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Wiedernoch weben am Leichentuch?

In diesem Heft wollen wir uns, als Beitrag zur aktuellen Diskussion, mit der Sozialen Frage, dem sogenannten „ Kampf der Klassen“ befassen. Der Begriff der Klasse wirft heutzutage einige gewichtige Fragen auf, gar die nach seiner Berechtigung. Denn zuallererst scheint er Grenzziehung zu betreiben, Berliner Mauern zu errichten: zwischen den „guten“ Arbeitern und den „bösen“ Kapitalisten. Dem entgegen denken wir, dass sein ideeller Kern auch heute noch von Bedeutung ist, indem er nämlich auf einen Zustand verweist, der noch immer seiner Aufhebung harrt.

Besonders die in den Diskussionen um das Hartz-Konzept viel beschworene und blumig beschriebene Ich-AG – die großzügig auch auf eine Familien-AG anwachsen darf – ruft unwillkürlich einige Zeilen Heines ins Gedächtnis: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt“, und erinnert so an die schlesischen Weber. Diese Assoziation mit frühkapitalistischen Verhältnissen, den Heimwerkstätten der Weber, die quasi als Familien-AG Tag und Nacht in wirtschaftlicher Abhängigkeit schufteten, und das ganze unternehmerische Risiko zu bürden hatten, machte uns stutzig.

Historischer Exkurs

Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ (1)

Dem Klassenbegriff haftet in den heutigen Diskursen etwas seltsam verstaubtes an. Und tatsächlich war es vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, in welchem er seine Blüte feiern konnte. Ob Drei-Klassen-Wahl-System in Preußen, Verurteilungen wegen Aufhetzung zum Klassenhass, Klassenkämpfe oder Klassentheorie — zumindest auf. den deutschen Territorien herrschte eine eindeutig nach Klassen bestimmbare Vergesellschaftung. Der schwelgenden Hocharistokratie, dem Adel und dem Großbürgertum stand ein Heer von Elend und Not bedrohter Menschen gegenüber, rechtlos zum Spielball der Mächtigen degradiert. (2) Die Unterteilung in Erste und Zweite (damals wahrscheinlich auch in Dritte) Klasse, wie wir sie noch heute bei der Deutschen Bahn finden, erinnert daran. Für den einfachen Mann (von den Frauen ganz zu schweigen) gab es keinen Weg zum Bürgertum, geschweige denn zur Aristokratie, allerhöchstens noch den lebenslangen Umweg übers Kleinbürgertum.

Aber auch für die betuchten Bürger öffnete sich nur äußerst selten ein Türchen zu der Herren Tische. Wer in seine Klasse geboren wurde, war auf sie festgelegt. War die Mutter Näherin, wurde es die Tochter oftmals auch, besaß Vater einen Handelskontor, übernahm diesen sein Sohn, und befahlen die Eltern über 20.000 Untertanen, so taten es ihnen ihre Kinder gleich. Aber was unterschied eine Klasse vom Stand? Und was hat es mit den großen Klassenkämpfen und vor allen Dingen mit Marxens Theorie der Klassengegensätze auf sich? Mit den Begriffen Besitz, Erwerb und Sozietät sollen drei Schlüssel zum Verständnis des Klassenbegriffs angeboten werden.

Besitzklassen

Unter Besitz sollen insbesondere die konkreten Lebensumstände (Güter) verstanden sein, in denen Menschen ihr Leben entwerfen. Man sieht schnell, dass sich hier eine grobe wenn auch statische Unterscheidung in Klassen anbietet. Auf der einen Seite die Klasse der nahezu Besitzlosen, auf der anderen die der Besitzenden. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob jemand über Haus, Land, Gesinde, „Welfenschatz“ oder andere Güter verfügen kann oder eben nicht. Am Beispiel der Feudalgesellschaft lässt sich das am einfachsten verdeutlichen. Adel und Aristokratie vererbten ihren Besitz via Land und Güter innerhalb der Familie, während weite Teile der Bevölkerung oftmals nur ihre Leibeigenschaft an ihre Kinder weiterzugeben vermochten. In der Feudalgesellschaft, um beim Beispiel zu bleiben, lassen sich also zwei verschiedene Besitzlagen klassifizieren.

Erwerbsklassen

Nun scheint das eine sehr ungenügende Klassifikation zu sein, zumal es schwer fällt, diese Unterscheidung auf gegenwärtige gesellschaftliche Umstände zu projizieren. In den hochentwickelten Industrieländern ist die Klasse der Besitzlosen beinahe verschwunden – relative Unterschiede sind oftmals rein quantitativer Natur – eine allein auf dem Besitzstand fußende Klassenrhetorik scheint demzufolge völlig unzureichend (3). Gehen wir noch einmal zum Beispiel der Feudalgesellschaft zurück. Besitz wurde hauptsächlich durch Vererbung erworben. Daneben waren Raub, Kauf und Schenkung die gängigsten Erwerbsarten, deren günstigste Voraussetzung natürlich wiederum … Besitz war. Durch Arbeit konnte man zwar überleben, aber selten Besitz anhäufen. Das änderte sich erst durch den durch Handel bedingten Aufstieg des Bürgertums. Der Erwerb von Besitz durch Handel, also durch gewinnbringenden Kauf und Verkauf, wurde schnell zu einer wesentlichen Dynamik gesellschaftlicher Veränderung. Dass von einer solchen Dynamik eher die ehemalige Klasse der Besitzenden profitierte, ist einsichtig. Wer konnte im 19. Jahrhundert schon Kupferminen ver- oder Anteilsscheine an Rüstungsbetrieben einkaufen? Insoweit also der Erwerb von Besitz auf schon vorhandenem Besitz fußte, übertrug sich der Klassenunterschied. Hier die Masse der Menschen, deren Erwerb gerade ausreichte, Überleben zu sichern, dort eine Gruppe, deren Besitz durch Erwerb stetig stieg (akkumulierte). Erwerbsklassen waren also insofern identifizierbar, als es einen qualitativen Unterschied zwischen Menschen gab, deren „Erwerbsarbeit“ keinerlei Chancen auf Besitz bot und denen, deren Erwerb immer größere Chancen der Besitzanhäufung mit sich brachte. Das so oft sorglos im Mund geführte Wort der „Chancengleichheit“ rekurriert auf eben diesen Tatbestand.

Soziale Klassen

Aber auch die auf Besitz ruhende Klassifikation nach Erwerbschancen bereitet Schwierigkeiten, versucht man sie auf gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen. Die zunehmende Komplexität der Güter- und Kapitalkreisläufe, die Verteilungsmechanismen des modernen Staates (4 ) verwischen die Grenzen zwischen den Erwerbsklassen einer Gesellschaft. Letztlich sind sie gegen die Risikobereitschaft jedes einzelnen relativiert. Nehme ich einen Kredit auf, wage ich die Umschulung, investiere ich in Rente oder Rendite? Besitz vermindert zwar das Risiko bedrohlichen Verlusts, ist aber nicht mehr kategorische Voraussetzung für, gute Erwerbschancen. Zwar sind noch immer ganze Schichten der Bevölkerung im Erwerb chancenlos – vor allem marginalisierte Gruppen wie Migrantlnnen, kriminalisierte jugendliche, körperlich Beeinträchtigte etc. pp. – aber nach ihren Erwerbschancen lassen sie sich nicht qualitativ klassifizieren. Fasst man allerdings die Besitz- und die Erwerbslage allgemein als Lebenslage auf, bietet sich noch eine weitere Möglichkeit der Klassifikation, wie wir sie auch schon aus dem 19. Jahrhundert kennen. Ohne Besitz von Land (Heim) und Gütern, ohne Chance durch Erwerb selbiges jemals zu erlangen, waren Menschen prekär abhängig von Miet- und Arbeitsverhältnissen, räumlich und zeitlich immobil in Milieus verwurzelt, in denen gleiche Erfahrungen ähnliche Lebenslagen prägten (soziales Leben). (5) Demgegenüber gab es einige, die ihren Wohn- und Lebensraum frei bestimmen konnten, äußerst mobil waren und allerhöchstens in kleinen Familien mit Hof-und Hausstab (Gesinde) lebten (individuelles Leben). Zwischen den beiden Lebenslagen schossen oftmals unüberwindliche Mauern auf, so dass es kaum Durchdringungen gab. Insoweit sich also die Lebenslagen qualitativ von einander unterschieden, stand die sozialisierte Klasse der individualisierten gegenüber.

Stellung im Produktionsprozess

Aber auch diese Klassifikation stellt uns vor erhebliche Probleme, wollten wir sie auf gegenwärtige Umstände in den Industrieländern übertragen. Durch die Relativierung von Besitz und Erwerbschancen prägt Individualisierung heute ein heterogenes Feld von Lebenslagen, in denen die Lebensumstände und -erfahrungen jedes Einzelnen erheblich differieren. Ja selbst große Teile der Sozialisation sind in die Institutionen des modernen Staates gelagert. Aber was soll – so könnte man an dieser Stelle berechtigter Weise einwerfen – die Rede von Klassen dann heute noch bedeuten? Und da – nun kommt´s – hat uns Marx die Augen geöffnet. Er sah die Klassengesellschaft seiner Zeit, die chancenlos Besitzlosen und die risikofreudigen Besitzenden, die verelendeten sozialen Milieus und die im Überfluss schwelgenden Herrenhäuser. Und sein Verdienst ist es u.a., diesen sichtbaren qualitativen Unterschied, auf die Sphäre der Produktion, auf die. Prozesse der kapitalistischen Produktionsordnung zurückgeführt zu haben. Denn genau hier war der Klassenunterschied „rein“ (abstrakt) anschaubar. Und ist es, wohl bemerkt, auch heute noch, trotz allem Gerede von flachen Hierarchien und Aktienbeteiligung. (6) Das individualisierte Eigentum an den Mitteln der Produktion, historisch aus der Besitzlage entsprungen, bemächtigte einen Teil der Menschen im Produktionsprozess derart mit Verfügungsgewalt, dass ihnen der Rest ohnmächtig gegenüber stand, Und dieser Klassenunterschied regeneriert sich überall dort, wo Produktion unternommen wird und via Eigentumsrecht Menschen Verfügungsgewalt über Produktionsanordnungen gewinnen und damit andere in ökonomische Abhängigkeit von ihnen stürzen.

Arbeitskampf als Interessenkonflikt von Klassen

Ohne Zweifel waren es die Arbeitskämpfe der vergangenen Generationen, die dafür sorgten, das die Grenzen zwischen den Besitz-, Erwerbs- und sozialen Klassen zunehmend brüchig wurden. Derart, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Ganz im Gegenteil zu den Ländern der „Zweiten Welt“. Solange allerdings die Klassengesellschaft fortbesteht, als „reine“ (abstrakte) in der Ordnung der Produktion, lautet die entscheidende Frage der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit: wer kann Kraft seines Wortes – und der entsprechenden (strukturellen) Gewalt – die eigenen Interessen [besser] durchsetzen? Wer kann Gestaltung erzwingen? Wem nutzt die bestehende Ordnung, wem nicht? Wer hat ein gesteigertes Interesse an deren Aufrechterhaltung? Dass das Feld dieses Interessenkonfliktes wesentlich auf der Ebene der Produktion zu suchen ist, zeigt schon das Bemühen des modernen Staatsapparates an, dessen Gestaltungswille immer wieder von neuem um die Sphäre der Produktion kreist. Hier stehen sich jedoch, bedingt durch die Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, die, Interessen zweier Klassenlagen konfliktreich gegenüber, Aber ist man sich dessen denn bewusst?

Macht und Politik zum Durchsetzen von Interessen

Das liberale Projekt repräsentativer Staatspolitik, in der heutigen Foren der Bundesrepublik (8), war zur Befriedung von Interessenskonflikten innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen angetreten. Doch erwies es sich im Verlauf als unfähig, trotz einiger Erfolge der Sozialdemokratie, wie u.a. die Fortschritte im Arbeitsrecht, wirklich zwischen den konkurrierenden Interessen derart zu vermitteln, das eine Aufhebung der Klassengesellschaft möglich wurde. Im Gegenteil, und das zeigt die derzeitige „Hartz-Reform“ ganz deutlich, sobald der Druck der Arbeitskämpfe nachlässt, sind bereits erstrittene Fortschritte wieder in Gefahr. Es ist heute nicht ausgeschlossen, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Woran liegt das? Unseres Erachtens vor allen Dingen daran, dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen. Politiker, mit dem hauptsächlichen Interesse ihres eigenen Machterhalts; Unternehmer, deren Interesse einzig und allein der Gewinnmaximierung dient, und nicht zuletzt die breite Bevölkerung, die die Chancen eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse ungenutzt lässt, lieber Ideologien wie Rassismus, Konkurrenz oder Individualismus folgt und sich damit die einzige substanzielle Möglichkeit zur dauerhaften Verbesserung ihrer Lebenssituationen beschneidet: die vereinte, zielgerichtete Aktion im wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Bereich, dem Arbeitskampf mit dem Ziel der Aufhebung der Klassengesellschaft.

clov & A.E.

(1) Karl Marx in d. Rheinischen Zeitung um 1843
(2) vgl. Bernt Engelmann, Wir Untertanen, Fischer 1976
(3) Parolen wie „Her mit dem schönen Leben!“ á la attac und IGM-Jugend sind daher auch eher Ausdruck von Sozialneid denn Zeichen tieferer Analyse.
(4) Nicht zuletzt begnügt sich der moderne Staat damit, in den Verbesserungen der Erwerbschancen seinen primären Bildungsauftrag zu sehen.
(5) Das Bild des Schlafburschen (-mädchens) mag genügen: Es waren Leute, die während der Arbeitszeit des Bettbesitzers selbiges zum Schlafen mieteten.
(6) Erstere werden auf einmal wieder ziemlich steil, wenn es um Entlassungen (Krisensituationen) geht, und wer sich so viele Aktien seines Betriebes leisten kann, dass er mitreden kann, der braucht, ehrlich gesagt, nicht mehr zu arbeiten.
(7) Peripherie – teilweise Infrastruktur, mittelkapitalistische Produktionsordnung (bestes Beispiel ist der derzeitige Generalstreik in Venezuela.)
(8) Rechtstitel

Theorie & Praxis

Krise – da war doch was?

Alle reden von der Krise. Über fünf Millionen Einträge gibt es dazu im Internet, der Washington Post zufolge sprach Obama seit 2009 in seinen Reden ganze 330 Mal von der Krise und täglich gibt es neue Krisenmeldungen. Doch womit haben wir es zu tun, wenn das mittlerweile inflationär verwendete K-Wort fällt?

Ein Blick über den Tellerrand zeigt, die Krise ist nicht neu und lässt sich nicht auf eine Finanz- oder Wirtschaftskrise reduzieren. Angesichts der politischen Entwicklungen in der Eurozone handelt es sich ebenso um eine Legitimationskrise – Papandreou lässt grüßen – wie gleichzeitig auch um eine globale Klima-, Energie- und Ressourcenkrise. Kurz: Es sind multiple Krisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Während der zähe Ver­handlungskampf um die Höhe der so genannten Rettungsschirme oder das zulässige Maß der Staatsverschuldung die aktuelle Berichterstattung dominieren, und Proteste gegen die aufgezwungenen Sparhaushalte nur am Rande erwähnt werden, steht die verschärfte ökologische Krise im medialen Schatten. Zu Unrecht, denn sowohl die soziale, als auch die ökologische Krise sind eng mit der Wirtschafts- und Finanzkrise verzahnt. Schließlich basiert der kapitalistische Produktionsprozess nicht nur auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und auf billigen fossilen Energieträgern, sondern auch auf der fortschreitenden Privatisierung gesellschaftlicher Prozesse und der Inwertsetzung bisher unangetasteter Elemente der Natur.

Vor allem letzteres produziert besonders im Globalen Süden massive sozial-ökologische Verwerfungen. Beispielsweise spekulieren Investment-Fonds auf Nahrungs­mittelpreise, treiben damit die Getreidepreise derart in die Höhe, dass Länder den Import von Lebensmitteln nicht mehr bezahlen können und in Folge die lokale Bevölkerung hungert. Ähnlich verhält es sich beim Land Grabbing, der weltweiten Aneignung von Land durch Konzerne und Staaten, oder beim Abbau natürlicher Ressourcen für boomende grüne Wirtschaftszweige. Doch auch im Globalen Norden sind Menschen, die wenig Rentabilität versprechen, von ökonomischer Ausgren­zung betroffen. Allein in Deutschland beläuft sich die Zahl der Haushalte, die auf Grund unbezahlter Rechnungen zeitweise von der Energieversorgung abgeschnitten sind, auf 800.000.

Die propagierten Lösungen für die aktuellen Krisen und Krisenerschei­nun­gen des Kapitalismus bewegen sich dennoch innerhalb des bestehenden Systems, unterliegen marktkon­for­men Sachzwängen und ignorieren das bestehende Machtgefälle. Die Folge dieser herr­schafts­förmigen Bearbeitung? Die scheinbare Lösung eines Problems verschärft lediglich ein anderes: Der Agro-Sprit verspricht der Klimakrise beizukommen, während jedoch für den Anbau nicht nur große Flächen des Amazonas abgeholzt werden, sondern auch gleich ganze Bevölkerungsgruppen dem neuen Exportschlager weichen müssen. Vergleichbares gilt in Bezug auf Elektroautos: Anstelle das Konzept des Individualverkehrs und damit die Aspekte des Lebensstil im Globalen Norden in Frage zu stellen, werden neue Jobs im „green business” bejubelt, während stillschweigend der Lithium-Abbau unter fragwürdigen Arbeits­be­din­gungen und mit ökologischen Katastrophen voranschreitet. Ob und wenn ja, wer in Bolivien von diesem Boom profitiert, bleibt außen vor.

Die hegemoniale Rezeptur zur Krisenbewältigung liest sich ähnlich wie ein Kochrezept von Jamie Oliver: Ein bisschen grüne Technologien hier, ein wenig erneuerbare Energien da, großzügiges Beimischen von gekürzten Staatsausgaben, je nach Bedarf eine Messerspitze gesetzliche Richtlinien oder Privatisierungen. Dann alles den Grundzutaten Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und hohe Renditen beimischen, kurz umrühren, und fertig ist der Einheitsbrei, der uns je nach Gusto als „Green New Deal“ oder „Green Economy“ serviert wird. Wie jedoch auf die multiplen Krisen zu reagieren ist, um die nötigen, tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen zu erreichen, muss noch (weiter) ausbuchstabiert werden.

Klar ist: Die derzeit an Griechenland durchexerzierten neoliberalen Krisenmaßnahmen sind weder neu, noch wirksam. Vielmehr erinnern sie an die Strukturanpassungsmaßnahmen mit deren Hilfe bei­spielsweise Subsahara-Afrika in den 1980er Jahren aus der Schul­denkrise kommen sollte. Doch die gekürzten Staatsausgaben, massiven Privatisierungen und kompetitive Wechselkurse etc. haben nicht zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vor Ort beigetragen, ganz im Gegenteil. Der enge Fokus auf technologische und marktbasierte Lösungen hat nicht nur eine entpolitisierende Wirkung, sondern führt letztlich dazu, dass sich im globalen Machtgefüge nichts ändern muss. Mit herrschaftsförmigen Analysen der Krise und den gängigen „Bewältigungsstrategien“ ist also wenig gewonnen, aber viel verloren.

Aus emanzipatorischer Perspektive ist es dennoch wichtig, zu sehen, dass die aktuellen Krisen nicht per se in einen drohenden Weltuntergang münden müssen. Krisen eröffnen immer auch die Chance für grundlegendes Umdenken. Diese Möglichkeit wollen wir auf dem BUKO Kongress 2012 nutzen, um gemeinsam zu diskutieren, uns zu vernetzen und den Handlungsraum zu erweitern.

(die lokale Vorbereitungsgruppe des BUKO34-Kongress)

Theorie & Praxis

Wissenschaft, die Wissen schafft: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wissenschaftliche Forschung wird gerne – und oftmals auch zurecht – für ihre „Elfenbeinturm“-Perspektive kritisiert. Praxisnähe und Alltagspraktikabi­lität der gewonnenen Erkenntnisse werden nicht selten vermisst, auch fehlender Realitätsbezug wird der Wissenschaft gern vorgeworfen. Glücklicherweise aber halten solcherlei pauschal gefällte Urteile keiner näheren Analyse stand, da Verallgemeinerungen bekannterweise immer fehlerhaft sind. Das im Folgenden vorgestellte sozialwissen­schaft­liche Forschungsprogramm zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) widerlegt die gängige Kritik und bricht bewusst aus dem ihm zugeschriebenen „Elfenbeinturm“ aus. Obgleich die mitt­ler­weile zehn Jahre lang gesammelten Ergebnisse zu GMF noch sehr langsam über den „Rapunzelzopf“ der Forscher­_in­nen in die praktische Welt hinaus gelangen, tragen sie dennoch genügend Zündstoff in sich, um einiges an progressiven Veränderungen anstoßen zu können.

