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Die Bastelecke

Anstelle eines Fertigproduktes wollen wir uns heute selbst mit der Herstellung eines Kommentars beschäftigen. Dazu benötigen wir vier Zutaten. Man nehme:

1. Aus dem Wahlwerbespot der SPD zur Bundestagswahl:„Seit dem Regierungsantritt haben wir wirklich hart gearbeitet. Mehr Geld für Bildung, bessere Förderung der Familien und natürlich Abbau der Staatsschulden. Aber das reicht mir nicht. Deshalb werden wir dafür sorgen, daß die Steuersätze weiter sinken, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen. Das wird die Wirtschaft weiter ankurbeln und wird helfen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen.“… oder wahlweise auch „Wir schaffen das.“

2. Aus der Einkommenssteuererklärung für unbeschränkt Steuerpflichtige: „Ich versichere, dass ich die Angaben in dieser Steuererklärung wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe. Mir ist bekannt, dass Angaben über Kindschaftsverhältnisse und Pauschalbeträge für Behinderte erforderlichenfalls der Gemeinde mitgeteilt werden, die für die Ausstellung der Lohnsteuerkarten zuständig ist.“

3. Zitat Altbundeskanzler Konrad Adenauer: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an.“

4. Aus dem eigenen Bücherschrank nach eigenem Geschmack einen schönen gutabgelagerten alten Krimi. Weniger empfohlen sei etwa Agatha Christie wegen der fehlenden Note des politisch-wirtschaftlichen Eigengeschmacks oder ein Sherlock Holmes, bei dem die Missetaten im Wesentlichen das Werk von Einzelnen sind. Besser wäre da etwas von Raimond Chandler, etwa eine Stelle mit korrupten Politikern, beinharten Cops, dollarschweren Spielbankinvestoren und einem Spielcasinoschiff, dass außerhalb der offiziellen staatlichen Hoheitsgewässer satte Gewinne einfährt.

Der Rest ist ganz einfach: Die so gefundene Stelle auf einen Kopierer legen, ausschneiden und hier einkleben – fertig. War doch gar nicht schwer.

Bleibt bloß noch das blöde Gefühl, sich selbst strafbar gemacht zu haben: Wegen der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung am Wahlsonntag.

winnie puh

et cetera

Rot-Grüne Bilanz – für eine alternative Atompolitik!

Im letzten Monat rollte er wieder quer durch Frankreich und Deutschland, der Atomtransport von Le Hague zum Zwischenlager Gorleben, jene weißblitzende Raupe aus Castoren, diesmal nicht nur aus sechs sondern gleich zwölf Gliedern bestehend. Sind solche Transporte unvermeidlich? Sind Proteste sinnvoll und wichtig? Gibt es Alternativen zum ‚offiziellen‘ politischen Konsens? Fragen und Antworten zu der politischen Diskussion um das Problem der Atomkraftnutzung.

F: Du bist doch Atomkraftgegner. Hast Du vor vier Jahren die Grünen gewählt?

A: Ja.

F: Na, dann musst Du doch jetzt zufrieden sein – das klingt doch alles ganz gut, was da so passiert ist. Endlich gibt’s den Atomausstieg!

A: Also – als erstes möchte ich klarstellen, dass die Grünen ziemlich geschickt waren – und zwar, was die positive Darstellung auch der größten Zumutungen betrifft. Da kann ich Menschen, die sich nicht intensiv mit der Materie befassen, gar nicht vorwerfen, dass sie das nicht so kritisch sehen. Begriffe zu besetzen, darauf kommt es in der Politik an.

F: So, da bin ich aber mal gespannt, was so schlimm daran sein soll, dass ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Konflikt einvernehmlich im Konsens gelöst wurde. Endlich gibt’s keine ideologischen Grabenkämpfe um die Atomkraft mehr!

A: „Konsens“ ist so ein Begriff. Das bedeutet eigentlich, dass alle beteiligten Personen oder Gruppen einverstanden sind. Der „Atomnonsens“ wurde aber ausschließlich zwischen der Bundesregierung und einigen Atomkonzernen ausgehandelt. Das ist etwa so, wie wenn die Regierung mit der Fleischerinnung über die flächendeckende Einführung der vegetarischen Ernährung verhandelt. Wenn da hinterher alle zufrieden sind, muss doch was faul sein.

