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Die GroßstadtIndianer (Folge 10)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland I

Etwas kitzelt mir die Nase, ‚verdammt‘, ich muß niesen. Ganz kurz, aber der Moment reicht und mein Traum hat sich verkrochen. Da hilft auch kein Suchen mehr. Durch meine verquollenen Augen blinzelt mich der Tag an. Ich zwinkere zurück: ‚Auch noch nicht so alt, Bursche‘. Meine großen Zehen tasten nach den Latschen. ‚Und so schön bist du auch wieder nicht!‘ Mißmutig schiebt er sich eine handvoll Wolken vors Gesicht und macht einen sehr unentschlossenen Eindruck. Morgentoilette – alltäglich, unaufgeregt. Erst als ich über den Platz zum Frühstück trotte, spüre ich, wie einer meiner Lebensgeister aus seiner Flasche kriecht. Aber die anderen, die sind dann echt das Morgengrauen. Finn nagt versunken an einem Kanten Schwarzbrot, Kalle ist früh morgens sowieso kaum ansprechbar und Moni und Schlumpf kann ich an den Augenringen ablesen, wie wenig sie letzte Nacht geschlafen haben. Beim genauen Auszählen der Falten trifft mich Monis Blick, etwas vorwurfsvoll. Ich sehe verlegen zu Schmatz, der im Moment nur Augen für seinen Napf hat. ‚Na wenigstens einer ist heut gut drauf‘, als ich über sein Fell fahre, knurrt er versunken, aber bestimmt. ‚Der will also auch nicht gestört werden!‘ „Na, guten Morgen!“ Der Gedankenfetzen rutscht mir einfach so raus und meine Zunge ist sein williger Helfer. Plötzlich sitze ich im Kreuzfeuer. Alle starren mich an, als würde ich ihnen gleich erklären, warum ihr Tag so scheiße begonnen hat. Ich lasse das aber lieber und entscheide mich stattdessen für einen positiven Ausblick. „Mensch Leute, mit der Einstellung, da kann die Demo ja nur ein Reinfall werden!“ Finn winkt zwar ab, scheint mir jedoch etwas dankbar für den Versuch der allgemeinen Aufmunterung. Kalle macht eine Mundbewegung wie ein Karpfen und will gerade ansetzen, mir auseinanderzunehmen, warum er diese Demo gerade so blöd und unsinnig findet, aber Moni schneidet ihm aber erstaunlich geistesgegenwärtig das Wort ab. „Laß mal gut sein, Kalle, das hatten wir doch gestern schon alles.“ Schlumpf nickt. „Wir ziehen das jetzt einfach durch. Die anderen verlassen sich schließlich auf uns.“ Kalle verzieht sein Gesicht: „Ja, ja und kuscheln sich jetzt noch in ihre Betten. Das ganze Pack von Meuterern. Und auf welchen Schultern lastet wieder die ganze Verantwortung? Na, na?“ Aufreizend blickt er in die Runde. „Steck den Muffel wieder weg, du Seeräuberhauptmann.“ Tatsächlich, Finn grinst ein wenig. „Freibeuter, bitte!“ Alle nicken verständnisvoll. Wenig später sind wir dann auch schon unterwegs: Finn und Moni vorneweg, das Transparent geschultert, ich und Schlumpf hinterher – er hatte Schmatz aus technischen Gründen, mit den Worten: „Streunender Hund von Polizei totgetrampelt, nein Schmatz, das ist denen keine Schlagzeile wert. Du paßt hier auf und sicherst uns den Rückzug.“ gebeten, auf dem Hof zu bleiben – und Kalle trabt etwas abseits, von Zeit zu Zeit einen Kieselstein traktierend. Er hat ja auch Recht, eine Demonstration gegen die Kürzungen und Sparpläne von oben, initiiert von ein paar Bürgervereinen, den Gewerkschaften und der Kirche ist nicht gerade das, von dem sich unser jugendlicher Idealismus eine substanzielle Veränderung der Verhältnisse erwartet. Und schließlich werden wir allenorten wieder den naiven Nationalismus zu hören kriegen, nach dem Motto: „Deutschland muß es wieder besser gehen.“, die banale Logik, den eigenen Landstrich als wirtschaftliche Einheit, als Standort in Konkurrenz mit anderen zu sehen. Aber es werden auch sicher einige Leute mehr kommen als sonst und diese Möglichkeit, auf der ohne Zweifel politischen Veranstaltung, für unsere Ideen, Aktionen und Projekte zu werben, vielleicht die eine oder den anderen aus seinem Taumel zu reißen, dies durften wir uns nicht entgehen lassen, eben wegen unserer politischen Verantwortung. Auch wenn es schwerfallen wird. Ein Sixpack kommt den Berg hinaufgeknattert. Schlumpf pfeift betont und rammt mir den Ellenbogen in die Seite. „Die hatten den Kofferraum voll! Was meinst du, wie die heute drauf sind? Ich hab gestern von Puschel und Locke gehört, daß die Polente schon den ganzen Abend angereist ist. Hamburg, München, Stuttgart, Rostock, Frankfurt Oder, Leipzig, von überall. Die haben angeblich ein Flugblatt abgefangen, in dem zum schwarzen Block aufgerufen wird.“ Ich kratze mir das Haupthaar, „Naja, soviele Militante gibt‘s in unserem Städ‘le ja nun auch nicht. Hoffentlich sind die nicht gestern schon angereist, in den selben Autos wie die Polizei, meine ich.“ „Scheiß Strategie!“ flucht Schlumpf und versucht grimmig dreinzuschauen. Ich muß lachen, „So bist du aber noch einfacher zu provozieren.“ Er starrt mich leicht irritiert an, läßt sich dann aber von meinem Grinsen anstecken. „Du hast recht.“ und beginnt eine tiefergehende Konversation über die Geschichte der Provokateure, einen Monolog eher, den ich nur mit einem Ohr verfolge. Ich blicke zu Kalle. Der doziert, einen Stein mit kleinen Tritten vor sich her treibend, wahrscheinlich eben jenem, noch einmal ausführlich seine Gründe gegen die überhobene Vorstellung nationaler Kollektive und Borniertheit der Standortideologie. Hofft er in dem jahrtausendealten Stein einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben? Ich verwerfe den Gedanken und laufe prompt auf Finn und Moni auf. „Autsch.“ Beide drehen sich um. Während der Schmerz aus Finns Gesicht huscht, lächelt Moni mich an. Das Licht hat die Müdigkeitsfalten geglättet und frische Farbe in ihre Wangen getrieben, „Nicht so stürmisch. Du kannst wohl die Demo kaum erwarten, wie?“ Ich muß einem gezielten Schlag von Finns Transparentstange ausweichen und ziehe mich „sorry, sorry“ murmelnd hinter Schlumpf zurück. Der plustert auch sofort seine schmale Brust auf und geht in Kampfhaltung, bereit seinen Kumpel gegen den Angriff zu verteidigen. Doch bevor die Situation überhaupt die Chance hätte zu eskalieren, ist es Kalle, der ruft: „Hey seht mal, da laufen die ersten mit Transparenten. Kennen wir die nicht?“ Ja sicher, es sind die Leute vom Wohnprojekt und wenig später biegt auch noch ein Dutzend vom Jugendclub um die Ecke. Moni und Finn entrollen unser Spruchband. „Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland“ …

(Fortsetzung folgt.)

clov

Lyrik & Prosa

Wer nicht kämpft, hat auch nichts zu lachen!

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich an die parlamentarische Demokratie, so unerschütterlich wie ich an die Allwissenheit meiner Eltern glaubte. Ich wuchs. Und mit jedem Zentimeter sammelten sich Zweifel. Skepsis gegenüber den Konventionen, den Normen, Regeln und gegenüber den Gesetzen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Widerspruch zwischen dem Idealismus meiner Jugend und den Erfahrungen, die ich zwischen Gesellschaft und Staat lebte, schwoll langsam und grub eine erste Falte in meine Stirn. Mißtrauen geriet mit zwischen Selbsteinschätzung und elterliches Wissen. Ich emanzipierte mich von ihrer Autorität.

Kein Verdruss, denn ich konnte ja bald wählen gehen. Ja was? Was eigentlich? Meine Lebensform in ihrem Verlauf? Die Rahmenbedingungen meiner Projekte und Taten, meines Handelns? Nein. Die Möglichkeiten meiner Wünsche, Träume und Bedürfnisse? Nein. Spielräume und ihre Sanktionen? Territorien und ihre Verfassung? Zeiten und ihre Gesetze? Nein. Nein. Nein. Nicht mal Staat und Status konnte ich wählen. Sondern lediglich eine der dutzend konkurrierenden Parteien und ihre ListenkandidatInnen. Von denen lediglich zwei überhaupt in der Lage (also mit der Macht ausgestattet) schienen, die Durchsetzungsgeschichte meiner Ideen zu schreiben. Die Autorität dieser Gegenüber wirkte wie ein Anachronismus, ein Überbleibsel einstiger Frontlinien, wie ein zahnloser Dinosaurier. Eher lächerlich denn ernst zu nehmen. Mein junges Blut stürzte sich in das Getümmel und kochte dann sehr schnell über. Jedes Kreuz stimmte verdrießlicher. Die Tatenlosigkeit bewirkte schlechtes Gewissen. Die Pandemie* des Parlamentarismus.

Der Traum war aus. Keine dieser Parteien und Koalitionen war willens und mächtig, meine Vorstellungen ins Werk zu setzen. Im Gegenteil! Ein neuer Widerspruch erwachte. Der zwischen den Versprechen der parlamentarischen Politik und der Wirklichkeit derselben. Ich rieb mir einen zweiten Faltenberg auf die Stirn und überlegte lange, bis ich mich entschloss, dieses Spiel nicht mehr weiter mitzumachen – mitzuwählen, als ginge es darum, den neuen Superstar des allerneusten Hollywood-Streifens zu bestimmen. Nein Schluß! Ich war reif genug, für mich selbst zu stehen. Der Weimarer Putsch wär wohl auch gelungen, hätten noch mehr gewählt. Das war einfach nicht das Problem. StammwählerInnen und Überzeugungstäter hielten den Status quo.

Doch konnte ich denn allein Rahmenbedingungen setzen, Möglichkeiten ausschöpfen – Territorium und Spielraum, Verfassung und Verlauf meiner Lebensform bestimmen? War ich überhaupt allein? Ich schaute mich um, in Geschichte und Gegenwart und musste nicht lange suchen. Überall lebten Menschen, die so dachten und fühlten wie ich. Mein Vertrauen wuchs mit dem Tatendrang. Wir machten gemeinsame Sache, direkt und gegenseitig. Wir verzichteten auf Päpste und Könige, Politiker, Bürokraten und Polizisten. Wir setzten Rahmen, griffen nach Möglichkeiten und bestimmten deren Verlauf. Insoweit es gelang, fühlte ich mich frei und mir war wohl. Doch ich musste auch feststellen, dass der Parlamentarismus mit all seinen Organen viel viel mächtiger war als wir, die WählerInnen weit in der Überzahl. Die süße Verführung der parlamentarischen Versprechen umspielte immer wieder meine Sinne und Gedanken, benebelte sie. Ich blieb standhaft gegen diese Altersschwäche, auch wenn meine ganze Generation zu kippen schien. Meine Freunde gaben mir Kraft. Auf meiner Stirn indes entstand eine dritte Hautverwerfung, die von dem Widerspruch rührte, nicht mit der größten verfügbaren Macht zu kooperieren (und deren Versprechen zu glauben), um meine Ideen durchzusetzen, sondern mit der sehr kleinen (der nicht institutionalisierten). Daß zudem sich beide Mächte nicht nebeneinander durchsetzen ließen, ohne alle Vorstellungen besserer Verhältnisse aufzugeben. Und trotzdem! Die Hoffnung wurde stets durch die kleinen Erfolge der Selbstbestimmung genährt. Durch symbolische Siege und handfeste Feiern, durch gelungene Aktionen und erreichte Ziele. Durch ernsthafte Kritik, Ironie, Sarkasmus und auch heilsamen Zynismus.