Rund die Hälfte der deutschen und auch europäischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe (1+2).

Dies ist eines von zahlreichen Ergebnissen der wohl größten und längsten deutschen Panelstudie, in die 2009 auch ausgewählte europäische Länder einbezogen wurden. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer prägte den (sperrig klingenden) Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und schuf 2002 zusammen mit Prof. Dr. Andreas Zick ein gleichnamiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Der Begriff selbst bezeichnet die Abwertung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen“ (1). GMF wird dabei als Syndrom verstanden, da sich die Vorurteilsstrukturen ähneln und ablehnende Tendenzen meist gegenüber mehreren Gruppen bestehen. Als gemeinsamer Kern des Syndroms wurde die sog. „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ identifiziert, also eine Grundeinstellung, in der die Menschen prinzipiell nicht als gleichwertig angesehen werden. In jährlich stattfindenden telefonischen Befragungen eines repräsentativen Teils der deutschen Bevölkerung (2011 wurden 2000 Menschen befragt) wurden und werden die verschiedenen Einstellungen ermittelt, um Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen analysieren zu können. Die Ergebnisse sind erschreckend und belegen v.a. das, was innerhalb der sog. Linken ohnehin lange vermutet und fortwährend angemahnt wird: Dass menschenfeindliche Einstellungsmuster in der sog. Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind.

Über 50% der europäischen und deutschen Bevölkerung meinten 2009, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei. Rund ein Viertel der 2009 befragten europäischen und 13% der deutschen Bevölkerung (2011) waren zudem der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in ihrem jeweiligen Land hätten.(1+2)

Die verschiedenen untersuchten Einstellungen des GMF-Syndroms wurden 2011 in insgesamt 12 Kategorien unterteilt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Eta­blier­ten­vorrechte, Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, und speziell auch die Ablehnung von Asylbewerber_innen und Sinti & Roma (3). Bemerkenswert daran ist zudem, dass unter dem GMF-Konzept auch gesellschaftliche Einstellungsmuster gefasst werden, bei denen Abwertungen nicht nur „kulturell“, sondern auch mit „natürlicher“ oder „sozialer“ Überlegenheit begründet werden, wie bspw. bei den feindlichen Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen oder den Etabliertenvorrechten. Letzteres hebt auf eine soziale Hierar­chi­sierung bzw. Vorrangstellung von „Alteingesessenen“ ab. Das Konzept ist generell offen für weitere hinzukommende Kategorien, sofern sie sich auch auf eine dahinter stehende „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ beziehen. Die Ergebnisse der GMF-Untersuchungen wurden jährlich bei Suhrkamp unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht und reflektiert.

Über die Hälfte der befragten deutschen Bevölkerung 2011 war der Meinung, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht daran interessiert seien, einen Job zu finden. Über 60% finden es darüber hinaus „empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“ (1).

Wie bereits angedeutet, geht es den Wissenschaftler_innen indes nicht nur darum, Ausmaße und Entwicklungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesamtgesellschaft (in fundierter und nachprüfbarer Weise) öffentlich zu machen und damit zu sensibilisieren. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt in der Analyse der Ursachen von GMF. Unter der Fragestellung, inwiefern die Veränderungen von GMF mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen, wurden so bspw. soziale Desintegration und gefühlte Benachteiligung (sog. Relative Deprivation) als Faktoren und Erklärungsansatz ausgemacht. Mit anderen Worten steht der eigene gesellschaftliche Ausschluss in engem Zusammenhang mit der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen. Denn – so die naheliegende These – wenn es einem an Anerkennung mangelt, besteht die Tendenz, sich selbst durch die Abwertung anderer wieder aufzuwerten. Dabei wird zwischen drei Aspekten von Desintegration unterschieden, die gemeinsam Einfluss auf die Abwertung bestimmter anderer gesellschaftlicher Gruppen haben: Zum einen die sozio-ökonomische Einbindung, bei der es um den eigenen Status, also die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Konsummöglichkeiten geht, die nicht nur als begrenzt, sondern v.a. auch zukünftig gefährdet wahrgenommen werden.

Zum zweiten ist die politische Einbindung oder negativ der politische Ausschluss – sprich gefühlte Macht- und Einflusslo­sig­keit bei (gesellschafts-)politischen und institutionellen Belangen – ein Faktor sozialer Desintegration. Empirisch betrachtet haben Menschen mit wenig Interesse an politischer Partizipation oftmals auch eher GMF-Einstellungstendenzen (4). Anders ausgedrückt, spiegelt sich die Frustration und Resignation über die eigene Einfluss­lo­sigkeit auf die Politik wohl auch in der der Abwertung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wider.

Als dritter Aspekt sozialer Desintegration wird die „personale Dimension“ oder „sozial-emotionale Einbindung“ benannt, bei der es um eigene soziale Netzwerke geht bzw. um eben jene fehlende unterstützende Gemeinschaft, die nicht nur zur Selbstverwirklichung motivieren kann, sondern zudem Orientierung bietet und Sinn stiftet.

Darüber hinaus wurde empirisch auch nachgewiesen, dass fehlender Austausch mit als vermeintlich fremd wahrgenommenen Menschen Ungleichwertigkeitsvorstellungen begünstigt. Des weiteren befördern auch autoritäre Strukturen sowie Flexibilitätszwang und fehlende soziale Normen und Regeln GMF-Einstellungen. Insbesondere bei jenen Menschen, bei denen auch soziale Hierarchien Teil der eigenen Ideologie sind, ist die allgemeine Befürwortung von menschenfeindlichen Aussagen besonders ausgeprägt.

Mehr als 60% der Befragten in acht europäischen Ländern sind der Meinung, „dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ sollten. Fast ein Drittel dieser meinen zudem, dass es eine „natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen“ gäbe. (2)

Im europäischen Vergleich von 2009 wurde übrigens festgestellt, dass in den Niederlanden die geringsten GMF-Tendenzen zu beobachten sind, während in Polen und Ungarn die Vorurteilsstrukturen am ausgeprägtesten sind. Insgesamt wurden repräsentativ Menschen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Portugal sowie den benannten Ländern befragt. Deutschland liegt im internationalen Vergleich insgesamt – trotz mitunter großer Unterschiede was die (In-)Toleranz einzelner Gruppen betrifft – eher im Mittelfeld.

54% der Deutschen stimmten 2011 der Aussage „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit Weniger zufrieden geben“ zu (1).

Diese Aussage, die in der deutschen Studie unter „Etabliertenvorrecht“ kategorisiert und analysiert wird und wie eine altbekannte Stammtischparole klingt, wird wahrscheinlich auch gegen das GMF-Konzept als solches eingewandt – nämlich dann, wenn es um Schlussfolgerungen aus der „neuen“ GMF-Forschung gehen soll. Oder warum findet die Veröffentlichung derartiger alarmierender Ergebnisse über Feindseligkeiten in der Gesamtgesellschaft so wenig Beachtung in der Politik?

Mit dem Forschungsprogramm wurden drei große Ziele verfolgt (5). Zum einen sollte für die in der Mitte der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen sensibilisiert werden. Die umfangreichen – hier nur exemplarisch herausgegriffenen – Ergebnisse sollen erinnern und zum präventiven und ggf. intervenierenden Handeln anregen, um derlei Haltung nicht zum Normalzustand werden zu lassen. Doch statt angesichts der Ergebnisse tatsächlich massiv in integrative Programme und andere Präventionsmaßnah­men zu investieren, bei denen v.a. junge Menschen ein gleichwertiges Miteinander erleben und schätzen lernen, wird lieber dem Verfassungsschutz und der Polizei vertraut, die sich erst dann melden, wenn die Ideologie soweit gefestigt ist, dass sie zu menschenfeindlichen Handlungen geführt hat.

Zum zweiten nahm das Forschungsprogramm v.a. gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, um deren Einfluss auf GMF zu untersuchen. Die dahingehend aufbereiteten Ergebnisse rund um soziale Desintegration bieten jede Menge Anregungen für Veränderungen im politischen System und im Bereich der sozialen Sicherung. Daraus könnten sogar Forderungen abgeleitet werden, die nicht nur den Parlamentarismus als solchen ins Schwanken bringen, sondern auch das allgemeine kapitalistische Leistungsprinzip samt sozialer Vereinsamung kritisieren und diesem einen Selbstermächtigungsprozess entgegensetzen. Allerdings lassen sich auch realpolitische Verbesserungen mit dem GMF-Konzept in der Rückhand diskutieren, die mit stärkeren sozialen Leistungen und Netzwerken beginnen, einen Bogen zu mehr direkter Demokratie schlagen und beim bedingungslosen Grundeinkommen ihren Höhepunkt feiern könnten.

Zum dritten soll mit der Forschung zu GMF auch auf die Bedeutung generalisierender Ideologien, wie die der sozialen Hierarchisierung, hingewiesen werden. Das kritische Hinterfragen von Einstellungen und der dahinter liegenden Ideologie ist nicht nur eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern könnte auch gegen staatlich gesteuerte institutionalisierte Diskriminierung gewendet werden. Denn wenn bspw. erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber_innen gesetzlich geregelte Leistungen erhalten, die insge­samt 225 € nicht überschreiten (inklusiver aller Sachleistungen) und einer Residenzpflicht unterworfen sind, dann findet eine eklatante Ungleichbehandlung und soziale Hierarchisierung gegenüber den anderen in Deutschland lebenden Menschen statt, die zumindest Anspruch auf ein (mager bemessenes) Existenzminimum haben und Bewegungsfreiheit besitzen. Auch die Abschiebung von Flüchtlingen (hauptsächlich Roma) nach Serbien während des winterbeding­ten „Ausnahmezustandes“ Mitte Februar, ist für die dort größtenteils unerwünschte Bevölkerungsgruppe mitunter lebensgefährlich und zeugt von einer dahinter stehenden Ideologie, die dieser Menschengruppe keinen großen bzw. gleichrangigen Wert beimisst (6).

Schlussendlich ist durch die GMF-Forschung auch ein theoretisch fundiertes und empirisch geprüftes Konzept entstanden, das durchaus Potential hat, die Probleme, die sonst gemeinhin unter Rückgriff auf das Extremismusmodell erklärt werden, begrifflich und inhaltlich aus einer neuen Perspektive zu erfassen. Das GMF-Konzept setzt an den dahinter stehenden Werten an, die sich von tendenziellen Un­gleich­wer­tig­keits­vorstellungen zum gefestigten ideologischen Weltbild – wie bei Neonazis – wandeln können. Damit macht es Feindlichkeiten schon in ihrer „Keimzelle“ sichtbar – nicht erst wenn der Rechtsbruch erfolgt. Das rückt nicht nur Vorurteile aus der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus, sondern eröffnet auch eine Reihe an Handlungsstrategien und Möglichkeiten der Übertragung in die Praxis. Als eine „echte Alternative“ zum Extremis­mus­mo­dell kann GMF laut Kausch/Wiedemann zwar nicht in Stellung gebracht werden, weil der Begriff keine Unterscheidung zwischen Alltagsdiskriminie­rungen und organisiertem Neonazismus zulässt und keine gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der Bewertung von Ungleichwertigkeit eine Rolle spielen (7). Zudem bleibt ein quantitativ-empirischer Ansatz immer beschränkt in seinen Möglichkeiten komplexe Zusammenhänge und Ursachen zu erklären und müsste theoretisch und interdisziplinär weiter unterfüttert werden. Eine Weiterentwicklung des GMF-Konzeptes könnte diese und weitere Defizite durchaus beheben, andererseits ist es auch müßig, darüber zu diskutieren, da seitens der Politik der Wille fehlt, sich vom Extremismusmodell zu lösen. Natürlich ist es politisch praktikabler und bequemer, die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ (FDGO) zum Maß zu nehmen und all jene als extremistisch zu brandmarken, die gegen sie verstoßen (siehe FA! #39 & 41).

Gerade diese Verengung auf die FDGO ist wohl einer der Hauptgründe, warum das GMF-Forschungsprogramm auch im Gesamten ein sozialwissenschaftliches Randthema bleiben wird. Mit dem GMF-Konzept wird der Finger in die Wunde gelegt und gesellschaftliche Einstellungsmuster der Ungleichwertigkeit werden problematisiert. Damit begibt sich die wissenschaftliche Forschung weg vom Elfenbeinturm in ein gesellschaftlich relevantes und politisch kontrovers besetztes Feld. Wen wundert es dann, wenn es auch Bestrebungen gibt, diesen „Elfenbeinturm“ weiter abzuriegeln und den „Rapunzelverdächtigen Haarwuchs“ der For­scher­_in­nen zu begrenzen?!

momo

(1) „Deutsche Zustände“. GMF-Langzeituntersuchung, Zusammenfassung: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf
(2) „Europäische Zustände“2009, Zusammenfassung: www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/studie.pdf
(3) Mit der Kategorie „Roma und Sinti“ wird auf Antiziganismus rekurriert (und an anderer Stelle auch so benannt). Obgleich die Bezeichnung „Sinti und Roma“ unzureichend ist, da wesentlich mehr Gruppen von Zigeuner_innen bestehen, die sich nicht darunter subsumieren lassen, ist diese Kategorisierung mit Blick auf den Wortlaut in der empirischen Studie erklärbar. Denn, analog zum Alltagsgebrauch, werden Roma&Sinti stellvertetend bzw. synonym zum NS-belasteten Zigeuner-Begriff verwendet.
(4) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/SozialeDesintegration.html
(5) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/GesZiele.html
(6) www.proasyl.de/de/news/detail/news/abschiebungen_nach_serbien_trotz_kaelte_notstand/
(7) Kausch und Wiedemann analysieren in ihrem Beitrag „Zwischen ‘Neonazismus’ und ‘Ideologien der Ungleichwertigkeit’.“ in: „Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells“ (Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) 2011) u.a. die Tauglichkeit von GMF als begriffliche Alternative zum Extremismusbegriff. Die fehlende Integration gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird dabei u.a. als GMF-Defizit kritisiert. Damit ist gemeint, dass bspw. die Diskriminierung von Asylbewerber_innen von der Mehrheitsgesellschaft den gleichen Stellenwert bekommt, wie bspw. die „Deutschenfeindlichkeit“ einer türkischen Minderheit hier.

Theorie & Praxis

Queere Radikalität – eine kurze Einführung

Warum queer nicht lesbischwul und auch keine akademisches Gedankenspiel ist, sondern radikale Praxis, die nicht immer mit Sex (1) und Gender (2) zu tun hat.

Bevor in den kommenden FA!-Ausgaben der queeren Szene Leipzigs auf den Grund gegangen werden soll, möchte dieser Artikel den Versuch wagen, das kritisch-radikale Potential von queer vorzustellen. Da queer vieles ist, nur nicht abschließend definierbar, kann dieser Text selbstverständlich nicht alle Facetten des Themas abdecken oder jede Interpretation des Begriffs berücksichtigen.

Beiträge zu queer strotzen oft nur so von Fremdworten und Fachvokabular – und schließen damit von vorneherein Leser_innen aus, die sich nicht bereits mit dem Thema beschäftigt haben. Unsolidarisch soll dieser Artikel nicht sein, weshalb das Ziel ist, möglichst wenig Fachvokabular zu nutzen, bzw. dieses wenigstens zu erklären.

Geschichtliches

Die Bezeichnung queer findet sich oftmals auf Flyern von diversen Partys und Clubs – gemeint ist in diesem Zusammenhang meistens schwul-lesbisch, wobei queer kürzer, schnittiger und moderner wirkt als die altbackene Sammel­bezeichnung. Der Ursprungs des Wortes ist jedoch alles andere als aktuell: im 16. Jahrhundert entwickelte es sich im englischen Sprachraum – wenig überraschend – aus dem deutschen Wort „quer“. Queer wurde wesentlich abwertender genutzt als das deutsche Pendant, bezeichnet wurden damit alle möglichen Querulant_innen, die nicht in gängige Normen passten, unter anderem Schwule, Lesben und andere „Perverse“.

In den 1960er Jahren etablierte sich die Lesben- und Schwulenbewegung, die Ende der 60er, Anfang der 70er einige Erfolge erzielte und zu einem liberaleren Klima gegenüber Homo- und Bisexuellen beitrug. In den 80er Jahren begann in den USA, mitbedingt durch die AIDS-Krise, eine konservative, christliche und homofeindliche Politik zu erstarken. AIDS wurde als Strafe Gottes bezeichnet, Schwule als Seuchenherde gebrandmarkt und Analverkehr als ausschließlich schwule und tödliche Sexpraktik gesehen. In dieser feindlichen Atmosphäre rückte die LGBT-Community näher zusammen.

Gleichzeitig wurden auch Teile der LGBT-Community (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*-Gemeinschaft (3)) auf Normen aufmerksam, die in der Szene herrschten. Die Community war nach außen schon immer mehr schwul als lesbisch, eher homo als trans* – nach und nach wurden auch vermehrt diese Kategorien in Frage gestellt. Welche Normen mussten erfüllt sein, um bspw. als „richtige“ Lesbe zu gelten? Durften Lesben lange Haare haben? Sex mit Männern, Trans*personen, etc. (gehabt) haben? Transfrauen(4) sein? BDSM (5) oder gar Pornographie mögen?

Queer Movement gegen den Homo-Mainstream

Es begannen Menschen nach Sichtbarkeit und Solidarität zu streben, die sich in der LGBT-Community nicht zu Hause fühlten. Zu diesen zählten jene, die sich nicht als LGBT definierten, aber trotzdem von der Mehrheitsgesellschaft geächtet wurden: bspw. Heteros mit polyamorösen (6) Beziehungen, Asexuelle (7) oder BDSMler_innen.

Andere waren zwar schwul, lesbisch, bi und/oder trans*, wurden von der Mehrheit der Szene aber nicht angenommen. Gründe für eine solche Ablehnung waren bspw. Hautfarbe, Alter, Behinderungen oder positiver HIV-Status.

Der LGBT-Mainstream war größtenteils weiß und kam aus der Mittelschicht, was sich auch in den politischen Forderungen und dem Ignorieren von Mehrfachdis­kri­mi­nie­run­gen zeigte. Die Forderung der Mainstream-LGBTs nach „Gleichstellung“ mit Heteros zog von Teilen der Szene die Frage nach sich, wer denn mit wem gleichgestellt werden sollte. Während bspw. weiße Männer es gewohnt waren, dass sie der Standard waren und ihnen allein aufgrund ihrer Homosexualität die üblichen Privilegien verwehrt blieben, war eine schwarze Lesbe in einer ganz anderen Situation. Sie musste nicht nur die Hürde der Homofeind­lichkeit überwinden, sondern auch noch gegen Sexismus (8) und Rassismus kämpfen – nicht nur im Alltagsleben, sondern auch innerhalb der Szene! Die Vielschichtigkeit der Wünsche und Ausgangspunkte der unter „LGBT“ zusammengefassten Menschen wurde unter dem Sammelbegriff unsicht­bar, es schien als sei Homofeindlichkeit das einzige Hindernis, das alle LGBT von der Teilnahme am schönen Leben der „Normalbürger“ trennte. Die Probleme der nicht privilegierten Menschen und ihre Unzufriedenheit mit dem herrschenden System, das neben Heterosexualität und dem Zwei-Geschlechter-Modell auch weiße Hautfarbe, „normales“ Sexualverhalten, Monogamie, gesunde, nichtbehinderte Körper, Vermögen, usw. als Norm voraussetzte, wurden kein Teil der medial wahrgenommenen Äußerungen und Forderungen der LGBT-Community.

Den Kampf für jene vernachlässigten Gruppen nahmen Bewegungen wie „ACT UP“ auf, die sich vor allem für die Belange von HIV-positiven Menschen einsetzten und der Ächtung von selbstbestimmten Lebensweisen und lustvollem Sex ebenso entgegentraten wie geldgierigen Pharmakonzernen, die von der AIDS-Krise profitierten. In diesem Umfeld wurde wiederholt auch queer als Gruppenname oder als positive Selbstbezeichnung genutzt, mit der sich auf kritische Weise vom heterosexuellen wie auch mitunter vom LGBT-Mainstream abgegrenzt wurde.

