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Wahrheit als Ware?

Wie der Kapitalismus die Medien korrumpiert

Jemand, der/die öfters die Medien liest, stellt sich vielleicht manchmal Fragen wie: Warum werden gerade diese Nachrichten in den Medien behandelt? Wieso wird ein Thema, das ich als sehr wichtig für die Gesellschaft empfinde, gar nicht oder nur am Rande behandelt? Warum werden öffentliche Diskussionen in den Zeitungen nur in einem bestimmten Rahmen diskutiert? Und wieso scheinen die Medien manchmal allzu bereit zu sein, Fakten nur selektiv wahrzunehmen und Propaganda für bestimmte Zwecke zu betreiben?

Wer sich solche Fragen stellt, hegt berechtigte Zweifel am kapitalistischen Mediensystem. Doch ist es schwer darum bestellt, welche Gründe zur Beantwortung dieser Fragen herangezogen werden könnten. Ich möchte in diesem Artikel ein Modell darstellen, welches – wie ich meine – interessant für alle sein sollte, die darum bemüht sind, Nachrichteninhalte kritisch zu beurteilen. Dabei will ich auf mehrere Aspekte und Themen zu sprechen kommen, wie: Wie funktioniert kritisches Denken? Wie könnte eine bessere Berichterstattung aussehen?

Es gibt so manche Fälle, in denen JournalistInnen wissentlich oder unwissentlich unkritisch Lügen der Eliten übernommen und sich so mit deren Sache gemein gemacht haben. Besonders gut lässt dies sich an Mili­tär­ein­sätzen wie den beiden Irak­kriegen und dem Koso­vo­krieg be­­obachten. Bei letz­te­rem war die un­­kriti­­sche Ak­zep­­tanz der Aussagen der rot-grü­nen Regierung ein Grund, warum die Bundeswehr bei den Angriffen der NATO auf die Bun­desrepublik Jugoslawien teilnehmen konnte. Ihren Höhepunkt fand diese Propaganda in der Behauptung, dass das Regime von Slobodan Miloševic Gräueltaten gegen die kosovo-albanische Bevölkerung durchgeführt hätte, die in ihrer Qualität mit dem Holocaust vergleichbar seien. Ebenso gibt es den Trend der Mainstream-Medien, linke Parteien und Graswurzel-Bewegungen zu marginalisieren und ignorieren. Besonders dies hat wohl auch dazu geführt, dass die Grünen (mensch denke mit Hinsicht auf die Bundestagswahl an den Veggie-Day ) im Laufe ihrer Geschichte immer weiter in Richtung politische Mitte gedriftet sind, um als „seriös“ gelten zu können.

Angesichts dessen stellen sich mehrere Fragen: Sind Phänomene wie Kriegspropaganda oder die Verunglimpfung kleinerer Neueinsteiger-Parteien lediglich zufällige Ergebnisse eines freien Mediensystems? Oder sind sie das Ergebnis der Medienstrukturen, die eine bestimmte Berichterstattung nach sich ziehen?

Noam Chomsky und Edward S. Herman (C&H) meinen, die zweite Frage energisch bejahen zu können. Die beiden Politikwissenschaftler versuchen in ihrem 1988 erschienenen Buch „Manufacturing Consent” zu erklären, aus welchen Gründen Propaganda in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften entsteht. Ihr „Propaganda Model” will systematisch darlegen, wie Wahrheitsverfälschung im marktwirtschaftlichen Mediensystem nicht nur eine Anomalie , sondern ein logisches Ergebnis desselben darstellt, das ferner dazu führt, dass ärmere Klassen notwendig eine geringere mediale Repräsentation erfahren.

Die Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Analyse ergeben, sind dramatisch: Anstatt ihrer Rolle als demokratisches Aufklärungsorgan nachzukommen, dienen die Medien den Interessen von Machteliten.

C&H sind bis heute die einzigen, die Propaganda in westlichen Gesellschaften auf nicht-subjektive und nicht-konspirative Faktoren zurückführen und ein überprüfbares Modell dafür aufstellen konnten. Dieses ist attraktiv, da es auf den Vorannahmen eines freien Markts beruht, d.h. alle Personen und Institutionen im System lediglich ihren eigenen Interessen nachgehen.

C&H geht es in ihrer Darstellung lediglich um Medien, die in der Hand privater EigentümerInnen sind und sich größtenteils aus kommerziellen Quellen finanzieren. Die Rolle eines öffentlichen Rundfunks, der in Europa allgemein, auch hier in Deutschland, weitaus stärker ausgeprägt ist, sowie des Internets und unabhängiger Informationsquellen werde ich in einem späteren Artikel beleuchten.

Nach C&H erfüllen die kapitalistischen Medien neben ihren anderen Funktionen aufgrund ihrer Beschaffenheit die grundlegende Funktion, Propaganda im Interesse der Eliten zu verbreiten. Diese haben weitreichende Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft zu ihren Gunsten strukturiert werden soll und wie dies gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden kann.

Der Grundpfeiler des US-amerikanischen Mediensystems, das die Autoren untersucht haben und ihren Annahmen zugrunde liegt: der Staat greift selbst nie direkt in die Berichterstattung mittels Zensur ein, um einen ideologischen Konsens herzustellen. Staatliche Zensur ist ein grundlegendes Merkmal autoritärer und diktatorischer Staatssysteme, in demokratischen Systemen jedoch sind andere Mechanismen am Werk.

Eine viel wichtigere Rolle in der Presse spiele die Einstellung von „richtig denkendem” Personal sowie die Internalisierung von Werten und Prioritäten, die bestimmen, welche Informationen als nachrichtenrelevant angesehen werden und letztlich den politischen und wirtschaftlichen Grundsätzen der jeweiligen Institution angemessen sind (1).

Die Grundpfeiler des Propaganda Models bilden fünf „Filter”, d.h. Faktoren, die den Inhalt der Berichterstattung sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht bestimmen. Diese Filter entfalten in unterschiedlichem Grad ihre Effizienz und komplementieren sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Aus ihnen erklärt sich, welche Inhalte und Sachverhalte als nachrichtenwürdig angesehen werden und warum es automatisch zu propagandistischer Berichterstattung seitens der Medien kommt.

1) Die Besitzverhältnisse der Medien

Eine strukturelle Komponente, die der europäischen, der amerikanischen und anderen kapitalistischen Gesellschaften zugrunde liegt, ist die, dass ein Großteil der Märkte dazu tendiert, sich zu Oligopolen zu entwickeln. Der Medienmarkt bildet hier keine Ausnahme, und so ist ein Großteil der Medien in den USA und anderswo von wenigen Großkonzernen dominiert. Dass diese Strukturen nicht leicht aufzubrechen sind, ist auch daran ersichtlich, dass es für heutige NeueinsteigerInnen überall im Westen kaum möglich ist, in den Markt der etablierten Zeitungen einzutreten. Eine Ausnahme für Deutschland bildet die taz, die 1978 gegründet wurde und sich aktuell mit einer niedrigen Auflage von circa 55.000 Ausgaben hält, auch wenn sie mehrmals kurz vor der Pleite stand.

Die Besitzer der großen Medienkonzerne, die meist ein großes Repertoire an Produkten von Dokumentationen bis hin zu Entertainment-Shows in mehreren Formaten und auf mehreren Kanälen anbieten, haben als Mitglieder der oberen wohlhabenderen Schichten das Ziel, die Interessen ihrer Klasse zu verteidigen und sind auch gewillt, ihre Macht dafür einzusetzen.
Je kleiner die Anzahl der großen Anbieter, die den Medienmarkt unter sich aufteilen, desto kleiner die Anzahl der Gatekeeper. Als Gatekeeper bezeichnet man im Kontext der Nachrichten jene Individuen und Institutionen, die bestimmen, welche Nachrichten veröffentlicht werden.

Auch in Deutschland wird der Zeitungsmarkt immer kleiner und damit monopolisierter. Die Anzahl der erscheinenden Tageszeitungen hat sich seit 1965 bis heute von 543 auf 329 reduziert. Große Verlage wie Springer und Bertelsmann haben mit ihrem Großaufgebot von Medien einen überproportionalen Einfluss auf die Inhalte, die von den meisten Menschen täglich konsumiert werden.

Wenn mehrere Zeitungen zu einem Verlag gehören, kann es auch zu einer Vereinheitlichung der Nachrichten kommen. Der Madsack Verlag z.B. entschied 2011, dass 53 Stellen, 30 davon in der Redaktion, bei der Leipziger Volkszeitung gestrichen werden sollen. Der Großteil der überregionalen Nachrichten für die 18 Madsack-Zeitungstitel solle zukünftig in einer Berliner Zentralredaktion angefertigt werden.

2) Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing!
Finanzierungsquellen

Die Rolle der Werbung für die Finanzierung der Medien ist im vergangenen Jahrhundert immer weiter gestiegen. Eine gewöhnliche deutsche Zeitung finanziert sich heute zu über 50% aus Werbeeinnahmen – noch vor dem Platzen der Dotcom-Blase Anfang 2011 des neuen Jahrtausends lag dieser Anteil bei 66%. Die Verlagerung der Berichterstattung in das Internet (der Großteil der LeserInnen nutzt die Angebote heute online) hat ebenso dazu geführt, dass die Werbebranche weniger in die Anzeigen der Printausgaben investiert. Das stellt für die Tageszeitungen und Magazine eine finanziell krisenhafte Situation dar, die zu weitreichenden Rationalisierungen bei den Verlagen geführt hat. Beim privaten Fernsehen liegt der Werbeanteil hingegen bei 100%. Sie sind gekennzeichnet durch einen Mix aus Sport, Sensationalismus, seichtem Entertainment, Lifestyle-Shows und Sex und bieten so gut wie gar keine Informationen, die für öffentliche politische Debatten relevant sind.

In einem System, in dem die Medien sich vorrangig durch Werbung finanzieren müssen, bleibt wenig Platz für eine Presse, die einen konstruktiven politischen Austausch der unteren Klassen garantieren kann. Große Unternehmen, die vorrangig Anzeigen schalten, bevorzugen für ihre Werbeumgebung „feel good”-Inhalte, die die RezipientInnen zum Konsumieren anleiten und nicht dazu, das System des Kapitalismus und der Konsumgesellschaft anzuzweifeln, dem die EigentümerInnen ihren Reichtum und ihre Monopolstellung verdanken. Diese wollen vor allem die wohlhabenderen Schichten ansprechen. Arbeitslose, MinijobberInnen und andere benachteiligte Schichten geben den größten Anteil ihres Einkommens für grundlegende Güter aus und haben nicht das Geld für Autos, IT, Schmuck oder andere hochwertige Konsumwaren. Es kann sogar sein, dass Zeitungen ihre Ausrichtung ändern, um besser jene Teile der Gesellschaft zu erreichen, die bei Werbe- und Marketingmaßnahmen angesprochen werden sollen.

Ein markantes Beispiel für den Zusammenhang zwischen der Menge der Werbeeinnahmen und der weltanschaulichen Ausrichtung bietet die britische Presse. Nach dem 2. Weltkrieg wurden in Großbritannien die drei sozialdemokratischen Zeitschriften, der Daily Herald, News Chronicle und der Sunday Citizen aufgelöst oder in andere Establishment-Publikationen absorbiert. Die drei vereinigten täglich gemeinsam 9,3 Millionen LeserInnen auf sich. Mit einer Auflage von 4,7 Millionen hatte der Daily Herald mehr LeserInnen als die Times, die Financial Times und der Guardian gemeinsam. Umfragen aus dem Jahr 1964 zeigen, dass seine LeserInnen mehr von ihrer Zeitung hielten als RezipientInnen anderer Zeitungen und dass sie, obwohl sie größtenteils zur Arbeiterklasse gehört haben, mehr in ihrer Zeitung lasen als die KäuferInnen anderer bekannter Publikationen.

Der Herald konnte, obwohl er 8,1 % der LeserInnen auf sich vereinigen konnte, lediglich 3,5% der Werbeeinnahmen sein Eigen nennen und musste Mitte der 60er Jahre Bankrott anmelden. Mit dem Ende dieser Zeitungen fielen wichtige Elemente weg, die in der Lage waren, die Interessen der ärmeren Schichten zu vertreten und die Grundlagen des Kapitalismus zu kritisieren. Man stelle sich vor, man würde das Wahlrecht an das Einkommen der BürgerInnen knüpfen – die Konsequenzen wären desaströs. So ähnlich ist es jedoch mit der Repräsentation der Interessen der ärmeren Schichten in den Massenmedien bestellt. Die Werbeindustrie kann normative Standards setzen, an die sich die Medien halten müssen, wenn sie ihre eigene Existenz absichern wollen. Es ist bisher nicht vorgekommen, dass Großkonzerne Publikationen der Arbeiterklasse und radikaler linker Politik, also die der ideologischen Feinde unterstützt haben. Daraus ergeben sich ernsthafte Schwierigkeiten für jede Form von alternativer Presse, die konkurrierend mit dem Mainstream durchgehend herrschaftskritisch und doch mit hoher Qualität Nachrichten anbieten will.

Einen anderen Beweis für die Abhängigkeit von den Werbeeinnahmen bietet das ehemalige britische Boulevard-Blatt News of the World. Dieses war 2011 in Verruf geraten, als bekannt wurde, dass seine ReporterInnen die Handys von Todesopfern und deren Angehörigen gehackt hatte, um so an Top Storys zu gelangen. Der öffentliche Aufschrei in Großbritannien war groß, und die 168-jährige Zeitung musste letztendlich komplett eingestellt werden, weil die großen Werbeinserenten ihre Marke nicht mit solch unlauteren Methoden verbunden sehen wollten.

3) Nachrichtenquellen

Die Medien benötigen, im digitalen Zeit­alter mehr als je, einen stetigen Fluss an Informationen, um ihrer Aufgabe nachzukommen. Sie können nicht überall ReporterInnen und Kameras haben, um alle möglichen Themen abzudecken. Ökonomische Zwänge verpflichten sie dazu, ihre Ressourcen dort zu konzentrieren, wo wichtiges Berichtsmaterial entstehen könnte. Die Medien gehen daher aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten und gegenseitiger Interessen eine symbiotische Verbindung mit anderen bürokratischen Organisationen ein, die sie mit Informationen versorgen. Regierungsstellen, Großkonzerne und einflussreiche Verbände geben mit hoher Wahrscheinlichkeit Informationen her, die als ver­lässlich und öffentlich­keits­relevant angesehen werden. Diese wiederum richten sich Pressestellen ein, um die Medien mit frischen Neuigkeiten zu ver­sorgen. Der rest­liche Großteil der Nachrichten, der in der Presse erscheint, kommt direkt von großen Nachrichtenagenturen in Form von Pressemitteilungen und wird oft nur, wenn überhaupt, minimal bearbeitet und überprüft. Alternative und unabhängige Quellen, die nicht offensichtlich vertrauenswürdig sind, müssen nochmal genau überprüft werden – ein gewaltiger Kostenpunkt. Ferner entspricht es dem Interesse der Medien, als verlässlich und objektiv eingestuft zu werden, indem sie ihre Informationen aus offiziellen Quellen beziehen. Diese hingegen, wie z.B. Regierungsstellen, verfügen bei abweichender Berichterstattung über genug Autorität, die Presse effektiv zu kritisieren und zu diskreditieren.

Dem Propaganda Model zufolge werden den Medien damit Anreize geboten, sich auf offizielle Quellen zu stützen und nicht mehr investigativen Journalismus zu betreiben. Wenn ein Medium Reformen ansetzt, werden öfter Stellen eingespart und neue Designs entworfen, die das Pro­gramm ästhetisch attraktiver machen. In­vestigativer Journalismus ist in diesem Sys­tem einfach nicht profitabel und steht auf der Prioritätenliste der Medien unten.

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie offizielle Quellen bevorzugt werden, bietet der Giftgasangriff in Syrien im August 2013. Die westlichen Staatschefs wie Obama hatten reichlich Möglichkeit, in den Medien ihre Behauptung kundzutun, es sei ausführlich belegt, dass Assad den chemischen Kampfstoff Sarin gegen die eigene Zivilbevölkerung eingesetzt hätte. Als der Pulitzer-Preisträger und Journalist Seymour Hersh im Dezember hingegen einen Bericht veröffentlichte, wonach die USA entgegen ihren Aussagen keine Beweise dafür hätten, dass diese Theorie stimmt, wurde dies fast komplett ignoriert. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) etwa, die den Bericht am 11. Dezember auf ihrer Website behandelte, war sogleich bemüht, diesen mit Verweis auf mehrere „Experten“ zu widerlegen. Genannt wurden nur drei: Shawn Turner, Angestellter beim Direktor der nationalen Nachrichtendienste, Lieutenant General James R. Clapper, der die Arbeit von 16 amerikanischen Geheimdiensten koordinieren soll, sowie Eliot Higgins, ein britischer Blogger aus Leicester, der seine Expertise aus dem Durchforsten von Twitter, Facebook und Youtube bezieht. Anscheinend reicht ein Experte im Googlen doch aus, insofern er nur die offizielle Linie unterstützt.

4) Flak

„Flak” beschreibt die Möglichkeit von Akteuren, auf unliebsame Berichterstattung Einfluss zu nehmen und diese präventiv zu unterbinden. Dies kann mit unterschiedlichen Methoden erreicht werden: Telefonanrufe, E-Mails, Briefe, Anklagen, Drohungen, Beschwerden und so weiter. Flak hat die Aufgabe, die Medien zu disziplinieren und sie im ideologisch verträglichen Diskussionsrahmen zu halten. Ein deutsches Beispiel für Flak wäre Ulrich Wickert. Der damalige Nachrichtensprecher der Tagesschau zitierte bei einem Gespräch mit dem Magazin Max die indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy mit den Worten : „Osama Bin Laden ist Amerikas Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“. Er fügte danach selbst hinzu, dass Bush weder ein Killer noch ein Terrorist sei, aber die Denkstrukturen dieselben wären. Nach der Reaktion vieler PolitikerInnen, u.a. Angela Merkel, die ihm die Qualifikation als Nachrichtensprecher absprach, war Wickert gezwungen, sich für seine Äußerungen zu entschuldigen und sie zurückzunehmen.

Dieses Instrument ist insbesondere für NGOs (z.B. Think Tanks) und andere finanziell gut ausgestattete Personen und Ins­titutionen ein effektives Mittel, um un­liebsame Berichterstattung abzuwürgen. Für normale Menschen bietet Flak oft kei­nen Weg, einen signifikanten Einfluss auf die Medien zu nehmen. Es ist für sie viel schwerer, sich in größeren Mengen zu or­ganisieren, kompetente AnwältInnen anzuheuern und dauerhaft den Druck aufrecht zu erhalten, der nötig wäre, um Einfluss auf eine Zeitung oder einen TV-Sender zu nehmen. PolitikerInnen und Wirtschaftsbosse haben mehr Prestige und Macht, ih­nen fällt es damit leichter von Seiten der Medien ernst genommen zu werden. Große Unternehmen etwa können diesen Hebel betätigen, um Akteure zu bestrafen, die negativ über den jeweiligen Konzern berichten, z.B. indem sie damit drohen, keine Werbung mehr im Blatt zu inserieren oder die Anzahl ihrer Abonnements runter zu fahren.

Ein Beispiel dafür wäre der Vorfall zwischen der Süddeutschen Zeitung und Lufthansa im März 2001. Beide Streitparteien hatten zuvor ein Ab­kommen abgeschlossen, welches keine Kürzung der Abonnements vorsah. Als jedoch die SZ mehrmals über die streikenden Lufthansa-PilotInnen be­richtet hatte, reduzierte die Lufthansa ihr Abon­nement um 10.000 Aus­gaben. Der britischen Jour­nalistin Kate ­Connolly nach war dies eine direkte Bestrafung für die Berichterstattung der SZ. Weiterhin wurde ihr Bericht darüber von den großen deutschen Zeitungen aus Angst vor den Konsequenzen abgelehnt. Es ist anzunehmen, dass der Großteil des Flakaufgebots hingegen verborgen bleibt und nicht an die Öffentlichkeit gelangt.

5) Ideologie

Da „Manufacturing Consent“ gegen Ende der 80er Jahre veröffentlicht wurde und sich alle Fallstudien auf die Nachkriegs-USA beschränken, stellt für sie der Anti-Kommunismus den entscheidenden Faktor dar, der die Berichterstattung ideologisch spaltet. ReporterInnen und JournalistInnen standen stets unter dem Druck, nicht als kommunistisch bezeichnet zu werden und verurteilten daher umso schärfer die Verbrechen von „kommunistischen” Ländern. Es können natürlich auch andere Feindbilder bemüht werden, die die Bevölkerung in Schrecken und Empörung versetzen sollen: die Serben, der Islam, Terroristen, Russland, Arbeitslose, Linke, etc.. Alternativ können auch andere ideologische Überzeugungen diese Funktion erfüllen, wie z.B. der Glaube an den freien Markt. Alles in allem ist der 5. Filter nicht wie die anderen institutionell begründet, sondern eher ein Zeichen des intellektuellen Überbaus der Gesellschaft. Er sagt voraus, dass Mängel und Verbrechen von FeindInnen heftiger und stärker herausgestellt und verurteilt werden, während die eigenen und die der eigenen Verbündeten kleingeredet oder missachtet werden. Daraus ergibt sich auch eine Unterscheidung in „würdige” und „unwürdige” Opfer. Das Propaganda Model sagt voraus, dass Menschenrechtsverletzungen von befreundeten Ländern weitaus weniger beachtet werden als diejenigen in feindlichen Nationen.

Wie der Ideologie-Filter funktioniert, war im Jahr 2012 zu sehen, als in Russland und den USA Präsidentschaftswahlen waren. Im Falle Russlands wurden vielerlei Bedenken über Wahlmanipulation geäußert, in dem der USA hingegen kamen solche Zweifel weitaus seltener auf. Das muss verwundern, schließlich sind die PräsidentschaftskandidatInnen in den USA finanziell komplett von Spenden abhängig, bekommen also keine staatliche Unterstützung in ihrem Wahlkampf. Das führt dazu, dass KandidatInnen öfter um die Gunst gut betuchter Finanziers buhlen müssen, während die unteren 70%, die nicht so stark in die Wahl „investieren“ können, quasi gar keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Journalist eines deutschen Blattes demnächst anfangen würde, Barack Obama als illegitimen Anführer anzusehen.

Diese fünf Filter, die die Medien nach C&H in ihrer Berichterstattung einschränken, stellen keinen unerschütterlichen Rahmen dar, außerhalb dessen keine Berichterstattung passieren kann. Es ist zwar möglich, gewisse Tendenzen im öffentlichen Diskurs zu erkennen, doch besitzen einzelne etablierte Akteure des Sys­tems immer noch eine eingeschränkte Au­tonomie, die es ihnen ermöglicht, aus dem Konsens auszuscheren und unliebsame Fak­ten zu berichten. Darin liegt aber auch die Schönheit der kapitalistischen Medien und auch deren effektivste Schranke. Öffentliche Diskussionen sind nur in einem ein­geschränkten Rahmen möglich und geben dem System einen Anschein an Legitimität. Wo die Eliten entzweit sind, kann es durchaus kontroverse Debatten geben, wo sie sich einig sind, wird es diese meist nicht geben. Meinungen, die die Grundpfeiler des Kapitalismus oder der vorherrschenden Ideologie angreifen, werden marginalisiert und als „unseriös” abgetan.

Das Modell macht weiterhin keine Aussagen darüber, welche Effekte die Medien auf die RezipientInnen und deren Meinungen haben. Wo die Realität gar zu arg mit der Berichterstattung entzweit ist und die Bevölkerung eigene, alternative Quellen der Berichterstattung hat, kann es grundlegende Unterschiede zwischen den Eliten und dem Rest der Bevölkerung geben.

Ein wichtiger Bestandteil des Systems ist, dass es trotz eines eingeschränkten Raums für öffentliche Diskurse als funktionierend seitens der Bevölkerung angesehen wird. Diese vermag es nicht, ihre Einstellungen und politischen Vorstellungen, die oft den Interessen der Regierenden zuwider gehen, in eine eigene politische Realität zu übersetzen.

Chomsky und Herman legen eine interessante Sichtweise auf die Medien dar. Ob man diese nun teilt oder nicht, regt sie doch zu neuen Perspektiven an, wie man kritisch Medieninhalte beurteilen sollte. Darum soll es auch in der nächsten Ausgabe gehen.