So fahre ich im hohen Alter selbstbewusst über meine dritte Falte auf der Stirn, streiche sie liebevoll in Richtung der Grübchen über meinen Mundwinkeln und beginne in glücklicher Erinnerung still zu lächeln. Kämpfe!

clov

* Pandemie – weitreichende Epidemie

Politik & Prosa

EURO.PA – Die dunklen Seiten der Macht

Mit der Initiation der Verfassungsgebung für die Europäische Union ist klar geworden, die EU ist kein Elitenprojekt mehr, sondern wird in naher Zukunft den Alltag jedes und jeder Einzelnen betreffen. Ein Grund für Feierabend! dieser neuen Macht auf Spur und Schliche zu kommen.

„Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (…) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (…).“

Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“, S. 20 (1)

Als Immanuel Kant diese Zeilen 1795 aufs Papier bringt, hat er folgenträchtig liberale Ideen mit ideal-rationalistischen verquickt – auf die politische Geschichte angewendet und damit die Ideologie des bürgerlichen Liberalismus ausalphabetisiert. Wie in abstracto die Idee der Autonomie (Völkerrecht) der Idee der Ordnung (Weltrepublik) widerstreitet, so steht auch in concreto dem Glauben (Hoffnung auf ) die Neigung des Menschen entgegen. Vor der utopischen Perspektive kann mensch sich dabei nur gruseln. Die Durchsetzungsgeschichte der positiven Idee einer Weltrepublik wäre die der Machtergreifung einer allgemein herrschenden (gesetzgebenden) Vernunft, die via öffentlichen Zwangsgesetzen die Freiheiten und Neigungen (Bedürfnisse) jedes einzelnen derart beschnitte, daß es zum ewigen Frieden in der Gesellschaft bzw. Welt käme. „Schöne neue Welt“ hat Huxley später zynisch geantwortet.

Wenn sich heute unsere Politiker anschicken, einen Verwaltungsbereich zu katalogisieren, der rund eine halbe Milliarde Menschen umfaßt, heute, fast 60 Jahre nach dem der Kontinent im Kriegsrausch der Großmächte versunken war, heute – fast 15 Jahre nach dem Untergang der technokratischen Regime im Osten, dann kann getrost vom Projekt Europa bzw. der EU-Erweiterung als dem ambitioniertesten Großmachtprojekt der europäischen Neuzeit gesprochen werden. Jede/r Einzelne mag über die politische Kaste unserer Lande denken was will, ihre stabsgeplanten Großprojekte waren immer zweierlei: größenwahnsinnig und unplanbar. Zumindest insoweit stellt das Projekt „Europa“ eine Kontinuität politischer Geschichte dar.

Einst als gemeinsame Basis – quasi Seziertisch großwirtschaftlicher Interessen – war die Idee „Europa“ nicht mehr als der Geschäftssinn einiger übler Kriegsprofiteure. Im Kalten Krieg dann avancierte sie zum ideologischen Kampfmittel – zur Ermutigung gegen den gemeinsamen Feind. Eine Wirkung im übrigen, die nur selten die Bevölkerungen erreichte. Europa, das war die kleinste Gemeinsamkeit, die größtmöglichen Nutzen für alle beteiligten Seiten versprach. Und so kam es, daß sich Vertreter der Großmächte des Kontinents an und wann trafen, daß um die Verwaltungen dieser Treffen Institutionen wucherten – vollgestopft mit Lobbyisten und Machtfanatikern, Bürohengsten, Papiertigern und Schreibtischlöwen, Verträgen und Einzelvereinbarungen – und dabei noch so getan wurde, als wäre die ganze Kumpanei nicht gar schon all zu oft gesehen worden. Heute dagegen sitzt in Brüssel eines der modernsten Verwaltungsregime der Welt und verkörpert die letzte Hoffnung des bürgerlichen Liberalismus auf Gestaltung der Geschichte (hier im Sinne einer verwalteten Welt).

Mit dem verfassungsgebenden Prozeß, der durch die Einberufung des Konvents initiiert wurde, mit der Vorlage des „Vertrags über eine Verfassung Europas“ (2) zur Abstimmung am 04.05. 2004 droht nun der Aufstieg Brüssels zur Supermacht. Die Verfassungsgebung könnte im Handstreich die verfaßten Nationalstaaten entmachten und zu einer effektiven Destabilisierung der Binnengrenzen beitragen. Genau deshalb wird es wahrscheinlich auch nicht so weit kommen. Entweder es wird Aufgeschnürt oder Verwässert, aber am besten gar nicht erst darüber abgestimmt. Nichtsdestotrotz zeigt sich, die Macht in Brüssel wächst, keine taktische Überlegung darf dies übersehen. Die kritische Diskussion dreier Fluchtlinien dieses neuen Großmachtprojektes soll im Folgenden beim Durch-, Nach- und Weiterdenken Hilfe bieten.

Konfrontation contra Subversion / Große Macht, Supermacht, Allmächtig…

Wenn Immanuel Kant in dem Zitat aus seiner Flugschrift „Zum ewigen Frieden“ von einem sich „… immer ausbreitenden Bund…“, einem „…immer wachsenden Völkerstaat…“ redet, scheint er in eigenartiger Weise das vorwegzunehmen, was an utopischem Gehalt in der Europäisierung bzw. EU-Erweiterung begründet liegt. Die Ausdehnung gemeinsamer Normen, Werte und Standards, die tendenziell erst mit der Etablierung der Weltrepublik abgeschlossen ist. Indes brauchen wir die europäische Karte gar nicht soweit auszureizen, denn jedem und jeder dürfte klar sein, daß, welche Form der weltweiten Verwaltung auch immer, sie auf den Institutionen der Vereinten Nationen beruhen wird. Wir haben es also bei der Europäischen Union keinesfalls mit einem Projekt zu tun, das keine Grenzen kennt. Im Gegenteil sind paramilitärische Einheiten gerade dabei, eine neue Grenze um den Kontinent Europa zu ziehen, welche der amerikanisch-mexikanischen, der israelisch-palästinensischen oder chinesischen in nichts nachsteht.

Und die EU-Erweiterung war ja auch nicht ein sich gegenseitiges Annähern, jedes der kleinen Länder hat teuer für den Platz an ‚der Herren Tische‘ bezahlt. Der Preis für Kredite, Subventionen, Handelsverträge waren Privatisierung, Aufhebeln lokaler Märkte, Rechtsuniversalismus und militärische Aufrüstung. Von gleichberechtigten Verhandlungspartnern kann dabei in Brüssel nicht die Rede sein. Die Debatte um die Verfassung der Europäischen Kommission zeigt, manches Land wäre mit einem ständig (stillen) Beobachter schon zufrieden und noch auf lange Sicht wird keine innereuropäische Politik gegen die drei Großen (D, F, GB) zu machen sein. Beim Thema der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird schließlich am deutlichsten, als was dieses Projekt Europa zu verstehen ist. Eine gemeinsame Armee, ein Grenzregime, eine einheitliche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, verstärkter Binnenhandel und eine gemeinsame Währung, schließlich eine übergreifende Verwaltung, eine Verfassung. Nach dem Vorbild einer Bundes-Nation sind die politischen Führer der nationalen Regime Europas dabei, eine neue Großmacht zu etablieren, die ihnen neue Handlungsspielräume eröffnet. Sowohl im Ringen mit den transnationalen Konzernen, als auch in Sachen transatlantischen Handels, sowohl zum Schutz europäischer Kapitalinteressen im Nahen Osten, als auch zum Durchstarten beim Run auf die letzten Ressourcen. Mit dem liberalen Schwindel einer Ausdehnung bis ins Unendliche (die ganze Welt, ein Europa) kaschieren die Politiker unserer Lande die Realisation einer Großmacht, der nach der begrenzten Ausdehnung und fallenden Profitraten die direkte Konfrontation mit anderen Großmächten folgt.

Viele Menschen in Europa glauben, daß eine Konfrontation mit den USA ein historisch notwendiges Korrektiv der weltweiten Politik darstellt und vergessen darüber, daß eine Konfrontation von Großmächten in der Geschichte letztendlich immer auf den Rücken der Menschen ausgetragen, auch Krieg bedeutet hat. Anstelle der Konzentration von Macht in den Händen weniger, der Zentralisierung von Verwaltung, anstelle des Prinzips der Konfrontation sollte das der Subversion treten, hüben wie drüben, die zielgerichtete Zersetzung aller Macht des Menschen über den Menschen.

Integration contra Destruktion / Nationalstaat vs. Europa

Die Balance zwischen den Nationalstaaten Europas und einer einheitlichen europäischen Verwaltung, zwischen nationaler und europäischer Verfassung (3), wird zu einem der Schlüsselmomente der weiteren politischen Entwicklung werden. Sollte es tatsächlich gelingen, am 04. Mai eine einheitliche Verfassung der Europäischen Union zu verabschieden, wird wohl die juristische Praxis der Auslegung des Verfassungstextes erweisen, inwieweit den Advokaten der Spagat zwischen nationaler Souveränität und europäischer Rahmengesetzgebung gelungen ist. Es gibt nicht unbegründete Hoffnung darauf, daß eben jene Auslegungspraxis den nationalen Souverän weiter zersetzen wird. Die Rede von der Integration zeigt jedoch schon an, daß es bei diesem Prozeß keineswegs um die Auflösung national verfaßter Territorien gehen soll, im Gegenteil erhalten diese so noch zusätzliche Legitimation, quasi „von oben“. Aber was noch viel schlimmer ist und sich bei der Integration weiterer Beitrittsländer zeigt, diese müssen sich erst zu einem modernen Nationalstaat generieren, damit ihnen überhaupt die Chance des Beitritts offensteht. Alles in allem heißt die europäische Supranationalität die Integration von Nationalstaaten in einen Staatenbund und nicht die Auflösung des Nationalstaates, nicht die Zerstörung der Brutstätte von systematischer Repression und Terror, von Rassismus und Faschismus.