Queer wurde immer häufiger zur Beschreibung von Handlungen und Personen genutzt. Zudem entwickelten sich im akademischen Bereich zu Beginn der 1980er aus den „Gay and Lesbian Studies“ die „Queer Studies“ als fächerübergreifende Disziplin. Anfang der 90er kam das Theorienbündel „Queer Theory“ hinzu, das sich aus der queer-feministischen Kritik an der Gleichsetzung von biologischem und sozialem Geschlecht entwickelte.

Und heute?

Heute ist der Begriff queer ebenso umstritten wie vielfältig interpretiert. Die Bedeutungsspanne reicht von lesbischwul bis zum Hinterfragen jeder vermeintlichen Gewissheit.

Einen Einblick aus der queeren Praxis, der zeigen kann, dass queer nicht gleich queer ist, fand sich im 35. heiter-scheitern-Podcast.

Im diesem queeren Podcast stellten die Podcaster_innen, die sich vornehmlich in der Hamburger Queerszene bewegen, sogar lokale Unterschiede im Verständnis von queer fest. Bei einer queeren Performance, auf einer dezidiert queeren Veranstaltung in Bremen, wurden sie vom Publikum schlichtweg nicht verstanden, obgleich ihre Auftritte im ähnlichen Rahmen in Hamburg großen Anklang fanden. Sie führten den Unterschied in der Wahrnehmung auf die Zusammensetzung und Einflüsse der lokalen queeren Gruppen zurück. Während es in Hamburg unter anderem einen großen Einfluss der akademischen Queers auf die Szene und Veranstaltungen gäbe, sei das Publikum der Bremer Veranstaltung vor allem aus dem lesbischwulen Bereich gekommen.

Die Soziolog_innen Hieber und Villa beschreiben die kom­plizier­te Beziehung von queer zu „lesbischwul“: „Queer steht nicht für die schlichte Binde-strich-Zusammenführung von „schwul-lesbisch“, obwohl auch dies eine Dimension queerer Praxis darstellt, sondern für eine vielfältige, herrschafts-kritische, um prozessuale Reflexivität bemühte Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken moderner Identitätslogiken und ihrer historischen Materialisierung vor allem im Bereich von Sexualitäten und Geschlechtern.“ (9) (Hieber, Villa (2007) S.8)

Ihrer Meinung nach gehört zu queer also immer auch die Auseinandersetzung mit der Herstellung von Identitäten und die Frage, in welche Machtstrukturen diese Identitäten eingebettet sind. Lesbischwul kann ihrer Meinung nach also sowohl queer als auch dezidiert unqueer sein.

Wenn Bisexuelle, Lesben und Schwule heterosexuelle Normen in Frage stellen, wenn bspw. lesbische Pärchen zusammen eine (primär heterosexuelle) Tanzstunde besuchen, so kann dies als queere Praxis bezeichnet werden, Normen („der Herr führt“…) werden in Frage gestellt.

Gleichzeitig kann die Zuschreibung „schwul“ oder „lesbisch“ auch vor­herr­schen­­de Normen stärken, wenn bei­spielsweise durch das Festlegen der eigenen Geschlechtsidentität und dem Begehren einer einzigen anderen Geschlechtsidentität das System der Zwei­ge­schlecht­lichkeit und die Annahme des unveränderlichen, angeborenen Geschlechts untermauert wird. Die Praxis, Homosexualität und Heterosexualität als angeboren und unveränderlich darzustellen, führt dazu, dass Menschen ausgegrenzt und in ihrer Entfaltung eingeschränkt werden, bei denen die Lage nicht so eindeutig ist. Wer sich folglich nicht nur zu einem bestimmten Geschlecht hingezogen fühlt, wer schwul ist und auch gerne Sex mit Genderqueeren10, Tunten, Frauen und Heterokerlen hat, läuft Gefahr kein „richtiges“ Mitglied der Szene zu gelten und mit der Forderung konfrontiert zu werden, sich endlich mal zu entscheiden.

Zur Auseinandersetzung mit Identität gehören im queeren Kontext auch das Hinterfragen der Verbindung von bei der Geburt zugewiesenem und gelebtem/n Geschlecht/ern, sowie die Verquickung von Geschlecht und Begehren. Während Schwule Frauen (GirlFags) und Lesbische Männer (GuyDykes) in lesbischwulen Zusammenhängen oft nicht verstanden werden, wenn dort bestenfalls Transgender bekannt sind, können sie in queeren Räumen darauf hoffen, niemanden durch ihre Existenz zu verängstigen und daraus resultierende Diskriminierung zu erleben. Sicher ist aber auch dies nicht, da jede_r ein eigenes Verständnis von queer hat.

In dem Artikel „Lieber ein Fähnchen im Wind“ in der Zeitschrift Phase 2 beschreibt die Autorin Katrin Köppert das ständige Hinterfragen jeder Norm, das Nichtakzeptieren von „Natürlichkeiten“ (wie bspw. Geschlechtsidentität) und das Sichtbarmachen von Macht und Privilegien als wichtigste Teile von queer. Queer könne nicht greifbar sein, da es sich selbst immer wieder verändere, die queeren Aktivist_innen zur andauernden Reflexion der eigenen Position zwänge. Sie vertritt die Ansicht, dass queer auf diese Weise nie so konsumierbar werden könne wie es lesbischwul teilweise sei, was sich auf teuren Parties und kommerziellen Chris­topher Street Days zeige. Queer könne nie zu einer starren Identität verkommen, die man mit Normen und Annahmen füllt. Queer bleibe stets das Infragestellen jeder Norm – und auch das Hinterfragen der eigenen Positionen, das Analysieren der eigenen Verstrickung in Machtver­hältnisse. Sie fordert dazu auf, sich nicht an überholte Positionen und Identitäten zu klammern und lieber ein „Fähnchen im Wind“ zu sein, sich neuen Erkenntnissen anzupassen. Auch das Verweigern einer festen Identität könne eine queere Handlung sein, vielleicht die pro­vo­zierendste von allen.

Ferner äußert sie Kritik an der Homo­normativität der LGBT-Community, also die in der Szene herrschenden Normen und die Annahme, dass alle die gleichen Forderungen hätten. Sie lenkt das Augenmerk auf das aus den 1980ern bekannte Problem der Unsichtbarkeit vieler Bisexueller, Lesben und Schwuler, die nicht die gleichen Privilegien genießen wie ein Großteil der Szene. Wenn homonormative Personen die Gleichstellung von Homos und Heteros forderten, so würde der zweite Schritt vor dem ersten gegangen. Die Herrschaftsverhältnisse und die Ausschlüsse der (weißen, heterosexuellen, „gesunden“, wohlhabenden,…) Mehrheitsgesellschaft würden einmal mehr als Ideal gesetzt und reproduziert, mehrfach diskriminierte Menschen sich selbst überlassen. Von queerer Seite aus könne so nicht gehandelt werden, vielmehr sei eine Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen (und ihrer angeblichen Natürlichkeit) notwendig, um die Situation aller Menschen zu verbessern. Solches Hinterfragen beschränkt sich nicht auf die Kategorien Geschlecht und sexuelles Begehren, sondern kann auch die Natürlichkeit von Lohnarbeit, Landesgrenzen usw. betreffen. Für Köppert steht fest, „dass queer sich niemals auf gegebene, natürliche, selbstverständliche Verhältnisse bezieht, sondern auf konstruierte und produzierte Verhältnisse im Gewand des Natürlichen.“ (Köppert, 2009)

Obgleich queer also nichts Unumstößliches kennt, setzen Queere sich nicht dafür ein, alle Menschen ihrer Identität/en zu be­­rau­ben. Die heiter-scheitern-Podc­aster_innen betonen, dass Identitäten von queerer Seite zwar hinterfragt und analysiert werden, aber nicht abgeschafft. Allein das Fremdzuweisen von Eigenschaften anhand von Identitätsmerkmalen (bspw. die Idee, alle Schwule wären einerseits Männer mit normierten, männlichen Körpern und interessierten sich ausschließlich für ihresgleichen und hätten keine sonstigen Identitäten neben der des Schwulen) und die damit einhergehende Unsichtbarkeit von anderen Identitätsfacetten wird abgelehnt. Gleichzeitig möchte queer nicht Gefahr laufen, ebenfalls eine Identität zu sein. Im heiter-scheitern-Podcast wird argumentiert, dass queer Handlung ist, nicht Sein. Wenn queer doch als Identität genutzt wird, so ist zu befürchten, dass der_die Queere sich in dieser Identität ausruht, das kritische Betrachten der eigenen Position und damit einhergehender Normierungen, Ausschlüsse und Machtstrukturen einschläft.

Fazit

Bei aller Kritik an lesbischwul sollte noch erwähnt werden, dass Homosexualität weiterhin eine wichtige und eigenständige Kategorie bleibt, da queer oftmals zu niedlich, zu ungefährlich ist, als zu unpolitisch wahrgenommen wird – irgendwie hip, aber doch nichts, was die heterosexuelle Norm und den Status quo gefährden würde. Sowohl queer als auch „lesbisch“, „schwul“ und „bisexuell“ werden weiterhin gebraucht, sind keineswegs deckungsgleich.

Die queere Community zieht sich teilweise zu häufig in universitäre Schutzräume zurück, anstatt ihr kritisches Potential auszuspielen. Außerdem beschäftigt sie sich vorrangig mit weißen Mittelschichtspositionen und wenig mit marginalisierten Positionen, die nicht alle in der Community gleichermaßen betreffen.

Queer ist also radikaler als es oftmals gelebt wird – das muss nicht so bleiben. Denn queer ist keine Identität – sondern die Praxis des immerwährenden Hinterfragens und Dekonstruierens.

Und auch dieses Fazit ist, wie zu Beginn des Textes bereits angekündigt, nur eine Möglichkeit queer zu verstehen.

gundel

Verwendete Texte und Podcasts:
· heiter scheitern (2011): 35 – antiqueer, scheitern.org/?p=265.
· Köppert, Katrin (2009): Lieber ein Fähnchen im Wind, phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=677.
· Hieber, Lutz; Villa, Paula-Irene (2007): Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA. Bielefeld: Transcript.
· Voß, Heinz-Jürgen (2011): Weg mit dem Queer Ding. Ansätze für eine queere Kapital­ismus­kritik, leipziger-kritiken.de/2011/01/queer-ding.
(1) Englisch für „körperliches Geschlecht“.
(2) Englisch für „soziales Geschlecht“, je nach Zusammenhang ist damit gefühltes Geschlecht und/oder von anderen wahrgenommenes Geschlecht gemeint.
(3) Seit Bestehen dieser Bezeichnung wird kritisiert, dass die Szene das „T“ für Transgender oftmals nur als schmückendes Beiwerk benutze. Transgender würden letztlich häufig in Forderungen nicht mitgedacht und innerhalb der Szene diskriminiert.
(4) Frauen, die bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurden.
(5) BDSM ist die Abkürzung der Begriffspaare „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“ und dient als Überbegriff für vielfältiges sexuelles Begehren, das sich unter anderem mit Machtgefällen und Schmerz beschäftigt
(6) Polyamory steht für das Begehren oder die Praxis, Beziehungen zu mehreren Menschen gleichzeitig zu haben/haben zu können.
(7) Als asexuell bezeichnen sich Menschen, die kein Interesse an Sexualität mit anderen Menschen haben, wobei es verschiedene Abstufungen und Ausprägungen des Sexualtriebes und der emotionalen Zuneigung zu anderen Menschen gibt.
(8) Die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund von Geschlecht.
(9) Hieber, Lutz; Villa, Paula-Irene (2007): Images von Gewicht. Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA. Bielefeld: Transcript.
(10) Menschen, die sich im rigiden Zweigeschlechtermodell nicht wiederfinden.

Theorie & Praxis

Zum antideutschen Kommunismus

Nicht nur für Marxisten-Leninisten, sondern für jeden vernünftig denkenden Menschen ist es unverständlich, wie man die Verantwortung einzelner Personen oder Gruppen für feindliche Handlungen auf ganze Völker übertragen konnte, Frauen und Kinder, Alte, Kommunisten und Komsomolzen nicht ausgenommen, wie man ihnen gegenüber Massenrepressalien anwenden und sie Entbehrungen und Leid aussetzen konnte.“ (Chruschtschow über die Massenumsiedelungen unter Stalins Führung)

Am Tag X, dem Tag der Invasion der USA und ihrer Verbündeter in den Irak, provozierte in Leipzig eine Gruppe mit einem Transparent mit der Aufschrift: „Hinter dem Ruf nach Frieden verbergen sich die Mörder“ eine Friedensdemo. Diese Gruppe gehört zu Vertretern der sogenannten antideutschen Ideologie, einem reaktionären Zerfallsprodukt der Linken in der BRD. Sie setzt vor allem die elitären Tendenzen der sich zunehmend selbst in die Isolation treibenden Linken der 90er Jahre fort. Ideologische Grundlage ist der Philosemitismus, der Elemente des Antisemitismus, wie etwa die Sonderstellung der Juden, fortführt, jedoch in umgekehrter Form.

Wenn die Überhöhung der Juden und das Denken in Völkern Grundlage der meisten Leute ist, die sich selbst „antideutsch“ nennen, so richten sich die folgenden Bemerkungen gegen das Antideutschtum in seiner konsequent zugespitzten Form, wie sie etwa von der Redaktion der Berliner exlinken Bahamas-Zeitschrift vertreten werden. Das Motto des Transparentes geht auf eine Erklärung der Bahamas Redaktion zu den Anschlägen am 11.9.2001 in den USA zurück. In dieser Erklärung fordert die Bahamas Redaktion in einem argumentativen Dreischritt die philosemitisch motivierte Ermordung von Moslems:

1) „Der Islam ist Heidegger für Analphabeten …“

2) „Da letztlich niemand gezwungen werden kann, Moslem zu sein, sondern sich stets aufs neue dazu entscheiden muss …“

3) „US-amerikanische Militärschläge gegen islamische Zentren hätte jeder bis auf weiteres zu begrüßen … Sollte wirklich Afghanistan das erste Ziel eines US-Gegenschlages sein, wäre zu fordern, dass dieser so konsequent wie möglich erfolgt, … Dies scheint … nicht garantiert zu sein …“

Oder kurz gefasst: 1) Moslems sind Barbaren, 2) alle sind es und sie wollen es sein, 3) tötet sie. Die Leute, die den Friedensdemonstranten Antisemitismus unterstellen und sie Mörder nennen, sind selbst Philosemiten und fordern Mord.

Eine Methode der Antideutschen besteht darin, Anderen die eigene Position und Denkweise in ihrer umgekehrten Form zu unterstellen, das heißt ihren Gegenpol selbst zu konstruieren. F. Schandl hat in „Scharfe Schafe“ recht, wenn er behauptet, dass niemand Deutschland so sehr brauche wie die Antideutschen (ausgenommen die Nazis). Es zeigt sich:

Philosemitismus und Antisemitismus sind verschiedene Formen derselben Sache.

An der Sonderstellung der Juden geben die Antideutschen faktisch jede Position auf, die jemals als links galt und verkehren sie in ihr Gegenteil. „Links“ hat noch nie besonders viel bedeutet. Es gibt wohl kaum eine Aussage, die alle, die sich als „Links“ bezeichnen, gemeinsam tragen würden. Breite Unterstützung würde wohl die sehr allgemein und unverbindlich gehaltene Einsicht „Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten“ finden, während die Umkehrung meist als „Rechts“ gelten würde. Doch gerade diese Umkehrung wird von den Antideutschen behauptet. Das völkische Denken, welches sie aller Welt unterstellen ist notwendiger Bestandteil ihrer eigenen Ideologie. Sie müssen in antisemitischer Tradition die Juden selbst in rassistischer Weise zum Volk machen. „Rassistisch“ meint hier, dass dem Jüdischen an sich Eigenschaften zugeschrieben werden. Während die Nazis in den Juden eine Art parasitäres Übel gesehen haben, sehen die Antideutschen in den Juden die Emanzipation aufscheinen. Juden können nicht „böse“ sein. Und wenn sie doch scheinbar Übles tun, dann um noch größeres Übel zu beseitigen, so die Antideutschen. Dies ist ihr – letztlich antisemitischer – Grundsatz. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren überraschte mich ein Connewitzer mit der Behauptung, israelische Soldaten würden nicht auf Zivilisten schießen (weil sie Juden sind). Der antideutsche Philosemitismus liegt hier darin, israelischen Soldaten diese Handlungsfreiheit abzusprechen und damit ein Teil ihrer Menschlichkeit. Eine Wahl die von vornherein entschieden ist, ist keine. Falls aber eine Wahl besteht (freier Wille, Willkür, die Kür des Willens), so sind Entscheidungen im Einzelnen nicht vorherzusehen und obige Behauptung haltlos, gleichgültig wie der Einsatz der israelischen Armee selbst einzuschätzen ist. Die Ideologie des Antideutschtums unterwirft alle anderen Aspekte des gesellschaftlichen Seins der Frage Jude oder nicht Jude, oder allgemeiner, der Frage der Volks- bzw. Religionszugehörigkeit, die den entscheidenden Faktor menschlichen Daseins ausmachen soll. Das sind Ansichten von Rechten und religiösen Fanatikern.

Die antideutsche Ideologie bekennt sich offen zum bürgerlichen Staat und seiner Exekutive. Das ehemalige „Bündnis gegen Rechts“ wandte sich vor Jahren aus einer antistaatlichen Haltung heraus gegen Hausarreste von Nazis anlässlich von „Hesstagen“ und setzte vielmehr auf eine antifaschistische Gegenmobilisierung. Die heutigen Antideutschen haben keinerlei Bedenken die US-Armee zum Vollstrecker ihres Willens zu erklären. Alle Kritik, die an Militär- und Zwangsdiensten oder am Rassismus innerhalb der Armee bestanden hat, und das Leben hunderter GI’s werden auf dem Altar des Philosemitismus geopfert. Die Antideutschen haben gegenüber den ehemaligen autonomen Antifaschisten, Hausbesetzern etc. einen anderen Standpunkt eingenommen, von dem sie auf die Welt schauen. Bevorzug(t)en die Autonomen die direkte Aktion von Unten, so befinden sich die Antideutschen auf einer Augenhöhe mit Staatsmännern, Generälen, etc. Damit verbunden ist die Akzeptanz von Kalkülen, wie das des „Kollateralschadens“, oder Folter. Der Großteil der Menschen verschwimmt aus der politischen Vogelperspektive zur grauen Masse, in der Einzelne nicht mehr zählen. Sichtbar bleiben nur diejenigen, die von den Medien tagtäglich in Szene gesetzt werden, die Staatenlenker. Die Antideutschen sind keine Gegner der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre politische Praxis verhöhnt ihren verbalen Antikapitalismus.

Zionismus ist Nationalismus

Ein Irrtum, dem Linke in Leipzig unterlagen, liegt in der Rolle des Antinationalismus. Mit dem Übergang von Antinationalismus zum Antideutschtum haben die Antideutschen ihre Position zugespitzt. Sie haben sich jedoch von der antinationalen Position, die sich gegen Nation an sich und jeder Form wendet, abgewandt und sind zum Nationalismus zurückgekehrt. Wie es scheint, nur in seiner negativen Form. Doch das ist falsch. Die Antideutschen bekennen sich positiv zum Nationalismus und zwar zum Zionismus. Sie haben das Tragen von Nationalflaggen eingeführt und sie sind insbesondere diejenigen aus der ehemaligen Leipziger linken Szene, die eindeutig nationale Symbole tragen. Letztlich war die autonome Vorstellung der antinationalen Haltung unklar und diffus, wenn sich aus ihr heraus wieder Nationalismus entwickeln konnte.

