Archiv der Kategorie: Feierabend! #07

Von Pommes, Bomben…

…und den Worten

Wir leben in aktiven Zeiten. Überall auf dem Gebiet der politischen Äußerungen herrscht Bewegung. Die Forderung nach Frieden angesichts der kriegerischen Mittel aktueller ‚Diplomatie’ zieht sich durch die gesamte gesellschaftliche Breite.

Ob nun die regenbogenfarbene Peace-Fahne vom Fenstersims weht oder wir am Montag gemeinsam um den Leipziger Innenstadtring laufen, friedensbewegt sind zur Zeit fast alle.

Wenn auch die Art des Friedens, den wir fordern und die Adresse an die wir unseren Protest richten zum Teil stark voneinander abweichen. Doch nicht nur Fahnen schwenken und zur Demonstration gehen, sind heutzutage Mittel, um in der Öffentlichkeit eine Meinung zu äußern. Es geht auch ganz anders. So startete z.B. der Verein „Sprache in der Politik“ (1 ) am 30. März 2003 einen Aufruf (2) zu einer Sprachdemo, in dem sie vorschlagen, dass „alle Deutschsprachigen [.….], anstelle der englischen wieder vermehrt französische Lehnwörter“ verwenden.

Mit diesem Vorgehen werden klare Feindbilder konstruiert und gleichzeitig Normen festgelegt, was ‚pc’ (politically correct) ist und was nicht. Angesichts der politischen Lage wäre es daher nur logisch, dass der friedliebende Mensch den französischen Ausdrücken (Gallizismen) mit Sympathie gegenüber steht, während er die englischen Formen (Anglizismen) als Sprache der Kriegstreiber erkennt und ablehnt. Den Anspruch, als Leitkultur für Europa zu dienen, hätten die USA mit Ihrer Politik verwirkt. Denn, „wer unrechtmäßige, z.T. sogar unmoralische Politik betreibt, kann kein Vorbild sein“. Mit dieser friedlichen Sprachdemo könne also deutsch-französische Solidarität geübt und den USA ihr Ansehensverlust auf dem internationalen Parkett vorgeführt werden.

Soweit die Argumentation des Vereins der Sprachpfleger. Die ernsthafte Absicht ihres Aufrufes wird bestärkt durch eine Liste mit französischen Ersetzungen für englische Ausdrücke, die im deutschen Sprachgebrauch verwendet werden.

Hier tauchen Wortpaare wie ‚Bonvivant für Playboy / Chef für Boss / Formidable für Cool / Sofa für Couch / Tristesse für Sadness’ auf. Bei einigen stellt sich die Frage, ob der ‚Boss’ nicht schon immer eher der ‚Chef’ war und das ‚Sofa’ nicht seit jeher die gebräuchlichere Bezeichnung für eine ‚Couch’.

Andere Anglizismen, wie ‚Sadness’ (Traurigkeit) oder auch ‚Basement’ (Keller) dürften den wenigsten als typische Formulierungen innerhalb der deutschen Sprache aufgefallen sein. Demnach erübrigt sich die Ersetzung durch die französischen Formen ‚Tristesse’ und ‚Souterrain‘.

Die Aufstellung macht den Eindruck eines beliebig zusammengewürfelten Worthaufens. Zu mehr als einer kleinen Vokabelliste oder der Belustigung, lässt sich dieser Vorschlag wohl nicht verwenden. Oder kann sich jemand vorstellen, das einschlägige Nacktfotomagazin „Playboy“ würde sich aus Solidarität in „Bonvivant“ umbenennen oder Thomas Gottschalk wäre bereit sich von einem ‚Showmaster’ in einen ‚Conférencier’ umschulen zu lassen? Und wer würde die neuen Formen tatsächlich verwenden? Wahrscheinlich niemand. Es ist daher zu kurz gedacht, Protest durch den Boykott einer Sprache auszudrücken. Zumal die USA und Großbritannien neben Australien zwar die größten Länder mit Englisch als Muttersprache sind, daneben aber immerhin noch 45 Nationen Englisch als Amtssprache (3) verwenden.

Wer ist hier der Feind: Das Mittel Sprache, dessen sich bedient wird, um kriegerische Machenschaften zu legitimieren oder die Institutionen und Menschen, die die Sprache zu manipulatorischen Zwecken nutzen?

Es wirkt zudem sehr opportunistisch, die USA und Großbritannien auf die dunkle Seite der Macht zu stellen und im Gegenzug, u.a. die Regierungen von Frankreich und Deutschland als die Guten zu präsentieren. Diese Darstellung betrachtet einen zu kurzen Zeitraum. Um die Glorifizierung zu entblößen, bedarf es nur eines kleinen Rückblickes in die Jahre 1998/99, als die rot-grüne Regierung mit allen Mitteln der Propaganda und Argumentehascherei die öffentliche Meinung auf den ‚unabwendbaren’ Kriegskurs im Kosovo einzuschwören versuchte.