(christopher)

Artikel zum kritischen Medienkonsum in der nächsten FA!-Ausgabe

(1) Ein Bericht auf Englisch, der erklärt, wie solche Selektions- und Internalisierungsprozesse funktionieren können: www.medialens.org/index.php/alerts/alert-archive/2008/552-intellectual-cleansing-part-2.html

Das kleinere Übel schlägt wieder zu

Nachträgliches zur Bundestagswahl

 

Bundestagswahl? War da was? Irgend­etwas Weltbewegendes passiert? Man weiß es nicht, auch wenn die Wahlplakate wie immer hartnäckig den Eindruck zu vermitteln suchten, dass diesmal (DIESMAL!) tatsächlich alles anders würde – wenn mensch sich für die richtige Partei entscheide. Aber Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk, Beweiskraft hat es nicht.

Ohnehin ist das Muster viel zu regelmäßig, als dass es bloßer Zufall sein könnte: Während die Parteien ihrem Wahlvolk alles Gute versprechen, ist jede neue Regierung dann doch nur damit beschäftigt, das alte Elend weiter zu verwalten und womöglich zu verschärfen. Keinem Berliner Erwerbs­losen geht es besser, nur weil die LINKE in der Landesregierung sitzt. Die pazifistischen Grünen können im Zweifel deutlich bessere Kriegs­propaganda machen als die CDU. Und dass die SPD, wenn sie nur könnte, sofort die Folgeschäden der Agenda 2010 beseitigen würde, mag glauben wer will.

Die Wähler_innen wissen das natürlich und stellen schulterzuckend fest: „Die da oben machen doch eh was sie wollen.“ Dem Glauben an die Demokratie tut das aber nur bedingt Abbruch. Mit jedem Wahlgang verbindet sich die Illusion, dass man doch etwas mitbestimmen und den Gang der Dinge beeinflussen kann.

So knüpfen sich an die Wahlen als angeblich zentralem Bestandteil „unse­rer“ Demokratie haufenweise Fik­tio­nen und widersprüchliche Vorstellungen an. (Manche machen einem glatt Knoten im Gehirn, wenn man lange drüber nachdenkt: Was hat es z.B. mit dieser seltsamen Substanz namens „Legitimität“ auf sich, die im Wahlakt angeblich produziert wird?!) Und auch der folgende Artikel kommt um diese inneren Widersprüche nicht herum. Um es mal ganz widersprüchlich zu formulieren: Die Wichtigkeit der Wahl mag reine Fiktion sein – aber gerade die Fiktion ist in diesem Fall enorm wichtig.

Sie möchten Ihre Situation verbessern? Das geht ganz einfach: Dann stimmen Sie bei der Bundestagswahl ab. Wählen Sie die Partei, die sich am besten für Sie einsetzt. Wählen Sie den Kandidaten, der Sie am besten versteht.“

Dieses Zitat stammt von der Website der Bundeszentrale für politische Bildung (1). So eingängig es sich liest, verbergen sich dahinter doch reichlich abstrakte Denkvoraussetzungen. Zunächst mal unterstellt es eine klassenlose Gesellschaft, das Staatsvolk wird als große Gemeinschaft von Freien und Gleichen gedacht. Zwar gibt es individuelle Benachteiligungen, aber die sind wesentlich zufällig und können problemlos im Rahmen der herrschenden Ordnung beseitigt werden. Jede_r Staatsbürger_in hat gleiches Recht und gleiche Möglichkeit, das Gemeinwesen mitzugestalten.

Das sind schon eine ganze Menge Voraussetzungen: Alle Bürger_innen sind gleich. Die Stimmabgabe ist die wichtigste (praktisch die einzige) Form der politischen Betätigung. Und natürlich wird unterstellt, dass sich damit tatsächlich was bewirken lässt. Und noch eine Voraussetzung: Natürlich müssen die Leute regiert werden. Es ist allein Aufgabe der Parteien bzw. Abgeordneten, den Willen der Wähler_innen umzusetzen. Politik? Das sollen lieber mal die Profis machen!

Das ist als Fiktion ja ganz hübsch, nur mit der Realität hat es wenig zu tun. Selbst der verständnisvollste Kandidat wäre hoffnungslos überfordert, wenn er rund 62 Millionen Wahlberechtigte allesamt „verstehen“ sollte. Ebenso unklar bleibt, wie die Wähler_innen sich verständlich machen sollen. Denn tatsächlich werden sie beim eigentlichen Wahlvorgang gar nicht danach gefragt, was sie nun an ihrer Lebenssituation gebessert haben wollen, welche Politik sie sich wünschen, welche Meinung sie zu einzelnen Programmpunkten oder sachlichen Problemen haben.

Die Wähler_innen können nur ent­scheiden, von welcher Person bzw. Partei sie künftig regiert werden wollen, also wer die nächsten vier Jahre dann die sachlichen Entscheidungen für sie treffen soll. Darauf ist das gesamte Wahlverfahren zugeschnitten: Es geht darum, eine Regierung einzusetzen und zu legitimieren – die Möglichkeit zur Mitbestimmung erschöpft sich darin, dass am Ende andere bestimmen dürfen.

Denn im demokratischen Alltagsgeschäft haben die Wähler_innen nur wenig Möglichkeiten, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt haben sie ihre Stimme ohnehin schon abgegeben, also die beste Möglichkeit der demokratischen Einflussnahme bereits verschenkt. Und die Abgeordneten sind keineswegs verpflichtet, auf eventuelle Forderungen der Regierten einzugehen – so erklärt es jedenfalls Artikel 38 des Grundgesetzes:

 

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

 

Das sagt schon ganz gut, wie sich die Demokratie als „Volksherrschaft“ gestaltet, wie die Herrschaft durch das Volk mit der Herrschaft über das Volk zusammengeht. Die Wahl bedeutet jedenfalls nicht, dass die Abgeordneten an die „Aufträge und Weisungen“ ihrer jeweiligen Wählerschaft gebun­den wären – sie sollen vielmehr als „Vertreter des ganzen Volkes“ handeln. Wir lernen: Das große Ganze hat den Vorrang vor irgend­wel­chen Partikularinteressen.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns dieses große Ganze mal genauer anschauen. Was hat es mit dem „Volk“ auf sich, das da vertreten werden soll?

Wir haben weiter oben schon eine Ahnung gewonnen, wie sich die Frage in der Theorie beantwortet: Die Gesellschaft setzt sich demzufolge aus freien und gleichen Rechtssubjekten zusammen. Alle Mitglieder dieser Gesellschaft haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte, und auf diesen Rechten beruht wiederum die Freiheit der Person. Am konsequentesten wird das in der liberalen Vertragstheorie ausformuliert: Diese geht von einem vorgesellschaftlichen „Naturzustand“ der Individuen aus, worin diese vollkommen frei und unabhängig voneinander existieren. Die Individuen schließen dann aus freiem Willensentschluss einen „Gesellschaftsvertrag“ untereinander ab (2) und schließen sich in einem Staat zusammen – erst dadurch wird ein sozialer Zusammenhang zwischen ihnen gebildet.

Aufgabe des Staates ist es in die­ser Konzeption, die rechtlichen Rah­men­bedingungen festzulegen und die Einhaltung der Verträge zu kon­trollieren, welche die Staatsbürger_innen miteinander schließen. Die Fiktion der klassenlosen Gesellschaft ergibt sich ganz zwanglos, weil „Klassen“ gar nicht gedacht werden können, wenn man die Gesellschaft nur als Anhäufung von Individuen betrachtet. Wirtschaftlicher Erfolg ist nur das Ergebnis von individuellem „Unternehmergeist“, so wie am Misserfolg allemal das Individuum selbst schuld ist.

So drückt z.B. auch der Abschluss eines Arbeitsvertrages nur den indivi­duellen, selbstbestimmten Ent­schluss des „Arbeitnehmers“ aus, auch wenn dieser „freie Entschluss“ sich leicht auf handfeste gesellschaftlichen Zwänge zurückführen lässt – immerhin ist der Verkauf der eigenen Arbeitskraft für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit, sich einen halbwegs tragbaren Lebensunterhalt zu sichern. Diese Zwänge werden in der Fiktion des freien Rechtssubjekts konsequent ausgeblendet – der Vertrag gilt, auch wenn er nicht aus freien Stücken unterzeichnet wurde.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Parteien ist nicht zu erkennen: Beide treten sich in der Unterzeichnung des Vertrages gleichermaßen als Eigentümer gegenüber. Die eine Seite verfügt über ihre Arbeitskraft als Eigen­tum, welches sie nun veräußert. Die an­dere Seite verfügt über Kapital, um diese Arbeitskraft kaufen und gewinn­bringend anwenden zu können. (Um diese Anwendung zu ermöglichen, braucht es ja noch weitere Mittel, etwa Gebäude, Maschinen, Rohstoffe usw. Dass diese Mittel sich allesamt auf Seiten des „Arbeitgebers“ konzentrieren, ist entscheidend für den ganzen Vor­gang: Der „Arbeitnehmer“ kann seine Arbeitskraft eben nicht selbst anwenden und verwerten – er ist also einerseits rechtlich frei, den Vertrag zu unterzeichnen, und gleichzeitig ökonomisch dazu gezwungen.)

 

Das große und hauptsächliche Ziel sich unter einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter Regierung stellen, ist … die Erhaltung ihres Eigentums.“

(John Locke) (3)

 

Es mag scheinen, als hätten wir uns recht weit von der Anfangsfrage entfernt. Aber immerhin erklärt das Gesagte, wie der Staat das leisten kann, was er angeblich leistet, nämlich gleichermaßen alle („das ganze Volk“) und jede_n Einzelne_n zu vertreten. Dass beides zusammengeht, ist ja keineswegs selbstverständlich: Ernsthaft gegensätzliche Interessen darf es jedenfalls nicht geben.

Davon kann man unter den eben skiz­zier­ten Umständen nicht unbedingt ausgehen: Denn der „Arbeitgeber“ lässt den „Arbeitnehmer“ ja nicht aus reiner Menschenliebe für sich arbeiten – sein Ziel ist vielmehr, einen Mehrwert für sich zu erzielen: Der Marktwert der von der Arbeitskraft produzierten Waren muss höher liegen als der Arbeitslohn. Ist diese Bedingung nicht gegeben, macht der „Arbeitgeber“ keinen Gewinn und wird den „Arbeitnehmer“ vermutlich entlassen. Dieser sieht sich so seines Einkommens beraubt. Hoppla, gegensätzliche Interessen!

Aber wenn wir uns die Voraussetzungen der liberalen Theorie halten, kann der Staat den Zwiespalt tatsächlich auflösen. Er sichert beiden Seiten ihr Recht, soweit sie eben Eigentümer sind: Eigentümer von Arbeitskraft, Eigentümer von Kapi­tal – kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Das vom Staat geschützte Eigentumsrecht gilt für alle gleich und hält gerade deshalb den grundlegenden Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen aufrecht: Der „Arbeitgeber“ hat das Recht, über sein Kapital zu verfügen und es gewinnbringend ein­zusetzen. Der „Arbeitnehmer“ hat ein Recht darauf, dass seine Arbeitskraft erhalten bleibt – die könnte ja noch gebraucht werden. Indem der Staat „das ganze Volk“, d.h. tatsächlich alle vertritt, verewigt er also das Klassenverhältnis in einem Kompromiss, der dem Status Quo zum Verwechseln ähnlich sieht: Die „Arbeitgeber“ lassen Leute für sich arbeiten und Mehrwert produzieren. Die Lohnabhängigen dürfen weiter arbeiten und kriegen dafür (im Optimalfall) den Lohn, den sie brauchen um ihre Arbeitskraft zu erhalten und weiter arbeiten zu können.

Wer alles gibt, muss mehr bekommen! Jetzt 8,50 Euro Mindestlohn wählen!“

(SPD-Wahlslogan)

 

Das schließt natürlich staatliche Umver­tei­lung keineswegs aus. Tatsächlich eig­net sich der Staat ständig einen Teil des gesellschaftlichen Gesamtprofits an und verteilt diesen um. Das gilt für den demokratischen Sozialstaat ebenso wie für die fieseste Militärdiktatur – auch wenn jene die einkassierten Steuergelder eher für die Ausrüstung der Armee und den Bau von Autobahnen verwendet. Die Umverteilung als solche hat also noch nichts Fortschrittliches an sich.

Aber wie gesagt, der Staat greift auch ein, um die Arbeitskraft der Lohnabhängigen zu erhalten. Insofern müht er sich tatsächlich, ihr Leben zu „verbessern“. Er bietet Sozialleistungen (um Zeiten der Erwerbslosigkeit zu überbrücken), Bildung (damit die Arbeitskräfte später auch komplizierte Maschinen bedienen können) und nicht zuletzt Rente (weil man die Alten nach einem langen Berufsleben ja nicht einfach auf der Müllhalde verklappen kann (4)).

Voraussetzung dafür ist aber allemal, dass die Mehrwertproduktion weitergeht – wollte der Staat diese beenden, so würde er sich damit selbst die ökonomischen Grundlagen entziehen. Auch die menschenfreundlichste Sozialpolitik kommt über diesen inneren Widerspruch nicht hinaus: Bevor irgendwelcher Mehrwert verteilt werden kann, muss er erstmal produziert werden.

Der oben zitierte SPD-Slogan bringt diesen Widerspruch auf den Punkt: Es ist ja ganz buchstäblich so, dass die Lohnabhängigen alles geben – nicht, weil sie so furchtbar motiviert sind, sondern weil sie keine andere Wahl haben. So wie sie nicht über die Produktionsmittel verfügen, so gehört auch das Arbeitsprodukt nicht ihnen – der Arbeitgeber eignet sich dieses an und zahlt den Beschäftigten einen Teil davon als Lohn zurück. Jedes „Einkommen“ (auch ein staatlich garantiertes so­­ge­nanntes „bedingungsloses Grund­­­einkommen“) setzt dieses Abhän­gigkeitsverhältnis voraus. Wer alles gibt, kriegt ein Stück davon zurück…Durch Umverteilungspolitik lässt sich dieses Verhältnis nicht aufheben, auch sie behandelt die Menschen nur als Einzelne und Eigentümer_innen – als Konsument_innen in diesem Fall, während die Produktion im Ganzen unverändert weitergeht.

Durch Appelle an den Staat, auch wenn sie von Zehntausenden auf der Straße vorgetragen werden, lässt sich die Vereinzelung nicht aufheben. Nötig wäre es dagegen, die Perspektive umzudrehen: festzustellen, dass man nicht nur ein abstraktes Rechtssubjekt, ist, sondern sich als reales Lebewesen schon immer in (ziemlich unschönen) sozialen Zusammenhängen befindet. Nicht an eine übergeordnete Instanz zu appellieren, sondern sich selbst aus der Machtlosigkeit zu befreien. Vom eigenen Interesse auszugehen, statt es immer wieder dem Wohl des „ganzen Volkes“ unterzuordnen. Dann haben wir auch eine Möglichkeit, unsere Lage tatsächlich zu verbessern.

(justus)

 

(1) www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahl-2013/165860/die-bundestagswahl-waehlen-ist-wichtig

(2) Ich denke hier nicht nur an Jean-Jaques Rouseau, auch wenn das Stichwort des „Gesellschaftsvertrags“ von diesem entlehnt ist. In seinem „Leviathan“ hatte auch Thomas Hobbes ein ähnliches Konzept entwickelt.

(3) Das Zitat stammt aus Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“.

(4) Für die Volkswirtschaft wäre es allerdings günstig, wenn die Alten mal etwas Patriotismus und Eigeninitiative zeigen und sich um ein „sozialverträgliches Frühableben“ bemühen würden (so lautete das Unwort des Jahres 1998).

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 3)

Operaismus für Anfänger_innen

Bevor wir in den dritten Teil unserer Operaismus-Reihe einsteigen, ist es wohl sinnvoll, noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, auf das, was bisher geschah: 1961 gründete sich in Turin die Zeitschrift Quaderni Rossi. Die Initiative dazu ging von Raniero Panzieri aus, der zuvor lange Zeit in der sozialistischen Partei Italiens (der PSI) aktiv gewesen war. Seiner Einschätzung nach hatten sich die Gewerkschaften und die linken Parteien, die PSI ebenso wie die kommunistische PCI, gründlich von ihrer proletarischen Mitgliederbasis entfremdet. Die rasante Modernisierung der norditalienischen Industrie hatte neue Probleme und Konfliktfelder ge­schaffen, aber die Organisationen der Arbeiterbewegung wussten darauf nicht zu reagieren.

Die Gruppe aus dem Umfeld der Quaderni Rossi setzte es sich dagegen zum Ziel, die Verhältnisse in den Fabriken zu erforschen. Wichtig war dabei vor allem die Initiative von Romano Alquati, mit der ich mich im letzten Heft be­schäftigt habe. Für Alquati sollten die Arbeiter_innen nicht passive Objekte der Untersuchung sein, sondern diese selbst vorantreiben. Dieser Plan konnte nur bedingt umgesetzt werden, aber immerhin gewann man bei FIAT und OLIVETTI wichtige Einsichten in das Innenleben der Fabriken. Gerade unter den jungen Arbeiter_innen war die Unzufriedenheit allgemein verbreitet – und Alquati meinte, dass gerade diese „neuen Kräfte“ in den Klassenkonflikten, die sich bereits am Horizont abzeichneten, eine zentrale Rolle spielen würden.

Aufstand auf der Piazza Statuto

Der Wendepunkt kam schneller als vermutet. Das Jahr 1962 markierte den Übergang von der Ära des „Wiederaufbaus“ und der relativen Ruhe der 50er Jahre zu einem neuen Zyklus der Klassenkämpfe. In vielen Unternehmen standen neue Tarifverhandlungen an. Bei diesem Anlass entlud sich der Unmut, der sich schon lange angestaut hatte. Zentrum der Unruhe war Turin, wo auch die Redaktion der Quaderni Rossi ihren Sitz hatte.

Schon Anfang des Jahres traten die Arbeiter_innen bei Lancia und Michelin in den Streik. Bald schlossen sich die Belegschaften der anderen Metallbetriebe an. Und anders als in den Jahren zuvor wurde diesmal auch in den ­FIAT-Fabriken – Gießerei, Flugzeug­werk, Luftfahrttechnik und Walzwerk – die Arbeit niedergelegt. Auf dem Höhepunkt waren in Turin 250.000 Arbeiter_innen im Streik.

Die Unternehmensführung von FIAT bemühte sich, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie schloss nicht nur mit der ‚gelben’ (also von der Unternehmerseite selbst aufgebauten) Gewerkschaft SIDA eine separate Vereinbarung ab. Auch die sozialistische Gewerkschaft UIL (Unione Italiana del Lavoro) war zu gesonderten Verhandlungen bereit. Der Vertrag, auf den sie sich schließlich mit dem Management einigte, beinhaltete zwar Zugeständnisse beim Lohn, aber wesentlich wichtigere Fragen z.B. der Arbeitsorganisation wurden darin gar nicht berührt.

Es gelang freilich nicht, mit diesem Schachzug die Streikenden zu spalten und den „Frieden“ wieder herzustellen. Eher im Gegenteil: Am 7. Juli wurde nicht nur wie geplant gestreikt und die ganze Stadt lahmgelegt. Am frühen Nachmittag sammelte sich außerdem eine Menge von aufgebrachten Arbei­ter_innen vor dem Sitz der UIL auf der Piazza Statuto. Die Zahl der Protestierenden (viele von ihnen waren selbst Mitglieder der Gewerkschaft) wuchs rasch, bald belagerten Tausende die UIL-Zentrale. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die sich rasch zu Straßenschlachten auswuchsen und drei Tage andauerten.

Die „scontri di Piazza Statuto“ (Zusammenstöße auf der Piazza Statuto) waren in mehrfacher Hinsicht bedeutend. Nicht nur trat hier deutlich zu Tage, wie sehr die wechselseitige Entfremdung zwischen den Arbeiter_innen und den sie vertretenden Organisationen mittler­weile gediehen war. Zugleich betrat hier zum ersten Mal unübersehbar die Figur des „Massenarbeiters“, die bald eine zentrale Rolle in der operaistischen Debatte einnehmen sollte, die politische Bühne.

Schon Romano Alquati hatte in seinen Untersuchungen bei OLIVETTI und FIAT die Rolle der jungen, gering qualifizierten Arbeiter_innen erkannt und beschrieben. Diese „Massenarbeiter“ zeigte sehr spezifische Merkmale: Sie waren typischerweise männlich (FIAT begann erst ab 1970 verstärkt Frauen einzustellen), zwischen 20 und 30 Jahre alt, und stammten zumeist aus dem verarmten, agrarisch geprägten Süden Italiens. Die Fabrik war für sie zunächst ein fremdes Terrain. Sie hatten wenig Bezug zur Kultur der älteren Arbeitergeneration, die oft noch von der Erfahrung der Resistenza, des antifaschistischen Wider­stands, geprägt war, und standen den Gewerkschaften und linken Parteien distanziert gegenüber. Und die stupide, monotone Arbeit am Fließband bot ihnen kaum Gelegenheit, sich einen „Berufsstolz“ zuzulegen, wie er bei den älteren Facharbeitern noch verbreitet war. Daraus ergaben sich auch andere politische Perspektiven. Eine Selbstverwaltung, also die eigenverantwortliche Übernahme der Produktion konnte für die jungen Arbeiter_innen nicht das erste Ziel sein – wenn sie politisch aktiv wurden, dann aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass sie diese Produktion ganz sicher nicht weiterführen wollten. Das schlug sich auch in ihren Aktionsformen nieder, z.B. in Sabotageakten, bei denen auch die Zerstörung der Ma­schi­­nerie in Kauf genommen wurde.

Die Spaltung

Die neuartige Qualität der Ereignisse brachte auch die Redaktion der Qua­derni Rossi in schwere innere Konflikte. Während sie die Streiks sehr gründlich analysierten, äußerten sie sich zu „den Ereignissen auf der Piazza Statuto“ nur sehr zurückhaltend.

Einzelne Funktionäre der Turiner CGIL (des kommunistischen Gewerkschaftsverbands) und der Metallgewerkschaft FIOM hatten die Intervention zwar zunächst unterstützt. Und schon im August 1961 war es gelungen, einen Streik in den FIAT-Eisenhütten zu organisieren, der sehr dazu beitrug, den Rückhalt der FIOM unter den Arbeiter_innen zu verstärken – bei den nachfolgenden Wahlen zur Betriebskommission schnitt die Gewerkschaft jedenfalls deutlich besser ab. Danach wurden die Gewerkschafter_innen jedoch von der PCI (der kommunistischen Partei) unter Druck gesetzt und brachen die Kooperation mit den Quaderni Rossi ab.

Raniero Panzieri versuchte in dieser verfahrenen Lage zu vermitteln. Er hoffte bis zuletzt darauf, eine Erneuerung innerhalb der alten Arbeiterbewegung zu erreichen und konnte sich nicht dazu durchringen, mit den linken Parteien und Gewerkschaften zu brechen.

Aber auf lange Sicht ließ sich die Konfrontation nicht vermeiden. Die Aktivist_innen aus dem Umfeld der Zeitung waren zwar nur eine kleine und politisch weitgehend machtlose Gruppe. Aber indem sie sich auf das Terrain der Fabrik begaben, brachten sie zugleich die eingefahrene Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Partei, die säuberliche Trennung von „Ökonomie“ und „Politik“ durcheinander. Das mochte noch angehen, solange sie sich „nur“ auf die Untersuchung beschränkten. Aber sobald die Einmischung eine offen politische Form annahm, konnte dies – gerade in einer so angespannten Lage – nicht mehr hingenommen werden. Als einige Aktivist_innen im Frühjahr 1962 während des Lancia-Streiks Flugblätter vor den Fabriktoren verteilten, führte das bereits zum offenen Konflikt mit der Gewerkschaft.

In der Folge wurden die beteiligten Mitglieder der PCI aus der Partei ausgeschlossen (1). Zugleich zerlegte sich die Redaktion der Quaderni Rossi in ihre Bestandteile. Die Spaltungslinie verlief zwischen jenem Teil der Redaktion, der sich am Vorbild der amerikanischen Industrie­soziologie orientierte und wenig politische Ambitionen hatte, und denen, die an die neuen Kämpfe der Arbeiter_innen anknüpfen und eine revolutionäre Politik machen wollten. Panzieri schlug sich letztlich auf die Seite der „Wissenschaftler“, während die anderen die Redaktion verließen – sie gründeten die Zeitschrift Classe Operaia („Arbeiterklasse“), deren erste Ausgabe Ende 1963 erschien. Auch Romano Alquati schloss sich dieser Fraktion an, da er mit dieser das Ziel teilte, politisch zu intervenieren – der vermeintlichen „Neutralität“ der Industriesoziologie stand er dagegen skeptisch gegenüber (2).

Die Quaderni Rossi erschienen zwar noch bis 1968, aber nach dem plötzlichen Tod Panzieris (er starb 1964 überraschend an einer Hirnembolie) war das Konzept praktisch erledigt. Nennenswerte revolutionäre Impulse gingen von der Zeitung jedenfalls nicht mehr aus.

