner Arbeit. Nachdem er Domscheit-Berg auch noch mit „Wenn Du ein Problem mit mir hast, verpiss Dich“ die Richtung wies, sah dieser sich endgültig gezwungen, mit dem Projekt zu brechen. Womit auch die Machtfrage und die Diskussion um strukturelle Schwächen in die Öffentlichkeit getragen wurde, wenn­gleich kaum konkretes aus dem Bunker WikiLeaks nach außen drang.

Eine Diskussion ums Ganze, wenn man bedenkt, daß Unterstützungsangebote von gut 800 Programmierer_innen liegen bleiben mussten, weil keine Struktur zur Einbindung neuer Mitarbeiter_innen vorhanden war. WikiLeaks wuchs zu schnell, zu unorganisch, v.a. weil die meisten Kräfte bei der Veröffentlichung der großen, medienträchtigen Scoops gebunden waren, statt sich mit organisatorischen Problemen zu beschäftigen. Domscheit-Berg erkannte die Dringlichkeit systemischer Fragen und wäre einen anderen Weg gegangen, sprach sich ebenso für eine „diskriminierungsfreie“ Abarbeitung der Einsendungen aus: „Aber diese eindimensionale Konfrontation mit den USA ist nicht das, wofür wir angetreten sind. Es ging uns immer darum, Korruption und Missbrauch von Macht aufzudecken, wo auch immer sie stattfinden, im Kleinen wie im Großen, auf der ganzen Welt“, sagte er im Interview mit dem Spiegel. Assange hingegen sprach an gleicher Stelle schon im Juli Klartext: „Am Ende muss einer das Sagen haben, und das bin ich“. Das äußert sich in den letzten großen Enthüllungen, den sogenannten Scoops, die sich allesamt mit Assanges Lieblingsfeind, den USA, beschäftigen. „Den Mächtigen in die Suppe spucken“ war und ist dabei die Hauptintention (1) des WikiLeaks-Gründers, der sich zur Zeit ausschließlich die letzte Supermacht vornimmt und dafür wichtige organisatorische Fragen sowie andere Leaks vernachlässigt.

Nach dem Collateral-Murder-Video, in dem Erschießungen irakischer Zivilisten durch US-Streitkräfte zu sehen waren, und dem afghanischen und irakischen „Kriegstagebuch“, das etwa 77.000 bzw. 391.000 militärische Dokumente der USA und ihrer Verbündeten umfasste, begann WikiLeaks am 28. November 2010 unter dem wohlklingenden Titel „Cablegate“ mit der schrittweisen Veröffentlichung einer Sammlung von etwa 250.000 US-Botschafts-Depeschen. Darunter sind ca. 15.000 als geheim und 100.000 als vertraulich eingestufte Berichte von Botschaftsmitarbeiter_innen, die aufgrund ihrer Offenheit die diplomatischen Beziehungen zu vielen Ländern wahrscheinlich dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen werden. Julian Assange kündigte an, daß dies nur der Auftakt sei. Als nächstes nehme sich WikiLeaks die Wirtschaft vor. Eine große US-Bank soll das Ziel des bald folgenden Scoops sein. Vor lauter skandalträchtigen Enthüllungen wird mensch in Zukunft wohl gar nicht mehr zum Nachdenken über die strukturellen Probleme des Projektes kommen. Denn die bestehen nachwievor und werden sich durch Assanges Führungsstil auch nicht gerade verbessern.

Durch diese öffentlichkeitswirk­samen Leaks und den folgenden rasanten Popularitätsanstieg ist der Whistle­blower jedoch der zunehmenden Flut von Dokumenten nicht mehr gewachsen. WikiLeaks gerät in personelle Schwierigkeiten, zumal mit Domscheit-Bergs Ausstieg auch einige andere, die sich mit dem fast schon autokratischen und selbstherrlichen Verhalten des Gründers nicht arrangieren konnten oder wollten, dem Projekt den Rücken kehrten. Davon abgesehen, daß die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehende Persönlichkeit Assange nicht die besten Voraussetzungen bietet, um ein gemeinschaftliches Projekt zu betreiben, in dem letztlich nur er die Fäden in der Hand hält, werden die Ziele, die es neben den Datenbefreiungen zu meistern gilt, völlig übersehen. Dem ausgeschiedenen Daniel Domscheit-Berg bspw. liegt weiterhin sehr viel an einem besseren rechtlichen Schutz für zivilcouragierte Whistleblower und Journalisten, an der effizienten Aufbereitung und Qualitätssicherung der Veröffentlichungen sowie an Transparenz der Initiativen.(2)