Auch damals war die Wortwahl ein deutlicher Ausdruck der Politik, die im jeweiligen Land gemacht wurde. Doch niemand rief dazu auf, deutsche Worte durch…, „ja durch was denn nun?“ zu ersetzen. Welche Sprache wäre es wohl, deren Sprecher in einem Staat lebten, der nicht schon einmal Krieg geführt, Menschen getötet und unterdrückt oder ausgebeutet hätte? Daher ist es ein unzulässiger Ansatz, den Protest gegen eine Regierung und ihre Politik über den Boykott der Sprache der EinwohnerInnen auszudrücken.

Viel kritikwürdiger aber ist hier das Verhältnis zwischen den wenigen Mächtigen und den vielen Ohnmächtigen. Wenn die Entscheidungsträger in den Regierungen sagen: „Wir müssen Krieg führen!“, die Menschen auf der Straße aber rufen: „Wir wollen Frieden!“ und am nächsten Tag die Bomben über Bagdad fallen, ist es mit der real existierenden Demokratie nicht mehr weit her. In dem Moment, wo eine Regierung solch eine Entscheidung fällt, um ihre Macht zu demonstrieren oder Standortvorteile zu wahren, hat sie sich ihrer schalen Legitimation selbst enthoben. Jede ohnmächtige Stimme, die durch ein System von oben und unten produziert wird, sollte alle verantwortbaren Mittel nutzen, gegen diese gewählte „Diktatur“ aufzubegehren

.

Wie verhängnisvoll dieses Verhältnis von Macht und Ohnmacht ist, wird einmal mehr offensichtlich in den Schatten, die die koloniale Vergangenheit des „alten Europa“ in die Gegenwart wirft. Die UN (speziell Frankreich und Deutschland) sieht sich derzeit gezwungen, in die Massaker im Kongo einzugreifen – militärisch, versteht sich. Der in solchen Situationen bereits erfahrene Joschka (Joseph) Fischer spricht von einer „humanitären Katastrophe“. Eingeführt wurden die Prinzipien „Ethnie“ und „Massaker“ aber durch die Europäer selbst, als sie den „wilden Stämmen“ vor 100 Jahren mit Macheten und Maschinengewehren „die Zivilisation“ brachten. Wenn sie heute wieder auftauchen – mit Maschinengewehren und Panzerwagen – unterscheidet sie nichts von den paramilitärischen „Banden von Bunja“ … die Gewalt entscheidet und wird entscheiden. Eine Lösung ist das nicht.

Auch wenn schon wieder von „Friedensabkommen“ (LVZ, 30.6.03) die Rede ist, liegt es doch auf der Hand, dass diese Formulierung viel zu weit greift. Dieser Frieden meint hier nur die Aufteilung der militärischen Zuständigkeiten zwischen den Konfliktparteien. Dieses einfache Beispiel verdeutlicht wie uneindeutig die Wortwahl der politischen Sprecher ist. Oftmals dienen ihre konsumentengerecht verpackten Ansprachen in den skandalabhängigen Medien nur dem Wahlkampf oder der Profilierung innerhalb der Partei. Angesichts dieser Demagogie, ist die einzige Alternative; nicht weiter auf diese Stimmen zu hören und statt dessen die Kommunikation zwischen Menschen – egal welcher Sprache – die eine hass- und gewaltfreie Gesellschaft wollen, zu beginnen. Also: Hör nicht auf die Stimme, sondern sprich selbst!

wanst

(1) Eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern, die den vermehrten Einfluss von englischen Wörtern im deutschen Sprachgebrauch kritisch betrachten und für den Erhalt von deutschen Formen plädieren.
(2) vollständiger Aufruf unter: www.sprache-in-der-politik.de
(3) Wird in Bürokratie und Institutionen verwendet. Meist neben der Muttersprache, die zweite Sprache.

P.S.: Im Übrigen war der Verein „Sprache in der Politik“ nicht der einzige Aufrufer zu einem derartigen Sprachboykott. Auch auf der anderen Seite des großen Teiches wurde versucht die Sprache der politischen Gegner, in diesem Falle Frankreich, demonstrativ aus dem US-amerikanischen Alltag zu vertreiben. So gab es in einigen Fast- Food-Restaurants (Schnellimbiß) anstatt „french fries“ (hierzulande „Pommes Frites“) „freedom fries“ („Freiheits- Fritten“). Das Französische Fremdenverkehrsamt nutzte diesen lächerlichen Patriotismus gleich zu Werbezwecken aus. Sie präsentieren mit Woody Allen einen US-Amerikaner, der offen dazu steht; keinen „freedom kiss“ ausführen zu wollen, wenn es ihm um einen „french kiss“ (Zungenspiel) geht. Wie sollte der wohl auch aussehen!?

Krieg

Die Diktatur der Ästheten

Die ästhetische Gestaltung unserer Umwelt trägt heute vorwiegend elitären Charakter. Im Sinne derer, die Macht und Geld haben, werden gestalterische Ideen umgesetzt. Die Masse hat sich diesen Vorstellungen unterzuordnen. Grafittimaler rebellieren gegen diese Diktatur der Ästhetik. Legitim?