Eine neue Arbeiterzeitung?

Classe Operaia dagegen sollte nun „eine neue Form der Arbeiterzeitung“ darstellen – so schrieb Mario Tronti in seinem Artikel „Lenin in England“, der in der ersten Ausgabe erschien (3) und als eine Art Gründungs­manifest aufgefasst werden kann. Der Titel des Textes deu­te­te schon an, was Tronti vor­schweb­te: Einerseits eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Arbeiterbewegung und des Marxismus (England), um von da aus eine entschiedene revolutionäre Politik zu betreiben – dafür stand der Name Lenins, mit dem Tronti sich offenbar identifizierte.

Tronti hatte seine ersten politischen Erfahrungen in Rom, in der Jugendorganisation der PCI gesammelt und war 1961 mit seiner Gruppe zur Redaktion der QR gestoßen. Schon in seinem Artikel „Fabrik und Gesellschaft“, der in der zweiten Ausgabe der Quaderni Rossi erschien (4), fiel er als scharfsinniger Marx-­­Interpret auf. Tronti spielte eine wichtige Rolle dabei, den Operaismus in eine ausformu­lierte Theorie zu überführen. Das war sein unbestrittenes Talent, aber (wie sich zeigen wird) auch seine Schwäche: Denn was als empirischer Befund durchaus richtig war, wurde leicht zu Unsinn, wenn man darauf eine große Geschichtsphilosophie aufbauen wollte.

Dies galt etwa für die Feststellung ­Panzieris, dass die Einführung des Fließ­bands nicht nur die Produk­tivität steigerte, sondern den Unternehmern auch dazu diente, bestimmte widerständige Ver­haltensweisen der Arbeiter_innen zu kontrollieren. Tronti zog daraus eine kühne, aber keineswegs zwingende Schlussfolgerung: Das Proletariat geht dem Kapital­verhältnis voraus, es sitzt dem Kapital gegenüber also immer schon am längeren Hebel.

In „Lenin in England“ formulierte er dies so: „Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muss das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf.“ Laut Tronti war also „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen nachgeordnet, sie kommt nach ihnen“. (5) Das Proletariat treibt die kapitalistische Entwicklung voran, die letztlich unumgänglich in der Revolution enden muss.

Das klang als These erstmal ziemlich schmissig und originell. Dennoch führte Trontis Forderung nach einer „neuen marxistischen Praxis“ ihn umgehend zur einem altbekannten Modell zurück: zur „Arbeiterpartei“ (mit Betonung auf „Partei“). Ähnliches ließ sich über die gesuchte „neue Form der Arbeiterzeitung“ sagen. Was Tronti vorschwebte, war „eine Zeitung, die nicht unmittelbar alle partikularen Erfahrungen wiederholt und aufnimmt, sondern sie in einem allgemein politischen Diskurs fokussiert. Die Zeitung ist in diesem Sinne ein Kontrollpunkt“… Dabei müsse das gängige Verfahren entschieden umgestülpt werden. Denn: „Der politische Diskurs überprüft die Korrektheit der partikularen Erfahrung und nicht umgekehrt. Denn der politische Diskurs ist der umfassende Klassenstandpunkt und daher die wirkliche materiale Gegebenheit.“ (6)

Schon hier zeigte sich die fatale Neigung Trontis, alle Schwierigkeiten und offenen Fragen durch Rhetorik zu überspielen. Die zuletzt zitierte Aussage war jedenfalls kaum mehr als die großspurige Ankündigung, man werde sich künftig durch die Fakten nicht mehr irritieren lassen: Wenn der „politische Diskurs“ der Theoretiker die „wirkliche materiale Gegebenheit“ darstellt, dann kann die Theorie natürlich nur recht behalten – wenn die Tatsachen ihr widersprechen, sind sie eben nicht korrekt.

Auch in politischer Hinsicht ließ das nichts Gutes erahnen: Letztlich war es eben Aufgabe der Intellektuellen, die „Parteilinie“ festzulegen, an der sich die Erfahrungen und Interessen der Arbeiter_innen zu bemessen hatten. Wenige Sätze weiter distanzierte Tronti sich zwar vom leninistischen Modell der Avantgarde-Partei. Freilich nur, weil er davon ausging, dass die benötigte politische Organisation bereits bestehe und schon entdeckt sei – in der „kompak­ten sozialen Masse“ der Arbeiterklasse. Antonio Negri formulierte das wenig später noch etwas schmissiger: „Heut­zutage ist die ganze kämpfende Arbeiterklasse die Avantgarde.“ (7) Den Kleinkram und die mühsame Aufbauarbeit konnte man sich da natürlich sparen…

Von der Klasse … zurück zur Partei

Ohnehin lagen Rationalität und Irrationalität auf den Seiten von Classe Operaia dicht beieinander. Das wird deutlich, wenn man zum Vergleich Romano Alquatis Artikel über den „Kampf bei FIAT“ heranzieht, der ebenfalls in der ersten Ausgabe der Zeitung erschien (8). Alquati analysierte darin die wilden Streiks, zu denen es Mitte Oktober 1962 in den FIAT-Walzwerken gekommen war. Dabei verwarf er zunächst einmal entschieden die Vorstellung, dass Arbei­ter_innen nicht organisiert seien, nur weil sie keiner Organisation angehörten oder den bestehenden Organisationen distanziert gegenüberstanden. Er betonte: „Der ‚Wildkatzen’-Streik ist keine anarchoide Protestform von Arbeitern, die unfähig sind, in kollektiver und organisierter Form zu kämpfen; im Gegenteil: Er erfordert ein hohes Niveau an Organisation und Zusammenhalt“. Der wilde Streik sei gerade deshalb so bedeutsam, weil er gezeigt habe, dass „sich bei FIAT eine Arbeiterorganisation entwickelt, die stark genug ist, einen solchen Streik durchzuführen – absolut außerhalb der historischen, offiziellen Organisationen.“

Daran schloss Alquati nahtlos eine Kritik der gängigen Avantgarde-Konzepte an: „Der ‚Wildkatzen’-Streik bei FIAT eliminierte die alte Idee, nach der der Arbeiterkampf auf dieser Ebene von einem besonderen internen ‚Kern’ organisiert wird, der das Monopol über das antagonistische Arbeiterbewusstsein hat. Der Streik vom 15./16. Oktober ist direkt von der ganzen und kompakten ‚gesellschaftlichen Masse’ der Arbeiter der Werke, die daran teilgenommen haben, organisiert worden.“

Alquati verwendete hier exakt die glei­chen Worte wie Tronti, beide sprachen von den Arbeiter_innen als „kompakter sozialer Masse“ („compatta massa sociale“). Alquati meinte damit aber etwas durchaus Anderes – nämlich zunächst einmal nur, dass die Aktionen nicht bestimmten Personen oder Gruppen zugerechnet werden konnten. Und während Tronti bei der Rede von der „kompakten Masse“ wohl vor allem an Geschlossenheit und Kampfkraft dachte, verwies sie bei Alquati vor allem auf die Schwierigkeiten der Analyse: Die Masse war eben auch ziemlich undurchsichtig, und es ließ sich kaum sagen, was für kollektive Prozesse da im Inneren abliefen. (9)

Alquati argumentierte nicht nur theoretisch deutlich nüchterner. Dass er in seiner Untersuchungsarbeit konsequent von den „partikularen Erfahrungen“ der Arbeiter_innen ausging, bewahrte ihn auch vor revolutionären Allmachtsphantasien und parteipolitischen Ambitionen. Dagegen verloren Tronti und andere aus der römischen Gruppe die Vorgänge in den Fabriken mehr und mehr aus den Augen – mit der 1964 einsetzenden Rezession ebbten die Streiks ohnehin erstmal ab. Dagegen wurde wieder die kommunistische Partei der wichtigste Bezug für Tronti, der hoffte, die PCI „benutzen“ und gegen die Reformpolitik der PSI (der sozialistischen Partei, die seit 1963 zusammen mit den Christdemokraten regierte) auf einen revolutionären Kurs bringen zu können. Diese Annäherungsversuche stießen jedoch bei der Partei auf wenig Gegenliebe. Eher im Gegenteil: In einem im Frühjahr 1964 veröffentlichten Artikel griff z.B. die PCI-Zeitung L´Unità die Gruppe um Classe Operaia heftig an und beschuldigte sie, bezahlte Agenten des Kapitals zu sein.

Auch sonst blieb das Projekt, trotz aller hochgesteckten Ziele, politisch weitgehend einflusslos. 1967 hatte sich der Herausgeber_innenkreis hoffnungslos zerstritten. Die römische Fraktion trat wieder in die PCI ein, um künftig im Inneren der Partei eine „revolutionäre“ Politik zu betreiben. Die Veneto-Gruppe um Antonio Negri gründete derweil die Organisation Potere Operaio („Arbei­termacht“), die in den Fabrikkämpfen ab 1967 eine große, wenn auch nicht unbedingt glorreiche Rolle spielte. Ohnehin waren die Streiks und Unruhen des Jahres 1962 nur ein Vorgeplänkel. Im „Heißen Herbst“ 1969 schien die Revolution tatsächlich zum Greifen nah zu sein. Die autonomen Kämpfe der Arbeiter_innen bei FIAT und anderswo stürzten das italienische Kapital und den Staat in eine Krise, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Aber damit werde ich mich im nächsten Heft befassen.

justus

(1) Vgl. dazu die detaillierte Darstellung von Wolfgang Rieland im Vorwort von Wolfgang Rieland/Romano Alquati, „Klassenanalyse als Klassenkampf – Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI“, Athenäum Fischer, Frankfurt a.M. 1974.
(2) Schon in seiner Untersuchung bei OLIVETTI hatte er dies bemerkt: „Unter den Genossen, aber auch unter dem Arbeitern in Ivrea besteht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Soziologie: viel Aktivisten dort kennen sie nur allzu gut […] denn sehr viele der bekanntesten italienischen Soziologen – und insbesondere die ‚linken’ – sind bei OLIVETTI ausgebildet worden […] Die Soziologie, die bei OLIVETTI blühte – und noch immer blüht –, so sagen diese Genossen, ‚haben wir dann am eigenen Leibe ausprobieren dürfen’: in der Gestalt der neuen Arbeitsrhythmen.“ Vgl. Rieland/Alquati 1974, S. 103.
(3) www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf
(4) Eine deutsche Übersetzung findet sich in Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 86ff.
(5) ebd. S. 87. Als geistiges Aufputschmittel für frustrierte Aktivist_innen funktioniert so eine Theorie natürlich wunderbar. Daraus erklärt sich wohl auch die Popularität Antonio Negris, der knapp vierzig Jahre später in seinem Bestseller „Empire“ noch ganz ähnliche Sätze von sich gab: „Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft zu übernehmen gezwungen ist.“ (vgl.Antonio Negri/Michael Hardt, „Empire“, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2002, S. 279).
(6) vgl. Ballestrini/Moroni 2002, S. 92. Bei den letzten beiden Sätzen halte mich hier allerdings an die Übersetzung von Bodo Schulze, da diese klarer verständlich ist. Vgl. Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10 (1989), S. 152. Schulze übt darin auch eine lesenswerte Kritik an Tronti und Negri. Online ist dieser Text unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm zu finden.
(7) Zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 90.
(8) www.wildcat-www.de/thekla/06/t06wild2.htm
(9) Das war kein Mangel seiner Theorie, sondern aus der Sache selbst bedingt. Bodo Schulze drückt das ziemlich treffend aus: „Autonomie ist ein zerbrechlich Ding – oder vielmehr: Autonomie ist gar kein Ding, sondern eine bestimmte Verkehrsform von Individuen, die sich zum Zweck der Zerstörung jeglicher Herrschaftsverhältnisse assoziieren. Diese Verkehrsform ist nicht theoriefähig.“ Vgl. Schulze, a.A.o., S. 167.

Theorie & Praxis

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 1)

Operaismus für Anfänger_innen

Operaismus? Mit dem Begriff dürften wohl die meisten (auch die meisten linken Aktivist_innen) erst mal wenig anfangen können. Operaismus, das war doch so eine obskure linke Theorieströmung, die im Italien der 60er und 70er eine gewisse Rolle spielte? Genaueres wissen die meisten leider nicht.

Bekannter ist da schon der „Post-Operaismus“, der dank Antonio Negris und Michael Hardts Theorie-Bestseller „Empire“ nicht nur in Teilen der globali­sierungskritischen Linken, sondern auch in universitären Kreisen und im bürgerlichen Feuilleton eine Weile als der letzte heiße Scheiß gehandelt wurde. Mit Negri werden wir uns im weiteren Verlauf dieser Artikelreihe noch auseinandersetzen. Im Zentrum stehen soll er allerdings nicht. Schließlich gibt es weitaus interessantere und wichtigere Theoretiker_innen des Operaismus – denen wollen wir uns in dieser und den kommenden FA!-Ausgaben widmen.

Ursprünglich war „Operaismus“ (vom italienischen „operaio“, „Arbeiter“ abgeleitet) eher ein Schimpfwort, etwa im Sinne von „Arbeitertümelei“, als Vorwurf einer übergroßen Fixierung auf die Fabrikarbeiterschaft. Freilich machte genau das die Originalität der frühen operaistischen Theore­tiker_innen aus, dass sie sich mit den Verhältnissen in den Fabriken beschäftigten und die Arbeiter_innen als Subjekte ernst nahmen. Der Operaismus war damit auch ein Versuch, die marxistische Theorie von unten her zu erneuern, sie auf das Italien der Nachkriegszeit anzuwenden, um sie an den realen Verhältnissen zu prüfen und zu aktualisieren.

Die Theoriegeschichte des Operaismus ist so zugleich auch eine Geschichte der Klassenkämpfe im Italien der 1960er und 70er Jahre. Das macht den Versuch einer vorläufigen Definition nicht gerade einfacher: Das operaistische Denken lässt sich – wenigs­tens in seinen besseren Momenten – eben nicht von seinem Gegenstand trennen und auf eine Anzahl von Begriff­lichkeiten und Lehrsätzen herunterstutzen. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass auch der Operaismus sich im Laufe der Entwicklung drastisch veränderte: In den frühen 60er Jahren war es noch eine recht kleine Zahl von Linksradikalen, die als „Operais­ten“ verunglimpft wurden. In den späten 60ern verband sich der Begriff mit einer breiten sozialen Bewegung, der sogenannten Autonomia Operaia (Arbeiter­autono­mie), die sich spätestens im ‚Heißen Herbst’ 1969 eindrucksvoll zu Wort meldete. Eine neue Generation junger Arbei­ter_innen rebellierte gegen die Arbeit und brachte mit wilden Streiks die Machtverhältnisse in den norditalienischen Fabriken ins Wanken.

Und wenn wir uns die 70er Jahre anschauen, wird die Sache noch unübersichtlicher: Während in den Fabriken wieder halbwegs Ruhe einkehrte, weiteten sich die Kämpfe auf neue Bereiche aus, neue Gruppen kamen hinzu: Frauenbewegung, jugendliche Erwerbslose, Hausbesetzer_innen… Die Gruppe Lotta Femminista entwickelte ausgehend von der operaistischen Arbeitskritik eine Kritik der Hausarbeit. Andere Theoretiker_innen (allen voran Toni Negri) verloren angesichts der verwirrenden Vielfalt dieser neuen autonomen Bewegung endgültig den Kopf. Dies soll in den letzten beiden Teilen dieser Artikelreihe das Thema sein.

Ein weites Feld also – aber die Auseinandersetzung lohnt sich. Schließlich ist auch unsere heutige Realität noch durch die Klassenkämpfe der 60er und 70er Jahre und deren Folgewirkungen geprägt (das reicht bis hin zur mittlerweile chronischen Finanzkrise). Und von den Analysen und Untersuchungen der Operaist_innen lässt sich auch heute noch einiges über die innere Dynamik dieser Kämpfe lernen. Das wäre gerade heute wichtig, wo ein Großteil der bundesdeutschen Linken längst nicht mehr von Klassenverhältnissen redet und sich passend dazu in bequemer Hoffnungslosigkeit eingerichtet hat. Die operaistische Untersuchung könnte da den Blick dafür öffnen, dass wir längst nicht so machtlos sind, wie wir zu sein glauben. Zu diesem Punkt haben die Opera­ist_innen, trotz der manchmal trockenen und komplizierten Sprache ihrer Texte, einiges zu sagen. Aber genug der langen Vorrede – here we go.

Das große Wachstum

Als Geburtsstunde des Operaismus kann wohl unbestritten das Jahr 1961 gelten – damals erschien in Turin die erste Ausgabe der Quaderni Rossi (Roten Hefte). Die treibende Kraft hinter diesem Zeitungsprojekt war Raniero Panzieri, ein langjähriges Mitglied der PSI (Partido Socialista Italiano, Sozialistische Partei Italiens). Um Panzieri und die Quaderni Rossi herum sammelte sich eine kleine Gruppe von Intellektuellen, zum Großteil unzufriedene Mitglieder der PSI bzw. der PCI (Partito Communista Italia­no, Kommunistische Partei Italiens). Ziel dieser Gruppe war es, die neuen Klassenkonflikte, die sich in der italienischen Industrie andeuteten, genauer zu untersuchen.

In den 1950er Jahren hatte Italien eine Phase der raschen nachholenden Industrialisierung durch­gemacht. Zwar lag die Produktion nach Ende des 2. Weltkriegs am Boden. Aber schon 1949 hatte sie wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Gefördert durch US-amerikanische Aufbauhilfe und den Beitritt Italiens zur Europäischen Wirt­schaftsgemeinschaft, setzte ein rasantes Wachstum ein. Die veraltete Infrastruktur des Landes wurde erneuert, der Wohnungsbau boomte ebenso wie die Petrochemie, die Stahl- und die Autoindustrie. Allein von 1949 bis 1953 stieg die Produktion um 63%, und dann von 1953 bis 1961 noch mal um 100%. Dieses Wachstum konzentrierte sich freilich vor allem auf die traditionelle Industrieregion im Norden Italiens. Der seit jeher von der Landwirtschaft geprägte Süden profitierte dagegen kaum vom allgemeinen Aufschwung.

Auch die Parteien der Linken, die PCI und die PSI, unterstützten vorbehaltlos den „Wiederaufbau“. Dabei hielten sie zwar am Fernziel der „Demokratisierung“ (so der offizielle Parteijargon – gemeint war die Verstaatlichung) der Industrie fest, bis auf weiteres galt ihnen aber erstmal die Steigerung der Produktion als die dringendste Aufgabe. Durch ein rasches Wirtschaftswachstum sollte der Lebensstandard der proletarischen Wählerschaft gehoben, aber auch den bürgerlichen Parteien gegenüber Koalitionsfähigkeit demonstriert werden. Auch die von der PCI und PSI kontrollierten Gewerkschaften ordneten sich deren Linie unter – wo sich Widerstand unter den Arbeiter_innen regte, traten die Organisationen der alten Arbeiterbewegung immer offensichtlicher als Ordnungsmacht im Sinne des Staates und der Unternehmer auf.

Zugleich blieben auch die PSI und PCI nicht von der tiefen Orientierungskrise ver­schont, in die praktisch alle Parteien der Kommunistischen Internationalen zu dieser Zeit gerieten. Das Jahr 1956 bildete dabei den Wendepunkt. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU, der sowjetischen kommunistischen Partei, machte Chrusch­­­­tschow erstmals die Verbrechen des Stalinismus öffentlich. Und auch die Niederschlagung des proletarischen Aufstands in Ungarn im selben Jahr trug wesentlich dazu bei, den sowjetischen Realsozialismus als Leitbild fragwürdig zu machen.

Diese Ereignisse lösten auch in der PCI und PSI heftige Debatten aus, die freilich in erster Linie nur dazu beitrugen, die schrittweise Sozialdemokratisierung beider Parteien nur noch weiter zu beschleunigen. Andererseits eröffnete die ideologische Verunsicherung aber auch Spielräume für weit tiefgreifendere kritische Auseinandersetzungen. In diesen spielte Raniero Panzieri eine wichtige Rolle, zumal er dafür genau in der richtigen Position war: Mitte der 1950er saß er nicht nur im Zentralkomitee der PSI, sondern auch in der Chefredaktion der parteieigenen Theoriezeitschrift Mondo Operaio.

Dort veröffentlichte Panzieri 1958 auch seine „Sieben Thesen zur Frage der Arbeiterkontrolle“ (1), in denen er harte Kritik am „italienischen Weg zum Sozialismus“ übte. Panzieri ging dabei von einem Konzept der Selbstverwaltung aus – „Sozialismus“ bedeutete für ihn die Kontrolle und Verwaltung der Produktion durch die Arbeiter_innen selbst. Dieses Ziel, so erklärte er, lasse sich aber nicht auf rein parlamentarischem Wege erreichen. Wer etwas anderes behaupte, falle damit in bürgerliche Mystifikationen zurück, welche „den bürgerlich-repräsentativen Staat nicht als das darstellen, was er ist, d.h. als einen Klassenstaat, sondern als einen über den Klassen stehenden Staat“. Der Staat war für Panzieri eben kein neutrales Terrain, kein reines Instrument, das sich einfach übernehmen und für beliebige Zwecke einsetzen lasse.

Vielmehr, so forderte Panzieri, müsse das Proletariat sich im Zuge seiner Kämpfe eigene Institutionen aufbauen, und zwar „in der ökonomischen Sphäre“, wo der wirkliche Ursprung der Macht liege. Von dieser (rätekommunistischen) Position her kritisierte Panzieri auch das leninistische Konzept der Avantgarde-Partei, „die naive, aus der Tradition der Aufklärung stammende Vorstellung, das Proletariat müsse zur Machtausübung ‚erzogen’ werden.“ Von entscheidender Bedeutung war für ihn die „Sicherung der revolutionären Autonomie des Proletariats […] gegen die reformistische Unterwerfung und gegen die Konzeption einer ‚Führung’ (führende Partei, führender Staat)“. Die Partei sollte nur ein „Instrument“ der Klassenbewegung sein, keine paternalistische Führung ausüben, sondern lediglich „als Impulsgeber und zur Unterstützung der Organisationen, in denen sich die Klasseneinheit artikuliert“, auftreten.

Panzieri rückte also das Prole­ta­riat an die erste Stel­le und er­wies sich so tatsächlich als guter Ar­bei­­ter­tüm­ler im Sin­­ne des eingangs erwähnten Vorwurfs. Eine sicherlich sympathische, wenn auch keineswegs widerspruchsfreie Position: Für das angepeilte Ziel war die Partei, und sei es nur als „Instrument“, schlichtweg untauglich. Indem er den Aufbau neuer proletarischer Institutionen forderte, gab auch Panzieri selbst das implizit zu. Dennoch hoffte er auf eine Erneuerung der alten Arbeiterbewegung von innen heraus und fühlte sich der PSI (welche lange Jahre seine politische Heimat gewesen war) nach wie vor verbunden.

Krise der Gewerkschaften

Das verhinderte aber nicht, dass er in der Partei mehr und mehr an den Rand gedrängt wurde. Desillusioniert siedelte Panzieri 1959 von Rom nach Turin über, wo ihm eine Stelle beim renommierten Verlagshaus Einaudi angeboten worden war. Dort fand er bald Kontakt zu anderen Abtrünnigen und Unzufriedenen, welche die Lage ähnlich sahen, wie Panzieri Ende 1959 es in einem Brief skizzierte: „Die Krise der Organisationen – Parteien wie Gewerkschaften – liegt in der wachsenden Trennung zwischen ihnen und der realen Bewegung der Klasse, zwischen den objektiven Kampfbedingungen und der Ideologie und Politik der Parteien begründet. Deswegen kann das Problem nur angegangen werden, indem man von den Bedingungen, Strukturen und Bewegungen der Basis ausgeht. Und die Analyse wird nur durch Teilnahme an den Kämpfen vollständig werden.“ (2)

An die Basis, in die Fabriken gehen, die Verhältnisse dort untersuchen, Analysen erarbeiten und sich auf diesem Wege in die laufenden Konflikte einmischen – genau das war das Aktionsprogramm der Gruppe, die sich um die Quaderni Rossi sammelte. Die Zeitschrift war in diesem Sinne nicht nur als Forum für theoretische Reflexion, sondern auch als Mittel der Intervention gedacht.

Unterstützung für das Projekt kam auch von einigen lokalen Funktionären des Gewerkschaftsbunds CGIL (3), welche über den schwindenden Rückhalt ihrer Gewerkschaft unter den Arbeiter_innen besorgt waren.