Die rechtliche Seite ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Innerhalb der Konkurrenz der Nationalstaaten und ihres zu schützenden Wirtschaftssystems wird es immer Geheimniskrämerei und das Interesse nach Wahrung dieser Geheimnisse geben. Ein umfassender Schutz für Whistleblower ist so systembedingt ausgeschlossen. Domscheit-Berg hofft auf den Weg der Reformen, um aus der jetzigen schmutzigen Demokratie eine transparente, ehrliche, lebenswerte zu machen. Dies ist im Kapitalismus jedoch nicht zu bewerkstelligen. Das Gesetzesvorhaben einiger US-ame­ri­ka­nischer Politiker SHIELD (3) macht den Widerspruch deutlich. Trotz der verfassungsmäßig verbrieften Rede- und Pressefreiheit und einem im internationalen Vergleich sehr progressiven Whistle­blower-Gesetz der USA werden Projekte wie Wiki­Leaks doch wieder hart bekämpft, wenn es um die nationale oder wirtschaftliche Sicherheit geht. Hinzu kommen ge­heim­dienst­liche Bestrebungen, wie ein geleaktes CIA-Dokument zur Bekämpfung Wiki­Leaks’ deutlich aufzeigt. (4) Kommt ein Staat in Bedrängnis, so schlägt er mit eiserner Faust zurück. Dann zeigt sich das wahre Gesicht der vielgepriesenen Freiheit.

WikiLeaks als Organisation hat also noch einiges vor sich und sollte sich nicht scheuen, den ursprünglich eingeschlagenen Weg des klandestinen Netzwerks weiter zu gehen. Die strukturelle Transparenz muss dabei auch nicht im Widerspruch zur Anonymität stehen. Die außerordentliche Vorbildfunktion für die neue Generation des Informationszeitalters sollte jedoch keines­falls ungenutzt bleiben.

Die von einer Elite vertretene und stellvertretende Informationsfreiheit wirkt aller­dings nicht aufklärend im Sinne einer emanzipativen Gesellschaft. Was WikiLeaks noch fehlt, ist das Zeigen von Verantwortung und Transparenz.

Wie weiter?

Mit der kürzlichen Verhaftung von Assange durch die Londoner Polizei könnte sich jedoch einiges ändern. Die schwedische Justiz beschloss einen europäischen Haftbefehl (5), um Assange habhaft zu werden. Der soll im wiederaufgenommenen Fall der (mittler­weile nur noch „weniger groben“) Vergewaltigung in Stockholm aussagen. So stellte er sich am 7. Dezember in Großbritannien und ist bis dato quasi in Auslieferungshaft. Wahrscheinlich nutzte er die letzte Zeit in Freiheit, um seinen Anteil an WikiLeaks zu übergeben und Vorkehrungen für die Wei­ter­verbreitung der Veröffentlichungen zu treffen. Es wird sich also zeigen, ob WikiLeaks auch ohne Julian Assange weiter auf große Enthüllungen setzt, wobei Struktur- und Nachwuchsfragen zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Und etwas größenwahnsinnig mutet es an, wenn mensch sich die großspurige Ankündigung des laufenden Cablegate-Scoops via Twitter ansieht: „The coming months will see a new world, where global history is redefined.“

Kein Zweifel, WikiLeaks schreibt wahrlich Weltgeschichte. Der große Umbruch, politischer und gesellschaftlicher Art, steht uns bevor. WikiLeaks, als eine der Speerspitzen in der großen Schlacht um die Datenfreiheit, ist dabei Avantgarde und Kanonenfutter zu­gleich. Doch die One-Man-Show Julian Assange ist anfällig, bringt als Projektionsfläche Geheimdienste, Wirtschaft und sogar Me­dien gegen sich auf. So sperrte der Dienstleister everydns.net die Domain wikileaks.org (6), Amazon verbannte die Seite von seinen Servern (7), PayPal, Mastercard und VISA sperrten die Spendemöglichkeit über die Wau-Holland-Stiftung (7) und Assanges Schwei­zer Konto bei der PostFinance wurde gekündigt (8). Politiker, Journalisten und Juristen greifen das Projekt und seinen Vorsteher scharf an. Vor allem die Beihilfe zum Ge­heimnisverrat und die daraus folgenden na­tionalen Sicherheitsprobleme werden Wiki­Leaks vorgeworfen. Sogar offene Rufe nach der Tötung von Julian Assange werden laut. (9)