Meinen Frankreichaufenthalt vor einigen Jahren verbrachte ich vorwiegend knipsend. Ausgerüstet mit einem Fotoapparat lief ich durch die Straßen Albis und hielt Ausschau nach Styles (1) und Farben, nach gutem Graffiti. Ich ging wohl mit anderen Augen durch die Stadt, als die meisten Touristen, denn mich interessierten keine Berge, Strände oder Kakteen. So etwas langweilte mich. Mich interessierten die Bilder und Botschaften, die ich an den Wänden und Zügen finden konnte. Graffitis, deren Platzierung eine besondere Dreistigkeit des Malers vermuten ließen, weil sie an gewagten Orten gemalt waren, freuten mich besonders.

In den darauf folgenden Tagen ging ich mit zwei Bekannten erneut in die Stadt. Es dauerte nicht lange und wir unterhielten uns über Graffitis. Einer meinte, er empfände illegale Graffitis als Schmierereien und als respektlos gegenüber den Bewohnern und Hausbesitzern. Schöne, bunte Bilder an legalen Plätzen seien etwas anderes. Sie wären im Einverständnis der Besitzer des Untergrundes. Aber diese dahingerotzten, silbernen Großbuchstaben und vor allen Dingen, diese bloßen Schriftzüge würden nichts anderes als Zerstörung bedeuten.

Natürlich widersprach ich ihm vehement. Ich empfand, im Gegenteil, die Tristheit und Einfallslosigkeit vieler Architekten und deren Auftraggeber wären eine Verschandelung meiner Umwelt. Immer die gleichen Plakate, von immer den gleichen Zigarettenmarken seien nicht nur eine optische Plage, sondern auch von der Botschaft her beschissen. Bombings und Tags (2) seien, voraus gesetzt die Qualität stimmt, öffentliche Kunst. Sie würden etwas sehr persönliches aussagen, zur Kreativität aufrufen und nicht versuchen, irgendwelche Menschen dazu zu manipulieren, Gifte zu inhalieren. Wie könne mensch nur so intolerant sein. Weshalb versuche mensch nicht zu verstehen, was das alles bedeutet, warum Maler malen und weshalb das manchmal schnell gehen müsse. Wie könne mensch sich beschweren, gebombte Bilder zu erhalten. Der Spießbürger selber würde sie doch produzieren. Er wäre doch der Erste, der die Situation ausnützte, wenn sich der Maler für ein aufwendigeres Bild Zeit nähme. Ich meinte auch, dass ich mir von niemand irgendwelche, ästhetischen Kriterien aufzwingen lassen würde. Vor allen Dingen nicht von Hauseigentümern und Spießbürgern.

Was ich dabei nicht bemerkte, war, dass ich selber versuchte, Anderen meine ästhetischen Kriterien aufzuzwingen. Zwar hatten all die vorgebrachten Argumente ihre Berechtigung, doch hatte ich es unterlassen, auch die Position der Anderen, in erster Linie der Hausbewohner und Fahrgäste von Zügen, mit einzubeziehen. Ehrlich gesagt, waren mir diese Leute zu diesem Zeitpunkt auch herzlich egal.

Meinen Bekannten konnte ich mit dieser Einstellung nicht überzeugen. Mich selber überzeugen diese Argumente heute nicht mehr. Mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen und ich habe mich während dieser Zeit mit der anarchistischen Idee der Herrschaftslosigkeit auseinandergesetzt. In einem Satz formuliert, besagt diese Idee, dass niemand das Recht hat, die Freiheit des Anderen zu beschneiden, solange dieser ebenfalls die Freiheit des Anderen respektiert. Allerdings ist das Thema etwas komplexer und es bedarf einen eigenständigen Text, um es befriedigend abhandeln zu können. Da entsprechende Texte bereits im Rahmen des Feierabend! Veröffentlicht wurden, möchte ich, bei weiterem Interesse an diesem Thema, auf diese verweisen.

Wenn ich heute mit jemandem über Graffiti diskutiere, so argumentiere ich aus dieser Idee heraus, dass niemand das Recht hat, die Freiheit des Anderen zu beschneiden, solange dieser die Freiheit der Anderen respektiert.

Und deswegen meine ich, dass sich Maler diese Arroganz im Denken, gegenüber Hausbewohnern und Fahrgästen von Zügen, nicht leisten können. Ich glaube, dass es unablässig ist, immer auch den Standpunkt der Anderen in seine Überlegungen mit einzubeziehen, und wenn uns diese Anderen noch so sehr zuwider sind. Anders kann ich mir eine freie Gesellschaft, basierend auf freien Vereinbarungen, nicht vorstellen. Graffitis auf Häuserwänden, z.B. jene, welche die Bewohner eines Hauses ablehnen, bedeuten das Ausüben von Gewalt und Herrschaft gegenüber diesen Menschen. Sie engen diese Menschen in ihrer Freiheit ein, selbst zu bestimmen, wie das Gebäude aussehen soll, indem sie wohnen. Wenn nur ein Einverständnis der Menschen, die jene Wände wohl am häufigsten sehen müssen, nämlich die Hausbewohner, ein Graffiti legitimiert, wie ist es dann einem Maler auch in Zukunft möglich, zu produzieren?