Die Unternehmen setzten auf Massenproduktion für den Export. Damit ging nicht nur eine massive Ausweitung der Fließ­bandarbeit einher. Zugleich geriet dadurch auch die Facharbeiterschaft, welche traditionell das Rückgrat der Gewerkschaften bildete, immer mehr unter Druck. Die Spezialkenntnisse der Facharbeiter wurden durch die zunehmend mechanisierte Produktion weitgehend verzichtbar, und damit schwand auch ihre Durchsetzungs­macht. Diese Schwächung der Gewerkschaften war von den Unternehmen auch durchaus gewünscht. So wurden z.B. kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre in gesonderten Abteilungen von den anderen Arbeiter_innen isoliert – bekannt und berüchtigt war in dieser Hinsicht vor allem die Abteilung ‚Roter Stern’ bei Fiat. Zugleich stellten die Unternehmen massiv neue Arbeitskräfte ein. Rund eine Million neuer Beschäftigter kam so in die Produktion, gegen Ende der 1950er vor allem junge Männer aus dem Süden Italiens – eine neue Generation von Arbei­ter_innen, die kaum einen Bezug zu den Institutionen der alten Arbeiterbewegung hatten.

Die Gewerkschaftsführung hatte dieses Schwinden ihrer Basis lange ignoriert. Sie mühte sich vielmehr, in der großen Politik mitzumischen, wo sie z.B. staatliche Investitionsprogramme zur Sicherung der Vollbeschäftigung forderte. Dafür bekam sie bald die Quittung: 1955 verlor die CGIL bei den Betriebsratswahlen bei Fiat ihre bis dahin unangefochtene absolute Mehrheit. Aber auch diese offensichtliche Niederlage führte nicht zu einem Umdenken. Die Gewerkschaft bemühte sich zwar um ein offensiveres Auftreten bei den Lohnverhandlungen. Damit war sie aber insgesamt wenig erfolgreich. Im Vergleich zur steigenden Arbeitsproduktivität stagnierten die Löhne. Und ohnehin war es längst nicht nur die miese Bezahlung, welche für Unmut unter den Arbeiter_innen sorgte, sondern noch ganz andere Fragen, etwa der Stumpfsinn der Fließbandarbeit oder die rigiden Zeitvorgaben.

Was für Konflikte sich da anbahnten, ließ sich 1959 schon erahnen. Denn langsam aber sicher begann sich neuer Widerstand der Arbeiter_innen zu regen. Exemplarisch dafür waren z.B. die Streiks, die 1960 in der Textilindustrie begannen. Bei diesen Kämpfen spielten die Gewerkschaften kaum eine Rolle: Nur etwa 10% der (größtenteils weiblichen) Beschäftigten waren überhaupt gewerkschaftlich organisiert. Dennoch zeigte sich in ihren Kämpfen eine Art der ‚unsichtbaren Organisation’, die sich in neuartigen Aktionsformen äußerte, etwa sogenannte „Schachbrettstreiks“, welche die Produktionskette plötzlich, stunden- oder schichtweise an immer wechselnden Abschnitten lahmlegten.

Und auch in der norditalienischen Metallindustrie kam es 1959/60 zu flächen­decken­den Streiks. Diese Kämpfe waren nebenbei auch ein schlagender Gegenbeweis zu der These, durch die Neu­strukturierung der Industrie sei der Klassenkampf endgültig befriedet: Denn nun traten gerade in den technisch fortschrittlichsten Unternehmen die heftigsten Konflikte zu Tage – wobei allerdings die Fiat-Werke eine bezeichnende Ausnahme bildeten. Aus genau diesem Grund war Fiat dann auch das erste Ziel der Fabrikuntersuchungen, die von den Akti­vist_innen der Quaderni Rossi begonnen wurden (mehr dazu in FA! #48).

In politischer Hinsicht war aber ein weiteres Ereignis von noch größerer Wichtigkeit: Anfang Juli 1960 hatte die neofaschistische Partei MSI (Movimento Sociale Italiano) ihren Nationalkongress anberaumt – mit Unterstützung der Regierung, und ausgerechnet in Genua. Nur 15 Jahre nach Kriegsende und in einer Stadt, die als traditionelle Hochburg der Arbeiterbewegung bekannt war, musste dies als klare Kampfansage erscheinen. In Genua kam es zu tagelangen Straßenschlachten zwischen der Polizei auf der einen und Student_innen und Arbeiter_innen auf der anderen Seite (4). Landesweit gab es Demonstrationen. Die Unruhen führten schließlich zum Sturz des Ministerpräsidenten Tambroni und zu einem neuen Mitte-Links-Bündnis, in dem nun auch die PSI einen Platz hatte.

Kritik der Maschinerie

Die erste Nummer der Quaderni Rossi stieß un­ter diesen Umständen auf reges Interesse. Die Auflage war in wenigen Tagen aus­ver­kauft, und wurde nicht nur in der Linken gelesen und diskutiert. Panzieri veröffentlichte in diesem Heft einen Artikel „Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus“ (5), in wel­chem er die Grundzüge jener marxistischen Technologiekritik entwickelte, die einen der wesentlichen und originellsten Tei­le der operaistischen Theorie ausmacht.

Vorrangig ging es Panzieri in seinem Text darum, „die verschiedenen ‚objektivistischen’ Ide­ologien zu widerlegen, die derzeit im Hinblick auf den technischen Fortschritt (insbesondere im Zusammenhang mit der Phase der Automation) wieder aufkommen.“ [S. 17]

Gemeint war damit das typische Technikkonzept der sozialdemokratisch-leninistischen Linken, das sich grob in drei aufeinander aufbauenden Glaubenssätzen zusammenfassen lässt: 1) Die technischen Produktionsmittel haben mit den Produktionsverhältnissen, den gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen, nicht das Geringste zu tun. 2) Die Technik entwickelt sich eigenständig, aus ihrer eigenen inneren Logik heraus. Und weil 3) die Technik in sich vernünftig ist, steht der technische Fortschritt immer auf Seiten des Fortschritts schlechthin. (6)

Mit diesem Schema ließen sich die ökonomischen Umwälzungen der Nachkriegszeit beim besten Willen nicht erfassen. Und genau in dieser Unfähigkeit sah Panzieri die anhaltende Krise der Gewerkschaften begründet. Nach wie vor, so bemerkte er, würden die Veränderungen in zahlreichen Positionen und Analysen nur verzerrt erfasst, indem sie „in ‚reiner’, idealisierter Form dargestellt werden, isoliert von den konkreten Zusammenhängen mit den allgemeinen und (in Bezug auf die Macht) entscheidenden Elementen der kapitalistischen Organisation.“ Maßnahmen und Neuerungen, die vor allem die Macht der Unternehmer sichern und zur Kontrolle der Arbeiter_innen beitragen sollten, würden so „mit Entwicklungsstufen einer objektiven ‚Rationalität’ verwechselt“.

So wurde beispielsweise „die positive, ‚rationale’ Funktion des MTM betont, da ‚der Techniker durch die Fertigungszeiten gezwungen ist, die Methoden zu untersuchen’“. [S. 18] (Panzieri zitierte an dieser Stelle den CGIL-Funktionär Silvio Leonardi.)

MTM steht für methods-time measurement (deutsch meist als „Arbeitsablauf-Zeitanalyse“ übersetzt). Bei dieser Methode werden die für einzelne Arbeitsvorgänge benötigten Zeiten gemessen, tabellarisch erfasst und auf dieser Grundlage dann Planvorgaben für bestimmte Fertigungsschritte gemacht. Die Zielsetzung solcher Maßnahmen – die größtmögliche Verdichtung der Arbeitszeit – war eigentlich offensichtlich. Das hinderte Gewerkschaftsfunktionäre wie Silvio Leonardi aber nicht daran, in jeder derartigen Maßnahme der Unternehmer einen weiteren Schritt in Richtung Sozialismus zu sehen.

Panzieri hatte dafür nur beißenden Spott übrig: „Man hegt nicht den leisesten Verdacht, dass der Kapitalismus die neue ‚technische Basis’, die der Übergang zum Stadium der fortgeschrittenen Mechanisierung (und der Automatisierung) ermöglicht hat, dazu ausnutzen könnte, um die autoritäre Struktur der Fabrikorganisation zu verewigen und zu konsolidieren. Der ganze Industrialisierungsprozess ist nämlich angeblich von der ‚technologischen’ Zwangsläufigkeit beherrscht, die zur Befreiung ‚des Menschen von den Schranken führt, die ihm seine Umwelt und seine physischen Möglichkeiten auferlegen’.“ [S. 19]

Panzieri dagegen betrachtete (ähnlich wie Marx) das „Maschinensystem“ der Fabrik vor allem als Herrschaftsinstrument: „Im Kapitalismus werden nicht nur die Maschinen, sondern auch die ‚Methoden’, die Organisationstechniken, usw., dem Kapital einverleibt und den Arbeitern als Kapital, als ihnen fremde ‚Rationalität’, gegenübergestellt. Die kapitalistische ‚Planung’ setzt die Planung der lebendigen Arbeit voraus“. [S. 21] Indem er so die Rolle der Planung für die kapitalistische Wirtschaft hervorhob, leistete Panzieri sich gleich noch einen weiteren Verstoß gegen die marxistisch-leninistische Orthodoxie, für die „Planung“ und „Sozialismus“ ein und dasselbe waren.

So widersprach er energisch allen Hoffnungen, die technische Entwicklung würde schon von allein den geschichtlichen Fortschritt mit sich führen. Es gebe „keinen ‚objektiven’, verborgenen Faktor, der dem technischen Fortschritt oder der Planung in der spätkapitalistischen Gesellschaft immanent ist und die ‚automatische’ Transformation oder den ‚notwendigen’ Umsturz der bestehenden Verhältnisse gewährleistet.“ [S. 17] Nur durch die Auflehnung der Arbei­ter_innen könne der Kapitalismus überwunden werden, und diese Überwindung geschehe „nicht als Fortschritt, sondern als Bruch, nicht als ‚Enthüllung’ der verborgenen Rationalität, die dem modernen Produktionsprozess innewohnt, sondern als Schaffung einer vollkommen neuen Rationalität, die im Gegensatz zu der vom Kapitalismus praktizierten Rationalität steht.“ [S. 21]

In theoretischer Hinsicht war das ein wichtiger Schritt nach vorne, auch wenn Panzieris Analyse in vielen Punkten noch reichlich holzschnittartig blieb. Die Untersuchungen in den Fabriken, wie sie die Aktivist_innen der Quaderni Rossi 1961 begannen, sollten bald ein weitaus widersprüchlicheres Bild ergeben… Aber dazu mehr im nächsten Teil.

justus

(1) Raniero Panzieri: „Sieben Thesen zur Frage der Arbeiterkontrolle“, Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10 (1989), S. 171ff.
(2) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005, S. 31.
(3) Confederazione Generale Italiana del Lavoro, während des 2. Weltkriegs mit Unterstützung der kommunistischen, sozialistischen und christdemokratischen Parteien gegründet, um 1960 aber vor allem der PCI nahe stehend.
(4) Eine lebendige Beschreibung der Ereignisse findet sich bei Danilo Montaldi: „Italien, Juli 1960“, in Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 18.
(5) Online unter www.wildcat-www.de/thekla/07/t07panzi.htm zu finden. Die oben angegebenen Seitenzahlen folgen denen der deutschen Übersetzung in Claudio Pozzoli (Hg.): „Spätkapitalismus und Klassenkampf – Eine Auswahl aus den Quaderni Rossi“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1972.
(6) Diese Haltung hat in der sozialdemokratisch-bolschewistischen Linken eine lange Tradition. Symptomatisch dafür ist z.B. eine Äußerung Lenins aus dem Jahre 1918 über die Vorzüge der „wissenschaftlichen Arbeitsorganisation“. Diese vereinige in sich „die raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung und eine Reihe wertvollster wissenschaftlicher Errungenschaften in der Analyse der mechanischen Bewegungen bei der Arbeit, der Ausschaltung überflüssiger und ungeschickter Bewegungen, der Ausarbeitung der richtigsten Arbeitsmethoden, der Einführung der besten Systeme der Rechnungsführung und Kontrolle usw.“ zu bieten habe, und folgerte: „Die Sowjetrepublik muss um jeden Preis das Wertvolle übernehmen, was Wissenschaft und Technik auf diesem Gebiet errungen haben.“ Vergleiche dazu auch Angelika Eb­­bing­haus, „Taylor in Russland“, www.grund­risse.net/grundrisse26/TaylorinRussland.htm
Weitere verwendete Literatur:
Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 10 (1989). Online ist der Text unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm zu finden.
„Raniero Panzieri – Notizen zur Biographie“, www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/panzieri_biographisches.htm

Theorie & Praxis

Die anarchistische Bewegung in Japan: 1905 bis 1936

In den drei Jahrzehnten von 1905 bis 1936 hatten die anarchistischen Gedanken und Aktivitäten ihre Blütezeit in Japan. Trotz starker staatlicher Zensur und Repression verbreiteten sie sich seit 1905 so sehr, dass die „Landesweite Libertäre Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai) eine Mitgliederzahl von bis zu 15.000 Personen aufweisen konnte. Schließlich wurde die anarchistische Bewegung in Japan jedoch durch innere Zerwürfnisse ebenso wie durch noch stärkere Unterdrückung durch den militaristischen Staat im Zweiten Weltkrieg nahezu dem Erdboden gleich gemacht.

In diesem Artikel will ich diese Entwicklung des Anarchismus in Japan möglichst prägnant aufzeigen. Angefangen bei der Entstehung der anarchistischen Bewegung aus der Spaltung der sozialistischen werde ich die Eckpfeiler des Anarchismus in Japan näher beleuchten: Die Ära der Volksunruhen, die geplante Ermordung des japanischen Kaisers und die sich daran anschließende „Winterzeit“ für die radikale Linke, die Reisunruhen mit Hunderttausenden von DemonstrantInnen, die jedoch weniger von anarchistischen oder anderen radikalen AktivistInnen, als vielmehr von der Bevölkerung Japans an sich getragen wurde, die Zusammenarbeit und der Bruch mit bolschewistischen Kommu­nistInnen, die Krise zwischen „reinen“ und syndikalistischen Anar­chistInnen und schließlich die fast endgültige Zerschlagung der Bewegung durch den Staat.

Anarchistischer Syndikalismus, anarchistischer Kommunismus und anarchistischer Terrorismus

Diese drei Strömungen des Anarchismus waren zu unterschiedlichen Zeitabschnitten der hier thematisierten drei Jahrzehnte vorherrschend in Japan. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung von Parlamentarismus und allgemeinem Wahlrecht als unzureichend für eine tatsächliche und radikale Veränderung der Gesellschaft. Als einzige Möglichkeit, wirklich etwas zu erreichen und zu verändern, betrachtete man die Direkte Aktion. (1)

Der anarchistische Syndikalismus hatte seine Blütezeit in den späten 1910er und frühen 1920er Jahren, vor allem unter dem Anarchisten Ôsugi Sakae. Er betonte die Notwendigkeit, die ArbeiterInnen in Gewerkschaften (Syndikaten) zu organisieren, die für ihn nicht nur das geeignete Mittel für ökonomische Aktionen waren, sondern auch ein Mikrokosmos, in dem die Lebensweise der idealen zukünftigen Gesellschaft schon jetzt verwirklicht werden könnte. Ökonomische Aktionen, wie z.B. Streiks, schätzte er vor allem, weil durch sie die ArbeiterInnen ihre eigene Stärke erkennen und weiterentwickeln könnten. (2)

Die Theorie der anarchistischen Kommu­nistInnen in Japan, die sich selbst „reine“ AnarchistInnen nannten, basierten vor allem auf den Schriften Kropotkins. Sie lehnten den syndikalistischen Ansatz ab, da er sich zu sehr auf die (noch) kleine Gruppe der ArbeiterInnen konzentriere. Wirklich revolutionäres Potential hatten für sie, wegen ihrer großen Anzahl und ihren kaum zumutbaren Lebensbedingungen, nur die BäuerInnen. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land wurde als Hauptwiderspruch des Kapitalismus betrachtet. Für die Durchführung der Revolution sahen die „reinen“ Anar­chistIn­nen eine Kooperation von Bäu­erInnen und ArbeiterInnen in der Stadt zwar als unerlässlich an, doch für sie konnte die Revolution erst dann als erfolgreich beendet gelten, wenn das Leben in der Stadt zugunsten von bäuerlichen und klein-industriellen Kommunen aufgegeben worden war. (3)

Die zahlenmäßig kleinste Gruppe von anarchistischen TheoretikerInnen und AktivistInnen, aktiv vor allem in den Jahren 1909-11, waren diejenigen, die Anschläge gegen Staatsgebäude und auch Autoritätspersonen der herrschenden Verhältnisse favorisierten. Die bedeutendsten unter ihnen waren Kôtoku Shksui und Uchiyama Gudô. Uchiyama konzentrierte sich in seiner Theorie vor allem auf den japanischen Kaiser, dessen Göttlichkeit er anzweifelte. Kôtoku hingegen wollte die Revolution mit Gewaltakten einer kleinen Gruppe von 40-50 Revolutionären gegen staatliche Gebäude und Verant­wortungs­trägerInnen einleiten. Dies sollte die Bevölkerung dazu inspirieren, sich gegen die Missstände und die Unterdrückung zu erheben. (4)

Kôtoku Shûsui und der Beginn des Anarchismus

Als Startpunkt für die anarchistische Bewegung in Japan wird häufig das Jahr 1905 angegeben. In diesem Jahr schrieb Kôtoku Shûsui , Sozialist und Mitherausgeber der anti-militaristischen Zeitung Heimin Shimbun, aus dem Gefängnis an seinen amerikanischen Freund, den Anarchisten Albert Johnson:

Ich habe eine Menge dieser sogenannten „Kriminellen“ gesehen und studiert und kam zu der Überzeugung, dass nur die staatlichen Institutionen – Gericht, Gesetz, Gefängnis – verantwortlich sind für sie – Armut und Kriminalität … In der Tat, ich bin als marxistischer Sozialist [ins Gefängnis] gegangen und zurückgekehrt als ein radikaler Anarchist.“ (5)

Die anarchistische Bewegung in Japan entstand aus einer zweifachen Spaltung der selbst noch relativ jungen sozialistischen Bewegung. Als am 20. Mai 1901 die Sozialdemokratische Partei Japans (shakai minshutô) gegründet wurde, waren alle Mitglieder bis auf eines (Kôtoku Shûsui) christlich. Tatsächlich hatten christliche Ideen in der sozialistischen Bewegung in Japan einen so starken Einfluss, dass Kôtoku 1903 missbilligend schrieb:

In Japan wird Sozialismus lediglich als ein Produkt des Christentums angesehen, oder als sein Anhängsel. Die Men­schen gehen sogar so weit zu glauben, dass ‘sozialistisch’ gleichbedeutend mit ‘christlich’ ist.“ (6)

Die christlichen Ideen waren für die japanischen SozialistInnen vor allem wegen ihres „die Ländergrenzen überschreitenden Kosmopolitismus” und ihres „sämtliche irdische Autoritäten missachtenden Libertarismus“ (7) so attraktiv. Mit dem Beginn des Russisch-Japanischen Krieges 1904 brachen viele Sozialist_innen mit den Christentum, da sich die ChristInnen der allgemeinen nationalistischen Euphorie hingaben, wohingegen der größte Teil der SozialistInnen eine anti-militaristische, pazifistische Haltung einnahm. Ein Jahr später spaltete die sozialistische Bewegung über inhaltliche Fragen, wie z.B. die der freien Liebe, endgültig in eine christliche und eine nicht-christliche Strömung.

Die Anti-Kriegs-Haltung vieler Sozial­ist­Innen, wie sie unter anderem auch in der sozialistischen Zeitung Heimin Shimbun teilweise äußerst radikal ausgedrückt wurde, blieb von staatlicher Seite nicht ungestraft. Durch staatliche Repression im Namen der damals drakonischen Pressegesetze wurde die Zeitung dazu gezwungen, ihre Herausgabe einzustellen, und zwei ihrer Herausgeber, Sakai Toshihiko und Kôtoku Shûsui, verbüßten mehr­monatige Haftstrafen. Während dieser Haftzeit geschah es, dass Kôtoku Shûsui sich dem Anarchismus zuwandte.

Die zweite Spaltung der sozialistischen Bewegung war jene in die Lager der ParlamentaristInnen und der Direkten AktionistInnen. Sie wurde ausgelöst durch eine Rede, die Kôtoku am 28.6.1906 hielt.

Amerikanische Einflüsse und die Abkehr vom Parlamentarismus

Obwohl Kôtoku sich in seinem Brief von 1905 selber als Anarchist bezeichnet, wurde diese Einstellung nicht sofort in seinen Theorien deutlich.

Bis dahin dem japanischen Kaiser (tennô) trotz der eigenen sozialistischen Neigungen immer loyal, überdachte Kôtoku im Gefängnis diese Auffassung und gelangte zu der Erkenntnis, dass der tennô als Dreh- und Angelpunkt der japanischen Staatsideologie und -maschinerie ein grundlegender Stützpfeiler des Kapitalismus ist. Er entschied, nach Beendigung seiner Strafe einige Zeit in den USA zu verbringen, um seine Kritik am Kaiser frei äußern zu können. Bei seiner Ankunft in Kali­fornien im Dezember 1905 propagierte Kôtoku, trotz seiner vorherigen Selbsteinschätzung als Anarchist, noch immer den Parlamentarismus. Kritik an diesem Ansatz wurde ihm vor allem von Mrs. Fritz, einer aus Russland emigrierten Anarchistin, aufgezeigt. Sie war es auch, die ihn mit den Ideen des anarchistischen Terrorismus in Berührung brachte und ihn von der Notwendigkeit des politischen Mordes an Regie­rungs­mitgliedern zu überzeugen versuchte.

Weit wichtigere Einflüsse waren jedoch zunächst die des anarchistischen Kommunismus und des anarchistischen Syndikalismus. Mit letzteren kam Kôtoku vor allem durch die damals frisch gegründete Gewerkschaft Indus­trial Workers of the World (IWW) in Berührung.

Im Juni 1906 kehrte Kôtoku nach Japan zurück. Auf seiner Begrüßungsfeier am 28. Juni stellte er die Frage, was durch Parlamentarismus jemals erreicht worden sei und was dadurch überhaupt erreicht werden könne. Das beste und einzige Mittel seien, wie er in dieser Rede ausführte, nicht Parlamentarismus und allgemeines Wahlrecht, sondern Direkte Aktionen und der Generalstreik. (8)

Nach dieser Rede versammelte sich um Kôtoku eine Gruppe radikaler Sozial­istInnen, die den Parlamentarismus ablehnten und Direkte Aktionen befürworteten.