Andererseits ist eine enorme Solidarität im Internet zu beobachten. Hacker legen Seiten der Bezahldienste lahm und attackieren Regierungsstellen. Gerade Piratenparteien in vielen Ländern, aber auch hunderte anderer Projekte und Einzelpersonen auf der ganzen Welt spiegeln die komplette Webseite (10) oder die Daten und stellen so die Erreichbarkeit trotz aller Angriffe sicher. Der Streisand-Effekt setzt ein, die versuchte Unterdrückung schlägt in das Gegenteil um und ein Wettlauf um die größte und sicherste Verbreitung WikiLeaks’ und seiner Daten hat begonnen.

(shy)

(1) Ein guter Artikel über Assanges „Krypto-Anarchismus“ und seine Idee WikiLeaks findet sich hier: www.sueddeutsche.de/digital/wikileaks-gruender-julian-assange-der-gegenverschwoerer-1.1031477
(2) Konkret arbeitet er zusammen mit anderen schon an der Weiterentwicklung des WikiLeaks-Gedankens, einem dezentralen System von sicheren elektronischen Briefkästen, mit dem Namen „Openleaks“ und schreibt ein Buch über seine Zeit bei WikiLeaks.
(3) Mit dem am 3. Dezember 2010 eingebrachten Gesetzesvorhaben SHIELD (Securing Human Intelligence and Enforcing Lawful Dissemination) sollen alle Veröffentlichungen unter Strafe gestellt werden, die US-Agenten oder -Informanten gefährden könnte oder sonst irgendwie gegen die nationalen Interessen gerichtet sind.
(4) Im geheimen Papier wird die Gefahr, die von WikiLeaks ausgeht, eingeschätzt und Strategien – wie Bloßstellung von Informanten und Mitarbeitern – gegen die Plattform erörtert.
(5) Der europäische Haftbefehl (beschlossen im Juni 2002) sollte ursprünglich nach dem 11.September in Europa der Terrorismusbekämpfung dienen und kann u.a. bei Umweltkriminalität, Cyberkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Betrug, Kraftfahrzeugkriminalität oder „Nachahmung und Produktpiraterie“ erlassen werden. Es wird auch „ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit“ ausgeliefert.
(6) offiziell aus Angst vor – erfolgten und weiter zu befürchtenden – DDoS-Angriffen um die eigenen Server (beim Distributed Denial-of-Service-Angriff wird durch massenhafte Anfragen der Server einer Webseite in die Knie gezwungen und die Seite ist unerreichbar)
(7) jeweils wegen der Unterstützung illegaler Handlungen seitens WikiLeaks
(8) hier wurde mit der falschen Angabe des Wohnortes argumentiert
(9) Der Republikaner Mike Huckabee (ehem. Gouverneur von Arkansas), US-Radiomoderator Jeffrey T. Kuhner und Tom Flanagan (Professor für Politikwissenschaft und ehem. Stabschef des kanadischen Premierminister) bspw. fordern offen die Tötung von Assange. Sarah Palin (ehem. Gouverneurin von Alaska) gibt sich verhältnismäßig moderat und vergleicht Assange „nur“ mit Terroristen wie Osama bin Laden und fordert ein angemessenes Vorgehen.
(10) Unter der IP 213.251.145.96 ist WikiLeaks z.Z. noch zu erreichen, unter www.wikileaks.ch/mirrors.html findet mensch Links zu den über tausend Spiegelungen der Seite

Der innere Zwerg

Im kollektiven Unterbewussten der Deutschen spuken schon manch merkwürdige Gestalten herum. Hitler zum Beispiel. Natürlich nicht der Original-Hitler – der ist bekanntlich schon tot, bzw. wenn er noch lebt, dann tut er dies in einer Höhle unter der Antarktis, wo er eine umfangreiche Flotte von fliegenden Untertassen wartet. Nein, gemeint ist hier der archetypische „Hitler an sich“. Oder noch genauer, der sprichwörtliche „Hitler in uns allen“, der sich immer wieder unangenehm bemerkbar macht, z.B. in dem ständigen Drang der deutschen Vertriebenenverbände, mal wieder in Polen einzumarschieren.

Erträglicher ist da schon der alte Barbarossa, der irgendwo in einer Ecke der Volksseele hockt und sich im Schlaf den langen, roten Bart besabbert. Sogar Friedrich der Große und Hermann der Cherusker sollen schon im Dickicht des deutschen Unterbewussten gesichtet worden sein. Wie beim Monster von Loch Ness sind freilich auch hier alle fotografischen Dokumente von zweifelhafter Qualität und die Augenzeugen meist als Trunkenbolde und Theosophen bekannt.