In der Feierabend!-Ausgabe Nummer 1 vom September 2002, in dem Artikel „Farbeffekte“, schildert der Autor eine Begebenheit mit einer älteren Dame, die ihn beim Malen erwischt. Anstatt aber zur üblichen Predigt auszuholen oder die Polizei zu alarmieren, bleibt sie stehen und fängt an, sich für das Graffiti zu interessieren. Der Maler erklärt ihr, was es mit dem Bild auf sich hat und es hat eine Vermittlung statt gefunden. Eine solche Dame wird in Zukunft vielleicht erfreut sein, ein frisches Graffiti auf ihrer Hauswand zu entdecken. Natürlich findet mensch wenig solch aufgeschlossene Menschen. Die meisten predigen, schimpfen und drohen. Die allermeisten aber rufen die Polizei und kassieren ein Kopfgeld.

Deshalb sollte mensch nicht warten, bis eine aufgeschlossene Person, mitten in der Nacht vor einer bemalten Wand anhält und nach der Botschaft fragt. Mensch könnte für die Akzeptanz von Graffiti werben, in Zeitungen, auf Plakaten, Aufklebern und Flyern vermitteln und erklären. Zu versuchen, die Position des Kontrahenten zu verstehen und eine gemeinsame Basis zu finden, könnte nicht nur den staatlichen Denunzierungsaufrufen entgegen wirken, es wäre auch ein weiterer Schritt in Richtung herrschaftslose Gesellschaft. Bleibt die Frage offen, wie mensch sich gegen die ästhetische Diktatur der Städteplaner, Architekturverantwortlichen und Werbenden zur Wehr setzt, wo Macht und Geld ein unvergleichbares Ungleichgewicht geschaffen hat.

Anmerkungen:
(1) Style: Der Stil eines Graffitis. Also ob es z.B.
reduziert oder üppig, weich oder kantig in seiner
gemalten Form ist.
(2) Bombing/gebombtes Bild: Graffiti mit großen
Buchstaben, reduziert in Farbe und Form. Oft in
starken, farblichen Kontrasten, wie Schwarz und
Silber gemalt.
Tag: Meistgehasste Form des Graffitis. Eine Art
Unterschrift des Malers.

Kunststück

Erschreckt vor‘m eig’nen Schatten

Etwas unvermittelt brach der DGB-Aktionstag am 24. Mai in Leipzig an, denn zuvor war kaum davon zu hören oder zu lesen. Vielleicht hingen ein paar Plakate auf den Toiletten in der 5. Etage des Gewerkschaftshauses, auf der Straße war jedenfalls keine zu sehen … bis zu jenem sonnigen Samstag Morgen. Doch ach, es blieb alles beim alten. Die GewerkschafterInnen wurden herangekarrt aus allen Ecken Sachsens – Dutzende Busse standen im Park – und brachten damit doch „nur“ etwa 5000 Menschen auf die Beine, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen.

Landesweit demonstrierten an diesem Tag 90.000 Menschen gegen die Regierungspläne … was nicht schlecht klingt, waren tatsächlich kaum mehr als ein (!) Prozent der DGB-Mitglieder. Was so hoffnungsfroh durch den Blätterwald geisterte, der „tiefe Bruch zwischen DGB und SPD“, erwies sich als Illusion. Niemand in den Gewerkschaftsspitzen will mit der Sozialdemokratie brechen und eine vitale Gewerkschaftsbewegung am Hals haben, bedeutet das doch eine grundlegende Umstrukturierung des DGB selbst. Der 24. Mai gibt davon den bered’sten Eindruck: die „eigene“ Basis soll nicht mobilisiert werden. Es gab keine Plakate, keine Demonstration, keine Sprechchöre; es gab Dutzende Publikumstransporter und Bierbuden, eine Bühne mit Lichtshow und Schlagern, so laut dass jedes Gespräch unterging.

Ein „Mut zum Umsteuern“ (2) scheint die Spitze schon wieder verlassen zu haben, angesichts des Schattens einer Gewerkschaftsbewegung, der am Samstag durch die Straßen irrte. Zwei Tage nach dem mäßigen, aber dennoch außergewöhnlichen (weil sehr seltenen) Aktionstag gab DGB-Chef Sommer kund, dass es bis zum Herbst eine Protestpause seitens der Gewerkschaften geben wird. Oder wie ver.di-Sprecherin Haß es formulierte: „zurücklehnen und zugucken“.