Solidarität mit Israel heißt nicht, Solidarität mit allen Juden. Eine solche Solidarität ist nicht möglich. Solidarität mit Israel ist vielmehr eine Solidarität mit der jüdischen Rechten, mit dem, insbesondere rechten, Zionismus. Linke, antinationale Juden werden von den Antideutschen sogar tendenziell als Verräter angesehen. „Links ist dort, wo keine Heimat ist“ lautet ein heute gebrauchter linker Slogan. Dem kann man nur zustimmen. Mir sind die Vaterlandsverräter die liebsten, „vaterlandsloser Geselle“ ist mir ein Kompliment. Der Zionismus ist sicherlich ein besonderer Nationalismus, ebenso wie der deutsche, der US-amerikanische oder der britische. Sie alle haben ihre besonderen Merkmale. Der Zionismus ist aber weder der „bessere“ Nationalismus, noch ist er von größerem Übel als alle anderen (was hin und wieder mal in der, auch israelischen, Linken behauptet wird). Die Behauptung, Israel sei für den Schutz der Juden aller Welt notwendig, ist Unsinn und haltlos. Der Staat Israel ist den rechten Nationalisten reaktionärer Selbstzweck, sie opfern ihm gern ein paar „ihres Volkes“ und paktieren zu diesem Zweck mit anderen Rechten, ja sogar mit den Nazis. Hierzu einige Beispiele, siehe Quelle [4]:

Als die britische Regierung nach der sogenannten Kristallnacht, in der Hoffnung den Migrationsdruck nach Palästina zu verringern, vorschlug, tausende jüdische Kinder direkt nach Großbritannien zu holen, lehnte der rechte Zionist Ben-Gurion (er war später u.a. Ministerpräsident und Verteidigungsminister Israels) ab. Er sagte auf einem Treffen am 7.12.1938 von Führern der Arbeiter-Zionisten:

„Wenn ich wüsste, dass es möglich wäre, alle Kinder in Deutschland zu retten, indem man sie nach Großbritannien bringt und nur die Hälfte von ihnen, indem man sie nach Israel bringt, dann würde ich mich für die zweite Variante entscheiden. Für uns darf nicht nur das Leben dieser Kinder zählen, sondern auch die Geschichte des Volkes von Israel“

1941 schlug die rechte, zionistische Nationale Militärische Organisation in Palästina (Irgun Zewai Leumi) den Nazis ihren Kriegseintritt auf der Seite Deutschlands (gegen Großbritannien) vor. Ziel war es, die „jüdische Frage“ durch die Evakuierung aller europäischen Juden nach Palästina zu „lösen“ und in Palästina einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Als die Nazis im März 1944 Ungarn okkupierten, verriet der Führer der Arbeiter-Zionisten Rezso Kasztner die Mehrheit der Juden im Ungarn, um einen Zug mit handverlesenen Juden samt Hab und Gut unter Duldung der Nazis nach Israel zu evakuieren. Adolf Eichmann über Kasztner:

„Dieser Dr. Kastner war ein junger Mann, etwa in meinem Alter, ein eiskalter Anwalt und ein fanatischer Zionist. Er war einverstanden, dabei zu helfen, die Juden davon abzuhalten Widerstand gegen die Deportation zu leisten – und auch die Ordnung in den Sammellagern aufrecht zu erhalten – wenn ich meine Augen schließen würde und wenige hundert oder wenige tausend junge Juden illegal nach Palästina emigrieren lassen würde.

… Wir verhandelten als völlig Gleichgestellte. … Ich glaube, daß Kastner tausend oder hunderttausend seines Blutes geopfert haben würde, um sein politisches Ziel zu erreichen. Er war nicht an alten Juden interessiert oder an in die ungarische Gesellschaft assimilierten. Doch er war unglaublich beharrlich bei dem Versuch biologisch wertvolles jüdisches Blut zu retten – also Menschenmaterial, dass zur Reproduktion und harten Arbeit fähig war. ‚Sie können die andren haben‘ würde er sagen, ‚doch lassen sie mich diese Gruppe hier haben.‘ Und weil uns Kastner einen großen Dienst leistete, in dem er half, die Deportationslager friedlich zu halten, habe ich seine Gruppe entkommen lassen.“

Kein Mensch ist „gut“ oder „schlecht“ aufgrund seiner Geburt, seiner „Volkszugehörigkeit“ oder seiner Religion. Maßgeblich sind seine Entscheidungen, sein Denken und Handeln, und zwar immer. Die Nationalisten spielen sich wechselseitig die Bälle zu. Sie brauchen sich, sie sind feindliche Brüder. Jedes Selbstmordattentat der Hamas tötet nicht nur wahllos Menschen um Juden zu treffen, sondern es ist auch Wasser auf die Mühlen der Regierung Scharon. Diese zerstört ihrerseits Häuser von Palästinensern, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, was aus den Leuten wird und liefert damit der Hamas Argumente. Für die Rechten ist es eine Frage des Volkes und sie verwirklichen diese Frage, in dem sie wahllos nach „Volkszugehörigkeit“ Menschen tyrannisieren und ermorden. Wer Positionen, wie die der Initiative Sozialistisches Forum Freiburg (ISF) unterstützt und das Vorgehen der Regierung Scharon zum einzig historisch möglichen erklärt oder wie die Bahamas argumentiert, ist nicht solidarisch mit allen Juden, sondern mit Leuten wie Kasztner und Ben-Gurion. Dies hat mit Kampf gegen Faschismus nichts tun. Die antideutsche Ideologie braucht den deutschen Nationalismus, weil sie selbst nationalistisch ist. Deshalb projizieren die Antideutschen ihn überall hinein und wählen aus allen möglichen Interpretationen von Äußerungen und Symbolen Anderer immer die nationalistische. Nicht weil es die angemessene ist, sondern weil es diejenige Interpretation ist, die ihnen selbst am meisten nützt. Gleiches gilt für den antideutschen Philosemitismus.

Zu einer der Projektionen der Antideutschen zählt auch das Existenzrecht Israels. Die Frage nach dem Existenzrecht Israels oder irgendeines anderen Staates ist eine Frage der Rechten. Es sind die Antideutschen selbst, die diese Frage aufgeworfen haben. Ich lehne es ab, das Existenzrecht von Israel, Palästina oder irgendeines anderen Staates an- bzw. abzuerkennen. Diese Frage ist nicht meine Sache. Grenzen zu verschieben oder einzelne Grenzen zu beseitigen, um Territorien dem einen oder anderen Nationalstaat zuzuschanzen, ist Sache der Rechten. Sache der Linken ist es, Staat und Grenzen überhaupt zu beseitigen. Meine Sache ist es, gegen Ausbeutung und Unterdrückung anzutreten, in dem Wissen, dass dies nicht nur an einem begrenzten Ort geschehen kann.

Die Linke ist ein Teil des Problems

Es ist zwar hier mit positivem Bezug von der Linken die Rede, es handelt sich dabei jedoch um einen zweifelhaften Begriff der leicht überstrapaziert wird. Mit dem Ereignissen um das Aufkommen des Antideutschtums hat „links“ (gleiches gilt für linksradikal) noch mehr an Bedeutung verloren und es scheint an der Zeit zu sein, diesen Begriff fallen zu lassen. Nicht das Wort ist das Problem, sondern dass diejenigen, die sich und andere so bezeichnen zu unklare und zu verschwommene, ja teils gegensätzliche Ziele und Vorstellungen haben. Die Linke in der BRD ist eine Mischung der verschiedensten Anschauungen von Menschen verschiedener sozialer Herkunft (Schichten), die hauptsächlich dem Kleinbürgertum aber auch dem Proletariat (Klassen) entstammen.

Die Linke hat in zweierlei Hinsicht die Antideutschen hervorgebracht. Einerseits liefern sie den Antideutschen den Gegenstand der Kritik, gespeist aus verschiedenen Ressentiments, die innerhalb „der“ Linken vorhanden sind. Zum zweiten treiben die Antideutschen selbst ein Moment vorwärts, das innerhalb „der“ Linken vorkommt und ihrer Herkunft verbunden ist. Insbesondere in der Leipziger schreibenden Zunft hat sich über die Jahre ein elitärer Geist entwickelt. Viele versuchen – völlig unkritisch – die Methode des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs nachzuahmen und treiben es dabei bis zur ungewollten Persiflage desselben, wie Yves im Conne Island Newsflyer CEE IEH #100 schön illustriert. Das einzige Argument, dass zählt, ist das diskursive. Es ist also ein Heimspiel der Intellektuellen, d.h. Journalisten, linker Wanderprediger, Professoren und solcher, die es werden wollen. Dabei entheben die Antideutschen der Diskussion als Form der Auseinandersetzung jegliche Kraft, indem sie die schon im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb herrschende argumentative Beliebigkeit auf die Spitze treiben. Wenn Yves schreibt, er sei stolz ein Softcore-Antideutscher zu sein, fällt er damit scheinbar auf das Niveau der „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“-Spinner zurück. Gemeinsam ist beiden das nichtargumentative festhalten an ihrer Position. Doch während die Deutschen nie ein Argument hatten, haben sich Yves’ Argumente als unwirksam erwiesen, weil die Diskussion schon längst von den Antideutschen aufgekündigt worden ist und sie sich statt dessen rhetorischer Attacken und willkürlicher Deutungen interessant klingender Wortkombinationen bedienen. Auch hier handelt es sich um eine Zuspitzung bürgerlicher Methoden, insbesondere des Berufspolitikerschwachsinns, den wir tagtäglich über uns ergehen lassen.

So das Wort „unbedingte Solidarität“. Direkt dem Munde Schröders entnommen wird es verkündet. Doch diese Wortkombination ist zwar grammatikalisch zulässig, aber inhaltsleer. Gerade deswegen hat Schröder sie benutzt. Solidarität hat immer die eigenen Ziele und Nöte zur Bedingung. Es bedeutet, in den Zielen und Nöten des Anderen die eigenen zu erkennen, sich selbst im Anderen zu erkennen. Solidarität ist der Egoismus des sich als gesellschaftlich begreifenden Individuums. Man verfolgt die Ziele Anderer, indem man die eigenen verfolgt und die eigenen Ziele, indem man die Anderer verfolgt. Mit der Solidarität ist es wie mit dem Satt-sein, man wird nicht dadurch solidarisch, in dem man es erklärt. Unbedingt ist bestenfalls Gehorsam, niemals Solidarität.

Tatsächlich kommt es der heutigen Ex-Linken mehr auf gute Rechtschreibung und Grammatik an, als auf das was geschrieben wurde. Wertmüllers Vorwurf an das Leipziger Blatt Incipito „die können ja nicht mal richtig deutsch“ ist in diesem Fall kein Ausdruck seines Nationalismus, sondern seines elitären Dünkels. Wie’s scheint nach dem Motto „Nach oben buckeln und nach unten treten“, verhöhnte das Incipito seinerseits ein Text der Leipziger Antifagruppe AJF. Witze auf Kosten der Schwächen anderer Leute zu machen ist nicht komisch. Das ist Spießertum. Die Antideutschen entscheiden gleich selbst, wer etwas zu sagen hat und sich äußern darf. „Wer nichts zu sagen hat, soll auch nicht sprechen“ titeln die Herren Möller und Pünjer. Indem sie bestimmen wollen, was gesagt werden darf und was nicht, erheben sie Führungsansprüche gegenüber Andern.

Kehren wir zurück zum Tag X. Was haben denn die Antideutschen mit dem besagten Transparent bezweckt? Nichts anderes als den Demonstranten zu sagen, „Wir finden euch völlig Scheiße“ und einen Angriff zu provozieren, um sich selbst in die Opferrolle begeben zu können. Der Angriff erfolgte dann auch und wurde zur Unterstützung der Position der Antideutschen ausgeschlachtet. Nach dieser Demo warfen Unbekannte Farbbeutel auf ein Graffiti des Conne Island. Das BgR beschwerte sich hinterher: „Grundsätzlich ist eine Abnahme des innerlinken Dialogs zu beobachten“. Doch bei der Attacke handelte es sich um eine Aufkündigung des Dialoges, der schon seit längerer Zeit eine sehr einseitige Sache war. Für diese Abnahme sind nicht die Farbbeutelwerfer verantwortlich, sondern die Politik der aktiven Gruppen rund ums Conne Island und die „Diskussion“ im Incipito und Cee Ieh, die teilweise mit der Herabsetzung der Kritiker der neurechten Politik im Leipziger Süden verbunden war. So wurde etwa ein Text des Antikriegsbündnisses im Incipito durch das Layout vorgeführt. Tomorrow, eine Jugendantifagruppe, veröffentlicht eine Broschüre, die Hass gegen Moslems schürt. Antideutsche, wie die Bahamas oder die Herrn Möller und Pünjer, sind nicht „links“ und wenn doch, dann will ich es nicht sein. Es gibt keine Basis, auf der eine gemeinsame Diskussion möglich wäre. Die Entscheidung linker Projekte, wie etwa der LiWi, das Incipto nicht mehr zu verkaufen, ist angemessen. Die Antideutschen stellen sich gern als Opfer dar, doch antideutsche Täter sind keine Opfer und es gibt keinen Grund, wenn einem jemand auf die linke Backe schlägt, auch die rechte hinzuhalten.

Als auf einer Diskussion in der LiWi über das Incipito seitens der Kritiker eingeworfen wurde, dass die Linke nicht über Krieg diskutiert und ihn schon gar nicht unterstützt, entgegnete Martin D. den antideutschen Kriegstreibern beispringend, dass die SPD 1914 auch für den Krieg gestimmt hat. Es sei hier noch mal an das Zitat des konservativen Prof. Dellbrück zu diesem Thema erinnert (siehe FA! #7):

Wie weggeblasen war [von der SPD am 4. August] der ganze Schwulst der staatsfeindlichen Redensarten; der internationale Proletarier erwies sich als eine bloße Kampfesmaske; mit einem Ruck war sie heruntergerissen und es erschien das ehrliche Gesicht des deutschen Arbeiters, der nichts anderes begehrt, als an der Seite seiner Volksgenossen, wenn das Vaterland ruft, zu streiten!“

Auch Martin D. schien an dieser Stelle Schlagfertigkeit wichtiger zu sein als Inhalt. Denn dass ausgerechnet die Rechtswende der SPD herhalten muss, spricht nicht für die nationalistische Kriegstreiberei, sondern gegen sie. Erwähnt sei noch, dass diese Entscheidung der Hauptgrund für die Abspaltung der linken USPD von der SPD war. Die SPD hätte 1914 wohl auch gern den Holocaust als Kriegsgrund angegeben, doch dafür kam sie zwei Kriege zu früh und musste sich deshalb mit dem russischen Despotismus begnügen. Mehr Glück hatten da schon die Grünen 1999 und die Antideutschen 2001. Sie konnten ihre Feinde mit dem Nationalsozialismus vergleichen. Dass die Antideutschen behaupten, der Nationalsozialismus sei prinzipiell unvergleichbar, störte sie dabei nicht.

Ich habe des Öfteren Stimmen gehört, die sagen, die Cee-Ieh-Redaktion sei eine unabhängige Gruppe, das Conne Island biete Gruppen Raum, habe aber mit deren Inhalt nichts zu tun oder das „kulturelle“ Conne Island sei von dem „politischen“ verschieden. Solche Aussagen sind politische Bankrotterklärungen. Wegbereiter des Antideutschtums sind die Aktiven im Conne Island und zwar alle. Ohne deren aktive und passive Unterstützung wäre das Antideutschtum nicht stark geworden. Gleichzeitig zeigen solchen Äußerungen eine fortschreitende Entpolitisierung und den Rückzug ins Private. Natürlich trifft sich nicht Attac oder die SPD-Jugend im Conne Island; es gibt sehr wohl eine inhaltliche Unterstützung der Gruppen im Conne Island durch das Conne Island. Die Redaktion des Newsflyers für politisch eigenständig zu erklären, ist ein Armutszeugnis, das in der Linken seinesgleichen sucht. War das Conne-Island-Plenum nicht in der Lage, den Vertrieb einer Klarofix-Ausgabe zu verhindern? Jetzt will es nicht mehr für die Zeitung verantwortlich sein, die das eigene Projekt repräsentiert? Doch, alle Aktiven im Cee Ieh tragen auch für den Newsflyer politisch Verantwortung, es ist ein Teil ihrer Freiheit, ihres Freiraumes. Daß Yves einer der Wenigen ist, die offen Kritik üben und dennoch im antideutschen Denken gefangen bleiben, ist tragisch. Hier stellt sich die Linke selbst in Frage. Verkünder der Emanzipation und des Freiraumes ist sie nicht in Lage, mit den eigenen reaktionären Tendenzen umzugehen. Stattdessen Schweigen, Rückzug ins Private, Passivität und Mittragen dieser Tendenzen um den eigenen kleinen Vorgarten nicht zu gefährden.

Die Wertkritik als theoretische Basis der Antideutschen

Vorab sei gesagt, dass es sich bei Wertkritikern wie etwa R. Kurz im Allgemeinen und im Gegensatz zu den konsequent antideutschen Positionen um Linke handelt, was ich ihnen bei allem Unsinn, den sie erzählen, gerne zugute halte. Dennoch haben sie die antideutsche Ideologie unterstützt, was sie in „Scharfe Schafe“ auch einräumen. Die ehemalige Nähe erklärt die Heftigkeit ihrer Kritik, dass ihre Kritik oft stumpf bleibt, liegt in ihren eigenen Ansichten. Denn den halben Weg auf der Umkehr der Einsicht „Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völker, sondern zwischen Oben und Unten“ haben sie selbst zurückgelegt, in dem sie erklären, es gäbe gar kein Oben und Unten. Vielmehr seien „abstrakt universalistische Prinzipien“ (N.Trenkle) wie der Wert am Werk. R.Kurz erklärt dementsprechend in trend online Dez. 2003: „Die Anwendung von Arbeitskraft setzt dem ursprünglichen Geldkapital Mehrwert zu …“, was schlicht beweist, dass er selbst nicht genau weiß, wovon er eigentlich redet. Er nennt diesen Mehrwert dann „Beute“, muss aber dieses Wort schon in Anführungsstriche setzen. Denn sonst würde sofort die Frage aufkommen, wer denn an wem Beute macht, sprich wer wen ausbeutet. Er müsste die Frage nach dem Oben und Unten (oder nach Marx: den Klassen) stellen. Doch dazu ist er zu sehr Bürger. Wer nach Marx von Wert spricht, sagt, dass sich im gesellschaftlichen Durchschnitt die Waren im Verhältnis der zur ihrer Produktion gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit tauschen (das ist das sog. Wertgesetz). In Gesellschaften, wo dieser Satz nicht gilt, gibt es keinen Wert. Dass im Durchschnitt nach diesem Verhältnis getauscht wird, stellt sich dadurch ein, dass Alle versuchen, möglichst billig zu kaufen und möglichst teuer zu verkaufen, nicht weil sie irgendeine Idee vom Wert im Kopf haben. Der Wert ist keine Eigenschaft der einzelnen Ware, sondern Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Der Lohn ist Äquivalent der Arbeitskraft, d.h. der Waren die die Arbeiter für ihre Reproduktion konsumieren. Für ihr Produkt erhalten die Arbeiter nichts. So konzentrieren sich die von der übergroßen Mehrheit der Menschen hergestellten Produkte in den Händen der Ausbeuter, der Kapitalbesitzer, der Bourgeoisie (ein lesenswerter Text zur Frage „Proletariat – Wat dat?“ ist unter www.mxks.de/files/ag/proletariat.html zu finden). Von Mehrwert zu reden heißt, dass die Arbeiter mehr produzieren, als ihnen an Produkt zugewiesen wird. Das Maß hierfür ist eben die in der Ware enthaltene durchschnittliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Es gibt keinen direkten Wertzusammenhang zwischen der Arbeitskraft und der von ihr produzierten Ware. Das in der Produktion irgendetwas Mehrwert hinzugefügt wird, ist Nonsens. In der Produktion realisiert sich das andere Moment der Ware, der Gebrauchswert. Nach Marx ist die Ware in ihrer entwickelten, entfalteten Form Kapital. Deshalb ist dies auch Titel eines seiner Hauptwerke und nicht etwa „Die Ware“ oder „Der Wert“.

Auch die Leipziger Wertkritiker Micha B., Martin D. und Kenneth P. („Scharfe Schafe“) sehen im Kapitalismus eine Bürgergesellschaft und keine Klassengesellschaft. Sie sehen in der Antiglobalisierungsbewegung den einzigen Ort, an dem sich Emanzipation entwickeln kann. Der einzige Ort, an dem heute tatsächlich das Kapitalverhältnis (örtlich und zeitlich begrenzt) außer Kraft gesetzt wird, ist der Streik. Dass das Proletariat das Kapital spontan aus Eigeninteresse und ohne größere politische Theorien immer wieder angreift, erweckt bei den Wertkritikern keine Aufmerksamkeit. Intellektuelle, die sie sind, ist ihnen gerade die Ideologielosigkeit der meisten Streiks zuwider. Dabei ist dieser ständige Kampf, der auch ohne tiefgreifende Begriffe oder Theorien stattfindet, Ausdruck des unvereinbaren Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital. Denn er beruht nicht auf Ideen (außer der, unter den jeweiligen Bedingungen nicht mehr arbeiten zu wollen), sondern wirklichen Verhältnissen.