Ära der Volksunruhen

In der Zeit von 1905 bis 1918 kam es in Japan immer wieder zu Demonstrationen, Unruhen und Aufständen der Bevölkerung, weshalb diese Epoche auch als „Ära der Volksunruhen“ (minshu sôjôki) bezeichnet wird. Zwei davon will ich kurz erwähnen:

1906 wurden im von der Nachkriegsrezession geplagten Japan nicht nur zur Finanzierung der kriegerischen Auseinandersetzungen die Steuern erhöht, sondern auch eine Preiserhöhung für die Nutzung der Straßenbahnen in Tôkyô angekündigt. Daraufhin kam es im Hibiya-Park in Tôkyô zu mehreren von gemäßigten und radikalen SozialistInnen organisierten Demonstrationen mit mehr als tausend TeilnehmerInnen, in deren Verlauf es auch zu Beschädigungen und Zerstörungen von Regierungsgebäuden und Straßenbahnen kam. Zahlreiche DemonstrantInnen wurden verhaftet, doch die Preiserhöhung konnte zumindest für einige Zeit aufgeschoben werden. (9)

1907 mündete in den Kupferminen in Ashio, Präfektur Tochigi, ein sich seit Jahren hinziehender Konflikt in gewaltsamen Ausschreitungen. In den 1880ern durch Furukawa Ichibe vom Staat gekauft, gelangten mit der Ausdehnung der Förderung der Mine immer mehr Abfälle in den Watarase-Fluss, wodurch ganze Landstriche verschmutzt und Reisernten in großem Maßstab zerstört wurden. Bereits in den 1890ern wurde das Problem mehrfach dem Parlament vorgetragen, und im Jahr 1900 versuchten tausend Repräsent­antInnen der betroffenen Bäu­erInnen ihren Sorgen mit einem Protestmarsch nach Tôkyô Luft zu machen. Der Marsch wurde fast direkt nach dem Aufbruch von Polizei und Militär zerschlagen und das Problem blieb weiterhin unbeachtet… Bis zum Februar 1907, als in einem gewalttätigen Aufstand von mehr als 3000 Minen­arbeiterInnen und Bäu­erInnen die Mine mit Feuer und Sprengstoff fast vollständig zerstört wurde. Die Aufständischen lieferten sich Kämpfe mit Polizei und drei Infanterie-Kompanien, die zur Niederschlagung des Aufstandes geschickt wurden, bevor sie sich der Übermacht des Staates ergeben mussten. (10) Dieser Aufstand war „der erste Ausbruch von Gewalt in großem Maßstab in der Geschichte der japanischen Arbeiterbewegung“. (11)

Hochverratsaffäre, Winterzeit, Rice Riots

In den Jahren 1909/10 radikalisierte sichein Teil der anarchistischen Bewegung um Kôtoku Shûsui zusehends. Kôtoku selber versuchte zu dieser Zeit, eine Gruppe von 40 bis 50 bedingungslosen und hartgesottenen Radikalen zu rekrutieren, die durch Gewaltakte eine „Revolution des Terrors“ initiieren würden:

Das wesentliche Merkmal der Revolution des Terrors sollte eine Gruppe sein, dazu bestimmt Ausbrüche von Unruhen herbeizuführen, die den unterdrückten Arbeitern signalisieren sollten, dass etwas getan werden könne, um die Verteilung von Reichtum und Gütern zu ändern. […] Die Revolution würde aus Akten des Terrors und der Gewalt gegen Regierungen bestehen, einschließlich der Benutzung von Bomben gegen Personen mit Verantwortung, Anschläge auf die Überbleibsel der Macht, besonders die Polizei und die Gerichte, Freilassung von politischen Gefangenen und die Ausgabe von Nahrungsmitteln aus den Lagerhäusern der Reichen. Diese Akte würden das Volke dazu inspirieren, sich zu erheben und andere Akte der Missachtung zu begehen, wodurch die Machtverhältnisse, die die Regierungen aufrechterhalten hatten, beendet werden würden.“ (12)

Gleichzeitig versuchten zwei Gruppen unabhängig voneinander (obwohl es durchaus Kontakt zwischen beiden gab) Mitglieder der kaiserlichen Familie zu ermorden. Uchiyama Gudô, der die allgemein angenommene Göttlichkeit des tennô anzweifelte, war der Meinung, dass der Welt durch die Ermordung des Kaisers gezeigt werden müsse, dass „das Blut des Kaisers nicht anders war als das Blut, das in den Adern des durchschnittlichen Japaners floss.“ (13) Im Jahr 1910 plante er die Ermordung des Kronprinzen.

In Tôkyô plante derweil eine Gruppe, an der neben anderen die anarchistische Terroristin Kanno Sugako maßgeblich beteiligt war, auf Grundlage von Uchiyamas und Kôtokus Theorie die Ermordung des tennô selbst durch einen Bombenanschlag. Es ist nicht vollständig geklärt, inwieweit Kôtoku Shûsui an diesen Plänen beteiligt war. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass er von der Herstellung der Bomben wusste und auch indirekt daran beteiligt war, indem er Kontakte zwischen einzelnen involvierten Personen herstellte. Weiterhin hatte er sich in Gesprächen mit den TerroristInnen zumindest theoretisch positiv über die Notwendigkeit der Ermordung des Kaisers geäußert, dies jedoch wohl nur sehr vage. Aus den endgültigen vorbereitenden Treffen, auf denen genau Pläne geschmiedet, Aufgaben verteilt und das Werfen von Bomben geübt wurde, hielt er sich jedoch wahrscheinlich raus.

Nichtsdestotrotz war Kôtoku, vor allem wegen seiner Bedeutung für die radikale linke Bewegung, das Hauptziel der polizeilichen Untersuchungen und letztendlich der Anklage, als sowohl die Anschlagspläne von Uchiyama und der Gruppe in Tôkyô, wie auch die Rekrutier­ungs­versuche Kôtokus aufgedeckt wurden. Was dann kam, war eines der bedeutendsten wie auch umstrittensten Gerichtsverfahren in der japanischen Geschichte: Zum ersten und einzigen Mal wurden Personen wegen eines Verstoßes gegen Artikel 73 (Verletzung oder Tötung des Kaisers und eines nahen Angehörigen, bzw. Planung desselben) angeklagt. 26 AnarchistInnen wurden vor Gericht gestellt, 24 von ihnen verurteilt, zwölf davon (darunter auch Kôtoku, Kanno und Uchiyama) zum Tode durch Erhängen. Umstritten ist das Verfahren vor allem deshalb, weil die Staatsanwaltschaft nur fünf der Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten tatsächlich stichfest nachweisen konnte. Somit ist es ganz offensichtlich, dass die Anklage vor allem dazu diente, die anarchistische Bewegung im Kern zu treffen. (14) Die Rechnung ging auf: 1911 begann die sogenannte „Winterzeit“ für radikale Linke, die Bewegung war zersplittert und wenn über­haupt nur marginal und im Untergrund tätig.

1918 wurde die Winterzeit gewissermaßen von unten, vom Volke selbst, gesprengt. Ausgehend von einem kleinen Fischerdorf in Toyama rollte eine Aufstandswelle über ganz Japan hinweg, die von Juli bis September 1918 andauerte. In 42 der 47 Präfekturen Japans gingen Schätzungen zufolge zwischen 700.000 und 10 Millionen Menschen unterschiedlichsten Alters, Einkommens und Bildungsstandes auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Hauptgrund für diese Aufstände waren die täglich steigenden Reispreise, die Reisspekulation und das Horten des Grundnahrungsmittels durch einige Händler, die versuchten aus der Inflation größtmöglichen Gewinn zu schlagen.

Man kann diese „Rice Riots“ jedoch genauer in vier Kategorien unterteilen: die in den Fischerdörfern (15), in den Städten (16), auf dem Land (17) und in den Kohleminen (18). Dieser Einteilung entsprechend gab es weitere thematische Schwerpunkt der Aufstände. In den Städten protestierte man unter anderem auch gegen die geringen Löhne der Arbeit­erInnen bei einem allgemeinen Wachstum der japanischen Wirtschaft und für mehr politisches Mitspracherecht, besonders auch für die ArbeiterInnen. Auf dem Land forderte man die Senkung der Abgaben der PachtbäuerInnen an die Grund­besitz­erInnen und mehr Rechte für die BäuerIn­nen gegenüber den GrundbesitzerInnen. Die Aufstände in den Kohleminen waren schwerpunktmäßig Arbeitskämpfe, wobei die MinenarbeiterInnen vor allem höhere Löhne und bessere (und vor allem sicherere!) Arbeitsbedingungen forderten. Gleichzeitig kämpften sie für das Recht, über diese beiden Punkte mit den Arbeit­geberInnen verhandeln zu dürfen, denn Gewerkschaften, ArbeiterInnen­be­weg­ungen, Arbeitskämpfe und -ver­hand­lungen waren seit 1900 durch das Polizeigesetz zur Wahrung des öffentlichen Friedens (chian keisatsu hô) verboten. Die Formen des Aufstands reichten von gewaltfreien Sitzblockaden und friedlichen Märschen über den Boykott der Verfrachtung von Reis für den Export und die Aneignung von Reis zu Preisen, die als gerecht erachtet wurden, bis hin zu zum Teil heftigen und blutigen Straßen- und Barrikadenkämpfe mit Polizei und Militär, bei denen 30 Aufständische getötet, unzählige verletzt und verhaftet wurden. Im Anschluss an die Rice Riots wurden landesweit 8185 Menschen wegen unterschiedlichster Vergehen vor Gericht gestellt. Doch die Aufstände wurden nicht durch staatliche Repression zerschlagen, sondern durch Preissenkungen für Reis und Hilfsmaßnahmen der Regierung.

Es ist nicht vollständig geklärt, ob und inwieweit radikale oder anarchistische AktivistInnen an den Aufständen beteiligt waren, doch die Wahrscheinlichkeit ist gering, da die Polizei schon im Voraus alle als radikal oder potentiell gefährlich eingeschätzten Personen in Gewahrsam nahm oder unter Hausarrest stellte. (19)

Kooperation und Bruch mit den KommunistInnen

Als 1917 in Russland die Revolution ausbrach, reagierte man in Japan enthusiastisch und freudig erregt. Sie wurde als „außerordentlicher Ansporn für Anarchisten in allen Ländern“ (20) und als effektive vereinigte Front von ReformistInnen und SozialistInnen aller Couleur betrachtet. Zu dieser Zeit noch machte u.a. der anarchistische Syndikalist Ôsugi Sakae keine Unterscheidung zwischen der anarchistischen Strategie und der der bolschewistischen KommunistInnen. Erst 1921, nachdem Ôsugi die Berichte von Emma Goldman und Alexander Berkman über die weiteren Vorgänge in Russland und auch in der Ukraine gegen die Machnowschtschina (eine anarchistische BäuerInnen- und Partisanenbewegung in der Ukraine, benannt nach dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno) verfolgt hatte, kam er zu der Einsicht, dass die anarchistische und die bolschewistische Ideologie nicht miteinander vereinbar sind. Die Publikation der anarchistischen und bolschewistischen Zeitung rôdô undô (Arbeiterbewegung, gegründet: Januar 1921) wurde im Juni 1921 eingestellt und die von Bolsche­wistInnen und AnarchistInnen gegründete „Union der Arbeitergewerkschaften“ (rôdô kumiai dômeikai) löste sich auf. Ein erneuter Versuch der Kooperation zwischen BolschewistInnen und Anar­chist­Innen in Form der „Landesweiten Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenko­ku rôdô kumiai sôrengô) scheiterte schon auf der Grün­dungs­versammlung an der Frage der Organi­sationsform: Föderalismus oder Zentralismus. Damit war auch die kurze Periode der Kooperation zwischen Bol­sche­wistInnen und Anarchist­Innen in Japan endgültig vorbei. (21)

Krise zwischen „reinen“ AnarchistInnen und anarchistischen SyndikalistInnen

Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war in Japan die Strömung des „reinen“ Anarchismus vorherrschend, deren AnhängerInnen sich dem Ziel verschrieben hatten, den Anarchismus von dem als „unrein“ betrachteten Syndikalismus zu befreien. Die „reinen“ Anar­chistInnen kritisierten am Syndikalismus vor allem drei Dinge: Erstens sei im Syndikalismus notwendig der Abfall zum Reformismus enthalten. Laut dem „reinen“ Anarchisten Hatta Shûzô sei dies in einer fehlenden einheitlichen Theorie des Syndikalismus begründet. Dass er Momente des „Marxismus“ (da Hatta selbst nie marxistische Texte gelesen hat, meinte er hiermit das, was in Russland unter dem Slogan „Marxismus“ realisiert wurde) und des Anarchismus miteinander vereine, zwei für Hatta gegensätzliche Theorien, sei die Schwäche des Syndikalismus und mache ihn anfällig für den Abfall in den Reformismus. (22) Zweitens setze er durch die Konzentration der Gewerkschaften auf einzelne Industriezweige die Arbeitsteilung und Austauschbeziehungen fort, die wirtschaftliche Ungleichheiten und somit Hierarchien reproduzieren würden. Drittens wäre die „künstlich geschaffene Orga­nisationstheorie“ der Syndikal­istInnen unnötig, da der Mensch sich ganz natürlich zu einer freien Assoziation von Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden würde, wie dies auch unter Tieren und als „primitiv“ angesehenen Menschen der Fall wäre. (23) Vor allem die Ablehnung von Austauschbeziehungen wurde von einigen „reinen“ Anar­chist­Innen soweit radikalisiert, dass die Autarkie der Kommunen über die „Luxus“-Bedürfnisse der Menschen gestellt wurden. Dies bedeutet u.a. auch, dass eine Kommune, die ein bestimmtes Gut (selbst wenn es sich um ein Gut wie künstliches Licht handelt) nicht produzieren kann, Alternativen dafür suchen oder ganz darauf verzichten müsse. (24)

Organisatorisch stellte sich diese Krise vor allem durch den Rückzug der anarchistischen SyndikalistInnen aus den beiden anarchistischen Bündnissen in den Jahren 1927/28 dar: dem Anfang 1926 mit ca. 700 Mitgliedern gegründeten „Bündnis der Schwarzen Jugend“ (kokushoku seinen renmei), kurz: kokuren, und der 1926 von 400 Delegierten aus 25 Gewerkschaften gegründeten „Landesweiten Libertären Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai), kurz: zenkoku jiren. Letztere hatte auf ihrem Höhepunkt eine vereinte Mitgliederzahl von 15.000.

Staatliche Repression und die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung im Zweiten Weltkrieg

Dabei konnte der Zeitpunkt für Streitigkeiten innerhalb der anarchistischen Bewegung kaum ungünstiger gewählt worden sein. Mit dem Einfall der japanischen Armee in die Mandschurei 1931 begann nicht nur eine Zeit der Aggression nach außen, sondern auch eine steigende Repression gegen alle Dissidenten innerhalb des Landes.

Die anarchistische Bewegung versuchte mittels dreier Strategien, sich dieser Repression zum Trotz am Leben zu halten:

Im Jahr 1934 kam es zur Wiedervereinigung der zenkoku jiren mit der anarchistisch-syndikalistischen „Landesweiten Konferenz der Libertären Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengô kyôgikai) zu einer großen, dezentralen anarchistischen Organisation, die jedoch deutlich reformistische Züge aufwies. Nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland kooperierte man dann zunehmend auch wieder mit Bol­schewistInnen und Sozial­demo­kratInnen. Doch die Repression stieg auf ein Maß an, wo Versammlungen binnen Minuten aufgelöst wurden, was eine Arbeit der zenkoku jiren nahezu unmöglich machte. (25)

Zweitens gründete sich im Februar 1931 die deutlich anti-syndikalistische „Assoziation der Landjugend“ (nôson seinen sha), die sich v.a. auf ländliche Gegenden konzentrierte. Diese Gruppe radikalisierte das Prinzip der Dezentralisierung bis hin zu der Frage, ob überhaupt noch eine Art verbindende Organisation zwischen den einzelnen Grüppchen nötig sei. Im Februar 1932 löste sich die Gruppe auf, teils aus strategischen Gründen, zum Teil aber auch nachdem mehrere Mitglieder nach einer Reihe von Raubüberfallen in Tôkyô zur Beschaffung von finanziellen Mitteln für die Revolution verhaftet worden waren. Im Oktober 1934 wurden vor einem Militärmanöver, an dem der tennô teilnehmen sollte, vorsorglich noch weitere anarchistische AktivistInnen verhaftet, besonders auch ehemalige Mitglieder der nôson seinen sha. (26)

Am 30.1.1934 wurde, drittens, die streng geheim gehaltene „Anarchistisch Kommunistische Partei Japans“ (nihon museifu kyôsantô) gegründet, die nie mehr als ein Dutzend handverlesener Mitglieder hatte. Diese Gruppe sah die derzeitige Situation als so bedrohlich an, dass sie es für gerechtfertigt hielt, bolschewistische Methoden anzuwenden und absoluten Gehorsam von ihren Mitgliedern zu verlangen, der die Hinterfragung von getroffenen Entscheidungen verbat.

Die Existenz der Partei wurde jedoch 1935/36 aufgedeckt und etwa 400 als solche bekannten AnarchistInnen wurden verhaftet. 1936 wurden erneut 300 AnarchistInnen verhaftet und obwohl letztlich nur wenigen führenden Mitgliedern der Partei und der nôson seinen sha der Prozess gemacht wurde, saßen viele der Verhafteten für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Gemeinsam mit den Medien wurde im ganzen Land eine anti-anarchistische Hysterie geschürt, die die Verbreitung von anarchistischen Gedanken unmöglich machte. 1936 löste sich auch die zenkoku jiren auf und die AnarchistInnen hatten kaum eine andere Möglichkeit, als sich ins Private zurückzuziehen und die Kriegsjahre abzuwarten. (27)

Ausblick: Anarchismus in Japan nach 1945

Nach dem Ende des Zweitens Weltkrieges musste die anarchistische Bewegung in Japan von Grund auf wiederaufgebaut werden. Dabei galt es, sowohl innere, als auch äußere Hindernisse zu überwinden. Vor allem der Konflikt zwischen anarchistischen SyndikalistInnen und „reinen“ AnarchistInnen war noch immer nicht überwunden. Im Jahr 1951 spaltete sich die 1946 gegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ (nihon anakisuto renmei) aufgrund eben dieses Konflikts in den „Japanischen Anarchistischen Verein“ (nihon anakisuto kurabu) der „reinen“ AnarchistInnen, der bis 1980 existierte, und die neugegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ der anarchistischen SyndikalistInnen, die 1968 aufgelöst und 1988 wiederbelebt wurde. Daneben gab es noch andere anarchistische Organisationen, keine von ihnen erreichte jedoch die Mitgliederstärke der Zeit vor dem Krieg.

Staatlich wurden Gewerkschaften und politische Linke zwar zuerst im Kampf gegen die politischen Rechten gefördert, doch spätestens mit Beginn des Kalten Krieges schlug diese Taktik ins Gegenteil um. Repräsentativ dafür ist die sogenannte „Red Purge“: Die Entfernung von politischen Linken aus öffentlichen Ämtern aufgrund einer politischen Strategie, die ursprünglich die ursprünglich gegen die Rechten gerichtet war, gegen 1950 jedoch ins Gegenteil gekehrt wurde. Gleichzeitig sorgten der langanhaltende wirtschaftliche Aufschwung Japans und ein bewusst propagiertes Konsum- und Mittel­stands­denkens für eine Ent­poli­tisierung eines Großteils der Bevölkerung. (28)

Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass es keine anarchistischen Aktivitäten oder Organisationen gab oder gibt. Außerdem bietet die zunehmende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse neuen Zündstoff für politische Ideen. Und besonders nach der Erdbeben- und Atomkatastrophe im März 2011 erlebt Japan einen Aufschwung der Protestkultur, der auch für politische Meinungsbildung nicht irrelevant sein dürfte.

Die weitere Entwicklung der anarchistischen und emanzipatorischen Bewegungen in Japan ist natürlich keineswegs isoliert, vielmehr betrifft sie alle, die sich für eine tiefgreifende Veränderung auf der gesamten Welt einsetzen.

kyon

(1) Vgl. Notehelfer, Fred G. (2010): Kôtoku Shûsui. Portrait of a Japanese Radical. Cambridge (Mass.); New York, Melbourne; Madrid; Cape Town; Singapore; São Paulo; Delhi; Dubai, Tokyo: Cambridge University Press, S.134
(2) Vgl. Stanley, Thomas A. (1982): Ôsugi Sakae. Anarchist in Taishô Japan. The Creativity of the Ego. Cambridge (Mass.); London: Harvard University Press, S.118
(3) Vgl. Crump, John (1993): Hatta Shûzô and Pure Anarchism in Interwar Japan. New York: St. Martin’s Press, S.63
(4) Vgl. Plotkin, Ira L. (1990): Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, S.29
(5) Nach: Notehelfer (2010), S.113. Alle Übersetzungen sind Übersetzungen der Autorin.
(6) Nach: Crump (1993), S.49
(7) Ôsugi Sakae, Jijôden: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/1273.html
(8) Vgl. Notehelfer (2010), S.134f
(9) Vgl. ebd. S.136f
(10) Vgl. ebd. S.65f, Crump (1993), S.141
(11) Notehelfer (2010), S.141
(12) Plotkin (1990), S.29
(13) Ebd. S.31
(14) Eine detaillierte Analyse des Falles (der auch alle hier verwendeten Informationen entnommen sind) liefert Ira L. Plotkin, Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, 1990.
(15) Vgl. Lewis, Michael (1990): Rioters and Citizens. Mass Protest in Imperial Japan. Berkeley; Los Angeles; Oxford: University of California Press, S.34-81
(16) Vgl. ebd. S.82-134
(17) Vgl. ebd. S.135-191
(18) Vgl. ebd. S.192-241
(19) Vgl. Lewis (1990); libcom.org/library/osugi-sakae-biography, libcom.org/library/1918-rice-riots-strikes-japan
(20) Ôsugi Sakae, Nihondasshutsuki: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/2582_20705.html
(21) Vgl. Crump (1993), S.39-42
(22) Vgl. Crump (1993), S.63
(23) Vgl. Crump (1993), S.101-103
(24) Vgl. ebd. S.143
(25) Vgl. ebd. S.159-171
(26) Vgl. ebd. S.172-180
(27) Vgl. ebd. S.181-185
(28) Vgl. www.spunk.org/texts/places/japan/sp001883/japchap3.html

Theorie & Praxis

Hilfe, wir werden bedroht!

Zur Versicherheitlichung der Lebenswelt

Die westliche Demokratie ist gefährdet und wir Deutschen sind besonders bedroht. Die Art der Bedrohungen sind dabei so vielfältig wie das Leben selbst: Allen voran sind natürlich all die bösen Islamisten eine Gefahr für uns, da sie vorzugsweise Terroranschläge in unserem Territorium ausführen und dabei das Leben unzähliger unschuldiger Zivilisten auszulöschen trachten. Auch der Klimawandel ist eine ernstzunehmende Bedrohung – man denke nur an die zunehmenden Umweltkatastrophen, die zu Flüchtlingswellen führen. Überhaupt, all die Migranten, die versuchen sich ein Leben in unserem Land aufzubauen, stellen eine enorme Sicherheitsgefahr dar. Würden sie alle reingelassen, dann wäre es natürlich vorbei mit dem deutschen Wohlstand, denn er müsste mit unzähligen Menschen geteilt werden. Aber auch öffentlich Fußball gucken ist heutzutage enorm gefährlich. Angesichts der unzähligen Hooligans im Stadion muss man dort ernsthaft um sein Leben fürchten. Dann gibt es noch die „gelbe Gefahr“ – also all die Chinesen, die unsere Industrie mit ihren billig produzierten Plagiaten und Textilien kaputt machen. Schlussendlich ist selbst der Hunger in Afrika eine ernstzunehmende Bedrohung für die Demokratie, den Wohlstand und die Sicherheit hierzulande: Denn er ist die Keimzelle für hoffnungslose Gestalten, die wahlweise zu fundamentalistischen Terroristen werden und Kriege anzetteln, oder Karriere als Piraten machen und unsere Handelsschiffe kapern (wie am Horn von Afrika), oder eben zuhauf illegal in ihren Booten übers Mittelmeer einreisen. Dagegen hilft nur eines: Den deutschen Wohlstand vereint mit allen Mitteln verteidigen – notfalls mit Gewalt!

Die obigen Worte klingen bitter nach und wecken sicher (zurecht) den Widerspruchsgeist des_der geneigten Leser_in. Viel bitterer ist jedoch die Erkenntnis, dass Facetten dieser Argumentation hierzulande allgegenwärtig sind und nicht nur medial produziert werden. Eine inhaltliche Debatte und Entgegnung ist zwar möglich, wird aber durch einen Aspekt enorm erschwert, den all diese unterschiedlichen Themen miteinander teilen: die Inszenierung als Bedrohung und Gefahr.

Nun ist der argumentative Umgang zur Entkräftung einer empfundenen „Gefahr“ ein recht zweischneidiges Schwert. Realistisch betrachtet ist diese meist schwer messbar oder nur statistisch erfassbar. Außerdem wird sie subjektiv ganz unterschiedlich wahrgenommen und dahinter steht ein menschliches Grundbedürfnis nach Sicherheit. Dieses Bedürfnis ist genau wie Gefühle: Ausdruck unseres Empfin­dens, existiert einfach und hat als solches seine Berechtigung. Dementsprechend lässt sich argumentativ oftmals auch kein „das ist doch falsch“ überzeugend formulieren. Wohl aber lässt sich darauf aufmerksam machen, dass in unserer Gesellschaft Sicherheitsgefahren und Bedrohungsszenarien diskursiv inszeniert werden. Wie und wo das geschieht und wem das am meisten nützt – davon handelt der folgende Artikel:

Sicherheit als Herrschaftsmittel

Bedrohungsszenarien erzielen ihre Wirkung – vor allem dann, wenn sie mit wiederkehrender Ausdauer formuliert werden. So wurde bspw. festgestellt, dass die Angst in der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen gestiegen ist. Allerdings ist die reale Gefahr, durch einen Terroranschlag ums Leben zu kommen, statistisch betrachtet 1.048 mal geringer, als durch einen Autounfall zu sterben (1). Trotzdem ist die Angst vor Terror ungleich höher als im Straßenverkehr – eine Angst übrigens, die vor dem 11. September 2001 offiziell gar nicht existierte, weil es den Diskurs um Terrorismus in der Form noch gar nicht gab (2). In Folge der „Terrorangst“ befürworten die meisten Menschen sogar die zugenommene Polizeipräsenz und Kame­ra­­dichte an Bahnhöfen etc. und empfinden verstärkte Kontrollen an Flughäfen weniger als Verletzung der Persönlichkeitsrechte, denn als notwendige Vorsichtsmaßnahme. Demgegenüber werden jedoch Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr (die v.a. in anderen Ländern gelten) gern als unsinnige Freiheitsbeschränkung deklariert und Fahren unter Alkoholeinfluss gilt nicht selten als Kavaliersdelikt. Wie kann es nun sein, dass ein statistisch betrachtet geringeres Sicherheitsrisiko (Terroranschlag) weitaus einschneidendere Einschränkungen der Freiheitsrechte zur Folge haben kann, als eine vergleichsweise viel größere Gefahr (Autounfall) je haben würde?