Legitimation contra Partizipation / Von Bürgern, Bürgern und Menschen

Das Europäische Parlament kann bürger seit 1979 direkt wählen, wohl eine vorbeugende Maßnahme, um die Kritik am Projekt „Europa“ frühzeitig zu unterbinden. Die Stellung dieser Institution ist dann auch nach wie vor sehr niedrig. Kein Initiativrecht, keine Öffentlichkeit, keine Macht – nur die Arbeit an den konkreten Gesetzestexten ist parlamentarisch. Der Rest liegt größtenteils in den Händen der Regierungschefs und Lobbyverbände, der einzelen Minister und Lobbyisten. Daß, woran der moderne Nationalstaat in seiner demokratischen Herrschaft schon krankt, zeigt sich auf europäischer Ebene noch drastischer: die mangelnde Partizipation (Teilhabe) vieler, vieler Einzelner an der Politik und damit an der Gestaltung der Geschichte. Wird Legitimation als ein nachgelagerter Prozeß verstanden, bei dem in einem repräsentativen System wie der Demokratie bereits bestehende Projekte gerechtfertigt werden, befindet sich die Zukunft der bürgerlich-liberalen paneuropäischen Idee in einer Zwickmühle, deren Tendenz nur schwer prognostiziert werden kann. Der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten könnte diese derart destabilisieren, daß sie der Bürger einfach nicht mehr genügend legitimiert bzw. ihr Vorhandensein als legitim empfindet (4).

Auf der anderen Seite spielt aber gerade das Vorhandensein eines abstrakten, weil ungenügend legitimierten Souveräns den Nationalpolitikern in die Karten. So kann eigenes Unvermögen mit den Restriktionen aus Brüssel begründet werden, das Versagen des Souveräns mit der fehlenden Souveränität (5). Gerade dies könnte Nationalismen wieder befördern, die Legitimität von Nationalstaaten stärken. Unabhängig davon aber, ob nun mehr Legitimation für die EU oder mehr für den einzelnen Nationalstaat oder ein ausbalancierter Mix aus beidem, mehr Partizipation der einzelnen verfaßten Individuen ist in keinem der möglichen Fälle zu erwarten. Beim Europaprojekt schon deshalb nicht, weil die zentrale Bürokratie von dem individuellen Geschehen noch weiter entfernt ist als im Nationalstaat – eine Generation von Technokraten, gespeist aus den verschiedenen nationalen Eliten, wird uns verwalten. In der gestärkten Nation nicht, weil ihrer Geschichte die Tendenz zur Führerschaft innewohnt, eine Dynamik die immer mit Partizipationsverlusten verbunden ist. Und auch und gerade in einer Balance von Europäischer Rahmengesetzgebung und nationaler Souveränität nicht, weil es auf der Seite der Regierenden einfacher wird, sich den schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben, und für jeden und jede schwieriger, dieses Spiel zu durchschauen, zu kritisieren, einzugreifen, zu verändern und mitzugestalten – an einer gemeinsamen Politik eben zu partizipieren.

Aus dem zuvor Gesagten ist wohl leicht zu entnehmen, daß das Europäische Projekt eher zum Scheitern neigt, denn für alle Menschen dieses Kontinents eine selbstbewußte Zukunft bietet. Anstelle des modernen Großmachtprojekts müßte die freie Initiative konkreter Einzelner treten, um Mächte nicht zu konfrontieren sondern zu zersetzen, um Nationalstaaten nicht zu generieren und zu integrieren sondern aufzulösen, um politische Projekte nicht zu legitimieren sondern an ihnen zu partizipieren. Hier scheiden sich bürgerlicher Liberalismus und selbstkritischer Anarchismus. Und hier ist der Kampf in abstracto auch schon zugunsten letzterem gewonnen.

clov

P.S.: Wer glaubt, die Europäische Union würde mehr Beschäftigung schaffen, irrt. Sie wird sie auf lange Sicht nur besser verteilen, was soviel heißt wie: innerhalb der europäischen Grenzen gilt dann wohl jeder Job als zumutbar.

(1) Kant, Immanuel, „Zum ewigen Frieden“, Reclam, Ditzingen, 1999
(2) Den Text gibt’s unter: www.european-convention.eu.int und im Europahaus, Katharinenstraße 11 (über der sixtina) Mo-Fr 12.30-17.00 Uhr auch als Freiexemplar
(3) Der Widerspruch der liberalen Vorstellungen von Autonomie (Völkerrecht) und Ordnung (Völkerstaat) kehrt hier wieder.
(4) Warum soll ich Schröder wählen, wenn er doch nur auf die Verantwortlichkeit der EU verweist.
(5) Österreich zeigt beim Streit um eine Verlängerung des auslaufenden Transitvertrags wie es geht: Eine Fraktions- und Kantons-übergreifende Koalition wird im nationalen Feuer geschmiedet, um die drohende Gefahr von Einnahmeverlusten und (mensch höre und staune) Umweltschäden von der Nation noch abzuwenden.
(Die schwierigenVerhältnisse der ökonomischen Verflechtung wurden im Text weitestgehend u. zugunsten einer klaren machtkritischen Perspektive ausgeblendet.)

EU.ropa

Demokratie im deutschen Wahljahr 2004

Hurra, hurra, das Superwahljahr ist da – ein Fest der Politik, welcher Bürger möchte nicht in solch antiken Träumen schwelgen. Aber denkste. Pessimismus aller Orten. Keine Programm-Marathons in Partei­geschichte. Nicht einmal ein ordentliches Lämmerschlachten. Keine Tragik, keine Euphorie. Die Medien halten sich zurück. Die parla­mentarische Debatte wiegt in Lethargie. Da hilft auch kein außen­/euro-politischer Abführtee. Kaum Grüne auf den Friedensmärschen. Kaum Rote am 03.04. (1) in Berlin. Die Schwarzen in die eignen Hierarchien verstrickt, die Gelben kopflos, die Brau­nen dumm wie immer, die Röterroten immer nur dabei statt mittendrin. Selbst dem EU-Parlament fehlen noch Helfer für die eignen Wahlen. Ehrenamtlich versteht sich. Die Reste von politischer Kultur, die die Parteien versam­meln, reichen kaum noch aus, die Lücken zuzuschließen. Hamburg war ein erster Gradmesser. Die Wahlbeteiligung ging um 2,3% auf 68,7% zurück. 10528 Stimmen wurden ungültig abgegeben. Das sind immerhin schon 1,3% von allen (s. Tabelle 2). Die ungültige Stimmabgabe ist eine Option geworden, weil sie ein aktives Moment enthält: Klar seine Stimme zu verweigern, nicht zu delegieren, sondern sie auch selber einzusetzen. (2) Auch wenn kein Erdrutsch zu erwarten steht: 2004 – das Super­wahljahr Deutschlands – könnte zu einem Fiasko der Legitimation parlamen­tarischer Initiative werden. Die Bereitschaft des Bürgers, seine Stimme abzugeben, sinkt ständig. Manch einer sieht es als Strafe für die schlechten Inszenierungen der Par­teien­­politik, manche zieht die Konsequenz aus jahre­langem Hin und Her. Fest steht, die meisten haben begriffen, daß jenseits der dunklen Regierungspolitik, nur düstere Aussichten zu finden sind. Die allgemeine Hilflosigkeit der Parlamente ist auf Landes- und auch Bundesebene erwiesen. Doch was bleibt noch, wenn der Bürger nichts mehr von der Wahl erwartet, politisches Engagement sich weder an der Basis der Parteien noch in Parteien-Neugründungen generiert? Ist das liberale Staatsprojekt an seinem Ende? Und damit auch die demo­kratische Idee? Wo läßt sich Optimis­mus aus politischen Aktionen überhaupt noch schöpfen? Ein Vorschlag sei gegeben.

Die Demokratie in ihrer Gegenwart ist die parlamentarische Lösung im nationalen Mehrparteienstaat. In ihrer Idee ist sie die Teilhabe aller, mithin von jedem und jeder Einzelnen, an der Macht – freiheitlich, brüderlich, gleich. Die Macht und ihre Territorien jedoch, die die Parlamente der nachfeudalen Aristo­kratie im 19. Jahr­hundert listenreich und unter vielen Op­fern abgerungen haben – wie wichtig dabei die Ideen des Sozialismus waren, wie wichtig der gewerkschaftliche Druck der organisierten Arbeiterschaft, wird oft ver­gessen – ging über an die skrupellosen Führer der nationalen Bewegungen, die nicht nur in Europa aufmarschierten. Wie­viel Leid mußte ertragen werden bis mit der „Wende“ und dem Ende des Kalten Krieges endlich die Hoffnung wieder aufkeimte, nun mit dieser alten Macht zum ewigen Frieden fortzu­schrei­ten. Heute fällt es schwer, noch jene Euphorie zu teilen, die damals beide Erdenteile erfaßte, als der staatliche Kriegs­ter­rorismus sich vielerorts zu befrieden begann. Es war ein großer Sieg der parlamentarischen Debatte. So wurde es zumindest hingestellt. Ein Beweis für die politische Wirksamkeit des Parlamen­tarismus. Großen Worten folgten große Pläne und allzu große Erwartungen. Gerade in den Ländereien deutscher Nation. Riesige Verteilungspro­gram­me gebaren gigantische Subventions­kataloge mit sichtbaren Effekten: Wirt­schaftsboom dort, Warenvielfalt hier. Das Rheinische Modell der sozialen Marktwirtschaft stand scheinbar in Blüte. Der Aufstieg der Grünen Partei und das Überleben der links­sozialistischen Kräfte in der PDS jedoch – beide ideologischen Strömungen stießen als Parteien schnell an ihre real­politischen Grenzen – gaukelten eine Ver­änderung des politischen Alltags­geschäfts im deutschen Mehrparteien­staat nur vor, ebenso wie die Staatssubvention auf Pump. Heute, ein neues Jahrtausend hat kaum begonnen, halten Resignation und Trauer wieder Einzug in die Häuser­meere der Städte und Hofzeilen der Dörfer, kehrt an die Herde der Familien, Kollektive und Individuen wie ein Déjà-vu zurück, was man in den Neunzigern noch zu bannen glaubte: die Angst vor dem Morgen. Und wie zum Hohne ist die Überbringerin der Schrecken hierzulande die Rot-Grüne-Re­gierungs­koalition. Der Pessimis­mus wächst. Das zeigen die steigenden Zahlen der Nichtwählenden und Ver­wei­gerungen jeder Art.