Auch die Leipziger Wertkritiker können sich nicht der antideutschen Ideologie entziehen. Sie teilen den positiven Bezug auf den Staat Israel und damit Teile der zugehörigen Ideen. Zudem behaupten sie indirekt, Philosemitismus sei weniger bedrohlich als Antisemitismus. Bei einem auf Juden gemünzten Bahamasschen Dreischritt, hätte niemand Zweifel, Antisemitismus in offener und brutaler Form vor sich zu haben. Nur wird hier den Moslems die Rolle zugeschrieben, die die Nazis den Juden zugeschrieben haben, nämlich Verderbnis und Übel für die kulturvollen Zivilisationen zu sein. Philosemitismus ist umgestülpter Antisemitismus. Geändert werden nur die Zuweisungen von höher- und niederwertigen Menschen.

Die Leipziger Wertkritiker tragen ein klare Mitverantwortung für das Antideutschtum, für dass sie sich viel zu sehr als Steigbügelhalter hergeben.

Antideutsche argumentieren irrational und unvernünftig

Es ist bereits an verschiedenen Stellen gezeigt worden, dass die antideutsche Ideologie jeglichen vernünftigen Denkens entbehrt. Sie unterwirft alles Denken der Sonderrolle der Juden und darüber hinaus, nationaler Logik folgend, der Sonderrolle Israels. Widersprüche werden einfach wegdefiniert oder solange umgedeutet, bis es irgendwie passt. So wurde etwa der Widerspruch zwischen erklärter Antistaatlichkeit und ebenso erklärter Solidarität mit Israel zu „aber Israel zuletzt“ „gelöst“. Dieser Gedanke ist, wenn man ihn zum ersten Mal hört, völlig überraschend, weil/wenn man Antistaatlichkeit niemals als Auflösung oder Abschaffung einzelner Staaten verstanden hat und nie auch nur die Idee einer Reihenfolge, in der Staaten abzuschaffen wären, bestanden hat. Dieses Beispiel zeigt die völlige Unklarheit was Überwindung von Staat praktisch bedeuten könnte, denn sonst würde der Schwachsinn offenkundig sein. Die Frage, warum die antideutsche Ideologie auftaucht lässt sich nicht so einfach beantworten. Doch liegen hier die Leipziger Wertkritiker nicht so falsch, wenn sie auf eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit der Antideutschen verweisen. Es scheint, dass sich die Antideutschen selbst mit dem „deutschen Volk“ identifizieren und sich schuldig fühlen (warum auch immer). Sie projizieren ihr eigenes Denken in umgekehrter Form in Andere und wollen sich selbst in der Opferrolle sehen und handeln dabei äußerst aggressiv. Dass die Friedensdemonstranten am Tag X sich vom Transparent provozieren lassen würden, war vorhersehbar. Die Transparentträger haben selbst nach Mord gerufen und gleichzeitig andere Leute Mörder genannt. Die Antideutschen versuchen darüber hinaus, das Richtige zu tun, etwas von dem sie selbst behaupten, dass es nicht möglich wäre. Sie üben Druck auf Andere aus und erklären jeden, der ihre Position nicht teilt, tendenziell zum Antisemiten, was wiederum, wie an ihrer Haltung zu den Moslems zu sehen ist, auf eine Freigabe zum Abschuss hinausläuft. Die Antideutschen unterdrücken mit rhetorischer Gewalt andere, erklären ihnen was sie zu denken haben, wie welche Worte und Symbole zu interpretieren sind, und nennen das Kritik. Und alle lassen sich das gefallen. Siehe z.B. Vol(ks/x)sport, Volksküche etc. Die Behauptung, dass der, der von Volkssport redet, zwangsläufig Völkisches im Sinne hat, ist blanker Unfug. Auch hier stellt sich die Frage, warum lässt sich die Leipziger autonome Linke so vorführen? Es zeigt sich, dass die Antideutschen ein Situation des Schweigens hervorbringen, die letztlich auch bis zu mir reicht. Die Farbbeutel auf das Conne Island sind ein Ausdruck dieser sprachlosen Ohnmacht. Es mag bedenklich scheinen, wenn Leute zu solchen Mitteln greifen. Bedenklich ist auf jeden Fall die Situation, die solche Ausdrücke der Sprachlosigkeit, zu der auch Yves’ „Stolz“ gehört, hervorgebracht hat. Die Antideutschen benutzen ihre Rhetorik als Machtmittel. Sie beherrschen bereits einen guten Teil der ehemaligen autonomen Szene Leipzigs.

Antideutsche sind Antikommunisten

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (Marx/Engels) Dass dieses Zitat der „deutschen Ideologie“ entstammt, ist nicht verwunderlich, denn auch die antideutsche Ideologie ist eine deutsche Ideologie. Antideutsche, wie die ISF, behaupten gerne, sie seien Kommunisten und Israel, da im „Jüdischen“ die Emanzipation stecke, im Übergang zum Kommunismus begriffen. Israel sei mit normalen Mitteln nicht zu erklären und schon gar keine Klassengesellschaft, so die ISF. Israel sei etwas ähnliches wie die „Diktatur des Proletariats“. Das heißt aber nichts anderes als Klassengesellschaft, nämlich Diktatur der Klasse des Proletariats gegen die Klasse der Bourgeoisie. Das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ besagt grob, dass das Gewaltmonopol in der Hand des Proletariats liegt, das es dazu benutzt, das Privileg der Bourgeoisie am Privateigentum abzuschaffen, alles notwendig zu Tuende unter alle Mitglieder der Gesellschaft zu verteilen und somit alle in Proletarier zu verwandeln, bis eben nur noch diese eine Klasse übrig ist, die damit jedoch aufhört Klasse zu sein. Damit verschwindet nach diesem Konzept Staat und jede Form der Politik, Demokratie wie Diktatur überhaupt. In Israel herrscht, wie fast überall auf der Welt, die Diktatur der Bourgeoisie (die Hartzgesetze lassen grüßen). Nur dass gesellschaftlicher Zwang hier als Naturzwang („Sachzwang“) dargestellt wird. Die Wahlen entscheiden nur, welche Eliten die Diktatur des Wirtschaftswachstums, der Standortideologie etc. (eben die Interessen der Kapitalbesitzer) durchsetzen.

Hier noch ein paar weitere Beispiele für das leere Gerede Antideutscher. Die ISF schreibt: „… der Kommunismus, die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft, verlangt … etwas Unmögliches: Rache für die Toten …“. Rache ist kleinbürgerlicher Mist, der dem Denken der ISF selbst entspringt. Das Rache etwas mit Kommunismus zu tun hat, ist blanke Dichtung. Weiter: „Es mag sein, dass die Juden ein ‚Volk‘ sind; Israel jedenfalls ist eine Gesellschaft.“ Hier räumen sie ihr eigenes völkisches Denken ein, der zweite Teil ist ein für Antideutsche typischer Nullsatz. Gesellschaft ist – zumindest für Marxisten – jegliche Form menschlichen Zusammenlebens, sowohl das der ersten Menschen, als auch der in Israel, ebenso der Nationalsozialismus, wie auch die klassenlose Gesellschaft. Und noch eins: „ … niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose ‚Befreiung der Arbeit‘ und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte“

Wieder Blödsinn. Leider ist das Gegenteil zu sehr der Fall. Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten oder wie sie sich auch immer nennen, woll(t)en meist das Beutemachen beenden. Dies trifft auch auf Leute wie Stalin, Mielke oder eben Chruschtschow zu, die leider auch Kommunisten waren:

Man kann nicht sagen, dass die Taten Stalins die eines gedankenlosen Despoten waren. Er meinte, dass man im Interesse der Partei, der werktätigen Massen, um der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften willen so handeln müsste. Darin liegt die wirkliche Tragödie!“ (Chruschtschow)

Und weil der Kommunismus eine wirkliche Geschichte hat, eine Geschichte in der viele Menschen, nicht zuletzt des Proletariat selbst, Entbehrungen, Leid und Tyrannei ausgesetzt waren, ist es keine Frage der Interpretation, Definition oder „kritischen Fassung“ was Kommunismus sei. Fakt ist, Kommunisten erkennen im Kapitalismus eine Ausbeuter-, sprich Klassengesellschaft. Sie sind solidarisch dem Proletariat gegenüber. Weder die Antideutschen, noch die Wertkritiker haben mit dem Kommunismus etwas gemein, und wenn sie es tausendmal sagen. Dass die Geschichte des realen Sozialismus sie nicht berührt, sie nichts angeht und sie keinerlei Rücksicht darauf nehmen, ist Beweis genug dafür (siehe auch FA! #13 „Hinter dem Vorhang“). Den Wertkritikern muss man zugute halten, dass sie dem Kommunismus einen anderen Namen geben wollten, als den antideutschen. Die heutige Schwäche der Kommunisten ist Ergebnis ihrer eigenen Geschichte. Auch in der Instrumentalisierung der Geschichte des Kommunismus und damit verbunden, dem Leid vieler Menschen zeigt sich der zynische Charakter der antideutschen Ideologie. Sie sehen sich selbst gern als Opfer, doch instrumentalisieren den Holocaust. Leid anderer Menschen ist ihnen völlig gleichgültig.

Ausblick

Wenn sich aus diesem Wahnsinn überhaupt etwas Positives entnehmen lässt, dann das: Es gibt keine gute Nation. Nationalismus darf in keiner Form unterstützt werden. Das gilt auch für Israel und Palästina. Keine Solidarität mit Israel; Solidarität gegen Antisemitismus. Keine Solidarität mit Palästina; Solidarität gegen Unterdrückung. Wenn sich derzeit in der BRD und in vielen anderen Ländern Protest gegen die Verschärfung der Lebensbedingungen äußert, ist das für Linke eine kritische Situation. Bei solchen Protesten ist auch mit nationalistischen Äußerungen zu rechnen. Ich nehme Micha B., Martin D. und Kenneth P. beim Wort wenn sie in „Scharfe Schafe“schreiben:

Ohne ein Hineinwirken ist nicht klar, in welche Richtung sich eine eventuell kommende Friedensbewegung oder die Globalisierungskritik [oder die Proteste gegen Sozialabbau] entwickeln werden. Gerade bei fehlendem vermittelndem Eingreifen befürchten wir eher eine antiemanzipatorische Entwicklung“

v.sc.d

Einige Quellen:
[1] „Über den Personenkult und seine Folgen“, N.S. Chruschtschow, Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU
[2] „Israel und der Kommunismus“, ISF Freiburg, hagalil.com
[3] „Hinter dem Ruf nach Frieden verbergen sich die Mörder“, Bahamas
[4] „Zionism in the Age of the Dictators“, Lenni Brenner, marxists.de
[5] „Scharfe Schafe“, Broschüre gegen den antideutschen Bellizismus, Krisis (Hrsg.)

Theorie & …

Sackgasse Sozialdemokratie!?

Ein guter Sozialist, man glaubt es nicht, ist der, der mit dem Staate bricht!

Diese Widersprüche, in die sich die alte Garde der Parlamentssozialisten unaufhörlich verwickelt, in Verbindung mit dem Drängen der jüngeren Generation, ohne Rücksicht auf das revolutionäre Mäntelchen Opportunitätspolitik sans phrase zu treiben, zeigt mir, wie die Krise in der Sozialdemokratie enden wird: mit dem Siege der Nationalsozialen und schrankenlosen Kompromißler über die hin- und herschwankenden Altmarxisten, die schon immer Opportunisten waren, aber es weder sich noch den Massen eingestehen wollten. Und das wird gut sein. Es gibt eine offene und eine schleichende Lüge. Ich ziehe die offene vor.“ (Gustav Landauer, Die Krise in der revolutionären Bewegung, in: Sozialist, 18. Juni 1898)

Sag mir, wo Du stehst?

Da geht doch was!? Die soziale Frage kehrt nach Deutschland zurück und erregt die Gemüter. Und mit ihr kommen auch die Ideologien wieder. Wer sind diese MontagsdemonstriererInnen, die doch nicht nur montags auf den Straßen waren? Protestler, Revanchisten, enttäuschte GewerkschaftlerInnen, Ostlerinnen oder Nationalisten, Politikverdrossene, Arbeiter, Arbeitslose oder Revolutionäre? Sind sie, weil sie die soziale Frage stellen, schon Sozialisten? Weil sie oft national argumentieren, gleich National-Sozialisten? Oder sind es alles SozialdemokratInnen, weil sie gegen eine staatliche Lösung und für eine staatliche Lösung der sozialen Frage eintreten? Ein Defizit wird sehr schnell deutlich: Wer wo steht und warum, weiß kaum jemand. Es gibt ein riesiges Problem in der politischen Bildung. Sowohl was die Auseinandersetzung mit Geschichte als auch ihre Aktualität betrifft. Daß faschistische Gruppierungen hier und da – unbemerkt und unerkannt, mit Zustimmung und Applaus – mitlaufen, ist schlichtweg unerträglich!

Der Fall: SPD!

Im Zentrum der vielerorts auf den Straßen geäußerten Kritik steht die Reform der sozialen Sicherungssysteme durch die regierende sozialdemokratische Partei. Und hier beginnen die Widersprüche. Nach der Logik der parlamentarischen Demokratie, die sich im Wahlverhalten der gutbürgerlichen Positionen wiederfindet, darf mensch ja kein böses Wort über den allgemeinen Verfall der Sozialdemokratie verlieren, insoweit er/sie zumindest an einer positiven Lösung der sozialen Frage interessiert ist. Das mache nur den politischen Gegner stark. Die Christlich-Konservativen. Und mit deren Wiederübernahme der Macht im deutschen Staat droht die aktuell sozialdemokratische Reform zum Quadrat. Wirklich wollen kann das nur der wahre Besitzstandswahrer, die konservative Haltung eben. Klassisch parlamentarisches Dilemma. Wer dabei insgeheim an eine alternative Partei denkt, in Form einer „neuen“ SPD, an die PSG (Partei für Soziale Gleichheit) oder an die PDS gar, gibt sich Illusionen hin. Neue Parteien haben’s schwer und außerdem steht hinter dem „neu“ meist nur allzu Bekanntes. Der Aufstieg der Grünen Partei zeigt lediglich, der Weg zur Macht dauert mehr als ein Jahrzehnt und die programmatischen Kosten sind enorm. Darüber hinaus genügt ein Blick in die Parlamente anderer Staaten, um festzustellen, dass die Entwicklung des modernen Staates überall eng verknüpft ist mit der Geschichte und Institutionalisierung zweier großer Parteiorganisationen, so eng dass sich mensch zuweilen an die DDR-Verhältnisse erinnert fühlt: Kein höherer Beamter ohne das entsprechende Parteibuch.

Neben dem gespürten Unbehagen ist es aber die eigene Widersprüchlichkeit, die die Leute auf die Straße treibt: Sie ziehen gegen ihre einzige parlamentarische Alternative zu Felde, die zugleich auch ihre einzige politische ist und bleibt.

Der gegenwärtige Niedergang der SPD als ein Zeichen für eine grundsätzliche politische Veränderung in Deutschland? Werden wir Zeugen des historischen Niedergangs der Sozialdemokratie? Darin läge ja auch eine große Chance, die politisch erstarrten Verhältnisse in der Nachkriegs-BRD umzustülpen bzw. für die Ex-DDR’lerInnen, in ihr politisch anzukommen (1). Angesichts der bitteren Erkenntnis jedoch, dass viele Menschen den radikalen Schluß nicht wagen, sondern die Wahl verweigern ohne Perspektive, oder einfach politisch zu anderen sozialdemokratischen Parteien oder nationalistischen flüchten – die PDS ist derzeit zweite Kraft im Osten – wohl eher nicht. Die SPD wird sich wieder stabilisieren. Mit böser Zunge könnte man gar behaupten, mit der Sozialreform bereitet die SPD zielgerichtet ihr Comeback in der Oppositionsrolle vor. Was bleibt? Die immergleiche Wiederkehr ein und desselben Widerspruchs.

Der Verfall der Sozialdemokratie.

Die Regierungsübernahme durch die SPD seit 1998 ist ein Lehrstück in Sachen sozialistischer Geschichte in Deutschland, insofern SozialistInnen mit den Liberalen und Konservativen um die Plätze im Parlament buhlten. Kündigungsschutz, Kinderbetreuung und Rente, 8-Stunden-Tag, Soziales Netz und Organisierung in den Betrieben und Unternehmen – Ziele, für die Menschen sich in Arbeitskämpfen aufgerieben haben, gar getötet wurden – der parlamentarische Arm der gewerkschaftlichen Organisationen wendet sich gegen seine Geschichte. Konnte mensch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch den Glauben hegen, die sozialistische Parlamenterei (Sozialdemokratie) würde mit den kleinen Schritten der rechtsstaatlichen Untermauerung des eigenen Programms den Weg zu einer sozialen Gesellschaft ebnen, zeigt sie heute selbst: Recht wird im Staate gemacht, nicht errungen, und kann deshalb auch jederzeit wieder revidiert werden. Mit dem Erschlaffen der Arbeitskämpfe, mit dem Verlust der revolutionären Perspektive innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung, woran die Sozialdemokratie einen gehörigen Anteil hat, kehren die Gespenster des 19. Jahrhunderts zurück. Dabei ist nicht die Farce gemeint, dass selbsternannte Sozialisten heute tönen, die Ursache der sozialen Probleme liege in der Faulheit Bedürftiger begründet, sondern eben jene Tragödie der sozialistischen Idee, ihre Verwirklichung im Ausbau des modernen Staatsapparats zu suchen. Die ProtagonistInnen eines ähnlichen Dramas lassen sich im übrigen in den Führungsebenen der Kommunistischen Parteien, in den Staatsgeschichten des gesamten „Ostblocks“ finden.

Das Dogma vom modernisierbaren Staat

Durch das offensichtliche Scheitern des sozialdemokratischen Projekts im Ganzen – fernab der, nur dem Namen nach, sozialistischen Parteien – wird eines deutlich: Einer der Geburtsfehler der sozialdemokratischen Idee liegt in dem Glauben begründet, den im frühen 19. Jahrhundert von der Aristokratie beherrschten Beamtenstab durch parlamentarische Kontrolle zu übernehmen, auszubauen und so die durch die Industrialisierung verschärften sozialen Widersprüche aufzuheben. Dabei haben Delegierte und Funktionäre nicht nur die Eigendynamik der einzelnen Institutionen unterschätzt, sondern auch die in sich konservativ, teils auch revanchistische Bürokratie. Jeder künftige Sozialismus, sollte er Gehalt haben, wird an der Aufarbeitung dieser Geschichte nicht vorbeikommen. Das Dogma der Sozialdemokratie, die Religion des Staates, ist zu hinterfragen! Wie sollen gesellschaftliche bzw. gesellige Formationen verfasst sein, so dass solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe und menschliches Miteinander ohne Konkurrenz, Selektion und Ausgrenzung fernab von Burgfrieden und Waffenstillständen möglich werden? Staatlich?

Die Strategie der Machtübernahme

Reduziert man diese Frage auf die reine Machtübernahme eines überkommenen Staatsapparats – und eben das haben Delegierte und Funktionäre oft gemacht – manövriert man sich quasi automatisch in die Zwangslage à la Schröder, keine Alternative mehr zu haben. Von der Spitze der Gewaltenmonopole aus, ist man versucht, sie auch für die eigenen Ziele einzusetzen. Das Zauberwort ist dabei die Reform. Man reformiert den Apparat, führt neue Regeln und Gesetze ein, auch gegen viele Widerstände und am Ende hat man nur den Status quo erhalten. Der moderne Staat dagegen reproduziert sich selbst, man wird abgewählt und der politische Gegner versucht sich in dem gleichen Spiel. Die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung und die Unsicherheiten wachsen weiter, die parlamentarische Initiative vermag kaum Einfluß zu nehmen. Und der gutgläubig sozialdemokratische Parlamentarier ist dabei zum Handlanger einer auf Selbsterhaltung fixierten Institution degradiert, deren Reproduktion durch den Ausbau der Monopole immer behebiger verläuft. Persönlicher Ausstieg bedeutet hier nicht mehr oder besser so viel wie die programmierte politische Rente. Derweil sind Staatsautoritäten und das staatliche Gewaltenmonopol im Laufe eines parlamentarischen Lebens ein wenig zugewachsen – na und? Vielleicht bringt‘s ja was … später …

Wie modern ein Staat heute ist …

…läßt sich am Gewaltenmonopol zeigen: Die Monopolisierung der exekutiven Gewalt in staatlicher Hand, ein Relikt der Monarchie, hat die Räuber und Banditen aus den kontrollierten Territorien an die Peripherie verdrängt. Geraubt und gemordet wird aber immer noch allüberall, jetzt nur organisiert und systematisch. Die Wilderer sind weitestgehend verschwunden, stattdessen betreiben Unternehmen staatlich gesegneten Raubbau zu Land, im Wasser und in der Luft; auch die Heere von Staatsbeamten unter Waffen: Armeen, Geheimdienste, Grenzschützer, Zöllner, PolizistInnen, staatliche Sicherheitsdienste wecken kaum ein Gefühl von Sicherheit, außer direkt in den Zentren der Macht.