Zum Glück trampeln nicht nur solch blutrünstige Tyrannen im Gemüsebeet des deutschen Geistes herum. Ein Archetyp, der die eher gemütliche Seite der Volksseele repräsentiert, ist DER ZWERG. Man sieht es schon an seiner Zipfelmütze, die der Zwerg sich mit dem (von schlechten Karikaturen allseits bekannten) „deutschen Michel“ teilt. Wie dieser ist der Zwerg die symbolische Verkörperung des deutschen Kleinbürgers. Kein Wunder also, dass der Zwerg (in domestizierter Form als Gartenzwerg) in unzähligen Klein- und Vorgärten anzutreffen ist. Denn der Kleingarten ist bekanntlich die natürliche Heimat des Kleinbürgers.

Nutzen wir die Gelegenheit, um eine völlig aus der Luft gegriffene Hypothese aufzustellen: Die im­mer noch ungebrochene Faszination des Zwerges beruht auf dem Versprechen von Unmittelbarkeit, von Über­schau­barkeit, wie sie in der Hektik des post­fordistischen Turbokapitalismus kaum mehr zu finden ist. Zur selben Zeit zeigt der Zwerg aber auch unverkennbar die zwanghaften Züge des analen Charakters. Dass es einen tiefen symbolischen Zusammenhang zwischen Gold und Kot gibt, wissen wir ja aus der Freudschen Traumanalyse: So wie der anale Charakter aus dem Zurückhalten des Kots einen Lustgewinn zieht, gewinnt das bürgerliche Subjekt Lust aus dem Zurückhalten des Goldes, der Anhäufung von Kapital. Auch in diesem zwanghaften Drang zum Sparen und Knausern erweist sich der Zwerg als guter protestantischer Kleinbürger.

Der Gegensatz zwischen dem „Hitler in uns allen“ und dem inneren Zwerg ist also nur oberflächlich. Zwar sind Welteroberungspläne dem Zwerg schon deshalb wesensfremd, weil die Welt einfach viel zu groß für ihn ist. Und wo der „Hitler in uns allen“ alles Nichtidentische mit Stumpf und Stiel ausrotten will, verkörpert der innere Zwerg die mögliche Synthese von raffendem und schaffendem Kapital: Eigentlich will er die ganze Zeit nur Gold, Gold, Gold haben – aber er arbeitet auch dafür, macht sich die Hände schmutzig, hebt Schächte und Gruben aus und wühlt mit Schaufel und Spitzhacke im Dreck herum. In dieser Mischung aus bierseliger Gemütlichkeit und protestantischem Arbeitsethos verkörpert der Zwerg in archetypischer Weise die conjunctio oppositorum, die mögliche Aufhebung der Gegensätze im Bereich des Imaginären.

Bei aller Gemütlichkeit dürfen wir aber die tiefgreifende Ambivalenz des Zwerges nicht übersehen. Denn dem Wunsch nach Über­schau­barkeit steht schon seit je der spiegelbildliche Drang zur Grenzüber­schrei­tung zur Seite, wie er uns vor allem bei den sieben Zwergen entgegentritt. Nicht um­sonst hausen diese zusammen in einer Hütte im Wald „hinter den sieben Bergen“: Das Leben tief in der Wildnis symbolisiert eine Überschreitung des eng gefassten Regelkorsetts der bürgerlichen Kleinfamilie, die barbarische Zwergenhorde verspricht rauschhafte Entgrenzung im tabuisierten sexuellen Akt. Kurz gesagt: Wir haben es bei den sieben Zwergen offensichtlich mit einem homoerotisch eingefärbten Männerbund zu tun. Über die symbolischen Implikationen z.B. des „Schachts“ (be­kanntlich der liebste Aufenthaltsort des Wildzwerges) will ich mich an dieser Stelle schamhaft errötend ausschweigen.

Aber auch so dürften die Schlussfolgerungen klar sein: Der ödipale Konflikt wird hier nicht ausgetragen, das zwergische Ich entzieht sich stattdessen den Ansprüchen des Über-Ichs. Die Verdrängungsleistungen, die dem Subjekt allenthalben abverlangt werden, sollen so rückgängig gemacht, das Glücksversprechen unmittelbar eingelöst werden. Dieses Unterfangen einer imaginären Bewältigung der ödipalen Kastrationsangst birgt natürlich die Gefahr der Regression in sich – die Gemeinschaft der Zwerge degeneriert dann zum protofaschistischen Mob.