F: So, was ist denn faul am Atomausstieg? War doch klar, dass es nicht von heute auf morgen geht. Immerhin gibt’s jetzt ein absehbares Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland!

A: Auch das ist leider nicht wahr. Kurz nachdem Stoiber zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde, verkündete er, als erstes den „Atomausstieg“ rückgängig machen zu wollen. Doch die Atomindustrie bremste ihn: Die Branche stehe zu der Vereinbarung. (Siehe Zitat) Es wurde eine Reststrommenge von über 2600 Terawattstunden vereinbart; das entspricht der Menge, die von 1968 bis 2000 erzeugt wurde. Mensch kann also höchstens von der „Halbzeit“ der Atomkraftnutzung in der BRD sprechen. Zudem liegt diese Strommenge über der technischen und wirtschaftlichen Lebensdauer der AKWs.

Otto Majewski, Chef des Bayernwerks und Präsident der Lobbyisten-Vereinigung „Deutsches Atomforum“: „Unser erklärtes Ziel, die deutschen Kernkraftwerke zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen weiterhin nutzen zu können, haben wir erreicht. Die rot-grüne Bundesregierung wäre durchaus in der Lage gewesen, den Bestand und den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen.“

Zitat aus dem „Konsensvertrag“: „Die Bundesregierung gewährleistet den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung.“

F: Na ja, der Ausstieg ist eben nicht von heute auf morgen zu haben. Ich habe gelesen, dass immerhin das AKW Stade 2003 stillgelegt wird. Ist nicht das wenigstens ein Erfolg?

A: Jedenfalls kein politischer. Die Stilllegung erfolgt nicht, weil die Regierung das so will; vielmehr hat der Betreiber HEW das von sich aus entschieden, weil das kleine, alte AKW nicht mehr wirtschaftlich arbeitet.

F: Warum sind Strommengen schlechter als Laufzeiten in Jahren?

A: Die Strommengen beinhalten eine zynische Logik: Jeder Stillstand, z. B. nach Störfällen, führt zu einer umso späteren Stilllegung! Die Bundesregierung muss also möglichst störungsfreien Betrieb garantieren; jeglicher Protest wird ad absurdum geführt, da jede kurzfristige Stilllegung den Betrieb letztlich verlängert.

F: Aber die gefährliche Wiederaufarbeitung ist doch wenigstens verboten?

A: Nein, nicht sofort, auch nicht 2005, wie oft behauptet: dann werden lediglich die Transporte in diese Anlagen eingestellt. Mit dem bis dahin angelieferten Material können die Plutoniumfabriken noch bis 2015 weiterarbeiten.

F: Immerhin gibt es doch ein Verbot, neue AKWs zu bauen – ist das auch falsch?

A: Das ist kein Erfolg von rot/grün, denn seit den 80ern wurde in Deutschland kein neues AKW gebaut, also auch nicht in den 16 Jahren Regierungszeit der Atomkraft-Befürworter von CDU/CSU/FDP.

F: Zum ersten Mal spricht eine Regierung wenigstens von Ausstieg, das ist doch toll, oder?

A: Das hat in der Tat was Gutes, weil Atomkraft als negativ dargestellt wird. Der Haken dabei ist: zum ersten Mal wird zwar gesetzlich anerkannt, dass Atomkraftnutzung tatsächlich Risiken beinhaltet; die Konsequenz besteht jedoch darin, dass die Gesellschaft diese Risiken eben als sozial angemessen hinnehmen muss. Schließlich ist der Ausstieg politisch ja nicht erreichbar. Das setzt auch jeglichen Hoffnungen (wer solche denn noch hatte), das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit evtl. einklagen zu können, ein Ende.

F: Aber der abnehmende Protest vom November 2001 zeigt doch, dass anscheinend viele Leute mit dem Konsens zufrieden sind, oder?

A: Auch das sehe ich anders. Sicherlich waren im November weniger Leute gegen den Transport unterwegs als noch im März. Das hat jedoch mehrere Ursachen. Erstmals wurde zweimal in einem Jahr ein Gorleben-Transport durchgesetzt. Dazu kommt, dass sich viele Leute, die sich gegen Atomenergie engagieren, auch in anderen sozialen Bewegungen wiederfinden. Das letzte Jahr war besonders ereignisreich: ich erinnere an Göteborg, Genua, Bonn, Salzburg … Die meisten Menschen haben nicht das ganze Jahr über frei. Und schließlich wurde auch die Repression verschärft; der Polizei gelang es besser als früher, den Widerstand unsichtbar zu machen. Z. B., indem Leute weit außerhalb der „offiziellen“ Demoverbotszone, ohne konkreten Vorwurf in Gewahrsam genommen wurden. Das macht Aktionen schwierig.