Ist der Staat, was seine liberale Idee ver­heißt, der Garant des Friedens durch Zentra­lisierung der Gewalten und damit Wächter jeden Eigentums, kann er bei seinem Bürger und seiner Bürgerin auch Vertrauen erwecken, ihn und sie zur Ab­kehr von der individuell-willkürlichen Gewalt bewegen, gar zur Abgabe seiner Freiheitsrechte. Doch muß der Staat auch andersherum seinem Bürger Vertrauen schenken, will er nicht die durch ihn im Vertrauen zugesicherte Freiheit des Indivi­duums restlos durch staatlichen Zugriff untergraben. Die gegenseitige Vertrauens­basis von Staat und Bürger ist das Herz­stück jedes liberalen Ideals. Aber schon der Blick in die Geschichte zeigt, der Parla­men­tarismus konnte von Anbe­ginn keines seiner noch so liberalen Versprechen ein­lösen. Die Balancen des sozialen Friedens im Innern der national verfaßten Terri­torien, zwischen Arbeits­kampf und Kapitalinteresse, zwischen den Jungen und den Alten, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nationalis­ten und den Kommunisten, sie alle blieben von der parlamentarischen Initiative beinahe un­berührt. Den Ausbruch von Krieg und Revolte konnte sie weder verhindern noch ernsthaft begrenzen, im Gegenteil oftmals reichte die Rhetorik der nationalen In­teressen aus den Parlamenten der kriegs­fördernden Maßnahme die Hand. Erinnert sei nur an den Kriegs­zuspruch der deut­schen SPD 1914. Unfriede, Widerstand und Krieg unter­minierten unent­wegt das bürgerliche Vertrauen und zwangen zur bürokratischen Spezialisierung der Parla­mente. Die Parteien mußten sich ständig profilieren, um verlorenes Vertrauen zu aktualisieren. Gewählte Volksvertreter und -vertre­terinnen ja, aber von den Parteien aus der eigenen Elite rekrutiert und auf die Liste gesetzt. Strategisch geplant und aus­ge­­klüngelt, um dem politischen Gegner kein Stück weit Luft zu lassen. Schon hier wird fraglich, inwieweit die oder der Delegierte jenes Vertrauen in die Wähler­schaft unterminiert. Und von da an geht der Riß über eine lange Kette von Amts­miß­bräuchen, nicht gehaltenen Ver­sprechen bis hin zur Korruption. Spä­tes­­tens jedoch seit der Terrorismus im parla­men­tarischen Staate zum Unwesen geriet, bedroht die Eskalation der Inneren Sicher­heit als gesteigertes Miß­trauen der Parla­men­tarier und Parlamen­tarie­rinnen in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen den Frieden mit und damit auch das Vertrauen in den Staat. Eine Geschichte der an diesem Punkt ansetzenden staat­lichen, sprich par­la­­men­­­tarisch geführten, Re­pres­­sion im um­fas­sen­den Sinne steht noch aus. Die Offen­legung zumin­dest einiger Stasi-Akten ist nicht mehr als ein Indiz für ein dunkles Staats­kapitel in Ost wie West. Die Aus­maße von Datenerfassung und Ter­roris­mus an der Schwelle dieses Jahr­tausends machen sie zur lächerlichen Zettelkastelei.

Ist also der moderne Mehrparteienstaat, dessen Sonderfall die Europäische Union nur ist, heute weit von der Erfüllung jenes liberalen Ideals entfernt? Ich meine ja. Die Kultur der Individualisierung und die pluralistische Erziehung (3) haben das Miß­trauen reifen lassen, trotz und gerade we­gen der medialen Öffentlichkeit. Par­teien und Gewerkschaften gelten als über­holt, wegen ihren bürokratischen Aus­differen­zierungen und institutionellen Ver­engungen, wegen ihren internen dogma­tischen Ansprüchen und Auslesen, wegen der parlamentarischen (tarif­ründlichen) Praxis und deren Folgen. Das Vertrauen in die Solidarität der „großen Sozialkas­sen“ schwindet. Und wer hat schon Aus­sicht auf politische Mitbe­stimmung, wer fühlt sich dazu in der Lage? Aus Ohnmacht kann kein Vertrauen entstehen.

Ist also mit dem gescheiterten Vertrauens­verhältnis, mit dem Scheitern der liberalen Idee vom Bürger und dem Staate auch die Idee der Demokratie an ihrem Ende – nachdem die Geschichte ihrer Entwick­lung unzweifelhaft mit dem Mehrpar­teien­­staat und seinem Parla­men­tarismus verbunden ist? Scheint Demokratie ange­sichts dessen heute als politische Praxis, die den aufklärerischen Idea­len folgt, nicht mehr möglich? Ich meine nein. Um Egoismus und pes­simis­tischer Stim­mung die Stirn zu bieten, gilt es die demokratische Idee in optimistischer Absicht neu zu beleben. Ihre Ideale von der Frei­heit, Brüderlich­keit (Solidarität), und Gleich­heit des Menschen aufzugeben, hieße ja die Träume und Hoffnungen so vieler mit Füßen treten, hieße schließ­lich die moderne Bewegung des Denkens in ihrem politischen Kern in Frage stellen. Der Rückzug ins Private, sofern er von der Not erlaubt, wäre der Auszug aus der Gesellig­keit, das Aufkündigen jeder ver­trau­lichen Basis, das Ende jeder Politik. So scheint am Ende der liberalen Staatsidee das zu stehen, was sie schon am Anfang im eigenen Menschen­bilde unterstellte. Der Mensch sei eigent­lich nur durch Ge­walt zur Abkehr von dem Egoismus und damit zu Gesellschaft fähig.

Wenn es also so schlecht um die liberale Staatsidee bestellt ist. Wenn ihre politische Praxis des Parlamentarismus heute keines ihrer Versprechen einlösen kann, gar das politische Grundverständnis der gesell­schaft­lichen Verhältnisse bedroht. Wenn das grassierende Mißtrauen die Indivi­duali­sierung befördert und die Zersetzung der Solidarität innerhalb der gesellschaft­lichen Gefüge. Wo kann jener Optimis­mus in die Demokratie überhaupt noch Wurzeln schlagen? Wo herrschen denn noch demokratische Verhältnisse? Wo, wenn nicht direkt zwischen den Menschen? Denn wenn Demokratie die Idee der Teilhabe jedes und jeder einzelnen Betrof­fenen an der Macht über die Verhältnisse bedeutet, so ist gar nicht einzusehen, warum sie sich nur auf Staatsform und -geschichte beziehen soll.

Demokratische Verhältnisse sind, wie sie ab jetzt verstanden werden sollen, das Er­geb­nis von politischen Haltungen, die In­di­­viduen zueinander einnehmen. Sie sind di­rekt und gegenseitig. Deshalb keines­wegs abstrakt. Demokratie herrscht dort, wo sich Menschen in einem aus­balan­cier­ten Machtverhältnis vertrauen. Wer kurz überlegt … wird feststellen, es gibt schon Anlaß zu ein wenig mehr Op­ti­mismus. Denn wenn auch nicht in der Re­gel, der Alltag des Menschen ist von demokratischen Verhältnissen durchsetzt. Trotz aller Unkenrufe, die Leute seien apolitisch und zu einem anständigen Wahlkreuz nicht mehr fähig. In der „klei­nen“ Politik des Alltages sind demo­kra­tische Verhältnisse oft häufiger anzu­fin­den, als in der „großen“ der Parlamente. Demo­kratie ist eine Wirklichkeit, die es aus­zuleben gilt! Der parlamentarische Spiel­raum reicht da lange nicht aus. Und wer kann jemandem ernsthaft das Desin­ter­esse am alltäglichen Parteigeschäft verweh­ren? Modernes Leben sieht sich vielen Ansprüchen ausgesetzt. Der Parla­men­tarismus stellt da lange nicht die höchsten.

Man wäre schnell versucht vom Standbild aus zu schließen, die Verhältnisse im liberalen Mehrparteienstaat lägen doch nicht so schlecht, wie eingangs noch behauptet. Doch nicht aufs Potential sondern die Ent­wicklung kommt es schließlich an. Und hier sind die Tendenzen trübe, die Aus­sicht nochmal düsterer. Idee, Form, Ein­richtung und Geschichte des liberalen Staats­modells sind sehr eng geworden, be­häbig, wenig in der Lage jene demokratischen Verhältnisse, wie oben verstanden, in sich abzubilden, sie zu fördern und direkt auch zu bewirken. Um aber das Ideal der Teilhabe jedes Einzelnen in die Tat zu set­zen und sich den neuen Herausfor­derun­­gen zu stellen, bedarf es viel vielmehr Demokratie. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Und die muß in ihrem Herzen utopisch sein, will sie Menschen an sich binden.

Demokratie, optimistisch betrachtet, findet also weder neben noch über Menschen statt, sondern zwischen ihnen. Politisch ist nicht ein Verhältnis zwischen Bürger, Recht und Staat, aus historischer Entfernung kühl betrachtet, politisch ist der Mensch, wenn er sich auf andere bezieht, mit Wünschen, Bedürfnissen und auch Ansprüchen. Politisch ist er, insoweit ihn die Probleme seiner Umwelt, seiner Mitmenschen direkt betreffen. Ist man gewillt zu glauben, das Individuum ist nur mit sich selbst beschäf­tigt und nur an seinem Eigentum interes­siert, wäre jede Aussicht auf das Erleben und Bewirken gemeinsamer Geschichte an ihrem Ende.

Daß zwischen Staat und Bürger die Ver­trauens­basis bricht, ist hinreichend beschrieben worden. Daß politische Kultur im Mehrparteienstaat allzuoft zur Partei­kultur degeneriert, ist einsichtig, sonst wären wir ja längst darüber hinaus. Daß kein Fünkchen Utopie beim Glauben an die Steuerung des positiven Wachstums bleibt, sondern nur hastiges Gefummel, daß kein utopischer Gedanke mehr vom herrschenden Politiker zur beherrschten Bürgerin dringt, liegt auch an der Aus­sichtslosigkeit der parlamentarischen De­batte. Es fehlen die Visionen. Und mit einem Seitenblick auf die Geschichte, ist mensch auch heilfroh darüber.

Es zeigte sich also die Notwendigkeit, den Begriff der Demokratie von seinem her­kömm­lichen Gebrauch, von seiner natio­nalen Sittenhaft zu trennen, das Politische von reiner Staatsverwaltung abzuheben, um Utopie und Optimismus für die demokratische Entwicklung des Menschen zu­rückzugewinnen. Beharrte man auf der An­erkennung der politischen Einrich­tungen, wie sie sind, so wären Pessimismus und auch Egoismus Haus und Tor geöff­net, die Ideale der Aufklärung wären schließ­­lich preisgegeben. So sei das „große“ Politikgeschäft von nun allein ge­las­sen, in der frohen Hoffnung auf Zerset­zung. Der Auszug aus den Parla­men­ten wird Demo­kratie und Selbst­be­stimmung weiter vor­wärts bringen. Geh zu den Ur­nen, laß Dich zählen, aber behalt die Stim­me zumindest dieses Mal bei Dir. Zeig Dich solidarisch mit den Anderen, setz ein Zeichen, nutze Deine Stimme (und auch Deine Arme), eine neue poli­tische Kultur demokratisch zu begrün­den. Der Auf­gaben sind genug gewachsen. Der Op­timismus liegt allein daran zu glau­ben, wir Menschen seien auch dazu befähigt, sie gemeinschaftlich zu über­win­den.

clov

(1) DGB-Großdemonstration
(2) Tipp für anspruchsvolle NichtSwähler: Die Briefwahl. Mensch hat den ganzen Kram zwei Wochen vor der Wahl und kann den Stimmzettel in Ruhe analysieren, disku­tieren, verzieren, beschmieren, file­tieren oder toasten, Hauptsache er geht wieder rechtzeitig zurück.
(3) die etwas geraffte Formulierung verweist einmal auf soziologische Arbeiten zu Indivi­dualisierungsprozessen u. a. von Ulrich Beck, vgl. bspw. „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983; und zum anderen auf den Fakt, das unsere Kinder heute keinen mo­no­­li­thischen Bildungsangeboten mehr gegen­­überstehen.

Theorie & Praxis

Strahlende Autobahnen!?