Wie dünn die Tünche der Gemütlichkeit ist, zeigt sich am Abend. Dann marodieren die Zwerge biertrunken durch den Wald, kotzen in die Büsche und hauen mit ihren Spitzhacken alles kurz und klein, während sie im Chor immer wieder „Gold, Gold, Gold!“ gröhlen. Aus den Zwängen der Arbeitswelt entlassen erweist sich der Zwerg wieder einmal als der geistige Kleinbürger, der er immer schon war. Ein trauriges Bild… Von unserem Beobachtungsposten, hoch oben auf den Zinnen unseres Elfenbeinturms, können wir nur kopfschüttelnd auf das barbarische Treiben hernieder blicken, um uns dann angewidert abzuwenden und uns zurückzuziehen in unsere Kammer, um vor dem Schlafengehen noch ein wenig zu dichten und zu denken.

(justus)

Editorial FA! #39

War ja klar – der Feierabend! hält seinen straffen Zeitplan auf die Minute genau ein und landet pünktlich vor den Feiertagen in Euren Briefkästen und Verkaufstellen. Damit Euch den Rest des Jahres nicht langweilig wird, haben wir wieder allerhand Lesenswertes auf 32 Seiten gequetscht. Großer Dank an dieser Stelle an die zahlreichen Autor_innen, die uns mit ihren Artikeln und Leser_innenbriefen immer wieder bereichern!

Doch fleißig waren wir auch in anderer Hinsicht. So haben wir bei einer Inspektion der Werkstätten der Siebdruckerei Glitzer 61 gleich mal einiges an Merchandise produziert, wunderschöne Motive unseres Maskottchens Horst auf feinstem Material. Wenn ihr an schicken Feinrippunterhemden, Einkaufsbeuteln, T-Shirts oder Aufnähern interessiert seid, schreibt doch einfach eine Mail an feierabendle@web.de und ihr könnt uns wahlweise ein paar Kröten oder geile Artikel für die Jubiläumsausgabe #40 spenden. Eine neue Verkaufsstelle haben wir übrigens auch – der Feierabend! heißt ganz herzlich das Vinylparadies „Klanggarten“ in der Könneritzstraße willkommen! Und nun viel Spaß beim gepflegten Rezipieren!

Eure Feierabend!-Redaktion

WENDLAND 2010 – Widerstand der Schule macht

Optimismus ist hierzulande ja ein teures Gut geworden. Stattdessen durchherrscht die Köpfe Angst, Zynismus und Verzweiflung bei dem Gedanken an die Zukunft. Alle Köpfe? Nein – es regt sich Hoffnung. Ein kleiner Archipel, von der Industrialisierung weitestgehend unberührt, leistet Widerstand. Im unbeugsamen Wendland hat der Optimismus dieser Tage neuen fruchtbaren Boden gefunden, auf dem der Glaube an bessere Verhältnisse gedeihen kann. Die Wiedererweckung der Anti-AKW-Bewegung aus dem Schlummer falscher Kompromisse ist mehr als nur eine Machtbedrohung für die schwarz-gelbe Koalition, es ist ein Lehrstück in Sachen entschlossenen Widerstands, das Schule machen wird.

Denn der Erfolg der diesjährigen Anti-Castor-Proteste lag weniger darin, den Castor-Zug um xy-Stunden zu verzögern und damit die Transportkosten exorbitant zu verteuern, nicht so sehr in der Ver­stetigung der einzelnen Initiativen, auch nicht in dem breiten und positiven medialen Echo. Nein, es waren diese beiden denkwürdigen Nächte vom 7. zum 8. und vom 8. zum 9. November, an denen es schien, als käme die gesamte Polizeimaschinerie zum Erliegen und die Allmacht des Staates bekäme Risse im Angesicht dieses bunten Haufens von Entschlossenen, der sich da mit Strohsäcken, Kerzen und körperlicher Entbehrung gegen die Ent­schei­dungs­vormacht der verantwortlichen PolitikerInnen stemmte. Es war die Wirkmacht dieser kollektiven Aktion, die jedem und jeder rund um den Globus zu sagen schien: Da geht doch noch was!