Nicht an diesem Beispiel, aber mit dieser Problematik bzw. dem gesellschaftlichen Sicherheitsdiskurs hat sich in den 90ern die Kopenhagener Schule, allen voran Barry Buzan und Ole Waever beschäftigt (3). Dabei haben sie aus konstruktivistischer Perspektive unter dem Begriff der „Versicherheitlichung“ (securization) ihre Beobachtungen zu einer Theorie formuliert, die zur kritischen Auseinandersetzung anregt. Sicherheit definieren sie dabei nicht als Bedürfnis oder Zustand, sondern als „Sprechakt“, der eine soziale Wirklichkeit konstruiert. Sie konstatieren, dass die Darstellung bestimmter Themen als Sicher­heits­problem oder Bedrohung diesen eine besondere, existentielle Aufmerksamkeit verleiht und eine Art Ausnahmezustand suggeriert, der außergewöhnliche Mittel und Maßnahmen dagegen rechtfertige. So beeinflusst die Kommunikation und der Diskurs die Realität, und führt als „Notwehr“ konstruiert zu einer „Dringlichkeitsaktion“, die nachhaltige Auswirkungen auf die Beteiligten hat. Themenfelder und Lebensbereiche zu „versicherheitlichen“ bedeutet also den gesellschaftlichen Diskurs dahingehend zu beeinflussen, dass er primär aus einer sicherheitspolitischen Perspektive geführt wird und dank einer Dramatisierung außergewöhnliche Maßnahmen durchgesetzt werden können. So wird bspw. das Thema Fußball zunehmend von der Debatte um Gewalt und die Gefahr durch Bengalos dominiert und dramatisiert. Als Folge davon lassen sich Maßnahmen wie z.B. Gesichtsscanner prima durchsetzen (siehe Artikel S. 4f).

Buzan und Weaver haben auch untersucht, wer derlei Sicherheitsdiskurse fördert und warum. Demnach sind es jene herrschenden Eliten aus der Politik und wichtige Entscheidungsträger anderer Bereiche, die sowohl den Einfluss besitzen, bestimmte Thematisierungen zu fördern, als auch ein Interesse an der Durchsetzung der „außergewöhnlichen Maßnahmen“ haben, um Kontrolle ausüben zu können.

Beispielhaft dafür ist die Migration, die gerne als mögliches Bedrohungsszenario oder Gefahr dargestellt wird. Damit werden nicht nur Abschiebungen, sondern auch Abschottungsmaßnahmen rund um Europa gerechtfertigt, durch die tausende Flüchtlinge jährlich ihr Leben verlieren. Historisch betrachtet ist das Phänomen der Migration jedoch so alt wie die Menschheit und hat vor allem zur Entwicklung selbiger enorm beigetragen. Als „Gefahr“ wurde sie vor allem erst mit der Durchset­zung der nationalstaatlichen Herrschaft und den damit verbundenen Grenzziehungen deklariert.

Überträgt man diese Theorieperspektive der Kopenhagener Schule noch auf das Terrorismus-Autounfall-Beispiel, erschließt sich (wenn auch nicht erschöpfend), warum die Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr vergleichsweise gering sind: Automobilverkehr wird nicht primär als Sicherheitsrisiko betrachtet, sondern vielmehr als positiver Wirtschaftsfaktor. Demgegenüber wird der Islam schon lange als Bedrohung und Feindbild inszeniert, seit 9/11 als Terrorismus kategorisiert und zur primären Sicherheitsgefahr hochstilisiert. Rechtfertigen lassen sich damit nicht nur innenpolitische Kontrollinstrumente, sondern auch kriegerische Interventionen. Weitere, z.B. wirtschaftliche Interessen müssen, mit Verweis auf den Terror, dann ja nicht mehr offengelegt werden.

Versicherheitlichung von Entwicklungspolitik

Auch jenseits dieser speziellen, recht neuen sozialkonstruktivistischen Betrachtungsweise lässt sich die Ausweitung der Sicherheitslogik auf diverse Themenfelder feststellen, wie bspw. auf die Entwicklungspolitik. Mit Hilfe des erweiterten Sicherheitsbegriffes, der sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges durchgesetzt hat, wurde zuerst die Landesverteidigung räumlich und inhaltlich entgrenzt. Das bedeutet, dass sich Sicherheitspolitik nicht mehr auf die Verteidigung territorialer Grenzen beschränkt, sondern heute „unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird“, wie es Verteidigungsminister Struck bereits 2002 formulierte. Inhaltlich werden auch globale ökonomische, ökologische oder soziale Probleme als Sicherheitsgefährdungen begriffen, denen präventiv begegnet werden „muss“. So gefährde bspw. die Armut (gerade in Ländern mit geringer staatlicher Souveränität) auch die Sicherheit in Deutschland, da diese zur „Keimzelle des Terrorismus“ würden oder „Flüchtlingswellen“ auslösen könnten. Damit werden nicht nur militärische Interventionen begründet, sondern zugleich originäre entwicklungspolitische Zielsetzungen und humanitäre Motivationen für die jeweiligen Herrschaftsinteressen des Westens vereinnahmt.

Doch die Akteure der staatlichen Entwick­lungs­­zusam­men­­arbeit öffneten zum Teil selbst Tor und Tür für diese Vereinnahmung und Ver­sicher­heit­lichung, denn sie nutzten in den 90ern wieder stark das „Sicherheitsargu­ment“, um nach Ende des Kalten Krieges nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken (4). Die innerstaatlichen Kriege in den 90ern, wie in Ruanda, Somalia und Ex-Jugoslawien ermöglichten der Entwicklungs­zu­sammen­arbeit dann in Verbindung mit sicherheitspolitischen Argumentationen einen erneuten Bedeu­tungs­zuwachs, angesichts der Debatten um humanitäre Interventionen und notwendige Krisenprävention. Aus zivilgesell­schaft­licher Initiative heraus wurde zudem der Begriff der „menschlichen Sicherheit“ geprägt, um damit eine höhere Aufmerksamkeit für entwicklungspolitische Themen, wie bspw. mangelhafte Ernährung, fehlende Gesundheitsversor­gung und soziale Ungleichheit einzufordern, die neben der physischen Gewalt das Leben jedes Menschen beeinträchtigen.

Doch die einst forcierte sicherheitspolitische Verbindung (die im Falle der „menschlichen Sicherheit“ nur semantisch, aber nicht der selbstbezüglichen Sicherheitslogik folgend ausgerichtet war) kam wie ein Bumerang zurück und frustet heute vor allem viele nichtstaatliche Akteure aus der Entwicklungszusammenarbeit und Friedenspolitik. Die beklagte sicherheitspolitische Vereinnahmung erfolgt vor allem im politischen Sprachduktus. Zum Beispiel wenn militärische Interventionen humanitär begründet werden, obgleich dies oftmals als Feigenblatt für viele andere Interventionsinteressen steht. Oder wenn Gelder für Armutsbekämpfung bereit gestellt werden, weil „wir“ sonst fürchten müssen, zu viele Flüchtlinge zu bekommen. Damit erfolgt eine Entsolidarisierung, die schon allein einem humanistischem Weltbild, welches auf das gleichwertige Leben aller Menschen rekurriert, widerspricht. Ganz abgesehen von der historischen Verantwortung, die der Westen angesichts der Kolonialgeschichte eigentlich zu tragen hätte.

Auch auf der Handlungsebene wird inzwischen zunehmende Versicherheit­lichung von NGOs beklagt, bspw. wenn, wie in Afghanistan geschehen, die Mittelvergabe für Entwicklungsprojekte an die Bereitschaft gekoppelt wird, mit der Bundeswehr zusammen zu arbeiten und Projekte nur in den Regionen gefördert werden, wo auch deutsches Militär zugegen ist (5). Auch das generell gestiegene entwicklungspolitische Engagement in Krisengebieten und sog. „gescheiterten Staaten“, steht symptomatisch für eine zunehmend sicherheitslogische Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit.

Blick in die Glaskugel

Die Vereinnahmung von Themenfeldern aus Wirtschaft, Umwelt, Politik und Gesellschaft als Sicherheitsthematiken hat bereits diverse, vielschichtige Auswirkungen, die hier nur angerissen werden können. Nimmt man dazu die Perspektive der Kopen­ha­gener Schule ein und schaut unter dem Aspekt der Versicherheitlichung auf unsere zukünftige Gesellschaft, wird das Bild jedoch noch düsterer. Denn dann werden wohl unverhältnismäßige, repressive, vom Staat ausgehende Maßnahmen weiter zunehmen. Innenpolitisch gibt es ja noch jede Menge Spielraum den Überwachungsstaat zu perfektionieren – ganz im Sinne des eigenen Schutzes, versteht sich. Außenpolitisch wird im Namen der Sicherheit auch heute schon fleißig interveniert und dies wahlweise als humanitärer Einsatz (zur Sicherheit der einheimischen Bevölkerung) oder als „Kampf gegen den Terrorismus“ (die Bedrohung) legitimiert. Der militärische Einmarsch in Mali, der bereits (zurecht) als zweites Afghanistan imaginiert wird, ist ein aktuelles, trauriges Beispiel hierfür. Aber auch da gibt es noch Spielraum, wie bspw. die steigenden Investitionen der EU in den Aufbau von Kampftruppen belegen. Die Rüstungsindustrie hierzulande wächst auch gern weiter. Die Aufrüstung des benachbarten Algerien mittels deutscher Waffenexporte ist ein gutes aktuelles Beispiel dafür, wie deutsche Wirtschaftsinteressen als sicherheitspolitische Notwendigkeiten verkauft werden – schließlich wolle man ja verhindern, dass sich der Krieg in Mali nach Norden (also Richtung EU) ausbreite (6).

Auch die Entwicklungszusammenarbeit könnte noch weiter versicherheitlicht werden, indem sie z.B. der Verteidigungspolitik untergeordnet würde. In der Folge gäbe es nur noch Mittel für Entwicklungshilfe, wenn sie direkten sicherheitspolitischen Nutzen hätte – oder die Soldaten würden ihre Arbeit gleich mit erledigen, um das Ansehen der Truppe in der Bevölkerung zu steigern. In Ansätzen ist dies leider heute schon keine realitätsferne Utopie und Einige sprechen bereits von einer Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit.

Wachsam sein

Leider lässt sich auf gesamtgesellschaftliche Diskurse nur schwerlich Einfluss nehmen, und die Möglichkeit, mittels des Sicher­heits­diskurses Maßnahmen zu legitimieren, die den Interessen der herrschenden Elite in die Hände spielen, wird es wohl noch so lange geben, wie es herrschende Eli­ten geben wird. Dennoch ist dies kein Ap­pell dafür, die Hände in den Schoß zu le­gen: Schließlich gibt es genügend Einzel­maß­nahmen, gegen die sich Mobilmachung lohnt. Wie beispielsweise die deutsche Unterstützung für den Mali-Einsatz oder die Waffenexporte, die nicht nur nach Al­gerien, sondern in die ganze Welt gehen.

Darüber hinaus lohnt es sich wachsam zu sein und Sicherheitslogiken dort zu hinterfragen, wo sie einem_r begegnen: im ganz banalen Alltag. Eine kritische Haltung ist zwar an sich noch kein Widerstand, wohl aber die Voraussetzung dafür. Und in der nächsten Diskussion um vermeintliche Bedrohungen, kann man mit dieser Haltung vielleicht auch jemanden mehr überzeugen, nicht alles zu schlucken, was da so gesellschaftlich suggeriert wird.

momo

(1) Die Zahl beruht auf einer amerika­nischen statistischen Erhebung. Derzufolge ist die Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben 12.571 mal und selbst von einem Polizisten erschossen zu werden 8 mal höher, als durch einen Terroranschlag ums leben zu kommen.
newsblaze.com/story/20090221100148tsop.nb/topstory.html
(2) Zwar wurde das Wort Terrorist auch bspw. für die RAF verwendet, allerdings hat sich ein Diskurs um Terrorismus erst mit 9/11 etabliert.
(3) Die sog. „Kopenhagener Schule“ bzw. Copenhagen school of security studies umfasst eine Gruppe von Wissenschaft­ler_innen, die sich aus konstruktivistischer Perspektive kritisch mit dem Phänomen Sicherheit auseinandersetzen. Begründer und prominente Vertreter dieser Denkrichtung sind Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde, deren (nachfolgend erläuterte) Theorie 1998 als Buch unter dem Titel „Security. A New Framework for Analysis“ erschien.
(4) Schon die „Erfindung“ von Entwicklungshilfe war sicherheitspolitisch motiviert und wurde während des Ost-West-Konfliktes dementsprechend genutzt: Gelder oder Leistungen wurden an (potentielle) Verbündete verteilt, um den eigenen Machtkorridor gegenüber dem Systemgegner auszubauen. Nach Ende des Kalten Krieges stand daher auch der Nutzen von Entwicklungshilfe zur Debatte, zumal sie auch (unabhängig vom Sicherheitskalkül) kaum auf „Erfolge“ verwiesen werden konnte.
(5) In dieser 2010 vom BMZ (Entwick­lungs­­minister Niebel) verfassten Ausschreibung, auch unter Afghanistan-Fazilität bekannt, werden jährlich 10 Millionen Euro für zivile Projekte von NGOs bereit gestellt, sofern diese im Sinne der „vernetzten Sicherheit“ kooperieren und sich regional auf die Gebiete der Bundeswehr konzentrieren. Viele NGOs kritisierten dies, u.a. der Dachverband VENRO:
www.venro.org/fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_2010/Home/Juli_2010/VENRO-Stellungnahmr_AFG-Fazilitaet_final.pdf
(6) Hintergründe zum Mali-Einsatz,siehe z.B. GWR 375, Januar 2013 & www.imi-online.de/

Theorie & Praxis

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 2)

Operaismus für Anfänger_innen (Teil 2)

Willkommen zum zweiten Teil unserer Operaismus-Reihe. Nachdem im letzten Heft vor allem die historischen Umstände behandelt wurden, unter denen sich der Operaismus als eigenständige Strömung der italienischen radikalen Linken entwickelte, soll dieser zweite Teil nun tiefer in die Materie einführen. Vor allem soll hier ein zentraler Angelpunkt der operaistischen Theorie und Praxis beleuchtet werden: das Projekt der „Arbeiteruntersuchung“. Und wir wollen uns einer Person widmen, ohne die diese Untersuchung und der Operaismus insgesamt wohl kaum zu denken wäre – Romano Alquati.

Rufen wir uns aber vorher kurz die Ausgangslage in Erinnerung: Um 1960 befand sich die traditionelle Arbeiterbewegung in Italien in einer tiefen Krise. Die großen Unternehmen – allen voran das Automobilunternehmen FIAT – hatten den Boom der Nachkriegszeit dazu genutzt, ihre Produktionsanlagen umfassend zu modernisieren. Mit der flächendeckenden Einführung der Fließbandfertigung ging auch eine weitgehende Dequalifizierung der alten Facharbeiterschaft einher, auf die sich traditionell die Macht der linken Parteien und Gewerkschaften stützte. Zugleich stellten die Unternehmen eine große Zahl an Arbeitskräften ein, die zu Anfang der 1950er Jahre noch meist aus Norditalien stammten. Gegen Ende des Jahrzehnts kamen diese jungen Arbeiter_innen aber vor allem aus dem agrarisch geprägten, verarmten Süden des Landes in die Industriestädte des Nordens. Sie waren auch die treibende Kraft hinter den neuen Konflikten in den Fabriken, die sich ab 1959 zu regen begannen.

1961 wurde in Turin die Zeitschrift Quaderni Rossi (Rote Hefte) gegründet. Die treibende Kraft war dabei Raniero Panzieri, ein langjähriges Mitglied der sozialistischen Partei PSI (mit ihm haben wir uns im letzten Heft ausführlich beschäftigt). Panzieri erkannte klarer als viele seiner Genoss_innen, dass die Institutionen der Linken weitgehend den Bezug zu den Arbeiter_innen verloren hatten. Um wirksam in die aktuellen Konflikte eingreifen zu können, hielt er vor allem eine eingehende Untersuchung der Verhältnisse in den Fabriken für nötig.

Die Arbeiteruntersuchung

Die Durchführung einer solchen Untersuchung war das gemeinsame Ziel, das die Redaktion der Quaderni Rossi verband. Freilich vertraten die Aktivist_innen dabei durchaus widersprüchliche Vorstellungen und Konzepte. So wollte z.B. ein Teil der Redaktion vor allem „neutrale Wissenschaft“ nach dem Vorbild der amerikanischen Industriesoziologie betreiben. Ein anderer hatte es vor allem darauf abgesehen, die Politik der PCI (der kommunistischen Partei) zu beeinflussen und in eine kämpferischere Richtung zu lenken. Und die Turiner Mitglieder der Metallgewerkschaft FIOM, welche das Projekt anfänglich unterstützten, suchten ihrerseits vor allem einen Ausweg aus der Sackgasse, in die die Gewerkschaftspolitik geraten war.

Panzieri versuchte zwischen diesen widerstreitenden Interessen so gut wie möglich zu vermitteln. Seine eigene Konzeption der Untersuchung war eher orthodox und ging von einem recht statischen Verhältnis von Klasse und politischer „Avantgarde“ aus – auf der einen Seite sollte die Untersuchung das Klassenbewusstsein der Arbeiter_innen fördern und zugleich Informationen liefern, auf die sich die weitere politische Arbeit stützen könnte (1).

Das Konzept der conricerca, wie Romano Alquati es später entwickelte, griff da schon beträchtlich weiter aus. Schon im Begriff selbst – conricerca lässt sich wörtlich etwa als „Mituntersuchung“ übersetzen – steckt bereits eine Kritik der gängigen Industriesoziologie. Die Untersuchung, wie Alquati sie sich vorstellte, sollte keineswegs auf bloße Wissenschaft hinauslaufen. Die Arbeiter_innen sollten nicht als Forschungsobjekt angegangen, sondern vielmehr selbst zu Akteuren der Untersuchung werden. Zugleich sollte in der Untersuchung die Trennung von Theorie und Praxis, von Analyse und politischer Aktion überwunden werden. Die Theorie wurde selbst als dynamischer Bestandteil der angepeilten umstürzlerischen Praxis begriffen, wie Alquati betonte: „Wir erarbeiten unsere Hypothesen für Avantgarden, die den Kämpfen eine Richtung zu geben vermögen; nicht also für neue geschlossene und in ihrer ideologischen Reinheit isolierte ‚Gruppen’, sondern gerade für diejenigen, die •mit oder ohne Titel und Mitgliedsausweis •innerhalb oder außerhalb der Fabrik […] tatsächlich im Zentrum des Klassenkampfes stehen“. [S. 94] (2)

Die Vorgehensweise beschrieb Alquati an anderer Stelle so: „Man beginnt damit, sich anzuschauen, wie die Fabriken beschaffen sind, wie sie wirklich funktionieren, wie die Arbeiter sind, wie die Leitung ist. Man fängt an, den Begriff der Arbeiteruntersuchung zu verbreiten, die zusammen mit den Arbeitern von ihrem subjektiven Standpunkt aus gemacht wird. Eine auf Erkenntnis und Praxis zielende Untersuchung und Forschung, die darauf gerichtet ist, Kämpfe von unten und außerhalb oder oft gegen die vermittelnde Funktion der Parteien und Gewerkschaften auszulösen“ (3)

Prägend für Alquatis Konzept waren vor allem die Erfahrungen, die er in den 1950er Jahren in Cremona und dem dortigen Milieu der undogmatischen Linken gesammelt hatte. Alquati gehörte dort der Gruppe der so genannten „Barfuß-Forscher“ an, die sich um den unorthodoxen Kommunisten und Soziologen Danilo Montaldi sammelte. In vielerlei Hinsicht nahm Montaldi wichtige Aspekte der späteren „Arbeiteruntersuchung“ vorweg. Im Zentrum seines Interesses stand das Alltagsleben von marginalisierten Gruppen, etwa der armen Landbevölkerung, das er mit den Mitteln der oral history erforschte. Ebenso wichtig war seine Tätigkeit als Übersetzer. So übertrug er etwa die Schriften der amerikanischen Correspondence-Gruppe und der französischen Socialisme ou Barbarie ins Italienische – diese Gruppen hatten schon in den 50er Jahren Untersuchungen in den Fabriken durchgeführt. Sie boten damit ein direktes Vorbild für die italienischen Aktivist_innen, die Mitte 1960 mit einer ersten Untersuchung bei FIAT begannen.

Die „neuen Kräfte“

Ein erstes Ergebnis dieser Untersuchungen war der Bericht über „Die ‚neuen Kräfte’ bei FIAT“. Alquati trug diesen zunächst im Januar 1961 bei einem Kongress der PSI vor. Wenig später wurde der Text in der ersten Ausgabe der Quaderni Rossi abgedruckt. Der Bericht beruhte vor allem auf Interviews mit Arbeiter_innen und Mitgliedern der Gewerkschaft – von einer besonders „operaistischen“ Untersuchungsmethode konnte dabei also noch nicht die Rede sein. Auch in seiner Analyse blieb der Text weitgehend an der Oberfläche, Alquati beschränkte sich auf die Beschreibung und die Wiedergabe dessen, was ihm seine Interviewpartner berichteten. Über diese Unzulänglichkeiten war sich auch Alquati im Klaren. So qualifizierte er den Text im Nachhinein (in einem Brief vom September 1971) als Ergebnis „einer persönlichen journalistischen Untersuchung“. (4)

Dennoch regte der Bericht große Debatten an. Ganz nebenbei zerlegte Alquati mit seinem Bericht einen zentralen Glaubenssatz der alten Arbeiterbewegung – die Überzeugung, dass es einen notwendigen Zusammenhang von „Klassenbewusstsein“ und „Organisation“ gebe –, indem er nachwies, dass gerade die jungen, weder gewerkschaftlich noch parteilich organisierten Arbeiter_innen es waren, welche die neuen Klassenkämpfe in der Fabrik vorantrieben.

Ab 1949 hatte bei FIAT eine Phase der „Rationalisierung“ begonnen. Insbesondere durch die Einführung neuer „Spezialmaschinen“, die keine oder nur sehr kurze Einarbeitungszeiten brauchten, trieb die Unternehmensleitung eine groß angelegte Neuzusammensetzung der Arbeiterschaft voran. Die spezialisierten Facharbeiter wurden innerhalb des Werks in andere Abteilungen versetzt bzw. entlassen und durch junge und meist ungelernte Arbeitskräfte ersetzt. Dies ging weitgehend problemlos, da sich FIAT durch vergleichsweise hohe Löhne und in Aussicht gestellte Karrieremöglichkeiten ein neues Image als „Arbeiterparadies“ schaffen konnte.

Die vermeintlichen Aufstiegschancen erwiesen sich jedoch bald als Illusion. Die Löhne stagnierten auf lange Sicht. Die Beschäftigten an den Montagebändern und die jungen Techniker erkannten bald, dass die von FIAT angebotenen „Qualifikationen“ wertlos waren und keineswegs zum Aufstieg in eine höhere Lohngruppe führten oder eine erfüllendere Tätigkeit mit sich brachten.

Die jungen Arbeiter_innen hatten von vornherein wenig Bezug zu den linken Parteien und Gewerkschaften, und da deren Politik kaum einen Bezug zu ihren Alltagsproblemen hatte, blieb diese Distanz bestehen. Alquati schrieb: „Wir können heute beobachten, dass die jungen Arbeiter zwar die Richtigkeit der Gewerkschaftsforderungen anerkennen, dass aber dann selbst diejenigen von ihnen, die in der Fabrik am engagiertesten für eine Wiederaufnahme der Arbeiterkämpfe arbeiten, sich regelmäßig nicht etwa nur weigern, in die Gewerkschaft einzutreten […], sondern sich vor allem weigern, in irgendeiner Form organisatorische Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Organisation, die diese Forderung erhebt, tatsächlich Fuß fasst.“ Auch die Passivität der älteren Arbeitergeneration, bei der sich nach jahrelangen Rückschlägen und Niederlagen kaum noch Widerstand regte, wirkte abschreckend auf die jungen Arbei­ter_innen und verstärkte deren ablehnende Haltung gegenüber den Gewerkschaften: „Die jungen Arbeiter glauben nicht an die vorhandenen Mittel zur Durchsetzung der Forderungen, denn sie erkennen darin jene Mittel wieder, die zur Integration der alten Arbeiter geführt hatten.“ [S. 79f.]