Nach dem die sächsische Landesregierung vom Bundesministerium für Strahlen­schutz die Genehmigung erhalten hat, die 951 radioaktiven Brennstäbe aus dem stillgelegten Forschungsrektor in Rossen­dorf bei Dresden nach Ahaus zu trans­portieren, ist der Streit zwischen den Bundesländern jetzt offen ausgebrochen. Nordrhein-Westfalen zieht vor den Kadi. Corpus delicti ist dabei aber keineswegs der Un(sinn) des Transports sondern die Verteilung der Kosten der nötigen Polizei­einsätze, die wohl zum größten Teil am west­lichen Nachbarn kleben bleiben. Da die 18 Cas­toren nur über die Straße geführt werden können (Rossendorf ver­fügt über keine Schiene!), werden die Gesamt­kosten ziemlich hoch veranschlagt. Wie schnell der Widerspruch Nordrhein-West­falens zur Verhandlung kommt, ist nicht abzusehen. Fakt ist: Das Unter­nehmen Nuclear Cargo + Service (NCS) hat für den Transport nur eine Ge­nehmigung bis Ende 2004. Zudem sind in Sachsen im Juni und September, in NRW im Septem­ber Wahlen.

Es ist demzufolge davon auszugehen, dass die Transporte erst zum Ende des Jahres stattfinden. Genug Zeit also, um sich zu organisieren, zu in­formieren und den Widerstand vorzubereiten. Denn die derzei­tige Diskussion zeigt: der Protest gegen die vorherrschen­de Atompolitik ist nach wie vor ein echter Faktor, an dem keiner der verantwortlichen Politiker­Innen vorbei kommt.

clov

Mehr Infos unter:
www.bi-ahaus.de/040225dres­dener-erklaerung.htm
www.castorstopp-dresden.de/
nixfaehrtmehr.de/

Lokales

… den Gegenstand verkürzen!

Antifaschistische Arbeit, ob nun aus der Mitte der Gesellschaft oder von derem linksradikalen Rand, ist heutzutage und hierzulande abgesehen von einigen wenigen guten Aufklärungs- und Bildungsinitiativen reiner Selbstzweck am Gängelband einer Identitätspolitik. Entgegen den Haltlosigkeiten einer plural gewordenen Welt wird dabei ein Schild dogmatischer Abgrenzungen errichtet, der den als zugehörig identifizierten In-Sidern eine sichere Basis bietet, die Ausgegrenzten dagegen dem Verdacht latenter und offen faschistischer Umtriebe aussetzt. Beispielhaft war dies noch 2005 in Leipzig anhand der Entwicklung des BgR (Bündnis gegen Rechts und später dann Bündnis gegen die Realität) zu beobachten, in deren Theoriebild letztlich ein Verhältnis von „Nazis“, „Nazinazis“ (sic!!!) und „radikaler Linker“ übrig blieb, deren einziger Differenzpunkt um die (Nicht-)Solidarität mit Israel kreiste. Konsequenterweise erfolgte wenig später die Auflösung.

Dieser Drift von kritischer Analyse hin zu einer identitären Politik entspricht letztlich einem Mangel an gesellschaftlich zur Verfügung gestellten, überzeugenden Identitäten, deren Spannweiten eine individuelle Lebensperspektive erfassen könnten, und ist darin Ausdruck eines flexibilisierten Wirtschaftssystems, das den Individuen ständige Identitätswechsel bzw. neue Anpassungsleistungen abverlangt und kaum noch Nischen bietet. Kein Wunder, dass angesichts solcher Tendenzen die Identität „AntifaschistIn“ wieder boomt, denn was gibt es offensichtlicheres und leichteres, als gegen die Dummheit und Verrohung, gegen die Geschichtslosigkeit und die Relativierung der Naziverbrechen zu sein.

Wie wenig politische Substanz aber letztlich hinter solchen Positionierungen steckt, sieht mensch allein schon an der Hilflosigkeit gegenüber Dresscode-Wechseln und Standpunktverschiebungen des ausgemachten politischen Gegners. Anstelle dass konkrete Handlungen bzw. Organisationsformen zur Identifizierung von richtig und falsch dienen, reichen Klamotten oder abweichende Parolen, um von einer Gesprächshaltung zu einer Haltung überzugehen, die den Out-Sidern gleich mal die eigenen Stiefel schmecken lässt. Aber im Kern hat der gemeine Antifaschist auch nicht viel mehr zu bieten. Die einen üben ihre ohnehin delegierte Selbstbestimmung, indem sie sich als die besseren Demokraten wähnen und während langweiliger Straßenfeste bloß „Gesicht zeigen“, die anderen, indem sie den Status quo für einen visionären Kommunismus offen zu halten glauben, während kaum eineR darüber nachzudenken scheint, was das überhaupt bedeuten könnte.

Dramatischer aber als diese Regression im Geiste sind die Folgen in der jeweiligen Politik. Während die „sauberen“ Demokraten sich an eine gottesdienstartige Anbetung staatlicher Gewaltstrukturen klammern, gehen die fetischisierten „Radikal@s“ auf eigene Faust und dabei völlig kopflos vor. Was davon bleibt, ist die Erkenntnis, dass antifaschistische Aktion entweder in Überflüssigkeit und Staatsaffirmation oder zwangsläufig in sinnloser Gewalttätigkeit und deren Verherrlichung endet. So die bürgerliche Kampagne der Leipziger Courage-Konzerte, die anfänglich noch mitten auf dem Kundgebungsplatz der Neonazis um Christian Worch stattfand; so die „Schöner Leben ohne Naziläden“-Kampagne der radikalen Linken, deren am Anfang noch progressiver Kern, antifaschistische Arbeit auch außerhalb der sächsischen Großstädte zu fördern und zu unterstützen, angesichts des Umstandes, dass es nun solche Läden auch in Leipzig gibt, dazu umzuschlagen droht, die eigene Stadt, den eigenen Kiez nur noch „sauber“ zu halten. Über die Wahl der Mittel wird dabei hüben wie drüben kaum einmal nachgedacht. Wie auch, wenn diese Symptombekämpfungen nur den unreflektierten Selbstzwecken einer möglichst geschlossenen Identitätspolitik folgen. Derweil gluckt die Nation auf ihrer braunen Brut und diese kann beinahe ungestört gedeihen.

Anstelle von Eventmanagement und Demotourismus also ist es Zeit für eine Politik, die den Faschismus mitsamt dem nationalsozialistischen Wahnsinn an den Wurzeln packt, indem sie den Zusammenhang von Armut und Bildung, von Nationalismus und Militarismus, Kapitalismus und Moderne erkennt. Es muß endlich klar werden, dass ein substantieller und wirksamer Antifaschismus seine Basis in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive findet, die nichts anderes als revolutionär sein kann, wenn es ihr anstehen soll, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden.

clov

NazisNixHier

Atomare Altlasten

[Sachsen, Rossendorf]: Im Atomforschungszentrum Rossendorf, ca. 12 km vom Dresdner Stadtzentrum entfernt, wurde 1957 der Kernreaktor RFR in Betrieb genommen; ein Entsorgungskonzept für den anfallenden Atommüll gab es nicht. Neben der Nutzung zu Forschungszwecken (u.a. Forschungen für Atomkraftwerke) diente der Reaktor der radioaktiven Bestrahlung von Ausgangsstoffen für die Produktion von radioaktiven Isotopen. 1991 wurden die industriemäßige Isotopenproduktion und der Reaktorbetrieb eingestellt; 1993 mußte die Sächsische Staatsregierung die endgültige Stillegung des Reaktors beschließen: der Reaktor war nach westdeutschem Recht nicht genehmigungsfähig. Sämtliche genutzten Brennelemente („abgebrannte“) der 34-jährigen Betriebszeit des Reaktors lagern noch in Rossendorf (951 Stück) in einem Naßlager, dass seit 1996/97 durch eine CASTOR-Halle (40 Millionen Euro) ergänzt ist.

Das hochradioaktive Material soll nun nach den Wünschen der sächsischen Landesregierung und des betreibenden Vereins für Kernverfahrenstechnik und Analytik e.V. (VKTA) erst in CASTOREN des Typs MTR-2 umgelagert und dann über die Straße in die CASTOR-Halle in Ahaus (NRW) transportiert werden. Die Genehmigungen des Bonner Umweltministeriums zum Transport und zur Einlagerung in Ahaus stehen noch aus. Verschiedene kritische Bündnisse und Gruppen in NRW und Sachsen glauben jedoch, dass dieses Verfahren schon im Frühjahr positiv beschieden werden könnte und bereiten deshalb gegenwärtig den Widerstand gegen den Straßentransport vor. Das Hauptargument der sächsischen Landesregierung liegt im Kostenfaktor, wobei sich das NRW-Parlament zu fragen beginnt, was denn NRW von solch einer Verschiebeaktion hätte, außer den Hauptkosten des Transportes. Immerhin aber hat Ahaus eine Lizenz zur Zwischenlagerung, Rossdorf nicht…

Das Hickhack um Lizenzen und Genehmigungen, die enormen Kosten, die allgemeine Willen- und Konzeptlosigkeit der Landesregierungen, der Plan schließlich, einen CASTOREN-Konvoi auf der Straße mitten durch Deutschland zu dem immerhin 600 km entfernten Ahaus zu führen, ohne sichtlichen Sicherheitsgewinn – all dies zeigt: die atomare Technik ist nicht zukunftstauglich und das Problem viel zu gefährlich, um es im politischen Alltag vor sich her zu schieben. Verlasst die laufenden atomaren Anlagen! Geht auf die Straßen! Blockiert die Atomindustrie und ihre Interessen! Wehrt Euch gegen das Anwachsen des Atommüllberges und gegen die kurzsichtigen Lösungen zu dessen Lagerung! Macht Druck auf die entscheidungstragenden PolitikerInnen! Und seid solidarisch.

clov

Weitere Informationen u. a.: www.uwg-ahaus.de +++ www.x1000malquer.de +++ www.castorstopp-dresden.de

Lokales

StudentInnen brechen Hausfrieden

Wir empfanden nur, dass hier anscheinend Menschen saßen, die scheinbar aus eigener Nähe zu Macht und Versorgung – Unwissenheit konnte es einfach nicht sein – überhaupt kein Empfinden mehr dafür haben, mit welchen Wirkungen verfehlter Bildungs- und Sozialpolitik wir als Studierende umgehen müssen, welche Missstände, Verunsicherungen, auch Ängste uns Anlass sind, eigenen Protest vor und in das Haus der gewählten Volksvertreter zu tragen.“ Stellungnahme, 02.03.04

Am 16.01. begingen die Leipziger StudentInnen ein altes Ritual, als sie wieder einmal allein, in kleineren und größeren Gruppen nach Dresden vor den Landtag zogen. Doch dieses Mal wollte student/in sich nicht so einfach abspeisen lassen wie in den letzten Jahren, mit Beschimpfungen á la Rößler und der Erkenntnis, daß sich im Landtag eigentlich keine/r für die studentischen Forderungen interessiert. Deshalb standen die Proteste an diesem Freitag von Anfang an unter der Devise, nicht nur brav der genehmigten Strecke zum Parlament zu folgen und dort an der Kundgebung teilzunehmen, sondern durch viele dezentrale Aktionen im Stadtgebiet Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen. Daß sich diese Vorstellung neben ein paar nackten Ärschen und sporadischen Kreuzungsblockaden nur mäßig umsetzen ließ, lag sicher auch an der Unerfahrenheit und mangelnden Organisierung der aktiven StudentInnenschaft. Als jedoch 14 Studiosi von den BesucherInnen-Plätzen im Landtag in lautstarken Jubel über die vorgehende Politik ausbrachen, platzte einigen EntscheidungsträgerInnen der Kragen angesichts des Faktes, daß das Verständnis der StudentInnen für die politische Ausweg- und Konzeptlosigkeit des sächsischen Parlamentes in der Bildungs- und Sozialpolitik schwindet. Und dann wollten jene weder aufhören noch den Saal verlassen. Oh, welch Unverschämtheit! Da half nur noch der Einsatz polizeilicher Gewalt, um diesen Aufstand im ehrenwehrten Hause des Landes niederzuwerfen. „Eklat“ und „einmalige Störung der Arbeit der Volksvertreter“ tönten gereizte PolitikerInnen, während viele StudentInnen mit der Aktion und der erreichten Aufmerksamkeit zufrieden waren.