Doch von vorn. Den diesjährigen Castor­protesten ging eine bislang beispiellose Mobilisierung voraus, wie die unzähligen Kampagnen, Vortragsreihen, Trainings und Work­shops belegen, die die unterschiedlichen Initiativen bundesweit veranstalteten. Freies Radio Wendland sendete 24h rund um die Uhr, während der Castor rollte und wurde vom Netzwerk der Freien Radios bundesweit geschaltet. Ein Heer von JournalistInnen bereiste das beschauliche Land, allein die taz setzte 10 Korres­pon­­den­tIn­nen ein, um den hauseigenen Online-Ticker zu versorgen. Überhaupt: Die Rolle der neuen Medien ist bei der Vernetzung kaum noch wegzudenken und Informationen werden durch sie wieder zu einer ernstzunehmenden Waffe*. Unzählige namenlose BeobachterInnen speisten die Internet­seiten während der Reise des Castorzuges mit konkreten Daten über Zeit, Geschwindigkeit, Route und jeweiligen Standort. Das hat diesmal auch über die Landesgrenzen hinaus funktioniert. Erstmalig konnten AktivistInnen aus Frankreich den Zug schon wenige Stunden nach seinem Start für mehrere Stunden stoppen.

Machtlose Polizei

Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit – bei optimistischen Schätzungen kommt man nicht substanziell über 10.000 „im Feld“ Aktive hinaus, denen ca. 16.000 eingesetzte plus nochmal 4.000 nachgezogene BeamtIn­nen entgegenstanden – gelang es diesmal durch eine einzigartige Ver­netzung der verschiedenen Aktionen seit langem wieder, Schiene und Straße tatsächlich zu erobern. Auch weil die Bewegung einen spürbaren Strategiewechsel vollzogen hat. Statt sich aus Angst vor Unterwanderung und Spionage durch Zivilbeamte und Spitzel in den verschiedenen Aktionsformen und -gruppen abzugrenzen, setzte mensch auf verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und freien Informations­fluß. Statt in der Ecke zu tuscheln, wurde offen pleniert, statt heimlich zu üben, wurde gemeinsam öffentlich trainiert. Die Initiative Castor?Schottern! (siehe auch S. 21f) konnte durch das offene Aussprechen der Taktik und Ziele der Schotter-Aktion im Vorfeld ihre Kampagne derart popularisieren, dass es erstmals gelang, die Kräfte, die sich bisher immer in dezentral agierenden Bezuggruppen aufgerieben hatten, zu bündeln. Das zwang die Polizei, die sonst weiträumig stattfindende Abschirmung der Gleise und der Straßen ins Lager schon frühzeitig aufzugeben und sich stärker auf die Schot­terIn­nen zu konzentrieren. Die Taktik, dabei auf Festnahmen zu verzichten und stattdessen die SchotterInnen mit harter körperlicher Gewalt abzuschrecken, ist letztlich völlig schiefgegangen. Über tausend verletzte AktivistInnen und zahlreiche Pres­sebilder von Polizeigewalt, ledig­lich 12 Ingewahrsamnahmen über den ganzen Tag, die allesamt einer richterlichen Prüfung nicht standhielten, und nicht eine einzige Festnahme waren ein unmißverständ­licher Beweis der Gewaltlosigkeit des Widerstandes. Allein ein abgebrannter Einsatzwagen – vermutlich von den eigenen Leuten kontrolliert angezündet und dann schnell wieder gelöscht – mußte als Mittel der Propaganda herhalten. Das hat auch die Moral der eigenen Truppe nachhaltig untergraben, die ohnehin unter viel zu langen Einsatzzeiten, Unlust und dem bewußten Gefühl leidet, im Wendland nicht gerade als „guter Freund und Retter“ aufzutreten. Es war deshalb auch Ausdruck der Resignation, dass die Einsatzleitung der Polizei auf eine frühzeitige Räumung der Sitzblockaden verzichtete und sich lange darauf beschränkte, den Zulauf zu den Blockaden zu hemmen. Man spielte auf­grund der bereits angelaufenen Verspätung lieber auf Zeit, anstatt wie etwa 2001 in einem letzten Kraftakt den Transport hektisch durchzupeitschen und setzte dagegen bei den Räumungen auf Deeskalation und Verhandlung. Ein Umstand, der der Entschlossenheit des Widerstandes sicher entgegenkam und so ungewollt die enormen Verspätungen mit bewirkte. Tatsächlich war es aber der Mut, den gewaltlose Aktionen benötigen, die Vielfalt und Kreativität des Widerstandes, der die BeamtIn­nen in ihrem Handeln beeinflußte.