Ebenso düster ist die Monopolisierung der legislativen Gewalt einzuschätzen. Ehemals dem Gutdünken der Landesfürsten ausgesetzt, wird heute jede bedarfsgerechte Vereinbarung zwischen parlamentarischen Kompromißlern und findigen Winkeladvokaten zerrieben. Recht hat mensch nicht im modernen Staat, Recht kann mensch bekommen … vielleicht, wenn alles gut läuft – na ja es kostet auch … ein wenig. Anstelle der Gleichzeitigkeit mehrerer Rechtsquellen, welche sogar das alte Rom noch kannte, ist das Monopol der judikativen Gewalt im Staatsalphabet getreten, in der Verfassung, deren Ausbuchstabierung größtenteils die Verwaltungsgerichte übernommen haben. Selbst die sogenannte vierte Gewalt, die öffentliche, in die die aufgeklärten Geister der frühen Moderne so viele Hoffnungen setzten, ist im modernen Staat zu riesigen Medienkartellen degeneriert, denen politische Bildung dasselbe wie Staatsbürgerkunde bedeutet. Und nicht selten werden sie dabei von Parteien kontrolliert und gelenkt (2).

Machen wir uns nichts vor, staatskritische und antistaatliche Äußerungen werden nach wie vor verfolgt und bestraft. Es gibt keine Gewaltenteilung, weil der moderne Staat selbst die Klammer und das Monopol über diese drei bzw. vier Gewalten darstellt. Er selbst ist an und für sich totalitär, weil er nur die Unterordnung duldet. Die Rede vom totalitären Staat ist Tautologie, ein Satz ohne Erkenntnisgewinn! Vielmehr sind moderne Staaten bei der Frage der Gewalten nur nach Art und Grad der Repression zu unterscheiden.

Kein bißchen Nationalgefühl!

Dies alles wäre zu ertragen und eben nach der Strategie der Sozialdemokratie vorerst zu übernehmen, trüge die staatliche Lösung die revolutionäre Perspektive in sich, jene durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Widersprüche aufzuheben, letztlich den dringlichen Austritt aus der Arbeitsgesellschaft, der Gesellschaft durch Arbeit, wirklich zu bewerkstelligen. Stattdessen bleibt er darauf festgelegt, ist an und in sich reaktionär. Seine Schlagseite ist der Nationalismus. Die parlamentarische Debatte hat noch jede Idealistin eingeschmolzen. Das Gewaltenmonopol ist vom Staat nicht zu zersetzen, Selbstzerstörung ist eben nicht sein Programm. Soweit zum ehemals ‚real existierenden Sozialismus‘, der nicht durch seine Eigenbewegung, sondern durch den Druck von Außen zerbrach. Im Gegenteil politische Handlungsfähigkeit bewahrt der moderne Staat nur durch Ausbau seiner Monopole. Die Richtung ist dabei die falsche. Statt zu schrumpfen und die Freiheit der Menschen Stück für Stück auch freizugeben, wie der Liberalismus suggeriert, wächst er immer weiter aus. Der moderne Staat bleibt Schicksal, oberster Richter, Gott des eingebürgerten Menschen zugleich. Schlimmer noch: Im europäischen Projekt sieht dieser sich sogar dem doppelten Zugriff ausgesetzt! Weit und breit ist von der Selbstbestimmung der Geschichte durch die, die sie betrifft, nichts zu sehen. Die großen politischen Versprechungen, die die Adepten des modernen Staatsprojekts seit seiner Gründerzeit immer wieder gemacht haben, sie bleiben alle uneingelöst. Seine fortgeschrittene Reform dagegen dreht das Zahnrad der Geschichte langsam aber deutlich spürbar zurück! Die Vision des modernen Staats schließlich ist die totale Kontrolle in allen Lebensbereichen, das Ende jedes Freiheitsstrebens. In Deutschland frei nach dem Motto: Ich bin nur Deutscher, sonst nichts!

Macht Schluß!

Es ist dies die unheilbare Kinderkrankheit der Sozialdemokratie, sich seit je her in dem Aberglauben an eine staatliche (Auf)Lösung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ergehen. Statt die Selbstbestimmung des Menschen zu fördern, seinen Austritt aus der Lohnsklaverei, statt ihre selbstorganisierenden Impulse zu schützen und zu unterstützen, anstatt ihn und sie zur eigenen Freiheit zuzurüsten, hat die Sozialdemokratie jedeN EinzelneN immer fester ans moderne Staatsprojekt gekettet, jeden Ausweg noch verstellt. Seit dem Kriegzuspruch der SPD 1914, seit dem feigen Mord an Liebknecht und Luxemburg, ist der moderne Staat die einzige Wirklichkeit der deutschen SozialdemokratInnen geworden. Spätestens seitdem haben sich Generationen von SozialistInnen in Ost und West einspannen lassen, Hand in Hand mit den Liberalen, Konservativen, mit den Repräsentanten des Kapitals, die Zersetzung der gewerkschaftlichen Bewegung – ob nun sozialistisch, kommunistisch oder anarchistisch – voranzutreiben und Stück für Stück gar zu vollenden. Die Widersprüchlichkeiten der Geschichte geben genug Anlaß, über den Fortgang der sozialen Frage weiter nachzudenken. Daß jenseits des modernen Staatsprojekts nur Barbarei noch lauert, jene alte Lüge, um den Adel zu vereinen und dabei auf die Monarchen einzuschwören, die Unwahrheit dieser These endlich zu erweisen, dafür liegt die Geschichte vor und nicht hinter jedem und jeder Einzelnen. Packt sie an, gestaltet sie, und lasst Euch nicht durchs nationale Gift betäuben!!!

clov

(1) Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit Ankommen ist hier nicht gemeint, dass die PDS als Delegation Ostdeutschlands ins Parlament einziehen sollte sondern in einem ganz anderen Sinn, daß endlich ein Austausch darüber möglich wird, was in der Geschichte der sozialistischen Bewegung auf beiden Seiten der Mauer gedacht und letztlich auch gemacht wurde. Unerlässlich dafür ist sicherlich auch die Abkehr von der SED-Nachfolgepartei.
(2) Die SPD selbst ist im letzten Jahrzehnt zu einem der größten Medienunternehmen Deutschlands geworden.

Theorie & Praxis

Den Anarchismus verstehen lernen…

Wie kann mensch den Anarchismus verstehen? Muß mensch dazu herausragende Theoretiker wie Proudhon, Bakunin oder Kropotkin gelesen haben? Kann sich jedeR selbst was zusammenbasteln, wie das oftmals lapidar erklärt wird: den Anarchismus gäbe es gar nicht, jedeR hat seinen eigenen. Beides stimmt und stimmt nicht.

Anarchismus versus Marxismus?

Zum einen beruft sich der Anarchismus nicht auf die geschriebene Wahrheit bestimmter Schreiberlinge, Revolutionäre und Diktatoren, wie es viele sogenannte „Marxisten“ tun, die ihre Glaubenssätze aus den Werken Marx-Engels oder Adornos ziehen, orthodoxere Semester Lenin oder Trotzki vor sich hertragen und die ganz Reaktionären sich Mao oder Stalin auf ihre Fahnen schreiben. Nein, der Anarchismus braucht eine solche Ikonographie und/oder Wahr(heits)sagerei nicht, mit deren Zitaten man dann die Objektivität seiner eigenen Weltanschauung belegen kann, und deren Autorität die eigenen Unzulänglichkeiten und alle möglichen menschenfeindlichen Handlungen und Haltungen rechtfertigen kann und dies in der Vergangenheit auch nicht zu knapp getan hat. Doch auch ohne diese Zitate hat marxistische und universitäre Schulung bei dem Einen oder Anderen einen Objektivismus hervorgebracht, einen Wahrheitsdünkel, der sich über den Menschen wähnt oder gar abschätzig herabblickt – eine Haltung, die sicher nicht unwesentlich zur Entfremdung der Linken vom Alltag der ArbeiterInnen, der so genannten „normalen Menschen“ beigetragen hat. Allein diese Terminologie sagt schon alles über die eigene Verortung und die Mauer zwischen der so genannten „radikalen Linken“ (die stark marxistisch beeinflusst ist) und dem „normalen Menschen“ aus. Dann verwundert es nicht, dass sich Anarchisten und Anarchosyndikalisten oft nur ungern in die erste Kategorie einordnen lassen, weil man dann ja auch diese Mauer mit einkauft. Aber bevor hier ein falscher Eindruck entsteht: der Anarchismus ist der marx’schen Analyse und dem adorno’schen Denken gegenüber nicht feindselig eingestellt (auch wenn manche oft meinen das Kind mit dem Bade ausschütten zu müssen), er widersetzt sich aber durchaus elitären Tendenzen und diesem Wahrheitsdünkel. Der aktuelle Anarchismus, und von nichts anderem soll hier die Rede sein, weiß auch, dass man von Marx oder Adorno durchaus lernen kann.

Anarchismus als soziale Idee

Zum anderen ist Anarchismus auch nicht – nach jedermann/fraus Gusto modellierbar. Ansichten, es gäbe gar keine Wahrheit und man könne sich nicht mehr klar positionieren, werden durch die Realität von Hunger, Kriegen, Lohnarbeit und psychische Zerstörung der Menschen ad absurdum geführt. Und es stellt sich auch die Frage, ob Egoismus, Zerstörungstrieb und asoziales Verhalten sich durch den Anarchismus fassen lassen. Ich würde darauf beharren, dass im Gegenteil der Anarchismus äußerst sozial ist. So lässt sich das Credo des kommunistischen Anarchismus mit der Forderung „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ verbinden. Dieses Credo ist einer der Grundpfeiler des aktuellen Anarchismus – und es belegt die Menschenorientiertheit, denn es stellt ihn und nicht den Staat, sie und nicht die Partei oder die Kirche ins Zentrum. Sie, die Menschen sind Dreh- und Angelpunkt und damit auch die Sozialität, denn Menschen sind soziale Wesen, die allein jämmerlich zu Grunde gehen würden. Nichts vom Chaos, dem alten Vorurteil über die „Anarchie“ ist darin enthalten. Im Gegenteil wird oft von der „Anarchie als die Mutter aller Ordnung“ gesprochen, eben weil sie keine Umwege geht und natürlich auch um dem alten Vorurteil entgegenzutreten.

Anarchismus als Verbindung von Weg und Ziel

So direkt wie das Ziel, soll auch der Weg sein, er soll das Ziel so weit als möglich bereits vorwegnehmen. So wie sich in anarchistisch inspirierten sozialen Gemeinwesen die jeweils Betroffenen (ihren Fertigkeiten, Bedürfnissen und Betroffenheiten gemäß) selbst um ihre Angelegenheiten kümmern ohne einen Befehlshaber über sich zu haben, so kann die Befreiung nur von den Menschen selbst erkämpft werden, niemand kann das für einen erledigen. In diesem Sinne stellte 1936 der Kongress der spanischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT in Tradition der ersten Arbeiterinternationale fest: „Die Emanzipation der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.“ Die Geschichte hat diese Sichtweise bestätigt, sie hat gezeigt was passiert, wenn man die eigene Befreiung in die Hände von Parteien oder des Staates legt. Aktuell heißt das, es bringt nichts eine Partei zu wählen in der illusionären Hoffnung, sie würden über den Staat Lohnarbeit und Kapitalismus abschaffen oder auch nur den Sozialstaat erhalten, geschweige denn eine Assoziation freier Menschen schaffen.

Emanzipation per Gesetz?

Eine absurde Vorstellung und doch scheinen nicht wenige dieser Illusion zu erliegen. Dies liegt auch darin, dass diese Aktivisten immer nur die Anderen befreien wollen und ihnen ihre eigene Emanzipation gar nicht in den Sinn kommt. Sie machen Stellvertreterpolitik indem sie versuchen mit Politikern der Parteien, Funktionären der Einheitsgewerkschaft und anderer Verbände zu kungeln und zu paktieren, um einzelne Forderungen durchzusetzen und für andere Verbesserungen zu erreichen. Wenn das eigene Leben im negativen wie im positiven in die Hände Anderer gelegt wird, stärkt das unsere Abhängigkeit und Ohnmächtigkeit. Mensch muß kein großer Revolutionär sein, ein wenig Selbstbewusstsein reicht meistens schon, sich nicht abhängig und formbar zu machen. Formbar, weil die Alternativen die uns gegeben werden in Wahrheit nur scheinbar sind (mensch nehme nur die „Wahl“ zwischen den Parteien) und dass diese „freie Wahl“ wenn wir diese Wahl annehmen, unsere Ohnmacht bedeutet, in der wir Kompromiss für Kompromiss geformt werden, dahingehend unsere Abhängigkeit und unsere Rolle als „Opfer-Täter“ zu akzeptieren. Ein System, dass keinen Ausweg kennt, uns müde macht, und dazu bringt einfach zu funktionieren, allein schon um am Leben zu bleiben.

Allein, zu zweit, zu vielen!

Weil wir allein ausgeliefert sind, können wir nur durch gemeinsames Agieren und Diskutieren und den Zusammenhalt derer die weniger zu verlieren haben bzw. ihres Funktionierens überdrüssig geworden sind, dieser Ohnmacht entgegenwirken.

Weg und Ziel orientieren sich am Menschen, an dir und mir, nicht an der hohen Politik, nicht an den Wichtigtuern und Gauklern. Wir wollen uns nicht mit Mitleid begnügen oder jahrelang über Dinge jammern, auf die wir keinen Einfluß haben, wir reden uns nicht ein, dass wir stillhalten müssen, weil es anderen noch schlechter geht, wir betreiben kein Stellvertretertum als Aufopferung und Selbstverleugnung. Wie können wir anderen helfen, wenn wir nicht in der Lage sind uns selbst zu helfen? Es geht um uns! Insofern ist der Anarchismus schon selbstbezogen. Er unterscheidet sich vom Bereicherungsegoismus dadurch, dass mir meine Befreiung ohne die anderen 1. keinen Spaß machen würde und 2. gar nicht oder nur stark eingeschränkt möglich wäre. Anarchismus ist also Liebe zum Menschen oder noch besser Liebe zum Menschsein.

Dem Anarchismus ging es immer viel eher um Verständnis und die Haltung der Menschen, als um die eigene ideologische Systematisierung. Es gibt Menschen die anarchistisch denken oder handeln und nie auf die Idee kommen, das mit dem Begriff Anarchismus zu verbinden und es gibt Menschen die sich Anarchisten nennen oder genannt werden, und die nicht den Hauch damit zu tun haben. Die Grenzen sind unscharf, ähnlich dem Versuch festzustellen, wann etwas ein Haufen ist und wann ein Häufchen, oder wann etwas orange ist und ab wann rot wird.

Anarchisten sind normale Menschen, keine Berufspolitiker. Um Anarchist zu sein, muss man das eigene Leben nicht opfern, sondern kann und soll es besser leben. Du brauchst keinen Marx und keinen Bakunin gelesen zu haben. Was aber wichtig ist: eine gewisse Portion Selbstbewusstsein, Konsequenz und Liebe. Sich nicht mehr beugen, nicht mehr zu Boden schauen, nicht mehr klein beigeben, sondern einfordern sich auf gleicher Augenhöhe zu verständigen und zusammenzuleben.

kfm

Portale zum Thema:
• www.anarchismus.at
• www.free.de/schwarze-katze
• www.anarchismus.de
• www.fau.org • www.graswurzel.net
• www.hierarchnie.de.vu

Utopie & Praxis

Gewerkschaft 2010 (Teil 1)

Zur Lage und Funktionsweise der Gewerkschaften in der BRD heute

 

Die mit der Hartz/Agenda 2010 einhergehenden Diskussionen um Sozialabbau, Sozialdemokratie und Sozialismus, zeugen vom mangelnden politischen Bewußtsein in weiten Teilen der Bevölkerung, die sich politische Aktion nur nach als Stimmkreuzchen vorstellen kann. Deshalb soll hier und im folgenden Heft ein etwas ausführlicherer Exkurs in die Geschichte und Problematik der Gewerkschaften – ehemals wirkungsmächtige Institutionen politischer Aktionen – gegeben werden.

1. Gewerkschaft 2010 – ein Schritt vor, zwei zurück

In diesem Artikel geht es um ganz allgemeine Betrachtungen zur Lage der Gewerkschaften, besonders in der BRD. Es geht nicht so sehr um den einzelnen engagierten Gewerkschaftler oder die berechtigten Interessen der Lohnarbeitenden. Hier geht es um die prinzipielle und wissenschaftliche Einordnung der Gewerkschaften an Hand von Phänomenen, die jedem alltäglich einsichtig sind. Es soll nicht moralisiert, sondern nüchtern der Gang der Dinge analysiert und ausgewertet werden. An Hand unserer Betrachtungen können wir auch die Wurzel vieler Mißverständnisse und Fehlanalysen aufdecken, wenn es um die Interessen von Menschen geht. Etwas, was zu verstehen ja ganz viele Leute vorgeben – und vor allem besser wissen wollen, was für uns alle gut ist, als wir selbst. Das reicht von linksradikalen Sekten bis zum Bundestag, der ja rechtskräftig unsere Interessen beschließt. Als wichtiges Mittel stellt sich im Folgenden die scheidende Betrachtung der Menschen einerseits als Bürger und andererseits als Arbeiter dar. Wir betreiben also hier eine Analyse der verschiedenen Charaktermasken derselben Menschen. So haben Bürger und Arbeiter gleiche, aber auch völlig unterschiedliche, sich widersprechende Interessen. Diese lassen sich nun in Grundzügen besonders gut an Hand ihrer institutionalisierten Interessenvertreter, der Gewerkschaften, zeigen.

1.1. Gewerkschaft der Lohnabhängigen

Von Seiten des (Lohn)Arbeiters hat die Gewerkschaft eine klare Funktion. Sie ist Ausdruck des gemeinsamen Interesses der Arbeiter an Arbeitsbedingungen auf Höhe der Zeit (z.B. Arbeits- und Kündigungsschutz) und einer irgendwie als “gerecht” empfundenen Entlohnung, also Arbeitszeit und Lohnhöhe. Diese Rahmenbedingungen werden in Gesetze gegossen, bzw. in Verträgen zwischen den Gewerkschaften und den Körperschaften des gemeinsamen Interesses der Unternehmer für eine bestimmte Zeit fixiert (Tarifvertrag). Für den ordnungsgemäßen Ablauf von Auseinandersetzungen der beiden Parteien in diesem Spiel gibt es eine Fülle von gesetzlichen Regelungen, bis in die Statuten der Gewerkschaften hinein.

Was sind nun die Grundlagen, auf denen dieses Modell funktioniert? Wenn ich Hoffnung auf einen Anteil auf gesellschaftlichen Reichtum habe, dann muß es:

1. ein Recht auf privates Eigentum (eigener Hände Arbeit) geben und

2. das Recht, einen Vertrag zu schließen (Vertragsfreiheit).

Also habe ich die Freiheit das Unternehmen zu wählen, für das ich arbeiten will, und kann die Bedingungen aushandeln, zu denen ich arbeite. Der Lohn und alles, was sich daraus machen läßt, ist mein Privateigentum, über das ich frei verfügen kann und dessen Schutz gewährleistet ist. Diese Freiheiten haben wir alle und das sind die bürgerlichen Freiheiten, wie sie nicht zuletzt im Grundgesetz verankert sind. Es sind z.B. keine Freiheiten des Feudaladels, welcher nach Gutdünken auf seinem Stück Land Recht sprechen konnte, das ist vorbei. Also Bürger sein heißt hier einerseits Staatsbürger und Rechtssubjekt, andererseits auch Anerkennung der bürgerlichen, demokratischen Spielregeln. Diese Spielregeln werden zu den eigenen gemacht und sie werden als die natürlichen und notwendigen vertreten. Man hat ein Selbstbewußtsein als Bürger, mit Rechtssicherheit und dem Schutz vor Willkür. Das ist in diesem Bezugssystem auch richtig. Der Arbeiter ist so gesehen ein Bürger, wie jeder andere auch, mit seinen Rechten und Pflichten. Wessen Interessen vertritt denn nun die Gewerkschaft? Das sieht man am besten, wenn man in der Geschichte zurückgeht und sich die einfachen Formen ansieht.