Also alles gut? Denkste! Am darauffolgenden Mittwoch sprach der Landtagspräsident Erich Iltgen für die 14 polizeilich erfaßten StudentInnen ein einjähriges Hausverbot aus und stellte gleichzeitig einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch (§123 bzw. §106b). Die Kriminalisierung dieser politischer Aktion bedeutet auch einen Angriff auf die studentischen Proteste und zeigt deutlich, wie niedrig die Hemm- und Schmerzgrenzen der verantwortlichen PolitikerInnen liegen. Die Betroffenen sind gerade dabei, Gespräche mit Politik, Presse und verschiedenen Gruppen aufzunehmen und es gibt schon Ideen, u.a. durch Doppelgängeraktionen die überzogenen Maßnahmen (Staatsschutz ermittelt!) weiter zu problematisieren. Es sollte an Solidarität und Unterstützung aus der Studierendenschaft nicht mangeln, schließlich haben sich jene für die Probleme von jeder/m Einzelnen eingesetzt. Und letztlich bleibt nur eine Erkenntnis aus den gemachten Erfahrungen: Wir machen weiter und kommen wieder!

clov

Bildung

Alles MÜLLER oder wie?

Mo(nu)mente der Ratlosigkeit“ zur Eröffnung des III. Sächsischen Theatertreffens in Chemnitz am 22.04.2004 – Vorpremiere „LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS TRAUM SCHLAF SCHREI“ von Heiner Müller (Staatsschauspiel Dresden, Regie: Stephan Suschke)

„Alles Müller? Alles Müller!“ – unter diesem Motto steht das diesjährige  III. Sächsische Theatertreffen. Das nach Leipzig (2000) und Bautzen/Görlitz/Zittau (2002) vom 22.04. – 25.04. 2004  in diesem Jahr in Chemnitz tagt. Das Treffen ist ausschließlich dem Leben und Werk Heiner Müllers gewidmet. Mit Inszenierungen von Stücken wie „DIE UMSIEDLERIN“ (Theater Chemnitz-Schauspiel) oder „ZEMENT“ (Theater Junge Generation Dresden), „QUARTETT“ (Schauspiel Leipzig), „WEIBERKOMÖDIE“ (Theater Jugendclub Chemnitz), „WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE III-V“ (Theater Görlitz) oder „HAMLETMASCHINE“(Theater Chemnitz-Figurentheater) und anderen, mit Diskussionen und Gesprächen rund um Müller selbst. Die Organisatoren haben ein buntes Potpourri zusammengestellt, eine Revue der sächsischen Bühnen. Doch warum Müller? Warum heute? Warum in Chemnitz?

Während ich mich in den vollen Zuschauerraum der kleinen Bühne im Industriemuseum Chemnitz dränge, ahne ich noch nichts. Alle sind etwas förmlich steif, außer den Garderobieren. Aber das ist verständlich, zur Eröffnungsveranstaltung. Freunde, Anverwandte, Involvierte. Ich rutsche im Halbdunkel ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Dann ein Lichtspot. Vorn steht jemand aus dem Publikum auf, dreht sich um, entfaltet einen Zettel. „Rössler“ zischt meine Nachbarin. Ich erstarre angesichts des grotesken Prologs, der nun folgt. Der sächsische Minister für Bildung und Kultur grinst etwas hilflos, während er nach den Stichpunkten auf seinem Zettel sucht. Floskeln ziehen an meinen Ohren vorbei. Warum Müller? Rösslers Antwort wabert irgendwo zwischen ‚Sohn Sachsens’ und ‚seiner großen Berühmtheit’, zwischen diffusen nationalen Phrasen und Standortlogik bedeutungslos hin und her. Das Publikum um mich herum schweigt eisern, erträgt die lächerliche Szene. Und es sind nicht nur geladene ParlamentarierInnen da, nicht nur Häppchenjäger, sondern auch Teile des sächsischen Kulturadels, Theaterleute von den städtischen Bühnen, TheatermacherInnen und Theatermenschen. Erleichterte Stille, als der Minister sich wieder setzt. Ein Monument der Ratlosigkeit. Während der kurzen Pause ziehen Bilder der Grabenkämpfe sächsischer Kultur- und Bildungspolitik an meinem geistigen Auge vorüber. Fletschende Intendanten. Hässlich grienende Ministerialbeamte. Tabellen im Rotstiftregen. Kulturstätten, barbarisch verwüstet. Dankbar für die Ablenkung, konzentriere ich mich auf die erste Szene: LEBEN GUNDLINGS. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm und seine Junker quälen den Akademiepräsidenten Jakob Paul Freiherr von Gundling. Preussisch korrekt. Eine Erziehungsmaßnahme für alle. Besonders jedoch für den jungen Friedrich. Die Szene wird breit ausgespielt. Nah an Müllers Anweisungen. Das Publikum soll ja auch Zeit haben, im Stück anzukommen. Ich verstehe den Dramaturgen und betrachte derweil den Bühnenapparat. Heißes Equipment. Seitenlicht gegeneinander, 2×12 kleine Kraftpakete werfen dialektische Schatten auf die Bühne, teilen sie in drei Zonen. Die Lichtkulisse transportiert mit der trist kalten Stimmung ihre eigene Wirkung und beherrscht dabei die Szenen, die im wesentlichen ohne Umbau aneinanderfolgen. Auch der Bühnenraum ist imposant aufgebaut. Eine riesige Wand aus reflektierendem Metall, die für einen effektvollen Auftritt wie ein verkehrt herum aufgehangenes Rollo geöffnet werden kann, mit einem Fenster weit oben, für die Szenen der entfernten Macht. Davor zwei alte Mercedes’, die nicht zufällig an die Siebziger der BRD erinnern. Der ganze Bühnenboden ist mit groben Glassand aufgefüllt, so daß kein Schritt unbemerkt bleibt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum spannt sich ein modernes Gazenetz auf, wie man es vom Stadion kennt. Man kann hindurchsehen und hat es schnell vergessen. Die Irritation gelingt nur kurz. Ich frage mich, ob von der Seite der SchauspielerInnen auch Werbung zu sehen ist, oder im Filmmitschnitt der Aufführung, und wette mit mir selbst, daß der Gazeschleier in der letzten Szene „LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI“ fällt.

Die PREUSSISCHEN SPIELE ziehen an mir vorbei. Eindrucksvolle Bilder, mit Ton- und Videoprojektionen, die das Spiel der Akteure an mancher Stelle etwas klein werden lassen. Alle Szenen werden mit ihren Titeln eingeleitet. Die Erinnerung an die alten Schautafeln von Piscator oder Brecht wird noch durch ihre Videoprojektion gebrochen, die das Licht zwiefach, grob auf die Metallwand und scharf auf die Gaze wirft. Friedrich hockt in sich versunken am Bühnenrand, drei brennende Soldatenhelme vor ihm, während ein Kameraauge über die zerbombten Städte Deutschlands eilt. Die riesige Projektion auf der Metallwand droht Friedrich mit-, fortzureißen.

Die Crew des Staatsschaupielhauses aus Dresden vermochte es, dem schwer zugänglichen Stück von Müller einiges an beeindruckenden Bildern abzuringen. Seine schwierigen Zeichenkomplexe aufzuschlüsseln und abzubilden. Doch die Räume, die Orte des Möglichwerdens, die Müllers Texte in einer ihm eigentümlichen Art öffnen, blieben ungenutzt. Die Inszenierung hielt Abstand von jeder Gegenwärtigkeit, wirkte geradezu historisierend. Selbst mit Projektionen von der toten Ulrike Meinhof oder von Arnold Schwarzenegger in „Terminator“ gelang es nicht, den Text zu aktualisieren. Dabei unterdrückte gerade der massive Einsatz von Technik und Effekt den Ausdruck, die Präsenz des Textes auf der Bühne. Wer im Zuschauerraum hoffte, in der Eröffnungsveranstaltung des III. sächsischen Theatertreffens den Beweis exerziert zu bekommen, warum Heiner Müller auch heute noch aktuell ist, warum es sich lohnt, sich heute mit seinen Stücken auseinanderzusetzen, eine Hypothese nur, was schließlich den politischen Kern seiner Theaterarbeit ausmachen könnte, hier und jetzt, wer sich mit solcherlei Hoffnungen trug, der wurde bitter enttäuscht. Die allgemeine Rat- und Hoffnungslosigkeit im Angesicht der Verhältnisse, im privilegierten Nischendasein als Theatermann, die der Regisseur Stephan Suschke hinterher im Gespräch bekundete, spiegelte sich sowohl in der kühlen Melancholie der gesamten Inszenierung als auch in den Aktionen des Ensembles, das an mancher Stelle hilflos wirke, alleingelassen mit Rolle und Text. Nur eine Frage konnte Suschke glaubhaft beantworten: Müller in Chemnitz – in Karl-Marx-Stadt – eben weil diese Stadt ein Sinnbild für verbaute Utopien ist.

Bleibt zu hoffen, daß die ein oder andere Inszenierung während des Theatertreffens, sich mehr dem politischen als dem ästhetischen Gehalt von Heiner Müllers Werken widmet. Eine bessere Antwort auf die Frage: Warum Müller? findet. Besser (weil optimistischer) als die, der Dichter wäre in diesem Frühjahr 75 Jahre alt geworden, würde er noch leben. Bleibt zu hoffen, dass es eine Inszenierung gibt, die nicht mit den Schultern zuckt, wenn man sie nach dem Heute befragt, nach der Aktualität von Müller. Eine Inszenierung schließlich, die auch Ihren Ort zum Sprechen bringt. Es gibt insbesondere in Chemnitz ja bessere Spielplätze, als eine virtueller Raum inmitten des zur Vorher-Nachher-Deko degradierten Industriemuseums.*

Ich jedenfalls hoffe fest auf den Sturz gewisser Staatsminister und mein Idealismus fegt das Amt mitsamt dem Apparat hinweg, getreu der letzten Regieanweisung Müllers im „LEBEN GUNDLINGS …“: „Nach dem Irrenhaus-Bild können Schauspieler in einem improvisierten Schäferspiel eine bessere Welt entwerfen.“

clov

„Der Kapitalismus langweil(t) über alle Maßen.“

…so Müller nach der „Wende“. Wie sehr sich die Trennung von der Kulturpolitik der DDR auf Heiner Müllers dramatisches Schaffen – auf das Spannungsfeld zwischen der Idee des Sozialismus, der Realpolitik im Osten nach 1949 und seinen indi­viduellen Vorstellungen und Ansprüchen – auswirken würde; die Zeit, die er selbst nie anerkennen wollte, machte einen Strich durch diese Rechnung. Müller starb 1995. Damals noch Intendant am Berliner Ensemble, dem alten Brecht-Theater. Gerade von der Kontinuität seiner Arbei­ten wäre zu erwarten gewesen, was sonst kaum ein deutschsprachiger Intellektueller insbesondere nach 1989 vollbrachte: Eine künstlerische, eine dramatische, eine theatrale Auseinandersetzung mit der Entstehung der deutschen Nation in all ihren Brüchigkeiten, durch die Geschichte ihrer Entwicklung hindurch. Sein Zynis­mus, der entgegen jedes Vorurteils, bei ihm fruchtbar wurde, gründete auf dem eigenen politischen Anspruch, der nicht mit der politischen Verfassung der gesell­schaftlichen Zustände zu vermitteln war. Genia Schulz über Heiner Müller 1980: „Mit ihm war kein Staat zu machen.“