Die Gewerkschaften waren unfähig, sich aus sich selbst heraus zu erneuern. Jene ihrer Mitglieder, die sich ernsthaft um Kontakt zu den „neuen Kräften“ bemühten, steckten damit in einem Dilemma – „auf der einen Seite ist eine Erneuerung notwendig, um die jungen Arbeiter anzuziehen, auf der anderen Seite ist eine Erneuerung nur möglich, wenn die jungen Arbeiter selbst kommen und die Organisation erneuern.“ [S. 80]

Untersuchung bei OLIVETTI

Während der Bericht über FIAT auf einem „journalistischen“ Alleingang Al­quatis beruhte, ergab sich wenige Monate später die Möglichkeit, eine wirkliche kollektive Untersuchung durchzuführen. Ort des Geschehens war das Werk des Unternehmens OLIVETTI (die Firma produzierte vor allem Rechen- und Schreibmaschinen) in Ivrea, einer etwa 70 Kilometer nordöstlich von Turin gelegenen Stadt.

Alquati selbst beschrieb den zeitlichen Ablauf der Untersuchung bei OLIVETTI so: „Es waren zunächst zwei Genossen, die mit dieser Arbeit begonnen haben, dann arbeiteten hier etwas mehr als zehn Kader mit“ – bei den letzteren handelte es sich um Kader der örtlichen PSI, die die Untersuchung unterstützten. Im Sommer 1961 wurden „über hundert Gespräche geführt. Damit war das erste Ziel erreicht: nämlich die Suche nach anderen, nichtorganisierten jungen Arbeitern und die Beteiligung einiger ganz junger Arbeiter, die bisher noch nicht politisch gearbeitet hatten; diese Arbeiter konnten jetzt selbständig die Arbeit weiterführen“ [S. 105].

Die Beschreibung stammt aus einem Text Alquatis über „Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI“, der in zwei Teilen in der Quaderni Rossi Nr. 2 und 3 abgedruckt wurde und die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasste. Dieses Dokument bietet ein gutes Beispiel der Konzepte und Begrifflichkeiten, die die Aktivist_innen entwickelten, um die komplizierten Verhältnisse und Konflikte in der Fabrik zu erfassen. Freilich würde es hier den Rahmen sprengen, diesen etwa 70 Seiten langen, oft recht kryptischen Text der Reihe nach durchzugehen. Ich werde im Folgenden ledig­lich einige zentrale Punkte erläutern.

Die Streiks der Jahre 1960 und 1961 waren zwar ein hoffnungsvolles Zeichen gewesen, hatten dabei die jungen Arbeiter_innen doch erstmals unabhängig die Initiative ergriffen. Aber zugleich waren diese Kämpfe beschränkt geblieben und gerade die Arbeiter_innen der größten Werke hatten sich kaum daran beteiligt.

Welche Möglichkeiten gab es nun, diese Isolation zu überwinden? Um das zu beurteilen, war es notwendig, den Produktions­prozess im Ganzen zu untersuchen, die Verbindungen zwischen den Arbei­ter_in­nen und ihren Tätigkeiten eben­so in den Blick zu nehmen wie die bestehenden Hindernisse und Spal­tungs­linien.

Alquati ging davon aus, dass sich die sozialen Kämpfe keineswegs „spontan“ ergaben, sondern auf einer informellen, „unsichtbaren“ Organisation der Arbeiter_innen beruhten. Anzeichen dafür hatte er schon bei FIAT vorgefunden, und von dieser Ausgangsthese wurde auch die Untersuchung bei OLIVETTI gelenkt.

Von zentraler Bedeutung ist hier der Begriff der Kooperation. Anders gesagt: Im Produktionsprozess selbst sind die Arbeiter_innen bereits organisiert, nämlich durch das Kapital. Einerseits wird jede_r Arbeiter_in eine eng begrenzte Teilaufgabe im Gesamtprozess zugewiesen, zugleich aber müssen die Arbeiter_innen und ihre vereinzelten Tätigkeiten notwendig in Bezug zueinander treten, damit im Produktionsprozess tatsächlich ein verwertbares Produkt entsteht. Das Kapital kann nicht auf diese Kooperation der Arbeiter_innen untereinander verzichten. Diese ist ihrem Wesen nach ambivalent, einerseits eine Produktivkraft im Dienst des Kapitals, zugleich aber auch die Grundlage eines möglichen Widerstands.

Organisation, Plan und Kooperation

An diesem Punkt knüpfte Alquati an die Technologiekritik an, wie sie zunächst von Raniero Panzieri formuliert worden war (vgl. Teil 1 unserer Artikelreihe). Er zeichnete allerdings ein widersprüchlicheres Bild, indem er die Entwicklung der Maschinerie mit dem Verhalten der Arbeiter_innen in Beziehung setzte.

Mittels der Maschinerie war es der Unternehmensleitung möglich, auf die Kooperation der Arbeiter_innen Einfluss zu nehmen – bestimmte „Sachzwänge“ zu schaffen, Zeiten für bestimmte Arbeitsschritte vorzugeben und damit Druck auszuüben usw. Vor allem das Fließband spielte eine wichtige Rolle dabei, die verschiedenen Tätigkeiten „dem Niveau der kürzesten Arbeitszeit anzugleichen“ [S. 113]. Diese Kontrolle, wie sie in der Maschinerie selbst schon angelegt war, wurde durch die Methoden der „wissenschaftlichen Arbeitsorganisation“ (Analyse der Bewegungsabläufe, Zeitmessungen usw.) ergänzt.

Das ideale Ziel der Unternehmensleitung war ein Endzustand, in dem die Kooperation der Arbeiter_innen völlig über die Maschinerie vermittelt und von dieser bestimmt gewesen wäre – ein Zustand umfassender Kontrolle, in dem die von oben kommenden Befehle umstandslos erfüllt wurden und das Management stets genau informiert war, was an jedem Teilabschnitt vor sich ging.

Dieses Ideal ließ sich freilich nicht realisieren. So lief die technische Entwicklung nicht einfach auf eine stetig wachsende „Dequalifizierung“ oder eine immer stärkere Unterwerfung der Arbeiter_innen unter die Maschinerie hinaus. Zwar wurden diesen in der Tat bestimmte Entscheidungskompetenzen genommen. Dieser Prozess lief aber keineswegs darauf hinaus, die Arbeiter_innen insgesamt auf den Stand von „Affen“ oder „Automaten“ zu reduzieren, wie es die gängige linke Kritik befürchtete. Letztlich wurden gerade die gleichförmigen Routinebewegungen auf die Maschinerie übertragen, während die Arbeiter_innen vor allem jene Aufgaben übernehmen mussten, die bewusste Aufmerksamkeit verlangten. Tatsächlich waren auch die „unqualifizierten“ Arbeitskräfte am Fließband ständig zur Improvisation und zur schnellen Entscheidungsfindung gezwungen, übten also keineswegs nur eine rein „ausführende“ Tätigkeit aus (5).

Das war natürlich nicht unbedingt eine Verbesserung: Die körperliche Anstrengung wurde durch die Technik verringert, aber dafür kamen neue, vor allem nervliche Belastungen hinzu, die auf Dauer ebenso zermürbend waren – zumal die Arbeitszeit stetig verdichtet und den Beschäftigten immer noch zusätzliche Aufgaben aufgebürdet wurden.

Zugleich machte Alquati bei seinen Gesprächen regelmäßig die Erfahrung, „dass die Arbeiter, die zunächst die gesamten konventionellen, offiziellen Mythen über die Organisation der Abteilung wiederholt hatten, am Ende schließlich so darüber urteilen: ‚Hier ist alles bis ins kleinste organisiert und festgelegt, und trotzdem gibt es noch zu viele wichtige Dinge, die bei der Arbeit nicht funktionieren. Wenn man sieht, wie minutiös man sich hier um eine Organisation kümmert, die dann doch nicht so funktionieren kann, dann könnte man fast auf den Gedanken kommen, dass bei OLIVETTI die organisierte Desorganisation studiert wird.’“ [S. 119]

Unter diesen Umständen konnten die Arbeiter_innen viele vorgegebene Planziele nur in eigenmächtiger Weise erreichen, indem sie die Arbeit neu unter sich verteilten, Vorschriften bewusst ignorierten usw. Die Planziele wurden erfüllt, aber ihre Umsetzung erfolgte in einer Weise, „die für die Betriebsspitze nicht zu erkennen ist“ – „der Kapitalist ist so gezwungen, immer wieder von vorne anzufangen und sich der Art anzupassen, wie der Arbeiter seinen Plan verwirklicht. Hier verbirgt sich in den Arbeitsverhältnissen eine tägliche Klassenauseinandersetzung“, wie Alquati erkannte [S. 129].

Dieser Konflikt äußerte sich vor allem als zäher Kleinkrieg: Die Arbeiter_innen versuchten sich die Arbeit zu erleichtern, ein paar freie Minuten zu gewinnen, während Management, Kontrolleure usw. ihrerseits versuchten, diese Lücken zu schließen und die Arbeitszeit so weit wie möglich zu verdichten.

Alquati beschrieb dies als Kreisbewegung mit folgenden Stationen: Zunächst wird eine neue Maschine eingeführt, was mit der Festsetzung einer vorläufigen neuen Arbeitsnorm einhergeht. Diese kann von den Arbeiter_innen zunächst nur in improvisierter, informeller Weise bewältigt werden. Nach und nach bilden sich dabei neue Handlungsroutinen und Fertigkeiten heraus, die dann wiederum als Ausgangsbasis für neue Planvorgaben dienen.

Die informelle Kooperation der Arbeiter_innen bildete so die Grundlage der technischen Erneuerung und Modernisierung. Zugleich erkannte Alquati in diesen Verhaltensweisen die ersten Ansätze einer möglichen „Arbeiterautonomie“ gegenüber dem Kapital. Die weitere technische Vereinheitlichung der Produktionsabläufe, so lautete seine These, würde mittelfristig auch zu einer Neuzusammensetzung der Arbeit­er_in­nenklasse und zu einer Ausweitung der bestehenden Konflikte innerhalb der Fabriken führen.

Es sollte sich rasch zeigen, dass Alquati mit dieser Prognose richtig lag. Im Sommer 1962 machte eine Welle von Streiks deutlich, wie groß die Entfremdung zwischen der Arbeiterschaft und der institutionellen Arbeiterbewegung inzwischen geworden war. Indem sie sich in diese Konflikte einmischten, gerieten die operaistischen Aktivist_innen rasch in Konfrontation mit der Gewerkschafts- und Parteibüro­kratie. Zugleich traten auch innerhalb der Redaktion der Quaderni Rossi die politischen Gegensätze offen zu­tage – eine Spaltung wurde unvermeidlich. Im selben Maße, wie die neuen autonomen Klassenkämpfe an Fahrt gewannen, gewann auch die operaistische Theorie an Eigen­ständigkeit und nahm genauere Konturen an. Aber dazu mehr im nächsten Heft.

justus

(1) So liest es sich jedenfalls in Panzieris Text über den „Sozialistischen Gebrauch des Arbeiterfragebogens“, in „Spätkapitalismus und Klassenkampf – Eine Auswahl aus den ‚Quaderni Rossi’“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1972, S. 105ff. Online ist der Text unter eipcp.net/transversal/0406/panzieri/de zu finden.
(2) Die Seitenzahlen in den eckigen Klammern folgen Romano Alquati, „Klassenanalyse als Klassenkampf – Arbeiteruntersuchungen bei FIAT und OLIVETTI“, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Rieland, Athenäum Fischer, Frankfurt a.M. 1974. Der Text „Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI“ ist als PDF unter www.wildcat-www.de/thekla/05/t05_oliv.pdf zu finden.
(3) Zitat nach Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002
(4) Zitiert nach Rieland/Alquati 1974, S. 29.
(5) Schon in seiner Untersuchung zu FIAT hatte Alquati bemerkt, dass die Qualifizierung nur dazu diente, „die Existenz hierarchischer Stufen zu verfestigen und unter den Arbeitern durchzusetzen, indem man diese Stufen mit einem ‚falschen’ Prestige ausstattet, dessen ‚Absurdität’ den neuen Arbeitern durchaus nicht entgeht. […] Das ganze System der Hierarchisierung hat sowohl innerhalb als auch außerhalb der Fabrik eine politische Funktion.“ Siehe Rieland/Alquati 1974, S. 77.
Weitere verwendete Literatur:
Emiliana Armano, Raffaele Sciortino, „Ciao Romano. Erinnerung an Romano Alquati“, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 3/2010, duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22662

Theorie & Praxis

Pjotr Kropotkin – Die Eroberung des Brotes

Heute leben wir Seite an Seite, ohne einander überhaupt zu kennen. An einem Wahltag treffen wir einander bei den Wahlveranstaltungen; dort hören wir das lügenhafte oder phantastische Wahlprogramm eines Kandidaten an und gehen wieder nach Hause. Der Staat hat die Aufsicht über alle Fragen von öffentlichem Interesse; er allein hat die Aufgabe, darüber zu wachen, dass wir nicht das Interesse unseres Nächsten verletzen und gegebenenfalls den Schaden wiedergutzumachen, indem er uns bestraft.“ [S. 45] (5)

 

Nachdem im letzten Heft der Klassenbegriff im Zentrum stand (der Diskurs wird auf S. 14/15 fortgesetzt), wollen wir in diesem wieder ein Schlaglicht auf die Geschichte und Ideen anarchistischer Theoriebildung werfen. Neben einem einführenden Exkurs sollen dabei in erster Linie Anregungen zur eigenständigen Beschäftigung geboten werden.

Wie bei vielen Anarchisten des 19. Jahrhunderts finden wir auch bei Pjotr Kropotkin, der zwischen 1842-1921 lebte, eine bewegte und von Höhen und Tiefen gekennzeichnete Biographie. Einer russischen Hochadelsfamilie entsprungen, diente er zuerst dem Pagenkorps Alexander des II., war dann mit dem Kosakenheer des Zaren in Sibirien unterwegs, bevor er Mathematik und Geographie in Moskau studierte. Durch seine geographischen. Arbeiten erlangte Kropotkin einige wissenschaftliche Reputation und von hieraus speist sich auch seine Vorstellung einer auf naturwissenschaftlicher Methodik fußenden Gesellschaftstheorie. Während seiner ersten Europareise knüpfte er Kontakt zur damals erstarkenden anarchistischen Arbeiterbewegung, ein Umstand, der sein sozialrevolutionäres Engagement weiter verstärkte. Nach seiner Festnahme und Inhaftierung (ohne Prozeß) 1874 und der späteren Flucht von der Peter-Paul-Festung, hatte die russische Tyrannei aus einem hochadligen „Gardeoffizier“ einen der glühendsten Verfechter der anarchistischen Bewegung gemacht. Wie viele der damaligen Anarchisten genötigt, ruhelos durch Europa zu ziehen (immer wieder verfolgt und verhaftet), findet er bei den Schweizer Uhrmachern aus dem Jura und den Tuchmachern aus Verviers (Belgien), damals dem Leitbild kommunaler Produktion und anarchistischer Organisation verpflichtet, immer wieder fruchtbares Asyl, um in Untersuchungen, Reisen, unzähligen Vorträgen, Zeitungsartikeln und Texten. sein Denken zu entfalten. Wie auch schon bei Proudhon, scheint der ganze Werkkorpus in wenig zufriedenstellender Form für die deutschsprachige Leserschaft aufbereitet. Was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass Kropotkin sowohl in russisch und französisch als auch deutsch und englisch schrieb. Ein Großteil der Artikelsammlungen ist vergriffen oder wird nicht mehr verlegt, auch sollen einige mehr schlechte als rechte Übersetzungen aus dem Französischen umherschwirren. Trotz alledem lassen sich, im Unterschied zu Proudhon die systematischen Eckpunkte der Philosophie Kropotkins ziemlich klar entdecken und beschreiben.

Gegenseitige Hilfe – ein Entwicklungsfaktor menschlicher Evolution

Laut Theoriegeschichte stellt der Ansatz Kropotkins den dar, den Anarchismus (natur-)wissenschaftlich zu begründen; Wie ist das zu verstehen? Im Streit mit dem damals heraufziehenden Sozialdarwinismus, der mit der Darwinschen Terminologie des „Kampfes ums Dasein“ die zeitgenössischen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung legitimierte, wollte Kropotkin die evolutionstheoretischen Ansätze Darwins vertiefen, die Idee der gegenseitigen Hilfe, wir sie schon bei Proudhon in Form des Mutualismus kennengelernt haben, verstärken, die Gegenseitigkeit zweifelsfrei als Entwicklungsfaktor der Evolution nachweisen und somit die Theorie Darwins umgewichten. Hinter diesen hehren Absichten indes versteckt sich im Wesentlichen das anarchistische Argument gegen die liberalen Staatstheorien: dass nämlich der Mensch immer schon in Gesellschaft ist und nicht aus dem Naturzustand (Krieg aller gegen alle) via Vertrag in eben diese eintritt. Kropotkin versucht nun einen solchen Naturzustand zu konstruieren, in welchen neben dem Selbsterhaltungstrieb auch ein „Sozialtrieb“ („Sozialinstinkt“) ambivalent angelegt ist. Dabei macht er ihn für die hauptsächlichste Anpassungsleistung des Menschen als Art verantwortlich. Kooperations- und Selbstbehauptungswillen prägen ein natürlich ambivalentes Feld, aus dem der zwischen Individuation und Sozietät schwankende Mensch erwächst. Ein sehr naturalistisches Weltbild, wenn man es mit dem „vernünftigen“ (1) seiner Zeit vergleicht. Aber ohne Zweifel, der liberale Naturzustand war durchbrochen, zugunsten einer sozialen (libertären) Natürlichkeit. Dadurch allerdings scheint die Trennlinie zwischen Natur und Gesellschaft merkwürdig verschoben: Ist es denn nicht natürlich, dass mensch Natur korrumpieren lässt? Kann mensch sich nicht via Vernunft gegenüber der Natur emanzipieren?

Unkritischer Idealismus

Der wissenschaftliche Idealismus, welcher Kropotkins Schriften prägt, ist so unkritisch, dass ihn nur sein Forscherethos und seine guten Ideen vor einer vernichtenden Kritik bewahren. Er übertrug Beobachtungen aus dem Tierreich auf das Verhalten von Menschen, verglich Physik mit Gesellschaftstheorie und proklamierte eine naturwissenschaftlich exakte Methode (2). Ein Positivist sondersgleichen! Und damit bei weitem nicht der einzige seiner Zeit. Aber dennoch einer der einflussreichsten Theoretiker des Anarchismus. Im Widerspruch von Inhalt und Form hat sich doch der Inhalt über die Zeit getragen. Ich lass´ ihn am besten selbst reden:

[Die anarchistische Gesellschaft] sucht die vollständige Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der unter allen Gesichtspunkten freiwilligen Verbindung für alle möglichen Stufen, für alle denkbaren Ziele: eine stets wandelbare Verbindung, die in sich selbst die Grundlagen für ihre Dauer trägt und die Formen annimmt, die in jedem Augenblick am besten den mannigfachen Bestrebungen aller entsprechen.“ (3)

Bei diesem Geschichtsidealismus wird auch deutlich, dass Kropotkins Untersuchungen und Studien keine kritische Geschichte der Idee der „gegenseitigen Hilfe“ darstellen. Geschichte ist für ihn empirische Forschung und dementsprechend nur die Suche nach Belegen für eine ‚richtige‘ These. Im Erkenntnissubjekt Pjotr Kropotkins verbinden sich empiristischer und idealistischer Geist zu einem Gemenge, aus welchem die Qualitäten der Texte (Subtexte) ihre innere Spannung entfalten. Der Charakter seiner Arbeiten ist wohl am ehesten mit dem Begriff ‚Anthropologie einer Idee‘ umschrieben. Sozietät ist immer vorausgesetzt. Kropotkin untersucht unsere Geschichte der Gesellschaftsformen, indem er formal freiheitliche (libertäre) von herrschaftlichen trennt. Dementsprechend findet sich bei ihm ein Geschichtsfaden, der die Horde, mit der Gemeinde, der freien Stadt und modernen Kommunen verbindet und ein zweiter, der von der Familie, dem Römischen Reich, der Römischen Kirche bis zu den Ausprägungen des modernen Staates im 16. Jahrhundert reichen soll. Kropotkins Schriftwerk ist voll von Parallelen und Vergleichen und in diesem Sinne lesenswert, weil sich die geneigte Leserin dem Glauben stärken kann, gegenseitige Hilfe sei zur kulturellen Ausprägung fähig. Und dass es so ist, dafür liefert Kropotkin viele gute Gründe, Beispiele und Anekdoten. Aber ist bei einem solchen unkritischen Idealismus die Vorstellung einer anarchistischen Gesellschaft überhaupt haltbar?

Anarchistischer Kommunismus

Aus den Wirren seiner Zeit, der Französischen Revolution und ihrer Nachbeben, dem krassen Elend vieler Menschen, der Ausbeutung und Unterdrückung trotz steigender Produktion, letztlich aus dem Organisierungswillen der ohnmächtigen Massen zog Kropotkin den Schluss, dass die nächste revolutionäre Phase auf jeden Fall kommen würde. Dabei kritisierte er die sozialistische bzw. marxistische Strategie vor allen Dinge dahingehend, dass sie sich immer auf Machtübernahme und Agitation zuspitzte, anstatt in den ersten Stunden der „Revolution“ vor allen Dingen an die Neuorganisation der stillstehenden Produktion, an die Versorgung der Bevölkerung mit Brot, Kleidung und Nahrung zu denken. Hier liegt seines Erachtens der Hauptgrund dafür, dass solche politischen Restrukturierungsprozesse immer wieder vor nennenswerten Erfolgen verebbten, von der Reaktion eingeholt wurden, der Rückhalt in der Bevölkerung sank. Um in solchen revolutionären Phasen eine freiheitliche anstelle einer herrschaftlichen Organisation zu etablieren, bedurfte es vor allen Dingen der sofortigen Expropriation (Enteignung), der Produktionsmittel, Produkte und des Bodens (Wohnraum) und damit einhergehend der Abschaffung jeder Entlohnung. Dabei denkt Kropotkin sehr konkret und schon in diesem Sinne ist sein Buch „Eroberung des Brotes“ (4) lesenswert. Gegen abstrakten Kollektivismus und zentralistische Bürokratie (wesentlich kritische Punkte des Staatssozialismus sind hier schon vorweggenommen) beharrt er auf lokaler Autonomie. Konkrete Bedürfnisse können nur in konkreten Verhandlungen, konkret befriedigt werden. Nach Kropotkins Meinung würde der revolutionäre Impuls eine Freiwilligkeit aufdecken, die zu einer verantwortlichen Neuorganisierung der kommunalen Strukturen in weitestgehend autonome Kommunen führen könnte, wenn man sie denn nur ließe. Dabei kommt sein von Idealismus durchdrungenes Menschenbild wieder zum Tragen. Der Mensch in seiner Ambivalenz von Egoismus und Geselligkeit, ließe sich schon zur Freiwilligkeit bewegen, würde er nur der individuellen und sozialen Vorteile ansichtig. Die Organisationsüberlegungen Kropotkins sind deshalb auch eher als Faustregeln formuliert. Ist es soweit, schließt euch zusammen, die einen werden schon Gefallen daran finden, die Warenhäuser einer Inventur zu unterziehen, andere die Wohnungen listen, dritte die Produktion in der Fabrik wieder aufnehmen, vierte aufs Land zu den Bauern fahren. Jeder bekommt das aus den Lagern, dessen er bedarf, gibt´s wenig, zu wird egalitär rationiert, gibt´s zu viel, deren Kommunen getauscht.

Dabei spielt bei ihm die friedliche, auf Freiwilligkeit beruhende Partizipation die größte Rolle. Will der olle Graf auf seinem Schloss hocken bleibt, soll er doch – seine Frau wird spätestens dann Terz machen, wenn niemand mehr gegen Lohn putzen kommt. Und wer sollte das tun, wenn es des Geldes nicht bedurfte, um an die existenzsichernden Güter zu gelangen? In Kropotkins Überlegungen zur Ökononomie einer solchen autonomen Kommune spielte vor allen Dingen die Ökonomie als Ökologie, auch der eigenen Körper eine zentrale Rolle. Handgreifliche und geistige Tätigkeit wechseln sich nach Bedarf des Individuums ab, Arbeitszeitverkürzung steht im Vordergrund. Es ist eher eine soziale als eine politische und eher eine kommunale als eine nationale Ökonomie.