In der Tat zeigt selbst die Losung vom „Mut“, wie stark sich der DGB an Schröders SPD anlehnt. Mit seinem Alternativprogramm zur Agenda 2010 outet sich Sommers DGB als die bessere Sozialdemokratie: von öffentlichen Investitionen verspricht man sich den Kick zur Konjunktur. Stellt sich nur die Frage: Was sollen (1) wir denn noch produzieren – und konsumieren – um den Kapitalkreislauf wieder in Gang zu bringen? Fest steht aber: es wird wohl nichts mit dem „tiefen Bruch“, dazu kennen sich die beiden Führungsetagen zu gut, dazu lassen sich die Mitglieder von den „eigenen“ FunktionärInnen auch zu sehr einschüchtern … sie ziehen vielleicht die individuelle Konsequenz des Austritts (3), bleiben aber gefangen in Arbeit und Arbeitslosigkeit.

A.E.

(1) Von „wollen“ ist ja in der Wirtschaft überhaupt nie die Rede.
(2) www.dgb.de/themen/themen_a_z/abisz_doks/r/reformagenda.pdf
(3) Allein in den Jahren 1999 und 2000 verloren die DGB-Gewerkschaften rund 500.000 Mitglieder.

Lokales

Editorial FA! #7

Die verflixte Sieben hat wieder zugeschlagen! Dem/Der aufmerksamen Leser/in wird aufgefallen sein, seit der Veröffentlichung der FA! #6 sind nicht nur 1½ Monate ins Land gegangen sondern derer 2 ½. Im Redaktionsprozeß der Zeitung hatte sich in dem vergangenen ¾-Jahr doch einiges aufgestaut, was der Diskussion und Kritik bedurfte. Daß die Zeit dabei verflog, hat manche schon früh bedauert, mancher gar nicht mehr recht wahrgenommen; an manchem wurden sich die Köpfe heiß geredet, übermäßig …; manches ist unter den berüchtigten Tisch gefallen, leider … Daß der Feierabend! #7 dann doch erstaunliche Parallelen zu den vorherigen Ausgaben aufweist, ist Indiz für die grundsätzliche Einigkeit der Beteiligten, trotz einiger Abstriche. Ein Heft in die Öffentlichkeit zu tragen, das selbstorganisierter Praxis entspringt und im Prozeß gegenseitiger Anteilnahme als Ergebnis einer solidarischen Atmosphäre produziert wird. Eine Zeitung, die eben nicht eine Gruppe, sondern jeden Einzelnen ansprechen soll, mag sie eine Schülerin, er ein Rentner sein, er Sympathisant anarchistischer Haltungen oder sie einfach arbeitslos, ob aus der Szene, aus dem Büro, der Uni oder vom Bau, kritisch aufgeklärt, organisiert oder eben nicht … Eine kritische Aktion gegen die Übermacht der meinungsbildenden Diskurse, mit eigenem Inhalt und mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber den zentralistischen Institutionen des Staates, der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände, gegenüber den Parlamenten. Ein Heft aus Leipzig, aber nicht darauf beschränkt …

Trotz des Gleichgebliebenen hat sich einiges verändert, manches ging schmerzlich verloren. Es soll ab nun auch mehr gerätselt und gelacht werden, die Kultur stärker mitmischen. Politik, Theorie und Aktualität dahinter aber nicht zurücktreten. Inwieweit uns das in diesem Heft gelang, könnt Ihr ja nachlesen bzw. uns schreiben. Das Feierabend!- Projekt soll langfristig weitergehen, also SympathisantInnen aller Staaten und Klassen vereinigt euch, und helft uns. Schickt Beiträge, Kritik, Infos, Aufrufe, Texte, Rezensionen, Erlebnisbeschreibungen usw., usw., usw…

Da Heidis Dienstleistungscenter uns nun schon von Anfang an die Treue hält, haben wir sie diesmal zur Verkaufsstelle des Monats erkoren. Diese Werbung ist gegenseitig frei, also besucht doch mal Heidi und vielleicht, ja vielleicht gibt es dann bereits den Feierabend! #8, mal sehen…

… Euer Feierabend!

P.S.: Für das Rohmaterial zum Titelbild bedanken wir uns bei den MacherInnen der Ausstellung „Human Work – Menschliche Arbeit“.

Schrei, wenn Du kannst!

Am 18. September 2003 treffen sich in Berlin die Bildungsminister der EU. Die Zusammenkunft wird sich im besonderen mit der Abfassung einer „Bildungscharta“ und dem Zeitplan einer europaweiten Hochschulreform beschäftigen. Beide Vorhaben leuchten ein, angesichts des toten, brach liegenden Wissens vieler SchülerInnen (PISA) und angesichts der Verschulung der Universitäten (strenger Lehrplan, finanziell vermittelter Zeitdruck, etc.). Wer wollte die Stimme erheben gegen freie, vielseitige, humanistische Bildung und eine Reform der am Rande der Funktionalität operierenden Hochschulen? Indes, dies sind nicht mehr als schöne Etiketten … die EU wuchert nicht nur mit ihrem fortschrittlichen Image, die Nationalstaatlichkeit schrecklicher Jahrzehnte zu überwinden.