Der Staat in der Defensive

Die wiedergeborene Anti-AKW-Bewegung hat überzeugt. Beeindruckt zeigt sich nicht nur die bürgerliche Presse und der sympathisierende Teil der Bevölkerung, auch innerhalb der Polizei wächst der Widerstand gegen derartig unzumutbare Mülltransporte. Anders ist die teilweise stoisch anmutende Gelassenheit der Einsatzführung im Blick auf die Sabotage der eigenen Logistik nicht zu erklären. Die lästigen Traktorenblocka­den“ der Bauern hätten durch Festnahmen und Beschlagnah­mung relativ einfach beseitigt werden können. Hier war die Staatsmacht auch mal kreativer. In den Neunzigern bspw. sprangen kurzerhand Fallschirmkommandos über den einschlägig bekannten Höfen ab und legten die Trecker durch das Zerstechen der Reifen lahm. Doch statt­dessen berichten die Bauern dieser Tage darüber, wie ganze Einsatzzüge ratlos wieder umkehrten, während der zivile Verkehr ungehindert fließen konnte. Vielen BeamtIn­nen fehlte offensichtlich die Lust und auch der Druck von oben, sich ernsthaft auseinanderzusetzen. Die großen Sitzblockaden wurden verhältnismäßig zurückhaltend geräumt, es gab diesmal auch keine Camp-Kesselungen oder Festnahme-Exzesse.

Ob es der Regierung, dem Innenministerium und der Obersten Leitung der Bundespolizei gelingt, an diese erlöschende Lunte neues Feuer zu legen, ist angesichts der positiven Presseresonanz, die die Proteste erzielten, und deren nachhaltig gewaltlosem Auftreten, stark zu bezweifeln. Von daher ist derzeit auch völlig unklar, mit welcher Strategie bei weiteren Transporten den Protesten überhaupt effektiv entgegengewirkt werden kann. Um zu verhindern, dass die erfolgreichen Protestaktionen weiter an Zulauf gewinnen, bräuchte man dringend eine starke Abschreckungswirkung. Die wird sich aber nur dann erzielen lassen, wenn die Polizei dementsprechend martialisch auftritt, was innerhalb der Beamtenschaft kaum noch zu vermitteln ist und außerdem eine viel höhere Zahl an Einsatzkräften bedingen würde, was, zumindest so wie derzeit, nicht bezahlbar wäre. Es ist also sogar möglich, dass die diesjährigen Proteste ein längeres Aussetzen der Atom­mülltransporte bewirken und die Regierung stattdessen lieber neue Verträge über die Zwischenlagerung des radioaktiven Materials mit den Betreibern der Wiederaufbereitungsanlagen bei Le Hague (FR) und Sellafield (UK) aufsetzt, wo derzeit sowieso fast 3/4 des deutschen Atommülls lagert. Dass Umweltminister Röttgen dieser Tage die geplante Verklappung des radioaktiven Mülls aus dem ehemaligen Forschungsreaktor Rossendorf (bei Dresden) im fernen Majak (RU) kurzerhand wegen Bedenklichkeit der dortigen Zustände abblies, kann mensch durchaus als politisches Zeichen in diese Richtung werten. Und um so entschlossener gilt es jetzt gegen den letzten Atommüll-Transport nach Lubmin (siehe auch S. 20) aufzutreten, der für dieses Jahr noch genehmigt ist!