F: Wenn der Transportestopp aufgehoben wurde, dann wurde doch bestimmt der Strahlenschutz verbessert?(1998 hatte Frau Merkel als Reaktion auf den „Castor-Skandal“ einen unbefristeten Transportestopp verhängt, der erst von Herrn Trittin aufgehoben wurde.)

A: Leider wurden die Probleme mit den Behältern nicht wirklich gelöst. Es gab so absurde Maßnahmen wie eine Plastikhülle (!), um Kontaminationen zu vermeiden. Noch absurder ist ein anderer Begriff im Zusammenhang mit der Strahlenschutz-Novelle: der der „Gleichberechtigung“. Damit wurde begründet, dass Schwangere jetzt auch im inneren Kontrollbereich von Reaktoren arbeiten dürfen … Schwachradioaktiver Müll muss nicht mehr getrennt „entsorgt“ werden, er kann also (nach dem „Recycling“) überall wieder auftauchen, z. B. beim Straßenbau oder in Kochtöpfen oder Zahnspangen; niemand wird’s direkt merken. Auch tritiumbelastetes Wasser kann überall hin abgelassen werden.

F: Das Endlager Gorleben wurde doch verhindert – eine langjährige Forderung der Bewegung?

A: Nein, es wurde nicht verhindert, es gibt nur einen vorübergehenden Erkundungsstopp, keinen grundsätzlichen Zweifel an der Eignung. Dafür ist rot/grün die erste Regierung, die mit Schacht Konrad ein Endlager genehmigte.

F: Aber immerhin wird mit den dezentralen Zwischenlagern die Zahl der Transporte verringert – auch eine alte Forderung der Bewegung!

A: In der Tat. Damit wird jedoch der Widerstand unterlaufen und der Sinn der Forderung ins Gegenteil verkehrt: Ziel war und bleibt die sofortige Abschaltung; stattdessen dienen die Zwischenlager dem Weiterbetrieb der Anlagen. Nicht der vorhandene, sondern neu entstehender Müll wird dort gelagert.

F: Starker Tobak – Du willst ja auch gar nichts Positives sehen … War’s das jetzt?

A: Schön wär’s. Manche brisanten Aspekte werden leider in der Öffentlichkeit komplett verschwiegen. Dazu gehört, dass die Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau, allem Ausstiegsgerede zum trotz, ausgebaut wird. Am Ende wird sie fast doppelt so viele AKWs mit Brennstoff versorgen können, wie es hierzulande gibt. Dazu kommt, dass dort abgereichertes Uran als Abfall entsteht – sogenanntes DU (depleted uranium), bekannt aus den DU-Geschossen, die über dem Irak, dem Kosovo und höchstwahrscheinlich auch in Afghanistan eingesetzt wurden. Überdies bietet die UAA Gronau die Option, mit geringfügigen technischen Änderungen atomwaffenfähiges hochangereichertes Uran herzustellen. Der Forschungsreaktor in Garching darf 10 Jahre lang mit solchem Uran hantieren (trotz der Panikmache nach dem 11. September), und in Büchel lagern weiterhin US-Atomwaffen, für deren Einsatz auch deutsche Piloten ausgebildet werden.

F: Du hast doch die Grünen gewählt – worauf haben sich denn Deine Hoffnungen gestützt, was hätte die Bundesregierung denn besser machen können?

A: Inzwischen ist mir klar, wie absurd es ist, Hoffnungen auf eine Regierung zu setzen … Dennoch möchte ich ein paar Möglichkeiten nennen:

# die Rückstellungen in Milliardenhöhe auflösen oder hoch besteuern; …

# die Besteuerung von Uran, das als einziger Energieträger nach wie vor vollkommen steuerfrei ist;

# eine angemessene Haftpflichtversicherung für AKWs; rot-grün hat die Versicherungssumme um den Faktor 10 erhöht – von 0,01%auf 0,1% der zu erwartenden Schäden. Natürlich könnten diese Schäden nicht finanziell behoben werden – eine Gleichbehandlung der AKWs in dieser Hinsicht mit z. B. jedem Kraftfahrzeug würde zu ihrer sofortigen Unrentabilität führen;

# Verpflichtung zu Nachrüstungen auf den aktuellen Stand von Wissenschaft u. Technik;

# Hermes-Bürgschaften für Siemens-Auslandsprojekte streichen (AKW-Nachrüstungen in Slowenien, Argentinien, Litauen; sogar Neubau in China)

F: Was hältst Du von „außen Minister, innen grün“-Fischer?