Der allgemeinen Perspektivlosigkeit den Spiegel vorzuhalten, jene Ratlosigkeit bis aufs Mark zu entlarven – Müller hätte sicher auch im kapitalistischen Staat genug Material zur kurzweiligen Beschäftigung gefunden. Sein Erbe anzutreten, würde schließlich Müllers Tod verzögern. Denn, wie er selbst sagt: „Der Mensch ist etwas, in das man hineinschießt, bis der Mensch aufsteht aus den Trümmern des Men­schen.“

clov

Zur Lektüre empfohlen:
Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“, Heiner Müller, Kiepenheuer&Witsch, Köln, 1992

Rezension

Fahrenheit 3/10/04 *Kritische Masse*

Der 03. Oktober 2004: „Der düsterste Tag des Jahres in Leipzig“ (Bild). Brennende Müllcontainer, tausende DemonstrantInnen. „Schwere Krawalle“ (sachseninfos). Worch & Co stehen einer „Blockadefront im Süden“ (LVZ) gegenüber: 150 Nazis ca. acht Stunden im Doppelkessel. Das war der Ausnahmezustand in Leipzig.

„Worch nutzt diesen Tag des Gemeinsamen, um zu spalten und unsägliche Parolen zu skandieren“, während der OB Tiefensee verkrampft versucht, sich in die Psyche und Motivationen des Rechtspopulisten und Faschisten Christan Worch hineinzudenken und dabei im eigenen dumpfen Nationalismus verirrt (Tag des Gemeinsamen???), sind die Bewohner und Symphatisantinnen der Leipziger Südmeile und den angrenzenden Vierteln in ihrer Analyse um einiges weiter. Neben der Erkenntnis, daß Worch & Co jede erdenkliche Möglichkeit nutzen, um sich auf der Straße zu präsentieren – im übrigen eine alte, von Goebbels propagierte SA-Taktik – musste der Aufmarsch entlang der Karl-Liebknecht-Straße (ehemals Adolf-Hitler-Straße) als direkte Kampfansage und Strategiewechsel der Binnenmobilisierung innerhalb der aktiven rechten Szene gewertet werden. In Zusammenhang mit dem relativ erfolgreichen Aufzug vor dem Chemnitzer Livestyle-Laden BACKSTREETNOISE eine Woche zuvor, bei dem es zu Auseinandersetzungen mit einer antifaschistischen Demonstration kam (s. auch S. 14f), und dem kürzlichen Wahlerfolg der NPD in Sachsen, war das Mobilisierungspotential sogar noch höher einzuschätzen.

Offensichtlich teilten viele antifaschistisch Bewegte diese Einschätzung und Worchs „Marsch auf Connewitz“ erlebte seinen ersten Rückschlag: Er geriet zur Gegenmobilisierung. Tausende strömten an dem schönen Sonntagmorgen die Straßen entlang und verstopften alle Zugänge in die angrenzenden Straßen. Die Polizei hatte zwar, aufgrund anderer Analysen oder einfach nur den Aussagen Worchs zufolge (500 gemeldete TeilnehmerInnen), das Mobilsierungsver­mö­gen von Worch & Co realistischer eingeschätzt und war denen zahlenmäßig weit überlegen (ca. 1000 grüne Plastiboter). Scheinbar nicht gerechnet jedoch hatte der leitende Befehlsstab mit der Menge an Gegen­demonstran­tInnen, die da durch das gesamte Südstadtviertel schwärmten. Daß letztlich nur zwischen 150-200 Neonazis am Versammlungsort erschienen, könnte folgender­maßen begründet werden. Entweder die übrige rechte Szene hatte bessere Analysen als Worch und rechnete mit starkem Widerstand – ihr Mobilisierungspotential allein in Sachsen liegt auf jeden Fall wesentlich höher – oder Worchs Kontakte und Anhänger sind längst nicht mehr so gut und zahlreich wie ehedem. Vielleicht blieben auch einige unserer Prachtdeutschen auf ihrem Weg durch die Innenstadt stecken und machten aus Angst vor einigen militanten Antifa-Gruppen, die dort umherschlichen, gleich wieder kehrt. Aber die hätten den Braten auch nicht fetter gemacht.

So jedenfalls kam es, daß zur Mittagszeit ein großer Pulk leicht verängstigter Neonazis mit schwerer Eskorte vom Bahnhof in das errichtete und abgeriegelte Polizeidorf auf dem Leuschner-Platz einrückte. Dort wartete Worch schon eine ganze Weile mit ca. 20 AnhängerInnen und war wohl froh, daß doch noch jemand auf seine Demo gekommen war. Die sich aufheizende Stimmung allerdings dürfte seine Euphorie schnell gedämpft haben. Immer mehr GegendemonstrantInnen umstellten jetzt den Polizeikessel und den gesamten Leuschnerplatz. Die Auftaktkund­gebung beginnt. Auf der Windmüh­len­straße dagegen werden Container auf die Straße gezogen und umgekippt. Dahinter sammeln sich drohend mehrere hundert Entschlossene. Ähnliches geschieht auf der Arthur-Hoffmann-Straße, auf der Bern­hard-Göring-Straße und auch auf dem unteren Teil der Karl-Liebknecht-Straße. Alle Zugänge in den Leipziger Süden sind somit verstellt. Niemand weiß, welche Strecke die Demonstration nehmen soll. Die Stimmung heizt sich im Warten auf. Das wird durch die Informationspolitik der Po­li­zei verstärkt, die in undurchsichtigen Verhandlungen mit Worch steht, um die Demonstration doch noch (wenn auch auf einer alternativen Route) durchzuführen, Wird sich die Polizei beeindrucken lassen? Nichts deutet darauf hin. Wie als Antwort, beginnen wenig später fast alle Müll­con­tainer-Haufen [1] zu brennen.

Die Beamten werden unruhig. Schweres Gerät fährt auf. Dann beginnt die Aktion, die von allen als Vorbereitung für den Aufmarsch verstanden werden muß. Schwere Polizeiver­bände räumen die Windmühlenstraße und rücken vom Bayrischen Bahnhof in die Arthur-Hoffmann- und Bernhard-Göring-Straße vor. Wasserwerfer löschen die brennenden Reste. Der Räumpanzer brummt träge. Beamte stoßen seitlich auf die Liebknecht-Straße vor, um auch dort die bren­nen­den Container „sicherzustellen“. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Flaschen und auch Steine fliegen. Während des ganzen Vorstoßes wird entschlossen Widerstand geleistet, auf allen Straßen wiederholen sich Sitz- und andere Blockadeversuche. Trotz massiver Drohung von Seiten der Polizei, Lauf-, Schlag- und Trettaktiken, trotz Pfefferspray-Einsatz und abschreckender Festnah­me­aktionen. Überall dort, wo die Beamten abziehen, bildet sich sofort wieder eine kritische Masse. Gespeist aus besorgten Anwoh­nerInnen, eventorien­tierten Jugendlichen, AktivistInnen, Militanten, Ökos, Altkom­mu­nisten, Antifaschis­tInnen etc. pp.. Auf Höhe Schenkendorf-/Arthur-Hoffmann-Straße steht der polizeiliche Vormarsch dann vor einer Sitzblockade still. Ein junger Mann brüllt aus dem Fenster: „Ich weiß nicht, was ihr die ganze Woche macht! Ich arbeite!“ Alles lacht. Was in dem Moment noch niemand recht glauben kann, wird wenig später Gewissheit. Die Polizei zieht sich zum Leu­schner-Platz zurück. Und erst jetzt ist klar: Der Aufmarsch wird wohl nicht mehr stattfinden. Die Demonstration ist nur bis 20 Uhr gemeldet und die Zeit weit fortgeschritten.

Die Anspannung löst sich langsam und siegestrunken versammeln sich rund tausend AntifaschistInnen rings um den Leuschner-Platz. Immer wieder fliegen spottende Sprechchöre in Richtung der Neonazis, die die Polizei zwischen den Bäumen auf dem Platz versteckt und weiträumig abschirmt. Einige offensichtlich übermütige Einbruchsversuche in die Polizeistellung gehen kläglich aus, trüben aber nur leicht die gute Stimmung der Versammelten. Manchem und mancher kommt dabei in den Sinn, was eigentlich wäre, wenn mensch die Faschisten einfach die ganze Nacht hier festsetzen würde. Ein erheiternder Gedanke. Es geht derweil das Gerücht, dass die Neonazis das Angebot erhalten haben, mit Gefängnisbussen der Polizei aus der „Gefahrenzone“ gebracht zu werden. Die sind manchmal ja so cleääver und effektiieffff! Leider jedoch sollen die Worchianer nicht so dumm gewesen sein, wie mensch gemeinhin denken kön­n­te, und hätten die Falle ausgeschlagen.

Als die Zeit auf 20 Uhr fortschreitet und in­zwischen heisere Sprechchöre „Nur noch fünf Minuten!“ skandieren, sind immer noch 300 bis 500 Gegen­demonstrantInnen versammelt, um der gesamten Bagage einen guten Nachhauseweg zu wünschen. Zwei LVB-Linienbusse fahren vor. Aber nur zur Ablenkung. Plötzlich bricht eine schwere Eskorte aus den im Dämmerlicht Schatten werfenden Büschen. Die verbliebenen Neonazis! Gekesselt und beschützt von einem dreifachen Ring aus PolizistInnen. Worch ist nicht mehr dabei. Unter Steinwürfen und viel Lärm versucht die Polizei, die Gegendemons­tran­tInnen vom Rossplatz auf den Ring zu drängen, was auch aufgrund des massiven Aufgebots sehr schnell funktioniert. Hier allerdings kommt der ganze Tross aus grüner Plaste und Dummheit zum Stehen. Den Einsatzkräften stehen zwischen 100-200 Militante gegenüber, die immer wieder Steine auf den vermuteten Neonazi-Pulk werfen. Die ganze Situation droht zu eskalieren, als plötzlich 20-30 der Holhlraumhirne auf eigene Faust aus dem Kessel ausbrechen wollen. Nach einigen Handgemengen, die sich größtenteils in den Büschen abspielen, gewinnt die Polizei wieder die Oberhand und schnürt den Dreifach-Kessel noch fester. Ein aufgefahrener Wasserwerfer wird dann doch nicht eingesetzt, die Polizei umzingelt die große Kreuzung und treibt die aufgelaufene Menge auseinander. Wieder Lauf- und Schlag­­taktiken. Abschreckend brutale Festnahmen. Während der Hauptteil der Polizeistreitmacht sich schnell über den Ring Richtung Bahnhof bewegt, jagen BF-(Beweissicherungs- und Festnahme-)Einheiten [2] die versprengten Ge­gen­demonstrantInnen durch die Innenstadt. Denen gelingt es jedoch auf dem kurzen Weg immer wieder, nahe an den Neonazi-Pulk heranzukommen und ihnen Steine, Flaschen und Worte entgegenzuschleu­dern. Vom Bahn­hof her hört mensch schon das abgerichtet monotone Bellen von Hunden. An jedem Eingang eine Rotte Polizis­tInnen und vier Hundeführer. Davor haben sich nochmals mehrere hundert De­mons­tran­tInnen versammelt, um den Neonazis ein letztes: „Lebt wohl!“ zuzurufen.