1.2. Kurz zur Geschichte

Wie der Name ‘Gewerkschaft’ schon sagt, vertraten diese Vereinigungen im Deutschen Kaiserreich vornehmlich Interessen der Meister, Handwerker, der proletarisierten Handwerker bzw. der Facharbeiter. Sie war also bestimmt durch die Interessen einer privilegierten Schicht innerhalb der Arbeiterschaft. Am Anfang durften auch keine einfachen Arbeiter in die Gewerkschaften eintreten. Im Gegensatz dazu sagt der Name ‘Trade Union’, wie die Gewerkschaften im angelsächsischen Raum heißen, dass diese Art Differenzierung so nicht gegeben war. Man muss allerdings bemerken, dass in den USA z.B. die Gewerkschaften eine völlig andere Entwicklung genommen haben, als in Europa, von Asien ganz zu schweigen. Hier gibt es erhebliche Unterschiede. Auf jeden Fall ist zu sagen, dass die Gewerkschaft als solches einen gewaltigen Fortschritt für die Arbeiter darstellte. Da sie erstmals zusammen mit der Arbeiterpartei den Interessen der Arbeiter eine gesellschaftsweite Organisationsform gab, die in der Folgezeit immer stärker politische Relevanz bekommen sollte. Im Deutschen Reich also vertraten die Gewerkschaften die sehr spezielle Interessen der Besser- und Bestqualifizierten. Bis heute ist es ebenfalls so, dass nichtarbeitende Arbeiter keine Vertretung in der Gewerkschaft hatten und haben.

Das heißt, dass die Parzellierung mit der Borniertheit, Beschränkung auf die eigenen Interessen, ein Grundmoment in den deutschen Gewerkschaften ist und damit die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschichten ausdrückt. Sie schleppt somit den Keim der alten feudalen Kleinteiligkeit der unterentwickelten deutschen Verhältnisse mit sich. Die anfängliche Zusammensetzung der Gewerkschaftler bedeutet aber auch, dass der Handwerkerstolz, und überhaupt der Stolz auf die eigene Arbeit ein konstituierendes Moment darstellen. Das biblische ‘Du sollst das Brot im Schweiße Deines Angesichts brechen’ ähnelt nur zu sehr dem gewerkschaftlichen ‘Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen’. Aber dieser Aspekt gerade der deutschen Arbeitsmoral, und überhaupt des Nationalstolzes bis Patriotismus als Teil gewerkschaftlichen Selbstverständnisses ist eine andere Ebene. Dies bricht erst im Ersten Weltkrieg als offener Widerspruch auf.

Wie aber sahen nun die Interessen aus, die die Gewerkschaften zu vertreten hatten? Zuerst einmal ging es, zusammen mit den Arbeiterparteien, um ganz grundsätzliche demokratische, also bürgerliche, Rechte, wie freies, allgemeines und gleiches Wahlrecht, gegenüber dem feudalen Ständewahlrecht. Das ist grundsätzlich gegenüber der damaligen hinterwäldlerischen Entwicklung im Deutschen Kaiserreich ein Fortschritt. Es ging um den Sonntag als freien Tag, Pausen, Einschränkung von Frauen- und Kinderarbeit, Festlegung von Obergrenzen für die Arbeitszeit. Allgemeine Nothilfeorganisationen hingegen für Arbeiter setzen sich nicht durch. Dagegen gab es wohl solche, deren Hilfe an die Betriebszugehörigkeit gebunden blieb und damit als Disziplinierungsmittel diente. Die Arbeitsbedingungen in der Industrie waren teilweise katastrophal und unterlagen keinerlei gesetzlicher Regelung und Kontrolle. Der Unternehmer war absoluter Herrscher in seinem Privateigentum, der Fabrik, über sein Privateigentum, weil bezahlt, die Arbeiter. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (1863) Lasalles z.B. wollte seinen Verbündeten lieber im preußischen Obrigkeitsstaat sehen, als im liberalen Bürgertum. Politisch gesehen kann man sagen, dass die Gewerkschaften teilweise eine sehr unrühmliche Rolle gespielt haben. Gerade die ‘Freien Gewerkschaften’ waren von ihrer Ausrichtung her streng konservativ. Ihre Ausrichtung war, wie sie heute noch ist, dem Arbeiter einen erträglichen Platz in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zu verschaffen, nicht diese abzuschaffen. Es war doch das Vaterland, um das es ging. Man war doch kein ‘vaterlandsloser Gesell’. (Natürlich ist der Proletarier ökonomisch betrachtet vaterlandslos.)

Wie auch heute lag damals ein Hauptaugenmerk auf den Gewerkschaftskassen, welche ja jeden Arbeitskampf und die Nothilfemaßnahmen, das Unterstützungswesen zu finanzieren hatten. Richard Müller sagte dazu:

Die Gewerkschaftsführer mußten den Inhalt ihrer Kassenschränke bei jedem Kampfe berücksichtigen. Sie gingen aber weit darüber hinaus und verlegten den ganzen Schwerpunkt ihrer Entscheidung auf diese Stelle. Wesen und Inhalt der Gewerkschaftsbewegung wurde dadurch bestimmt.“

(Richard Müller ‘Vom Kaiserreich zur Republik’, S. 19)

Politische Fragen durften von den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern im Gegensatz zu den Gewerkschaftsführern nicht diskutiert werden. Die Führungen hatten immer Angst, dass ihnen das Heft aus der Hand gleiten könnte und die Mitglieder nicht mehr unter ihrer Kontrolle wären. Ihr Einfluß auf die Sozialdemokratie war immer ein mäßigender, z.B. 1906 beim Abwenden politischer Massenstreiks auf dem Mannheimer Parteitag. Es wäre noch eine Menge über Streikverbote, Burgfrieden und den revisionistischen Einfluß auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion dieser Zeit zu sagen. Aber das ist die Aufgabe einer anderen Arbeit. Hier ging es nur darum, ein kurzes Schlaglicht zu geben.

1.3. Zwischen Klientel, Eigeninteresse und Gemeinwohl

Kommen wir nun zu den unterschiedlichen Interessen, welche die Gewerkschaften vertreten. Betrachten wir sie dazu unter jeweils verschiedenem Blickwinkel. Es gibt für verschiedene Branchen verschiedene Gewerkschaften. Diese sind nun die Funktionsträger der dortigen Arbeiter. Schon auf organisatorischer Ebene findet eine Trennung statt und die gemeinsamen Interessen der Arbeiter äußern sich nur in ihren brancheneigenen Forderungen. Weiterhin existiert in der BRD ein Verbot solidarischer Streiks von Arbeitern in verschiedenen Branchen füreinander. Generalstreik ist natürlich ebenso verboten. Denn Generalstreik gilt als politischer Streik und nicht mehr als einer für die vom Staat anerkannten Interessen der Lohnabhängigen. Welche Arbeiter in welcher Gewerkschaft in Vertretung stehen, ist ebenso rechtlich genau geregelt. IG-Metall-Vize Peters [jetzt Vorsitzender, Anm. d. Red.] im ZDF: „Fernwirkungen von Streiks sind nicht das Ziel, aber auch manchmal nicht zu vermeiden“ in der Diskussion um den gerade verlorenen Metallerstreik.

In diese Parzellierung fällt auch das Gerede von ‘ungerechten’ und ‘unsolidarischen Streiks’, bei denen Firmen betroffen sind, deren Belegschaft gar nicht streikt. Zum Beispiel der Cockpit-Streik (er brachte gut 20% Lohnerhöhung für diese Piloten) hat eine wahre Flut von Empörung ausgelöst, ohne dass auch nur die Idee erschien, gleichlautende Forderungen an den eigenen Unternehmer zu stellen. Diese Empörung war einfach nur die Wut und Enttäuschung über sich selbst und seinen eigenen Gewerkschaftsapparat im Deckmantel eines herbeihalluzinierten Gemeinwohles. Das Bewußtsein gemeinsamer Interessen aller Arbeiter über alle Branchengrenzen hinweg, ist so außer Reichweite gehalten. Ihren Köpfen nach sind sie z.B. vorrangig nicht Arbeiter, vielleicht Metaller, aber bestimmt BWM-Mitarbeiter, die Stolz auf “ihren” Betrieb sind. Diese anerzogene und ständig bestärkte Beschränktheit findet Ausdruck in der eigenen Wahrnehmung der eigenen Interessen. Diese Parzellierung ist sowohl organisatorisch, als auch in den Köpfen verwirklicht. Bürger haben zu Recht nur die gemeinsamen Interessen ihres Eigentums der Vertragsfreiheit sowie gesicherter Existenz. Aber mehr noch: Die Parzellierung der Gewerkschaften ist die Institution gewordene Konkurrenz unter den Arbeitern. Nur so und mit der Angst läßt sich erklären, weshalb man sich nicht für andere freut, wenn sie mehr Lohn erkämpft haben und es dann selbst als Ansporn nimmt, dies seinerseits zu fordern. Sie benehmen sich halt wie die Bürger, die ihre Privatinteressen für sich selbst vertreten, z.B. einen Zaun um ihren in Privatbesitz befindlichen Garten zu ziehen. Freiheit, Gleichheit und Konkurrenz sind nicht trennbare Bestandteile der Bürgerlichkeit. Jeder kämpft gegen jeden und nur, wenn es nicht anders geht, findet man sich zum Arbeitskampf zusammen. Solange aber hofft man, dass es einen selbst nicht trifft. Dies beinhaltet aber, dass es jemand anders treffen muss, da man aus Erfahrung weiß, wie der Hase läuft. Man zittert um seinen eigenen, als seinen Besitz betrachteten Arbeitsplatz, weil er das einzige unter den heutigen Bedingungen ist, was die bürgerliche Existenz sichern kann.

Laut Telekolleg (1) ‚Volkswirtschaftslehre‘ ist die Aufgabe der Gewerkschaften auch die, die konkreten Interessen der Arbeitenden zu vertreten. Damit sind die Gewerkschaften in ihrem Tun, die Löhne, Absicherungen zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, genau den Interessen der Arbeitslosen entgegengesetzt. Der Grund ist schlicht, dass damit die Kosten von auch neu zu schaffenden Arbeitsplätzen sich erhöhen und deswegen die Unternehmen keine schaffen würden. Also ist das Interesse der Arbeitslosen im Wesentlichen darauf begrenzt, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

In dieser ganzen Konstruktion sehen wir ein weiteres Dilemma. Nicht nur werden die Arbeiter in Brancheninteressen parzelliert gehalten, sondern auch von den keinen Arbeitsplatz habenden Arbeitern, die nun Arbeitslose heißen, getrennt. Diese haben überhaupt keine Vertretung eines gemeinsamen Interesses. In Wirklichkeit haben natürlich die Arbeiter als Bürger immer das gemeinsame Interesse nach einem guten Arbeitsplatz, ob sie gerade arbeiten oder arbeitslos sind. Die Arbeitslosen wollen genauso gute Arbeitsplätze erhalten wie alle anderen auch. Nur wird durch den Druck auf sie erreicht, dass sie immer schlechtere in Kauf nehmen (müssen). Das ist eine Spirale nach unten, da sie hiermit ihrerseits unfreiwillig Druck auf die anderen Arbeitsplatzbedingungen (z.B. Billiglohnsektor) nach unten ausüben. Also strukturell geht hier die Reise mittelfristig nach unten, im Interesse des Kapitals selbstverständlich. Damit sinken auch wirklich die Kosten der Arbeitsplätze tendenziell und damit steigt dies bezüglich der Profit. Man sieht ganz klar in wessen Interesse diese Einteilung der Arbeiter ist.

An dieser Stelle tritt auch wieder die Konkurrenz unter den Arbeitern, als Konkurrenz um den eigenen Arbeitsplatz, also die eigene bürgerliche Existenz, an die Oberfläche. ‘Es geht doch um MEINEN Arbeitsplatz.’ Aber ebenso klar ist, dass die meisten nicht Lohnarbeiten wollen würden, wenn sie nicht müssten. Sie brauchen keinen Arbeitsplatz, sondern unter den heutigen Bedingungen einfach das Geld, um ordentlich leben zu können. Die Kapitalseite weiß das und fordert darum das Abstandsgebot zwischen Grundversorgung und geringstem Lohn. Der Abstand soll so hergestellt werden, dass die Grundversorgung (Sozialhilfe) abgesenkt und nicht der geringste Einstiegslohn erhöht wird. Nicht Arbeit soll sich wieder lohnen, sondern Arbeitslosigkeit soll sich nicht lohnen.

Wie wir also gesehen haben, ist die branchenartige Teilung der Gewerkschaften nicht nur Ausdruck der wirklich unterschiedlichen Interessen von z.B. Chemiearbeiter und Bürokraft. Sie zementiert gleichzeitig die Trennung in den Köpfen und nicht zu vergessen die Trennung in den realen Arbeitskämpfen. Letztere ist sogar juristisch verbürgt. Sie fungiert in der Konkurrenz der Arbeiter untereinander. In anderen Ländern z.B. Frankreich oder Italien sind solidarische Streiks Normalität. Dort herrscht auch auf Grund der Geschichte aber insbesondere der anderen Praxis im Streik selbst, ein anderes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Wie man am Beispiel Ver.di sieht, schließen sich Gewerkschaften unter dem stärker werdenden Druck, wie andere Unternehmen auch zusammen, fusionieren. Hier wird es dann wieder schwerer, die Aktionen und Interessen so zu teilen, dass dies den Arbeitern plausibel ist, wenn sie schon in der selben Gewerkschaft sind. Ebenso kann jeder sehen, dass er sehr schnell selbst arbeitslos werden kann. Dies führt aber im Allgemeinen zu einer Verschärfung der Konkurrenz unter den Arbeitern und fast nie zu einer Solidarisierung.

Wie bei jeder größeren Organisationsform gibt es auch hier ein wichtiges Eigeninteresse des Apparates. Das Interesse des Führungsstabes der Gewerkschaft ist ganz klar Führungsstab zu bleiben und sich somit an diesem exklusiven und besserbezahlten Arbeitsplatz zu halten. Sie haben da keine große Lust auf Veränderungen. Wie die Realität zeigt, gibt es große Differenzen zwischen den Forderungen der sogenannten Basis, also den Arbeitern selbst und dem, was schließlich in offizieller rechtlicher Form, von den Verhandlungsführern der Gewerkschaften als Forderungen der Arbeiter ausgegeben wird. Die Gewerkschaftsführung ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor mit Einfluß und rechtlich abgesichertem Vertretungsanspruch. Sie haben als Führungsschicht, wie jede andere Führungsschicht auch, mehr zu verlieren als diejenigen, die zu vertreten sie vorgeben. Die Gewerkschaften müssen selbst nach betriebswirtschaftlicher Weise handeln, haben innere Hierarchien und Lohnverhältnisse. So kann man sie durchaus als ein Unternehmen betrachten, welches mit bestimmten Interessen handelt und in einem abgegrenzten und verrechtlichtem Gebiet operiert. Der Widerspruch wird eklatant, wenn die Gewerkschaft selbst Leute entlässt.

Dann gibt es noch das Interesse der Gewerkschaft als solcher, an ihrer erfolgreichen Weiterexistenz. Das Bewußtsein dieses Interesses führt dazu, dass die Forderungen der Basis schon einmal gebrochen und gefiltert werden. Wer will schon einen teuren Arbeitskampf riskieren, ohne die Aussicht auf Erfolg zu haben? Da könnte eine Menge Prestige verloren gehen. Außerdem steht für viele in Lohnabhängigkeit bei der Gewerkschaft selbst die Existenz auf dem Spiel, das heißt die Existenz ihres Unternehmens, Arbeitgebers. Aber auch die Geschichte (2) hat z.B. im Ersten Weltkrieg gezeigt, dass den deutschen Gewerkschaften die Gewerkschaftskasse oftmals näher war, als sich in Konfrontation mit dem Kaiserstaat zu begeben. Es gibt in der BRD, wie in vielen Ländern ein Verbot sogenannter wilder Streiks, dass heißt solcher, die im wesentlichen ohne die Gewerkschaft stattfinden, von den Arbeitern selbst ausgehen. Gerade als einzigste Großorganisation kann sie in der Organisierung viel Gegengewicht einbringen. Die Gewerkschaft ist somit nicht an der Selbstorganisation nicht nur nicht interessiert, sondern untergräbt sie systematisch. Jede Selbstorganisation oder eigene, direktere Formen den Arbeiterinteressen Ausdruck zu verleihen, stellt nämlich den Vertretungsanspruch der Gewerkschaft als Gewerkschaft selbst in Frage. Dies gefährdet ihre komfortable Weiterexistenz.

Alleine schon durch die Form der Organisierung und der verschiedenen Interessenschichtungen wird klar, dass es von der Forderung zum Streik ein langer Weg durch die Instanzen ist. Jeder Arbeiter sieht sich seinem Interessenunternehmer Gewerkschaft genauso abstrakt vereinzelt gegenüber, wie dem eigentlichen Unternehmen, gegen welches ihm die Gewerkschaft beistehen soll. Die unterste Schicht der Gewerkschaftsfunktionäre, welche gerade die mit dem härtesten Job sind in der Hierarchie, müssen dies oftmals ausbaden, wenn die Kollegen kommen. So gesehen ist die Gewerkschaft auch ein Mittel und Garant der Stabilität, weicher Forderungen und kurzer Arbeitskampfmaßnahmen.

Was also der Betriebsrat im Kleinen ist die Gewerkschaft im Großen: ein Ausgleich der Interessen der formal gleichen Vertragspartner der Arbeitsverträge: Unternehmer und Arbeiter. Sehen wir uns die Argumentationen der Gewerkschaften an, so findet man Formulierungen wie ‘kostenneutral’ oder ‘den Produktivitätssteigerungen angemessen’. Was das Argumenteschmieden hervorbringt ist, dass man den Unternehmen mit den Argumenten der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik vorrechnet, dass die gestellten Forderungen nicht weh tun, oder bezüglich bestimmter ökonomischer Parameter “gerecht” oder “angemessen” wären. Da bleibt die eigene Forderung in einem Wust an Berechenbarkeit und Statistik stecken und man muß sich vielleicht sagen lassen, dass die eigenen Interessen unrealistisch seien. Gerecht ist also ein bestimmter mathematischer Faktor bezüglich einer durchschnittlichen wirtschaftswissenschaftlichen Bezugsgröße. So die Realität. Spätestens hier, an der Oberfläche der wirklich gestellten Forderungen und durchgesetzten Prozente sollte einem klar werden, dass wohl nicht die Interessen der Arbeiter alleinig vertreten werden.

(TEIL 2 folgt im nächsten Heft)

(1) www.telekolleg.de im Kurs Volkswirtschaftslehre bekommt man sehr einfach die Sicht der offziellen politischen Ökonomie geboten und kann sie in all ihrer Schlichtheit bewundern.
(2) Richard Müller : “Vom Kaiserreich zur Republik, 1925, Band I” kann man eine Menge geschichtlicher Fakten bezüglich dem reaktionären Verhalten der Gewerkschaften nachlesen: „ Von SPD und Gewerkschaftsapparat im Stich gelassen, setzen die proletarischen Massen zwangsläufig auf selbstständige Organisierung.“
* Zum Thema „Gewerkschaften“ von Seiten linker Gewerkschaftler: ‘www.labournet.de’.

Theorie & Praxis

Anarchistische Ideen – Haltung und Handeln im Alltag

Da in unseren Redaktionsköpfen eine Menge anarchistischer Gedanken herumschwirren, wollen wir uns auch regelmäßig mit theoretischen Überlegungen hierzu auseinandersetzen. Einen ersten Exkurs soll der folgende, kurze Aufsatz darstellen.

Das Jonglieren mit den Vorurteilen des anderen gehört zum Rüstzeug eines jeden ‚guten‘ Ideologen. Ob „Linker“, „AntiglobalisierInnen“, „Anarchos“ oder „Autonome“ – ob „Kapitalisten“, „Faschos“, „BürgerInnen“ oder „Bonze“, gut eingesetzt, läßt sich sogar der Satz sparen: Sie wissen schon, wer gemeint ist. Ich jedenfalls weiß oft nicht, wer da ‚an sich‘ gemeint ist, höchstens noch was.

Doch eine noch so feingesponnene Ideologie bleibt ohne Wirkung, fehlt ihr das sie bestätigende Vorurteil. Mit einem dieser Vorurteile soll deshalb aufgeräumt werden, es geht um die diffusen Zusammenhänge, die sich oft hinter der Bezeichnung „Anarchist/in“ verbergen.

Um also einer ideologischen Verbrämung vorzubeugen, lautet die Fragestellung nicht: Wer oder was ist ein Anarchist? Sondern vielmehr: Was tut ein Anarchist? Bzw.: Welches Handeln und welche Ideen lassen auf eine anarchistische Haltung schließen?