Derweil hält die „Humanität“ eines Giscard d’Estaing oder Fischer einem näheren Blick nicht stand. Die Reform wie die Charta zielen auf die Vereinheitlichung der Bildungswesen in dem Sinne, in der Kombination „allgemeiner Standards“ und der „Vernunft des Sparens“ sogenannte Sachzwänge zu schaffen. Mit solcher, per Expertise bestätigter Übermacht der „Wirklichkeit“ konfrontiert, sehen sich die Betroffenen – SchülerInnen und Studierende wie Lehrende – und letztlich die gesamte Gesellschaft kaum in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen.

Unwidersprochen allerdings sollen diese regierungsamtlichen Märchen nicht hingenommen werden. Um ein Nachdenken anzustoßen, das der Tat notwendig vorausgeht, organisieren die Bildungssyndikate in der FAU unter anderem eine europäische Tagung in den Räumen der Humboldt-Universität (Berlin). Neben den Absichten der gegenwärtigen Bildungspolitik sollen auch Handlungsoptionen und libertäre Bildungskonzeptionen zur Sprache gebracht werden.

A.E.

Kontakt und nähere Informationen finden Interessierte unter
www.fau.org/bsy und
www.bologna-berlin2003.de/de/

Bildung

Grandiose Eröffnung

Libelle fliegt! Mit einer ersten öffentlichen Festivität eröffnete am Freitag, den 13. Juni, in der Kolonnadenstraße 19 die Libelle, Libertäres Zentrum. Im Laufe des Abends fanden sich etwa 100 Menschen ein und kamen in den Genuß von Schmaus und Trank – begleitet von Liedern des „Geigerzählers“ aus Berlin, die so manchen zum Schmunzeln brachten. In einem ehemaligen Schreibwarengeschäft in der Leipziger Innenstadt (Haltestelle Westplatz) findet sich nun auf gut 50 Quadratmetern ein wahres libertäres Universum, Ansätze einer neuen Gesellschaft.

Tausendundeine Möglichkeit, sich zu verständigen und zusammenzutun: zwangloses Plaudern im Café und Schmökern in der libertären Bibliothek am Nachmittag; abends zu aktuellen Problemen diskutieren und selbstorganisierte Handlungsansätze entdecken.

Die Libelle selbst ist unabhängig von jeder Partei und staatlichen Institution, ist allein gegründet auf die Eigeninitiative und Unterstützung all derer Individuen und Gruppen, die sich der Idee der Herrschaftslosigkeit verbunden fühlen … und sie im Alltag verwirklichen wollen. Dieser Ansatz umfaßt nicht nur thematische Veranstaltungen wie die mit Abel Paz, der am 20.6. als Zeitzeuge von der Revolution in Spanien (1936) berichtete. Dieser Ansatz meint auch, sich zu organisieren und sich gegenseitig praktisch zu unterstützen; daher wird in der Libelle auch die anarchosyndikalistische FAU ansprechbar sein und sich weiterhin um eine kämpferische gewerkschaftliche Alternative bemühen. Aber auch auf der Ebene der Konsumtion sind verschiedene Formen denkbar; etwa eine mobile Umsonstkiste (1) oder die Gründung einer Konsumgenossenschaft und anderer Kooperativen.

Indes wird die Herrschaftslosigkeit nicht nur „nach außen“ propagiert, sondern sie prägt auch die Organisation und den Unterhalt des libertären Zentrums. Kein Vorstand oder Zentralkomitee, sondern regelmäßige Vollversammlungen treffen die Entscheidungen über Anschaffungen und Ausgestaltung und Auftreten des „Ladens“. Den Alltag dazwischen prägen freie, gleichberechtigte Vereinbarungen der Betroffenen – ein einfacher Kalender erleichtert das timing.

Es sind aber noch lange nicht genug Leute beteiligt, um alle Potentiale des Projektes voll auszuschöpfen und einen gesicherten Fortbestand zu garantieren. Interesse an libertären Ideen kann ein Ansporn sein, sich mit eigenen Ideen einzubringen und auch zu den fixen Kosten von gut 400 Euro beizutragen. Ein anderer Hintergrund zum Engagement mag die Einsicht sein, dass das eigene Leben am besten selbstbestimmt gestaltet wird.

Wer ganz sicher gehen will, jemanden anzutreffen, dem seien die regelmäßigen Öffnungszeiten mitgeteilt, wie sie bisher feststehen. Im Juli eröffnet immer freitags von 15 bis 19 Uhr ein Café ohne Einkaufspreis und samstags ab 20 Uhr nährt eine Vokü (Abk.: Volksküche), gesund und billig. Am 11. des Monats finden zudem mit dem Monty-Python-Abend Humor und Satire einen gebührenden Platz. Und jeden ersten Donnerstag öffnet die FAU Leipzig von 16 bis 19 Uhr die Türen zum Café FAUL. Viele Veranstaltungen hingegen werden kurzfristig ausgerichtet … und in den Schaufenstern publik gemacht. Es lohnt sich also zu jeder Tages- und Nachzeit, mal vorbeizuschauen!

A.E.