Die Polizei geht jetzt schnell und kompromisslos vor und verschiebt die Bande zügig über die Bahnsteige. Wohl enttäuscht aber doch froh verlässt der braune Spuk die Stadt und die antifaschistische Menge löst sich auf. Die Beamten der BFE haben Teile des inflationär abgefilmten Videomaterials schon ausgewertet und nehmen zielgerich­tete Verhaftungen vor. 29 sind es über den ganzen Tag. Die Nacht verläuft ansonsten ruhig, vor dem Volkshaus (Liebknecht-Straße) wird noch bis spät gefeiert. Und mit allem Grund: Das war die größte und erfolgreichste kollektive antifaschistische Aktion seit fast sieben Jahren (Mai ‘98 Stötteritz). Zwischenzeitlich hatten Worch & Co gut ein Dutzend Aufmärsche in Leipzig abgehalten, die größtenteils ohne ernsthafte Gegenwehr vonstatten gingen. Und so war so manche schon ins Grübeln darüber geraten, ob nicht die taktischen Analysen des Bgr (Bündnis gegen Realität) [3] eine Bankrotterklärung für die aktive antifaschistische Szene darstellten oder gar allgemein ein Rechtsruck in Leipzig zu verzeichnen war. Schließlich gelang es Worch zu­weilen, mehrere tausend Faschis­tInnen auf die Straße zu bringen.

Doch, wie schon oben erwähnt, hatte Worchs „Plan“ auf Connewitz zu marschieren und damit eines der bedeutendsten sächsischen Zentren antifaschistischen Widerstands als Papiertiger zu entlarven, den gegenteiligen Effekt. Durch die solidarische und konstatierte Ge­genmobilisierung aller Aktiven, Gruppen und Projekte war es gelungen, an diesem Sonntag eine kritische Masse auf die Straße bringen, die sich in dem Ziel und der Ent­schlossenheit einigte, diesen Aufmarsch und die damit verknüpfte symbolische Über­legen­heitsgeste Worchs und seiner Kameraden zu verhindern. Dabei ist zu betonen, dass trotz des Ausnahmezustandes, der teilweise in der gesamten Südvorstadt herrschte, der Sachschaden sehr gering ausfiel (hinterher auf ca. 20.000 Euro geschätzt) und der Protest größten­teils friedlich verlief. Der hohe Anteil event­orientierter, unerfahrener, junger Gegen­demonstrantInnen, die sich von den brenz­ligen Situationen in ihrer Spontanität nicht bremsen ließen, sich durch Sitzblockaden immer wieder risikoreich dem Zugriff der Polizei aussetzten (Pfefferspray, Abräumaktionen etc.) und sich letztlich durch die Ausnahme-Möglichkeiten des Tages inspirieren aber auch verführen ließen, ist sicher ein entscheidender Faktor für den Erfolg gewesen, neben der großen Masse an sich. Ohne das Zusammenspiel mit den kleinen militanten und teilweise gewaltbereiten Gruppen aller­dings, hätte die Polizei das Gefahrenpotenzial sicher nicht so hoch eingeschätzt und den Aufmarsch wahr­scheinlich doch durch­gesetzt. Die friedliche Bierbankblocka­de von DGB-IGM-PDS vor dem Volkshaus wäre dann wohl auch irgendwann gefallen, war aber so ein wertvoller logistischer Rück­zugs­punkt. Will heißen: Friedlicher Protest, Event und Militanz waren derart miteinan­der verwickelt, dass eine kritische Masse entstand, die chaotisch (ohne einheitliche Strategie) ihr Ziel erreichte. Dabei fiel vor allen Dingen die Verhältnismäßigkeit der Aktionen auf, ein Fakt, den die gutbürgerliche Presse still­schwei­gend vergisst. Es gingen schließ­lich nur ganz wenige Glasscheiben zu Bruch und den größten Teil des Schadens dürften abgebrannte Müllcontainer und dadurch beschädigte Straßenbahnschienen (???) verursacht haben.

Wenn das Bündnis „Leipziger Freiheit gegen braune Gewalt“ unter Montagsdemo-Held Winfried Helbig der Meinung ist, diese „erschreckende Dimension der Gewalt“ würde jede Zusammenarbeit verhindern, hat es offensichtlich die Zeichen der Zeit nicht verstanden und es sei nur daran erinnert, daß alle bisherigen Versuche des Bündnisses, einen Aufmarsch zu verhindern, scheiterten.

Zum Steinwerfen mag jedeR stehen wie er will, gegen schwergerüstete und bis an die Zähne bewaffnete Robo-Cops stellt es (leider) eines der wenigen Mittel dar, die die deutsche Polizei überhaupt noch abschreckt, gegen ungeschützte Personen finde ich es schlicht hinterhältig und menschenverach­tend. Daß die Polizei selbst den Schein der Verhältnismäßigkeit wahrte und keine Provokationen verursachte, lag sicher an ihrer offensichtlichen zahlenmäßigen Unterlegenheit, allerdings ragte sie auch bei einigen brutalen Übergriffen negativ heraus. Was treibt einen Erwachsenen, wenn er die Finger eines pubertierenden Jugendlichen aufbricht und ihm aus nächster Distanz Pfefferspray ins Gesicht sprüht? Was eine Rotte Zwanzigjähriger, wenn sie sich zusammen über einen Gleichaltrigen stürzen, ihn treten und schlagen? Was denkt sich ein Mensch, wenn er berufsmäßig beim Laufen einem anderen die Beine wegschlägt oder ihn an den Haaren nach unten zieht? Auch hat ein Polizist zweimal in die Luft geschossen und Demons­tran­tInnen mit gezogener Waffe bedroht. Nichtsdestotrotz, angesichts der Möglichkeiten der deutschen Polizei, von Tränengas bis Gummigeschos­sen, war der Einsatz einiger­maßen verhältnismäßig. Das ist kein Lob an die Polizei und lag m. E. vor allen Dingen an den Gegen­demonstrantInnen, die sich eben nur in wenigen einzelnen Ausnahmen in Vandalismus und Gewaltexzessen ergingen. Schade fand ich persönlich, dass mensch sich an diesem Tag nur punktuell auf die Gegenwehr konzentrierte. Aus dem Nachhinein gesehen, hätte mensch die Ausnahmesituation im Leipziger Süden prächtig nutzen können, um auf antifaschistische Kon­tinuitäten und den gesamtgesellschaftlichen Kontext antifaschistischer Aktion aufmerksam zu machen. Sei es durch Graffitis und wilde Plakatier­aktionen, sei es durch Handzettel mit weiterführenden Veranstaltungen, Kontakte zu Gruppen, Projekten usw. Hier besteht also noch Entwick­lungs­potential für den Fall, dass Worch & Co wiederkommen, wie sie großmäulig verkündet haben.Ein großer Dank geht auch nochmal an Ra­dio Blau und die BewohnerInnen der Südvorstadt, die ihre Boxen in die Fenster stellten. Die Live-Berichterstattung hat viel zur Stimmung und Information beigetragen.

Zum Schluß: Gegenwehr ist wichtig! Aber niemand sollte vergessen, dass solche Konfrontationen auf der Straße heute fast nur noch symbolischen Gehalt besitzen. Angefangen mit dem „Marsch auf Conne­witz!“, über die zündelnde Drohgebärde „Ihr kommt hier nicht durch!“ bis hin zum Wasserwerfereinsatz gegen abgebrannte Müllcontainer unter dem Motto „Wir bestimmen hier über die Ordnung!“. Diese größtenteils symbolisch aufgeladenen Kämpfe haben dadurch identitätsstiftenden Charakter, werden jedoch niemals wirksam an den Ursachen rühren. Gerade deshalb darf sich gelebter Antifaschismus nicht allein auf die einzelne antifaschistische Aktion be­schrän­ken und muß den gesellschaftlichen Zusammenhang reflektieren, auf dessen Hintergrund Faschismus sich in der Gesellschaft der guten Bürger immer wieder reproduziert, will er schließlich dauerhaft erfolgreich sein! Die selbstkritische Frage, warum nach jahrelanger Abstinenz plötz­lich so viele aktiv waren, bloß weil die Fa­schis­tInnen mittlerweile wieder vor der eigenen Haustüre stehen, warum stadt­mensch sich Stück für Stück von den antifaschistischen Aktionen in den ländlichen Regionen entsolidarisiert hat, wäre hierfür sicher ein Anfang!

clov

[1] Der durch die Umgangssprache und von der Presse kolportierte Begriff „Barrikade“, ist einzig der Sensationslust geschuldet.
[2] Die sogen. BFE umfaßte 1997 bundesweit offiziell 2.120 PolizeivollzugsbeamtInnen. Diese Spezialeinheiten der länderspezifischen Bereitschaftspolizei sind in den neuen Bundesländern nach dem Vorbild der bayrischen USK (Unterstützungskommandos) modelliert und ersetzten bundesweit die SEK-Einheiten, die damals zwar auf den Anti-Terror-Kampf spezialisiert waren, aber immer wieder auf Demonstrationen eingesetzt wurden. Auch wenn in den unterschiedlichen Bundesländern unter anderem Namen, verfügt heute jede Bereitschaftspolizei über solche Einheiten. Sie unterscheiden sich in Organisation und Aufgabengebiet von den Beweissicherung- und Festnahme-Hundertschaften (BFHu) des Bundesgrenzschutz. Die BFE der einzelnen Bundesländer werden grenzübergreifend bei Demonstrationen und Fußballspielen eingesetzt und bestechen durch ihre Ausbildung und Ausrüstung. Auf das „beweissichere“ Isolieren und Greifen von „Störern“ trainiert, arbeiten im Regelfall fünf Beamte (Greiftruppführer, zwei Zugriffsbeamte, ein sichernder Beamter und ein Fahrer) mit einem Be­weis­sicherungs- und Dokumentationstrupp (BESI bzw. BEDO) zusammen. Ihre stark erweiterte Ausrüstung ermöglicht sowohl ein kom­promiß­loses Vorgehen als auch direkte Zielfahndung (vor allem möglich durch die Vi­deo­technik). Vorsicht, zumindest die Thüringer BFE verfügt auch über Ausbildung und Ausrüstung in Zivilfahndung, die 12 Stunden vor und nach der Veranstaltung auch rechtlich abgesichert ist.
[3] Das ehemals Bündnis gegen rechts genannte Antifa-Forum trat 2001 mit der Parole „Ausschlafen gegen rechts!“ von der Taktik der permanenten Mobilisierung gegen die marschierenden FaschistInnen zurück. Der Einfluß des Bgr zeigte sich in der Folge darin, daß in Leipzig nur noch wenige antifaschistische Gruppen und Personen mobilisierten bzw. sich Gegen­mobi­lisierungen anschlossen.

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