Unverantwortliche Politik

Das Problem der deutschen Atomenergiepolitik ist einfach zu offensichtlich. Einer­seits will man den durch die Laufzeitgarantien weiter verbilligten Atomstrom, um die hiesigen Industrien zu befeuern, ande­rerseits gibt es für den entstehenden, hochradio­akti­ven Müll keinerlei Konzept der sicheren Lagerung. Stattdessen werden die verbrauchten Brennstäbe zur wenig lukrativen Erzeugung von neuen Brennstäben und ganz nebenbei waffenfähigem Material nach Frankreich und England transportiert, und dann wird der Müll – um ein Vielfaches an strahlenden Masse angewachsen – wie­der zurückgekarrt, um in Gorle­ben letztlich in einer Betonhalle oberirdisch abgestellt zu werden, während völlig unklar ist, ob der Salzstock bei Gorleben überhaupt jemals zu einer Endlagerstätte wird. Die lokale Grafschaft, die das Schürfrecht an dem Salz besitzt und bereits in den Neunzigern ein millionenschweres Kaufangebot von Seiten des Staates abgelehnt hat, wird man zu­vor wohl erst enteignen müssen, ebenso wie die örtliche Kirchengemeinde und eine hand­voll Bauern. Die legislativen Weichen dafür hat Bundespräsident Wulff zumindest gerade im Zusammenhang mit dem neuen Atomgesetz abgesegnet. Außerdem gibt es nach dem katastrophalen Wassereinbruch in der Asse II (siehe u.a. FA!#38 Seite 1/23) wieder erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit von Salz als Wirtsgestein überhaupt. Doch statt über die Probleme der Endlagerung des Atommülles offen zu diskutieren und alle erdenklichen Möglichkeiten auszuloten, eine vielseitige Forschung zu betreiben und die hochgiftige Müllproduktion schnellstens zurückzufahren, hat sich die deutsche Politik an Gorleben als Endlager festgebissen. Ge­gen­wärtig lagern 102 Castorbehälter, also ca. 1.000 Tonnen radioaktives Material in dem provisorischen Containerlager, das damit schon zu 25% gefüllt ist. Nimmt man den bereits wiederaufbereiteten deutschen Müll hinzu, der allein in Le Hague und Sellafield lagert, wäre das Lager jetzt schon voll. In dieser Lage ist es nicht nur grob unvernünftig sondern geradezu fahrlässig, die hochgefähr­lichen Transporte weiter quer durch die Lande zu jagen und durch längere Lauf­zeitgarantien gleichzeitig deren Menge noch zu erhöhen. Egal wieviel Geld dadurch kurzfristig zusätzlich ins Staatssäckel fließt. Die Beseitigung der verheerenden Folgen auch nur des kleinsten Transportunfalls in so einem eng besiedelten Gebiet wie Deutsch­land wären durch keinen Rettungsschirm dieser Welt finanzierbar.

Abschalten, aber sofort!

Die Anti-AKW-Bewegung muss also auch in Zukunft mit aller Macht darauf dringen, dass die unsinnigen und hochge­fährlichen Mülltransporte unterbleiben, bis es eine allseitig akzeptable Endlager-Lösung gibt, und gleichzeitig darauf beharren, dass alle AKWs umgehend abgeschaltet werden. Außerdem muss es ihr noch stärker gelingen, den Technologie-Export deutscher Firmen in den Fo­kus und Aktionsradius mit einzubeziehen, was gleichbedeutend mit der Internationali­sie­rung der Bewegung ist. Die unzähligen Mails mit Solidaritätsbekundungen aus anderen Ländern, die allein das Radio Freies Wendland über das Aktionswochenende hinweg erhielt, bezeugen, dass der erfolgreiche Pro­test hierzulande über die Grenzen hinweg Vorbild und Inspiration ist. Und Papa Staat macht es ja schon vor. Auch bei diesem Castortransport wurden französische Po­­li­zeieinheiten gesichtet, die offensichtlich „in freier Wildbahn“ Schulung in Demon­stra­­tionsbekämpfung erhielten. Ähnliches soll­te mensch auch auf der Gegenseite noch stär­ker praktizieren. Denn das Wendland die­ser Tage ist, was es ist: Eine Kulturnische des politischen Protestes, ein gewachsenes La­boratium für verschiedene Formen des non-konfrontativen, subversiven Widerstandes. Ob daraus in Zukunft eine mächtige Bür­gerbewegung entsteht ist allerdings so fraglich, wie ausgeschlossen ist, dass die der­zei­tige Anti-AKW-Bewegung Vorreiterin einer tiefergehenden Umwälzung der Verhäl­tnisse sein könnte, dafür ist der anti-atomare Konsens einfach zu klein. Sicher ist aber auch: JedeR AktivistIn, gleich welcher sozialen Bewegung, sollte ge­nau hinschauen, wie diese ‘gallischen Wendländer’ Gegenmacht organisieren. Der Erfolg lädt zum Nachahmen ein. Weiter so!

(clov)

 

* Am Beispiel der Strahlenbelastung bei der Begleitung von Castor-Transporten. War da nicht mal was? Als 1998 herauskam, dass die Castor-Behälter doch erheblich mehr abstrahlen, als die Industrie zuvor behauptet hatte, weigerte sich die Gewerkschaft der Polizei zeitweilig, die Transporte abzusichern. Über die nach wie vor bestehenden erheblichen Strahlenrisiken in der Nähe der Castorbehälter klärte eine eigens für Polizisten und Polizistinnen eingerichtete, sachlich fundierte Internetseite auf, die während der Protesttage immer wieder beworben wurde – castoreinsatz.110mb.com