(1) vgl. dazu auch „frischluft.event“, S. 10

Lokales

Polnischer Anarchist für die Herausgabe einer Zeitung verurteilt

Dominik S., ein 25 Jahre alter Anarchosyndikalist aus Szczecin (Polen) wurde heute vom Gericht wegen "Anstiftung zur Sabotage" zu sechs Monaten Haft auf zwei Jahren Bewährung verurteilt. Dominik wird beschuldigt, in seiner am Arbeitsplatz verteilten Zeitung "Hafenarbeiter" Arbeitskollegen zur Sabotage und zu Direkten Aktionen gegen das Management der Werft aufgerufen zu haben. Der Ankläger verlangte zudem Bußgeld von Dominik, aber diese Forderung wurde vom Gericht abgewiesen.

Dominik wird gegen dieses Urteil Berufung einlegen. Er argumentiert, daß er die Redefreiheit dazu genutzt hat, die Arbeiter über Methoden zur Verteidigung ihrer Rechte zu informieren.

Er möchte sich bei Allen bedanken, die ihm bei der Korrespondenz mit dem Gericht, beim Publikmachen dieses Vorfalls und durch Solidaritätsbezeugungen anderer Art geholfen haben. Der Kampf geht weiter!

Übersetzung a. d. Englischen: KFM

Nachbarn

Klammheimliche Eröffnung

Das Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit ist nun auch endlich in Leipzig vorrätig!

Am 22. April, drei Wochen nach Inkraftsetzung des zweiten Gesetzespakets zum Arbeitsmarkt, wurden in Gestalt der beiden Unternehmen Manpower und Ziel Leipzig die ersten Personal Service Agenturen (PSA) etabliert. (1) Diese Leiharbeitsfirmen werden nun direkt vom Arbeitsamt mit Menschen beliefert. Von dieser Zwangsmaßnahme können potentiell alle Erwerbslosen betroffen sein. Wer sich weigert, zu Dumpinglöhnen anschaffen zu gehen, wird mit Sperre der Unterstützung bedroht.

Eben gegen die Zwangsverpflichtung, wo keine Verhandlungsfreiheit besteht, richten sich die Taten und Reden der FAU und verschiedener Anti-Hartz-Bündnisse in der Republik. Die Freudenbotschaft der Eröffnung erreichte die Öffentlichkeit in Kleinparis allerdings erst gut zwei Wochen später – vielleicht, weil die Stadtoberen die olympische Harmonie nicht durch Proteste gestört sehen wollten.

Ob mit, oder ohne Protest … am Heilsversprechen PSA kann getrost gezweifelt werden. Von den 74.141 Erwerbslosen im Stadtgebiet (Mai 2003; Quote: 19%) werden 200 zur Lohndrückerei verpflichtet – ein Tropfen auf den heißen Stein ist das, mehr nicht, zum Glück. Und auch die zweite politische Wunderwaffel gegen die Arbeitslosigkeit, das vielgepriesene Job-Center ist nur laut Arbeitsamtsdirektor Meyer „erfolgreich“: im Januar und Februar 2003, in zwei Monaten, konnte man sage und schreibe dreizehn Menschen in „Arbeit vermitteln“.

Angesichts dieser Zahlen ist es kaum anzunehmen, dass jemand ernsthaft an die Versprechungen, oder Drohungen, aus Regierungskreisen glaubt. Das Tamtam der Arbeitsmarktreform zielt nicht auf eine Senkung der Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr der Lohnkosten. Arbeit und Arbeitslosigkeit sind zwei Seiten einer Medaille: Pest & Cholera!

A.E.

(1) Gesetzliche Grundlage: § 37c SGBIII
Adressen in Leipzig:
Manpower PSA, Markt 7;
Ziel Leipzig, Angerstr. 17;
Job-Center, Große Fleischergasse 12.

Lokales

„Milbradt in Afghanistan“

Werter Präsident unserer sächsischen Minister. Gratulation, mit dieser wohlkalkulierten Schlagzeile haben sie es geschafft, selbst im Feierabend! erwähnt zu werden. Wenn man schon gar nicht mehr in der Lage ist, sich über die hiesigen Probleme zu profilieren, dann bleibt ja noch das große Weltgeschehen. Da kann ein Ministerpräsident schon mal auf die einheimische Küche verzichten und aufs Ganze gehen. Was haben sie der afghanischen Administration versprochen? Ausbildung von LehrerInnen an unseren sächsischen Schulen und Universitäten? Einrichtung und Lehrmittel für afghanische Schulen? Auf dem Hintergrund desaströser Lehrbedingungen für Lehrer und Schülerinnen in Sachsen kann ich den lehrwilligen Menschen aus Afghanistan dabei nur Glück wünschen. Und mit dem Wissen über die langwierigen Erneuerungszyklen, dem ewigen Hin und Her bei der Einrichtung von Schulen und ihrer Ausstattung mit Lehrmitteln, nicht so recht daran glauben, daß sie bei ihrer Hilfsbereitschaft an Neuanschaffungen und Strukturveränderungen dachten. Ja, in Not ist auch der schimmelnde Kanten Brot recht, nicht wahr? Nein, Herr Präsident, auf ihre Versprechen können wohl selbst die notleidenden Menschen in Afghanistan gut und gern verzichten.