Kropotkins Glaube an die ungeheuren Produktivkräfte seiner Zeit, an den technischen Fortschritt, an die zur Geselligkeit und gegenseitiger Hilfe fähige Natur des Menschen, sein tiefes Misstrauen gegen akkumulierendes (anhäufendes) Privateigentum, gegen das ausbeutende Lohnsystem, seine Inspiration durch die kreative, politische Aktivität seiner damaligen Zeitgenossen, beflügelte seine Gedanken hin zu den Vorstellungen einer Gesellschaftsform, in der der Mensch beides, Individuation (Konkurrenz) und Sozialität (Vertrauen), in Konflikt und Harmonie, freiwillig und friedlich, ohne systematisch physisches und psychisches Elend und Leid ausleben könnte. Eine Möglichkeit in einer Welt, in der an den weiten Rändern eines westlichen Horizontes, das physische Elend ertragen wird, während der „Zivilisierte“ im Zentrum sein psychisches Leid zum Psychiater schafft? Ein Idealismus ohne Zweifel, aber einer, für den es sich zu kämpfen lohnt!

Wenn Sie mit uns wollen, dass die völlige Freiheit des Individuums und damit auch sein Leben respektiert werde, dann müssen sie notwendigerweise die Herrschaft von Menschen über Menschen, egal welcher Gestalt, ablehnen und die so lange verhöhnten Grundsätze des Anarchismus akzeptieren. Sie müssen mit uns nach Gesellschaftsformen suchen, durch die dieses Ideal am besten verwirklicht und jeglichen Sie empörenden Gewaltakten ein Ende bereitet werden kann.“ [S.55] (5)

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(1) Geistesgeschichtlich ist es nach Kant und Hegel bürgerliche Konvention, dass Verhalten und Erkenntnis vernunftgesteuert werden. Es gibt keinen Grund, einen Sozialtrieb anzunehmen, gesellschaftliche Organisation ist Ausdruck allgemeiner Vernunft, alle haben die sittliche Pflicht sich anzupassen, und insofern sie zur Vernunft fähig sind, werden sie die rechtmäßige Ordnung schon einsehen… … …???
(2) Kropotkin unterwirft sich damit dem Forschungsideal seiner Zeit, Dinge als tote zu beobachten und ihre Prozesshaftigkeit (Dynamik) mit der eigenen Logik und Kausalität der eigenen Sprache zu erklären und zweitens dem ideologiekritischen Vorwurf, wie er denn seine Beobachtungsperspektive als objektive rechtfertige. Derlei Kontroversen über die „richtige“ Gesellschaftsanalyse finden sich heute im methodischen Streit der interpretativen (qualitativen) und quantitativen Soziologie, wobei erstere vor allen Dingen auf die Beweglichkeit der Forschungsobjekte im Forschungsprozess selbst hinweist.
(3) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus. Seine Philosophie – sein Ideal, Berlin, Der freie Arbeiter, 1923 (Ersterscheinung: 1896), S.6
(4) Pjotr Kropotkin, Die Eroberung des Brotes, Trotzdem-Verlag, Grafenau, 1999
(5) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus – Philosophie und Ideale, in: Ders., Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, Hauser, München,1973
Desweiteren: Kropotkin zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg, 1989; * Anm. von mir

Theorie & Praxis

Kapitalismus / Im Prinzip / Ohne Klassen

Im letzten Feierabend! wurde ein Artikel über Klassen („Wieder – immer noch weben“) veröffentlicht, der mich zu einer Erwiderung reizte. Schließlich hat eine Rubrik wie Theorie & Praxis auch viel mit Diskussion zu tun.

 

Um kurz zu rekapitulieren: Der genannte Artikel kam zu der Feststellung, dass sowohl die Einteilung in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen hinfällig wird, aber über die Stellung im Produktionsprozess als „reine“ (abstrakte) Klassen bestimmbar seien. Im Folgenden meine Sicht der Dinge. die die Sinnhaftigkeit der Klassenanalyse an sich in Frage stellt. Ich denke, dass nicht die Klassen Basis politischen Analysierens und Handelns sein können, sondern die kapitalistischen Prinzipien, auf die ich dann noch näher eingehe, sinnvolle Grundlage sind. (Dieser Artikel ist auch ohne Kenntnis des Artikels in Ausgabe #4 verständlich. Dieser befindet sich für die, die es genauer wissen wollen, hier.)

Ich stimme zu, dass beim Übergang von der Feudal- in die kapitalistische Gesellschaft, die Klasseneinteilung weitergegeben wurde, da sie zum Einen sozialisiert und normal war und zum Anderen natürlich nur derjenige investieren kann, der nach dem Erhalt des eigenen Lebens, noch Geld zum investieren übrig hat, und mensch natürlich nie aus dem Dreck rauskommt, wenn der Arbeitslohn gerade mal so reicht, sich und die Angehörigen über Wasser zu halten.

Wichtiger Aspekt dieses Übergangs ist, dass die Arbeit erst einmal anerzogen werden musste. Viele Menschen zogen mangels Perspektive im ländlichen Raum in die Städte oder wurden, wenn sie keine Lust hatten ihr Land mit der Fabrik zu tauschen, auch mal gewaltsam von dort in die Fabriken getrieben. Es wurden Arbeitshäuser eingerichtet, in denen sie lernen mussten, dass Arbeit nichts mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun hat.

So gab es Menschen, die keinen Besitz hatten und nichts als ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten konnten und Menschen, denen Fabriken, Handelskompagnien etc. gehörten, die durch die zunehmende Industrialisierung und die Ausbeutung der Kolonien an Geld und Einfluss gewannen. Wenn mensch sich das Massenelend in dieser Zeit anschaut, dann bot es sich an, die kapitalistische Gesellschaft am besten durch den Klassenbegriff, oder gar durch den Klassenantagonismus zu erklären. Dieses Verständnis blieb auch für Generationen von Linken, ob mit dem Selbstverständnis als Kommunisten, Anarchisten oder Autonome (man verzeihe mir die argumentationsbedingte Vereinfachung) dominantes Erklärungsmodell.

Karl Marx hat in seinem Werk sowohl Klassenpositionen vertreten, wie auch die Grundlage für die Analyse der kapitalistischen Ökonomie gelegt. Er hat sozusagen hinter die Klassengesellschaft geschaut und zentrale Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise, wie Wert, Warenfetisch und Kapitalakkumulation erforscht. Daraus ist auch eine eigene neomarxistische Theorieströmung hervorgegangen: die Wertkritik. Ich werde nicht wertkritisch, sondern mit eigenen Begriffen argumentieren.

Bei der Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung fallen bestimmte Grundprinzipien ins Auge: die permanente Gewinnmaximierung als Selbstzweck, das betriebswirtschaftliche Denken, die Expansionsbestrebungen, bewusstloses Wachstum um jeden Preis, die Teilung in Arbeit und Freizeit zur Reproduktion, um den nächsten Arbeitstag (des Arbeiters wie Managers) ertragen zu können. Ganz wichtig ist der Prozess, der immer weitere gesellschaftliche und geographische Bereiche der kapitalistischen Logik unterzieht. Diese Logik umfasst, neben dem oben genanntem, den Druck der Selektion auf den Einzelnen, sich auf sich selbst gestellt in der Konkurrenz zu behaupten. Dies übt einen immensen Druck aus, Leistung zu erbringen.

Arbeit

Unter Arbeit verstehe ich eine durchrationalisierte, von den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten entfremdete menschliche Tätigkeit. Es ist sinnvoll hier nicht den Begriff der Lohnarbeit zu verwenden, da die Entfremdung nicht nur auf die klassischen Arbeiter zutrifft. Nebenbei gesagt, macht die Gleichsetzung von Arbeit und Lohnarbeit nur dann Sinn, wenn mensch die Entfremdung auf die Lohnarbeitenden beschränkt und zum Beispiel die ganze Schar der Selbständigen ausschließt.

Dadurch werden den die Posten verteilt und die Hierarchien ermittelt. Diese Prinzipien sind die Basis für Einkommens- und Statusverteilung in der kapitalistischen Ökonomie mit ihrer bürgerlichen Gesellschaft.

Im 18./19. und 20. Jahrhundert brachten diese Prinzipien Klassen hervor bzw. übertrugen sich die Klassen der Feudalgesellschaft auf die entstehende kapitalistische Ordnung. Heutzutage bräuchte es einige Verrenkungen mit Klassen zu operieren.

Meines Erachtens ist es nicht möglich theoretische Klassen aufzumachen. Ich verstehe unter Klassen gesellschaftliche Bereiche in denen sich die Lebensbedingungen der Menschen so unterscheiden, dass sie in sich geschlossen bzw. nur mit wenigen Übergängen versehen sind. Von Klassen zu reden, hat nur Sinn, wenn sie gesellschaftlich auszumachen sind. Der Kapitalismus basiert nicht auf Klassen, sondern er kann Klassen hervorbringen.

Eine Klasse bedeutet annähernd gleiche soziale Lebenslagen, die ähnliche Interessen hervorbringen und auch als Klassenbewusstsein bezeichnet werden können. Dieses lässt sich nicht fordern, es ist da oder nicht. Die An- oder Abwesenheit eines solchen Bewusstseins ist Indikator für die Existenz von Klassen. Da hilft es auch nicht vorzurechnen, dass es besser wäre eins zu haben.

Auch der Organisierungsgrad der Arbeiter in Gewerkschaften ist ein Indikator. Während es Zeiten gab, in denen es eine schlagkräftige reformorientierte und eine relativ starke revolutionäre Arbeiterbewegung gab, ist der DGB heutzutage in der permanenten Krise, weil sich die Lebens- und Interessenlagen dermaßen stark ausdifferenziert haben, dass sich der DGB in der Gefahr sieht, seine Legitimität zu verlieren. Die einzige, sich noch revolutionär nennende anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen-Union, scheint hoffnungslos marginalisiert. Dies liegt meines Erachtens unter Anderem an ihrer Unfähigkeit gesellschaftliche Veränderungen aufzugreifen, der Slogan „No War but Class War“ (Kein Krieg aber Klassenkrieg) auf einer Friedensdemonstration in Münster macht es deutlich. Diese Unflexibilität ist umso trauriger, da eine basisdemokratische Gewerkschaft für den Weg in eine selbstorganisierte Gesellschaft wünschenswert wäre. Eine Gewerkschaft, in der sich Menschen anhand ihrer sie prägenden Funktionen organisieren, um sich von diesen zu emanzipieren.

Der Wegfall der Klassen und seines Begriffsinstrumentariums ist kein Verlust, er öffnet den Blick auf die grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus, in dem alles zur Ware und vermarktet wird, ob Mensch, Tier, Nahrung oder Lebensweisen, in dem die Menschen Humankapital sind, die sich auf dem Arbeitsmarkt selbst und möglichst gewinnbringend verwerten lassen sollen (dies wird anhand der Ich-AG besonders deutlich), in dem die Unternehmer der Marktkonkurrenz unterworfen sind und rationalisieren, entlassen und Produktionsstätten und Filialen schließen müssen, um nicht unterzugehen.

Dies damit zu erklären, „dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen“, scheint mir zu kurz gegriffen, sind Bewusstsein und Interesse doch nicht einfach so aus dem Nichts da, sondern entstehen durch das lebenslange Wechselspiel von Sozialisation und Zwang. Um dies zu veranschaulichen: Die Konkurrenz ist bereits in den Schulnoten sichtbar, der Leistungsdruck setzt ein, weil diese Noten über die Versetzung entscheiden und die Eltern Druck ausüben, damit das Kind diese Versetzung schafft. In der Universität wird geübt, die Zwänge von Studien- und Prüfungsordnung weitestgehend freiwillig zu erfüllen um die Selektion durch Scheine und Prüfungen zu überstehen. Nach einer solchen 20jährigen Rosskur ist das bürgerliche Individuum bereit für den Arbeitsmarkt, bereit so zu funktionieren wie es das gelernt und im eigenen Umfeld erlebt hat. Wenn nicht, muss mensch sich Nischen suchen, sei es im negativen Fall das Obdachlosenheim und die Parkbank, oder im positiven Fall, eine Künstlernische, das Vagabundieren um die Welt oder einen sozialen Bereich, in dem sie oder er mit geringen Lebenshaltungskosten weniger mit Zwängen belastet ist.

Dass Menschen, die arbeiten wollen, in eine Sinnkrise stürzen, wenn sie niemand haben will, ist dem Arbeitsethos geschuldet, der dem Leben ohne Arbeit den Sinn abspricht. Dass nicht genügend Arbeit für alle da ist, liegt daran, dass sie nicht gebraucht wird. Trotzdem werden die Menschen bestraft, die keine Arbeit bekommen oder keine wollen, denn was würde passieren, wenn die Menschen sich von den kapitalistischen Prinzipien emanzipieren würden? Was würde passieren, wenn Manager oder Bauarbeiterin, Arbeitslose oder Künstler, Studentin oder Professor sagen würden: „Kein Bock mehr, mich permanent zu verbiegen und Zwängen unterzuordnen, die mich kaputt machen. Ich möchte mein Leben selbst bestimmen!“

kater francis murr

Moderner Nationalismus und seine Grenzen

Vom gutbürgerlichen Staate unter Staaten und der mangelnden Vorstellung einer besseren Welt

Ideologien, gleich welchem politischen Lager sie entspringen, stellen immer Vereinfachungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten dar. Sie leisten Hilfestellung, sowohl bei der Auslegung der historischen Tatbestände und Sachverhalte, als auch bei der Einschätzung und Bewertung der gegenwärtigen Zustände. Obwohl vielerorts der Abgesang auf die alten Ideologien erklingt, sind sie nach wie vor am Werke und gerade in Krisenzeiten ist ihr Fortbestand wieder deutlich spürbar. Auch der Nationalismus, der so einfach wie verbreitet ist. Seine Auswirkungen auf die Deutung von Geschichte, die Beschreibung der Gegenwart und Vorstellung von Zukünftigem soll im Folgenden eingehender untersucht werden.

Die Bildung von Nationen – einst progres­sive politische Idee – erscheint in einer ihrer Verfallsformen heute unter dem Ti­tel „Nation-building“ als geostrategisches Großprojekt politischer und militärischer Eliten. Warum? Eine ziemlich konventio­nelle Antwort darauf lautet: Ein erfolg­reiches Modell wurde durchgesetzt, wird durchgesetzt und setzt sich dann durch. Oder aus dem kulturellen Bauch heraus: Zu Unserem Wohlstand führen auch nur Unsere Wege.

Die Geschichte als nationale Staatsgeschichte

Diese Identifikation mit der Perspektive von oben, mit der herrschenden, mei­nungstragenden können wir getrost gut­bürgerlich nennen. Die Pronomen „Wir“ und „Uns“ sind erste verlässliche Indi­katoren. So z.B. in Reden, wie: „Wir sind das Volk“ oder „Uns geht es schlecht.“ Ihr, der Perspektive des guten Staatenbürgers, neigen diejenigen Haltungen zu, die sich in positiver bzw. positivistischer Ge­schichtsschreibung üben. Der konservati­ve Kern liegt in der einfachen Rede vom ‚früher war alles besser‘. Gerade deswegen ist es ja jetzt noch gut(-bürgerlich), aber in unmittelbarer Zukunft geht es rapide bergab. Staatstragendes Element dieser Haltung ist die Legitimation vorgängiger politischer Praxis, dem Einführen neuer Verwaltungsvorschriften etwa oder ordungspolitischer Maßnahmen. (1)

Insbesondere hier, wo die gutbürgerliche Perspektive aus der positiven Deutung der Geschichte die Haltungen zur Legitimation des Staats begründet, bilden die Kategorien von Volk und Nation die stabile Ordnung moderner Staaten. Das heißt nicht, dass das Volk innerhalb oder unter einem modernen Staatsapparat wirklich existier­te. Vielmehr dient der Volksbegriff vor al­len Dingen dazu, in der Rückschau vorgefundene Ereignisse gutbürgerlich zu deuten. Die ‚Wende ’89‘ als Aufbegehren des Volkes, so wie die Unruhen 1953. Jahrhundertflut und Rosinenbomber – die Solidarität des Volks. Solcherlei verein­fachende Deutung reicht vom nationalen übers nationalsozialistische bis ins sozialis­tische Lager und ist Index ihrer Ideologie. Aber von hier wird möglich, was sonst undenkbar wäre: Die Einheit von Subjekt und Objekt in einer: der Geschichte. Erst mittels einer Geschichte als Staats­geschichte, die in sich den völkischen Charakter staatstragender Ereignisse ent­hält, wird jene Mystifikation möglich, deren moderne Staaten zum Funktionie­ren unvermittelt nicht bedürften: die Na­tion. In sanktionierter Sprachformel: der Nationalstaat. Ihre Bedeutung reicht wei­ter als die von politischen Kasten, kon­kreten Parteien, territorialen Regierungen oder regionalen Parlamenten. Sie, die (indirekte oder direkte) Rede von der Nation ist es schließlich, von deren Standpunkt die gutbürgerliche Per­spektive erst möglich wird. Eine detaillierte Geschichte der ordnungspolitischen Maß­nahmen eines Verwaltungsbereichs z.B. geht so in der nationalen Staatsgeschichte unter. Fernab der Wirklichkeiten poli­tischer Ökonomie wird ein Subjekt zur Tat berufen, dessen Handlungsfähigkeit (2) getrost bezweifelt werden darf. Wer hat den 1989 demonstriert? Das Volk?! Oder Volker, Heidi, Susi, Isa… ?

Nationale Politikerin und Nationalbürger

Bürokratinnen und Wissenschaftler, die Führer und Bürger, öffentlicher und pri­vater Gebrauch der Vernunft, so bunt, komplex und vielfältig der politische All­tag erscheint, so eindimensional ist die Perspektive, der er obliegt. Bauman hat es unverwechselbar ausdrückt: „Für den Be­obachter ‚von oben‘, aus der Perspektive derer, die für das Funktionieren der Ge­sellschaft verantwortlich sind, der ‚Hüter des Gemeinwohls‘, musste die Freiheit der einzelnen beunruhigen; sie ist von Vorn­herein suspekt — wegen der schieren Unvorhersagbarkeit ihrer Konsequenzen, weil eine ständige Quelle der Instabilität.“ (3) Insoweit also ein gutbürgerliches Bewusstsein dadurch gekennzeichnet ist, die Geschichte seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit als Staatsgeschichte seiner Nation oder Nationalität, seiner Volkszu­gehörigkeit zu deuten, ist es eben jener Blick von oben, die vorherrschende Per­spektive, die stabile Ordnung und Homo­genität garantiert. Denn von hier aus wird es denkbar, den gesamtgesellschaftlichen Wandel als durch nationale Kontrolle und Volksintervention ausbalancierbar zu be­trachten. Zwar reicht die Entzauberung des Bildungsbürgers gerade noch soweit, hinter der mystischen Phrase: ein Interes­se des Volkes würde über einen nationa­len Lösungsweg durchgesetzt, eine Wahl­kampffloskel aktueller Politik oder die ver­staubten Zeilen eines staatlichen Ge­schichtsbuches zu vermuten, doch beim Blick in die Geschichte verzaubert ihn der Nationalstolz und die Volksverbundenheit erneut. Die Bedeutung der medialen Öf­fentlichkeit für die moderne Auslegung von Geschichte wäre von hieraus neu zu untersuchen. Vom Deutschlandfunk bis hin zum öffentlich-rechtlich deutschen Fernsehen. (4)

Nationalstaaten

Nun wäre es jedoch ein Einfaches zu sa­gen: Die Auslegung der Geschichte wird uns nie bar jeden Vorurteils einen freien Blick auf die historischen Sachverhalte und Tatbestände erlauben. Was ist falsch an den Begriffen vom ‚Volk‘ und der ‚Nati­on‘? Helfen sie doch, komplexe Phänome­ne einfach zu verstehen und gewähren-leisten dabei den Fortbestand der stabilen Ordnung der politischen Verfassung. Doch Vorsicht! Die Einheit, die die ge­meinsame Perspektive von führenden Po­litikern und Bürgerin erlauben soll, ist nur der Form nach unterstellt. Die ideale Transparenz der demokratischen Verhält­nisse, bleibt das utopische Fernziel der Reform. Und Reformisten mühen sich allenortens mit nationaler Ideologie, die kulturellen Differenzen allüberall auf die von Völkern abzustufen, anstelle mensch­lichen Tuns das Verhandeln von National­staaten anzusetzen. Inhaltliches Detail geht dabei zuerst dem Bürger und dann oftmals auch der politischen Führung schnell verloren. Die positive Einheit, die die gutbürgerliche Perspektive auf die Geschichte suggerierte, Kontinuität- und Erfolg eines Modells, das Stabilität durch staatliche Ordnung verspricht, reduziert schließlich in der Gegenwart Handelnde auf ihre Volkszugehörigkeit, Handlungs­schauplätze auf ihren nationalen Charak­ter – Handlungsmöglichkeiten auf Volksprotest (bis hin zur Bür­gerwehr) und Volkssolidarität (bis hin zur Pflichtabgabe), auf National-Verbot (bis hin zur lückenlosen Strafverfolgung) und National-Erlass (bis hin zur Arbeits­pflicht). Deshalb spricht aus manchem gutbürgerlichen Munde noch die kombi­nierte Quintessenz parlamentarischer Opposition. Weiß der eigentliche Adres­sat von moderner nationaler Ideologie, dieselbe lückenloser auszusprechen. Im Staate unter Staaten kann er sich die In­differenz der Geschichte nicht anders auf­klären, als durch den Unterschied der Völker und den speziellen Staatsgeschich­ten der Nationen. Noch jede Aussicht auf Verbesserung, die gute Möglichkeit in Ta­ten umzusetzen, stockt so am Mangel der historischen Erfahrung. Diese Sprachlosig­keit des modernen Nationalismus ist es, die die Friedhofsstille der Gesellschaft verantwortet.

Nation-building: Es gibt nur Uns … und andere

Alle Völker unter einen politischen Hut zu bringen, das ist der Überschwang des Kosmopolitischen, das europäische Projekt ein Wechselbalg der ähnlichen Idee, die nichtsdestotrotz des Volksbegriffs bedarf. Was dem guten Bürger hier Erfolg ver­spricht, das Modell der Volksnation in der Nation der Völker, ist Ausdruck seiner Einfalt und auch Einfallslosigkeit. So wie der Standpunkt selbst der gutbür­gerlichen Perspektive die Stabilität ver­leiht, die die eindimensionale Auslegung der Geschichte unterstellt, wird sie krisenblind – die Geschichte einer Kri­se zerfällt in singuläre Fälle, missglückte Proben in der unendlichen Testreihe rich­tiger Geschichte. Und zwar nach Innen wie nach Außen. Außen vor ist alles, was sich nicht als nationale Staatsgeschichte identifizieren, jede Gesellschaftlichkeit (Geselligkeit), deren Einheit sich eben nicht in der demokratischen Anstalt von Volk und Nation begründen lässt. Jedwede andere Geschichte wird zur Vorgeschich­te der Nation verklärt. Deswegen erscheint dem Bürger auch nur gut, was an der eigenen Nationalgeschichte Erfolg ver­heißt. „Nation-building“, so das Etikett des Placebo-Präparats. Wären die moder­nen Staaten ihrer Legitimation durchs Volk und die Nation beraubt, wer weiß, wie mensch Verwaltung heute buchstabie­ren würde. Aber wie zum Trotze haben sich die militärischen und politischen Eliten an ihrer Selbsterhaltung festgebissen. Ihr Hang zur Geheimniskrämerei, die jeden Inhalt noch verdeckt, und zur Ver­einfachung, den selben noch beschnei­dend, erleichtert das gutbürgerliche Ge­wissen, welches Verantwortung, wenn auch abstrakt, so oftmals noch verspürt. Das ist der Pakt, auf den sich Führerin und Bürger eingelassen haben. Dem Anderen, sei es die Vorstellung einer anderen Welt mit anderen Möglichkeiten, wird schon mangels Einsicht Gewalt getan. Deshalb ist es eine einfache Antwort zu sagen: Bil­det erst einmal Nationen wie Unsere. Und gutbürgerlich dazu.

clov

(1) Das Spiel der Macht ist hier oftmals ein Spiel mit den Ängsten der Menschen.
(2) oder: synthetische Einheit in der Apperzeption – nach Kant (für Eingeweihte)
(3) Zygmunt Bauman, „Postmoderne Ethik“, S. 17 – Hamburg: Hamburger Ed., 1995
(4) Weiterhin: das Verhältnis von PolitikerInnen und Medien.
Anmerkung: Sowohl der judikative (nach Hegel) als auch der rein sprachliche Rahmen (hermeneutische Tradition) einer Geschichte verfehlt jene Einheit, welche die politische Geschichte erreicht, die Einheit von Individuum und Gesellschaft in der moralischen Verantwortung für andere. Eben diese unseren Kindern zu bewahren, darin liegt die Aufgabe heutiger Generationen.

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