Anarchistische Ideen gewinnen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts theoretische Tragweite.

Als der Anarchismus als theoretische Denkfigur entsteht, ist er vor allen Dingen in zunehmender Konkurrenz zu sozialistischen, kommunistischen und liberalen Ideen zu verstehen. Waren anfangs noch kaum Unterschiede erkennbar, kristallisierten sich bald spezifisch anarchistische Positionen in vielen politischen Problemfeldern heraus. Fragen wie: Was ist der Mensch? Wie ist der moderne Staat zu verstehen? Oder: Welche politischen Lösungen gibt es für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit? fanden in anarchistischen Texten und Theorien ihren fruchtbaren Niederschlag. Von der politisch-praktischen wie auch theoretischen Dimension zeugen nicht nur die Debatten, die klassische Vertreter wie Bakunin, Kropotkin, Stirner oder Landauer innerhalb der sozialistischen oder kommunistischen Lager immer wieder anzettelten, die messerscharfe Kritik, mit der sie die liberale Theorie entlarvten, sondern auch ihre bewegten Lebensläufe selbst. Es wäre also falsch von einer anarchistischen Haltung als einer apolitischen oder gar antigesellschaftlichen zu sprechen. Die Kritik des Anarchismus wendet sich nicht gegen Gesellschaft ‚an sich‘, sondern in seinen besonderen theoretischen Ausprägungen gegen spezifische Formen der Vergesellschaftung. Wie im übrigen jede politische Theorie von Gewicht. Es ist hier nicht der Raum für eine gründlich dargestellte Analyse, aber ich denke, grob sagen zu können, daß der ‚Anarchismus‘ sich im wesentlichen gegen jedwede Art sozialer Ungerechtigkeit wendet, also gegen diejenigen Formen der Vergesellschaftung, die sich über ein asymmetrisches, heißt ungleiches, Machtverhältnis der einzelnen Individuen zueinander charakterisieren. Ein Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts genügt, um die Bedeutung einer solchen Sichtweise einzusehen.

In diesem Sinne ist eine anarchistische Haltung in jedem Falle eine politische.

Da wir uns auch heute gezwungener Maßen mit Gesellschaftsformen konfrontiert sehen, die, ähnlich denen des 19. Jahrhunderts, mit immer neuen Institutionalisierungswellen, die Macht und Herrschaft des Menschen über den Menschen manifestieren (der moderne Staatsapparat ist hier wesentlicher Motor), haben anarchistische Ideen auch heute noch ihren Reiz und ihre Bedeutung. Die Entfaltung des modernen Staates als eines komplexen Geflechts institutioneller Räume (1) hat nicht nur die ‚ursprüngliche‘ Gestalt der Produktionsformen überlagert, sondern vor allem die Sprach- und Lebensformen der gesellschaftlich verfassten Individuen in ungeahntem Ausmaß beeinflusst. Die einhergehende, expansive Verrechtlichung von gesellschaftlichen Räumen, in denen Menschen interagieren, ist aus anarchistischer Perspektive deshalb problematisch, weil hierbei die Handlungsautonomie einzelner systematisch untergraben wird. Herr seiner Sinne, seines Geists, doch nicht Herr seines Tuns. Die Problematik entspringt im Freiheitsgedanken und verschärft sich dadurch, daß durch die institutionelle Vermittlung von menschlichen Handlungen zu-, mit-, durch- und füreinander, den Einzelnen ihr spezifisches Verhältnis (mithin eben auch Machtverhältnis) als intransparentes, sprich undurchschaubares erscheint. Das allgemeine Ohnmachtsgefühl oder Individualisierungstheorien (2) mit ihrer These der sozialen Verarmung bei steigender institutioneller Verflechtung sind zwei aktuelle Beispiele, die dem Ausdruck verleihen. Gegenüber der konventionellen Theorie, die der Unfehlbarkeit gegebener Institutionen huldigt, der sozialistischen, die dem ewigen Wandel zum Besseren harrt und der kommunistischen, die die Selbstauflösung von Institutionen nach der „Vorgeschichte“ verspricht, drückt sich die anarchistische Haltung gerade in der Skepsis aus, ob nicht jedes intransparente Verhältnis von Menschen zueinander schon Herrschaftsformen (Macht) begründen könnte. Staatliche Institutionen, wie Bürgeramt, Verkehrsbetriebe oder Parlament sind nur klassische Beispiele solcher Institutionen, bei denen das Handeln von Mensch zu Mensch vielfach intransparent vermittelt ist.

Anarchistische Haltungen finden ihren Ausdruck in ethischem und politischem Handeln.

Vom Freiheitsgedanken und der Gleichheitsidee her strömt die ethische Kraft anarchistischer Haltungen, welche hinter den nach Interessen geschichteten „Sachzwängen“ das Wirken von Menschen erkennen. Insoweit finden sich anarchistische Haltungen auch in der sozialistischen oder kommunistischen wieder, was gar nicht bestritten werden soll. Doch ist das Primat der Handlungsautonomie des/der Einzelnen vor jeder gesellschaftlichen Institutionalisierung, ethisch nirgends so fruchtbar wie in den anarchistischen Ideen. Dem Schwächeren zur Seite zu stehen, die Toleranz des Anderen, Selbstverantwortlichkeit des eigenen Tuns, so könnte man unter anderem konkretes anarchistisches Handeln benennen.

Auf der Suche nach Selbstverwirklichung in Eigenverantwortlichkeit entdeckt solches Handeln die auferlegten, eigenen Grenzen auch als die anderer. Hieraus speist sich der genuin politische Charakter. Wie sich aus dem Gesagten andeutet, ist die anarchistische keine extrem individualistische Haltung, obwohl der/die Einzelne als einziges Handlungssubjekt verstanden wird. Dem Trugschluss, man käme auch alleine klar, kann nur der erliegen, der sich von Institutionen umschlossen sieht. Um mich selbst zu verwirklichen, benötige ich die Hand des anderen, genauso wie er meine, und bezeichnender Weise findet Selbstverwirklichung heute vorwiegend in der privaten Sphäre und nicht in der öffentlich-institutionalisierten statt. Aus der politischen, skeptischen Haltung gegenüber Institutionalisierungen und dem ethischen Impuls ergibt sich also die Praxis eines Handelns, die sich in jedem Moment des Alltages gegen dessen Institutionalisierung wehrt, gegenüber Machtverhältnissen im alltäglichen Miteinander aufbegehrt, und zum Anderen drängt, um ihm von mensch zu mensch ins Aug‘ zu sehn.

Der ewigen Macht des Seins widerstreitet stets die Kraft des Sollens.

Im Gegensatz zur ‚geronnenen‘ Hoffnung des Sozialismus oder Kommunismus, oder schlimmer zur ‚leeren‘ der konventionellen Theorie, die eben alle nicht ohne intransparente und damit für Herrschaft (Macht) anfällige Institutionalisierungen auskommen, hat den Anarchismus schon seit je her eine echte Utopie ausgezeichnet. Die Hoffnung nämlich, daß sich die Menschen in assoziativen Formen organisieren können, ohne daß jeder einzelne seinen Rechten und Pflichten durch institutionelle Vermittlung beraubt ist. Demzufolge ist von der Theorie des Anarchismus auch kein Konzept für eine neue „Makroordnung“ der Gesellschaft zu erwarten. Im Wettstreit der Ideen verhilft sie eher den konkreten Lebens- und Handlungsformen zum Ausdruck, als Menschenbildern und Handlungskonstruktionen nachzujagen.

Nieder mit den Mauern!

Anarchistisches Handeln und dazugehörige Haltung sind also keineswegs antipolitisch, gesellschaftsfern, gedankenverloren und vor allen Dingen nicht hoffnungslos. Ich plädiere dafür, daß Bild vom steineschmeißenden Einzelgänger, der gegen alles ist und nur Chaos will, endlich über Bord zu werfen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Stilisierung von Straßenkämpfen. Wir haben beides, Verzweiflung und Verantwortung. Ein klein wenig anarchistisch handelt ja fast jeder ab und an in seinem Alltag. Und in diesem Sinne bin ich von der leisen Hoffnung beseelt, daß sich anarchistische Haltungen in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer deutlicher durchsetzen, und damit der Anarchismus zu einer echten Option des Handelns in einer sich entgrenzenden Welt werden kann.

clov

(1) Der Institutionsbegriff ist hier und im Folgenden derart verstanden, daß Institutionalisierungen immer gesellschaftliche Räume dimensionieren, innerhalb derer die Handlungsautonomie einzelner ausgeschaltet bzw. eingeschränkt ist.
(2) Vgl. zum Beispiel Ulrich Beck, „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983.

Theorie & Praxis

Christoph Spehr

„Gleicher als Andere – eine Grundlegung der freien Kooperationen“

Wie in der letzten Ausgabe angekündigt, wollen wir mit diese Doppelseite in regelmäßiger Folge Raum für theoretische Überlegungen bieten. Dabei soll es jedoch nicht darum gehen, Definitionen, „heiligen“ Sätzen oder ewigen ‘wahren‘ Werten zum Ausdruck zu verhelfen, sondern vor allem konkreten Gedanken, deren Geltung freilich durch das zur Sprache kommende, reflektierende Bewußtsein begrenzt ist. Dem möglichen Vorwurf des theoretischen Minimalismus gilt es dabei mutig ins Auge zu sehen, schließlich wird in einer Welt, in der man hoch stapelt, der Held der kleinen Schritte gering, zu gering geschätzt.

Der Septemberaufsatz über „anarchistische Haltungen im Alltag“ sollte in diesem Sinne eine Einleitung bieten; einen Weg jenseits solcherlei Wesensfragen wie: „Was ist …?“ öffnen. Der vorgestellte Gedankengang behauptete mit dem Begriff der ‘Haltung‘ einen direkten Zusammenhang zwischen Handeln und Ideen konkreter Individuen. Dabei wurde die spezifisch anarchistische Haltung in ihrer historischen wie in ihrer aktuellen Bedeutung beleuchtet, sehr unterbelichtet zwar, aber immerhin waren einige Umrisse erkennbar. Daß diese Perspektive eine individuelle war, bedeutet aber nicht notwendig eine Entwertung derselben. Im Gegenteil – so die These – geben gerade anarchistische Ideen begründeten Anlaß zu der Skepsis gegenüber kollektiven oder konventionell rationalen Perspektiven. Die sprachkritischen Überlegungen von Landauer oder auch Stirner bieten hier einigen Stoff für weitere Diskussionen. Eine der Konsequenzen die zum Ende des Aufsatzes gezogen wurden, hieß die Aufgabe des Glaubens an eine konsistente, anarchistische Weltanschauung und damit auch Welterklärung – der es schließlich gelänge, alle Phänomene unserer Lebenswelt in einen systematischen, gleichförmig abgeleiteten Zusammenhang zu bringen – und damit auch die Kampfansage an solcherlei theoretische Versuche, gleich welchem Lager sie entspringen. Den Aufsatz beendete die Hoffnung auf eine wachsende Bedeutung anarchistischer Ideen. Und genau hier, im Spannungsfeld von wachsender Bedeutung trotz lückenreicher weil menschlicher Welterklärung, soll im Weiteren geschrieben, kritisiert, diskutiert, gestritten werden. Die Karten auf den Tisch zu legen, bedeutet ja nicht: sie als sakrosankt und unabänderlich erklären. Im individuellen Bewußtsein sind alle Begriffe problematisch und als solche kritisierbar. Solcherlei Kritik ist nicht nur wünschenswert und notwendig sondern auch außerordentlich fruchtbar. Deshalb sei jedem mit Lust und Laune freundschaftlich in die Seite geknufft mitzutun, der Redaktion zu schreiben, mit uns zu diskutieren.

Wir selbst haben nur eine vage Vorstellung vom weiteren Fortgang speziell dieser Seiten. Fürs erste schwebt uns eine wechselseitig ablösende Herangehensweise vor. Sowohl ein geschichtlicher Zugang als auch ein aktueller Bezug zu anarchistischen Ideen soll so jeweils möglich werden. Diesen Überlegungen geschuldet, entschlossen wir uns, mit einem aktuellen Bezug zu beginnen. Wer vielleicht doch den angekündigten Proudhon-Text erwartete, sei auf die nächste Aufgabe vertröstet. Dann wird die Reihe der geschichtlichen Exkurse ‘hoffentlich‘ (man kann ja nie wissen) mit Proudhon eröffnet.

Auf der Suche nach alternativen Vergesellschaftungsformen, bietet die Lektüre des relativ kurzen Textes „Gleicher als Andere“ von Christoph Spehr einen interessanten Einstieg. Einige Kernpunkte sollen im Folgenden kritisch beleuchtet werden.

(clov)

„Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ – von Christoph Spehrs Beantwortung dieser Frage der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigte sich nicht nur die Jury beeindruckt, welche dem Werk den ersten Preis hierfür zuerkannte, auch in Teilen der radikaleren Linken wurde sein Text mit einiger Begeisterung aufgenommen.

Ohne Zweifel ist „Gleicher als Andere“ aufgrund von Spehrs schriftstellerischen Fähigkeiten angenehm zu lesen, was es schon einmal von so manch anderem linken Theoriewerk wohltuend abhebt. Auch die zahlreichen Zitate aus Sciencefiction, Popkultur und linker (v.a. Feministischer) Debatte mögen ihren Reiz haben.

Im Mittelpunkt des Textes stehen aber wesentlich die theoretischen Überlegungen Spehrs zu spezifischen Fragen menschlichen Zusammenlebens. Dabei beantwortet Spehr die von der Stiftung aufgeworfene Frage damit, daß in seinem Konzept der „freien Kooperationen“ politische Freiheit und soziale Gleichheit zusammenfallen. Zum Verständnis dessen ist es wichtig, festzuhalten, daß für Spehr sämtliche Beziehungen von Menschen Kooperationen im sozioökonomischen Sinne darstellen. Um zwischen freien und unfreien Kooperationen zu unterscheiden, stellt Spehr zwei Hauptkriterien auf:

1.) daß alle vorgefundenen Regeln und Verhältnisse innerhalb der Kooperationen real veränderbar sein müssen;

2.) daß alle Beteiligten die Möglichkeit haben müssen, jederzeit die Kooperation zu einem „vergleichbaren und vertretbaren Preis“ zu verlassen oder unter Einschränkungen und Bedingungen zu stellen.

Damit eine Kooperation eine freie ist, muß also jedeR an ihr Beteiligte die grundsätzliche Möglichkeit haben, über alle Bedingungen dieser verhandeln zu können. Wenn dies auf eine Kooperation zutrifft, so mag sie Außenstehenden auch noch so seltsam erscheinen – sie haben kein Recht, diese als „falsch“ zu verurteilen, weil es dafür keinen objektiven Maßstab gibt. Nach der Aufstellung dieses Ideals sucht Spehr nach praktischen Anschlußmöglichkeiten für dessen Verwirklichung. Zwar analysiert er die bestehenden Verhältnisse als herrschaftlich und von „unfreien Kooperationen“ gekennzeichnet, sieht aber die Möglichkeit ihrer „Abwicklung“ darin, daß seine LeserInnen damit anfangen, ihre Kooperationen in „freie“ umzuwandeln und somit „gleicher als andere“ zu werden. Dadurch bleibt er aber letztendlich in dem Konflikt stecken, die prinzipielle Machbarkeit von „freien Kooperationen“ innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse begründen zu müssen. Doch Spehrs Glaube, von aktuell-dominanten unfreien Kooperationen innerhalb unserer gesellschaftlichen Strukturen zu idealen (im Sinne seiner Prämissen), freien zu kommen, geht all zu unkritisch mit Institutionen wie Staat und Markt um.

Denn die von ihm skizzierten „freien Kooperationen“ bleiben innerhalb der allgemein geltenden Prinzipien von Privateigentum und Tausch problematisch. Gerade diese Prinzipien haben ja über Jahre die sozioökonomischen Verhältnisse der Menschen als unfreie oder herrschaftliche etabliert. Aus diesen folgt aber logischerweise auch, dass mensch selbst lebensnotwendige Bedürfnisse nur gegen eine Gegenleistung befriedigt bekommt. Daß dieses Leistungsverhältnis im Widerspruch zu dem „vertretbaren Preis“ steht, mit dem eine Kooperation verlassen oder eingeschränkt werden kann, ist auch Spehr bewußt. Die denkbar einfachste Lösung – nämlich daß sich jedeR vom gesellschaftlichen Reichtum nehmen kann, was er.sie.es gerade braucht – hat er sich aber selbst verbaut. So heißt die von ihm ersatzweise präsentierte Lösung dieses Dilemmas „Existenzgeld“ (1). Wieso aber der(bürgerliche) Staat ein solches in ausreichendem Maß zahlen sollte, bleibt unklar. Schließlich würde es seiner Kernaufgabe – der Sicherung kapitalistischer Verhältnisse – schon entgegenlaufen, wenn die Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und daher ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, dies plötzlich nicht mehr nötig hätten. Spehrs Antwort (2), daß dies alles nur eine Frage der „richtigen Regierung“ (als könne es so etwas überhaupt geben!) sei, kann ich daher nicht teilen. Auch Spehrs Kooperationen sind also nur frei innerhalb bestimmter Rahmensetzungen, die politisch erst zu ‚besorgen‘ wären. Da bietet sich ja eine stiftungsnahe Partei geradezu an …

Entgegen seiner Ankündigung, daß „in dieser Abhandlung […] auch vertreten [wird], daß Freiheit und Gleichheit nicht durch eine Rahmensetzung von oben gewährt oder verwirklicht werden können“ (3), greift Spehr aber auch an anderen Punkten auf den Staat zurück. So schreibt er bspw. zum Thema „affirmative action“ (4): „Zu prüfen ist allenfalls, ob es aus Sicht der freien Kooperation legitim ist, daß eine übergeordnete Kooperation (in diesem Fall die nationale Gesellschaft) untergeordneten Kooperationen Vorschriften darüber machen kann, wie sie sich zusammenzusetzen haben. Dies ist zu bejahen für entsprechende Gesetze, die sich auf den öffentlichen Sektor und größere Kooperationen beziehen. Da die Gesellschaft größeren Kooperationen faktisch einen nicht unerheblichen Teil des gesellschaftlichen Kapitals überläßt, kann sie dies an die Bedingung knüpfen, allen gesellschaftlichen Gruppen real gleichen Zugang zu diesen Kooperationen zu ermöglichen und sie angemessen in ihren Entscheidungsstrukturen zu repräsentieren“ (5). Die „nationale Gesellschaft“ – übrigens schon an sich eine recht fragwürdige Konstruktion – erläßt also Gesetze? Das mag meinetwegen in diesem Fall auf „bessere“ Herrschaft hinauslaufen; mit Herrschaftsfreiheit hat das jedoch niX zu schaffen!

Allerdings sollten derlei Schwächen nicht von der Lektüre von „Gleicher als Andere“ abhalten. Die große Stärke des Werkes liegt m.E. schließlich woanders. Es gelingt Spehr, recht eindrucksvoll aufzuzeigen, wie herrschaftsförmig auch die oft als „völlig normal“ empfundenen Verhältnisse – an denen wir teils als „HerrscherInnen“, teils als „Beherrschte“ teilhaben – sind. Die Konzentration auf eine kritische Beschreibung menschlicher Beziehungen als unfreie oder zu befreiende Kooperationen, hätte jedoch nicht nur ein wesentlich präziseres theoretisches Werkzeug zur Verfügung gestellt, sondern es hätte auch die Beantwortung der Frage: „Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ dorthin verwiesen, wo sie schließlich einzig und allein relevant ist, in den Bereich individueller Haltungen jedes Einzelnen. Hier stiften die Einzelnen die Bedingungen freier Kooperation selbst, und die Freiheit derselben wird nicht durch ein ideales Modell des Zusammenlebens begründet, sondern durch das konkrete Handeln involvierter Menschen.

m.

Christoph Spehr, „Gleicher als Andere – Eine Grundlegung der freien Kooperationen“, 85 Seiten, unveröff., zu beziehen über die Redaktion oder online zum Herunterladen unter: www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Preis/rlspreis.pdf
(1) Oft auch unter dem Begriff der ‘negativen Einkommenssteuer‘
(2) geäußert bei einer Veranstaltung in Leipzig
(3) Gleicher als Andere“, S. 13
(4) „Affirmative action“ bedeutet die aktive Bevorzugung von Menschen aus bisher benachteiligten Gruppen, da eine formale Gleichstellung nicht ausreicht, um die bisherigen Ungerechtigkeiten auszugleichen und eine tatsächliche Gleichstellung zu erreichen.
(5) „Gleicher als Andere“, S. 65

Theorie & Praxis