clov

Kommentar

Kamera am Kreuz – Runde 2

Da issa wieda! Der stechende Blick des Objektives, dem nichts entgeht, was so alles über’s Connewitzer Kreuz läuft, fährt, hüpft, kriecht, torkelt, randaliert und schleimt…

Was haben wir uns doch am 19. April 2000 gefreut, als endlich die Überwachungskamera nach fünfeinhalb Monaten Straßenblockaden, Polizeirepression und staatlich organisiertem Lügen abmontiert wurde! Aber warum wiederholt die Stadt ihre eigenen Fehler und installierte Mitte Mai wieder eine Überwachungskamera am Connewitzer Kreuz? Am Abend des 9. Mai machten ein paar, scheinbar nicht sehr tiefgründig denkende Menschen ihrem Ärger über eine Olympiakanditatur (nicht nur) Leipzigs Luft. Die Ergebnisse: Eingeschlagene Scheiben, herumgeschmissene Bauzäune und ein abgebrannter Bagger.

Das bewegt Leipzigs Elite bestimmt nicht dazu, ihre Olympiakanditatur zurück zu ziehen. Ganz im Gegenteil. Die Stadt nahm diesen Vorfall zum Anlass, die „Sicherheit“ in Leipzig noch mehr zu erhöhen und sich dadurch Pluspunkte beim IOC (International Olympic Committee – Internationales Olympisches Komitee) zu verschaffen. Leipzig soll eine saubere deutsche Stadt sein.

Über die Gründe, warum Olympia abzulehnen ist, wurde auch schon im Feierabend! Einiges geschrieben. Eine gute Textsammlung zum Thema ist auf der Homepage des AOK-L (Antiolympisches Komitee Leipzig) unter www.nein-zu-olympia. de zu finden.

Aber warum sind Überwachungskameras oder „Überwachung“ des öffentlichen Raumes allgemein nun so schlimm? Leider wurde in den letzten zweieinhalb Jahren nicht viel darüber diskutiert, so dass es Zeit wird, das Thema wieder aufzugreifen. Dass die Stadt Leipzig auch nur schwammige und sich widersprechende Gründe für eine Überwachung des Connewitzer Kreuzes hat, war schon vor drei Jahren klar. Als die Kamera am 3. November 1999 in Betrieb genommen wurde, hieß es, man wolle damit Vorfällen, wie den alljährlichen Silvesterkrawallen oder den vor dem Supermarkt stehenden biertrinkenden Menschen vorbeugen. Erst viel später, im Jahr 2000, war dann die Rede vom Kriminalitätsschwerpunkt. Doch wer sind nun die kriminellen Elemente, die mittels der Kamera von ihrem Tun abgehalten werden sollen? Autoknacker, Taschenräuber? Diese können es nicht sein, denn sie sind klug genug, um in andere Stadtgebiete ohne Videoüberwachung auszuweichen. Das „Symptom“ ist zwar an dieser Stelle bekämpft, die „Krankheit“ aber nicht.

Die Überwachung dient letztendlich dazu, die Connewitzer Alternativszene, die eben diese „Krankheit“ der Verwertung, des Konsums und der Ausgrenzung angreift, unter Kontrolle zu halten und möglichst spontane Aktionen gegen die kapitalistische Normalität zu verhindern.

Die Menschen werden im Blickfeld einer Kamera gezwungen, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, da sie sich immer beobachtet fühlen. Die Kamera ist eine Art Gott-Ersatz. In früheren Jahrhunderten war das Verhalten vieler Menschen davon bestimmt, dass sie glaubten, von Gott beobachtet zu werden. Nur durch ein sittliches, gottesfürchtiges Verhalten wäre ihnen ein Platz im Paradies gesichert gewesen. Ähnliches geschieht auch in einer Überwachungsgesellschaft. Um möglichst nicht aufzufallen und angepasst zu wirken, verhalten sich die Menschen unter Beobachtung „normal“. Nur – wer sich trotz vergeblicher Versuche nicht in diese Schablone pressen kann oder will, weil sie oder er wegen sozialer Not sich zum Beispiel keine „normale“, saubere, ordentliche Kleidung kaufen kann, wird aus dem Sichtfeld der Kameras verdrängt. Die kapitalistische Friede-Freude-Eierkuchen- Welt ist wieder hergestellt. Fazit: Die Videoüberwachung beseitigt nicht die negativen Folgen der Verwertungs- und Herrschaftsgesellschaft. Diese suchen sich nur andere Wege. Minimalkonsens muss es daher sein, anstatt mehr Kameras aufzuhängen, die wirklichen Ursachen von materieller und geistiger Armut zu beseitigen, also den Kapitalismus in all seinen Erscheinungen.

dawn

Zu Überwachung und Sicherheitswahn mit dem Schwerpunkt Leipzig:
www.nadir.org/nadir/initiativ/infoladen_leipzig/camera/

Lokales