A: Nur eine Anekdote: Er hat 1987 als Umweltminister in Hessen mitgeholfen, einen Atomunfall bei Siemens in Hanau zu vertuschen, indem er eine Untersuchung stoppte, als diese die ersten brisanten Ergebnisse brachte („Hanauer Kügelchen“).

F: Und was denkst Du Dir jetzt angesichts dieser verheerenden Bilanz?

A: Mit Parteipolitik gibt’s offenbar keinen Ausstieg; ich setze auf außerparlamentarische Bewegung und glaube den schönen Reden noch weniger als vorher. Ich werde mich mal intensiver mit anarchistischen Ideen befassen … Wenn wir was ändern wollen, müssen wir es selbst in die Hand nehmen; niemand nimmt uns die Arbeit ab!

wolf

(Wir möchten uns für das eingesandte Selbstinterview noch einmal bedanken. Kopf und Ärmel hoch! [Anmerkung d. Redaktion])

Atompolitik

Editorial FA! #2

Es kommt von Zeit zu Zeit vor, daß es trotz aller Bemühungen in unserer Gesellschaft schwierig ist, rechtzeitig "Feierabend!" zu machen. So ging es dieses Mal auch uns. Jeder weiß, wie so etwas passiert: immer kommt jemand und will, daß mensch dieses oder jenes schnell noch erledigt. Im lohnarbeitsüblichen Jargon wird das "Überstunden" genannt. Trotz allem ist es uns schließlich, wenn auch verspätet, gelungen "Feierabend!" zu machen. Und dies wollen wir auch noch einige Male tun, wir wollen nicht stumm sein. Jedoch könnte dies nicht das letzte Heft sein, das mit Verspätung erscheint. Denn wir wollen uns keinem starren Zeitregime unterwerfen, Spaß muss schließlich auch dabei sein. Um aber wenigstens einige Überstunden zu vermeiden, soll der nächste Einsendeschluß für Beiträge und Mitteilungen jeglicher Art für die folgende Ausgabe des „Feierabend!“ der 6. November sein.

Passend zum Semesterbeginn und dem nahen Ende der Schulferien häufen sich in dieser Ausgabe Artikel zum Thema Bildung. Wir möchten euch anregen, das „Was?“ und „Wie?“ und „Wozu?“ von und in Bildungsinstitutionen dieses Landes (und nicht nur hier) zu hinterfragen. Auch für diejenigen, die die Zeiten von Schulbank oder Hörsaal hinter sich haben, lohnt es sich hoffentlich.

Wir möchten Euch an dieser Stelle auch eine neue Mitstreiterin vorstellen. Es ist die kleine Schildkröte, die unser Blatt verziert, mit Vornamen Resi und Nachnamen Tensia. Sie soll uns in mehr oder weniger regelmäßigen (mensch weiß schließlich nie genau, wie lange Resi braucht, um die Durststrecke bis zur jeweils nächste Ausgabe zurückzulegen) Abständen seelisch und moralisch unterstützen, uns daran erinnern, daß es nicht immer und um jeden Preis hilfreich ist, „schneller, höher und weiter zu streben“.

P.S: Wir haben eine neue Adresse, sowohl materiell wie virtuell. Siehe S.23

BULGARIA IN THE NATO = NOW

interview mit der anarchistischen gruppe in sofia

Oh nein, bitte schaltet dieses gräßliche Video endlich aus. Ich weiß, es ist interessant sich nach einer Protestaktion die Mitschnitte anzuschauen, aber die Handvoll Leute mit dem Anti-NATO Transparent vermögen nicht den bitteren Eindruck, den Hunderte begeistert fähnchenschwingende – meist junge – Leute, hinterlassen, zu mindern. Die Fähnchen sind auf der einen Seite mit der bulgarischen auf der anderen mit der NATO-Fahne bedruckt. Schwer zu glauben, aber das scheint wirklich keine Spaßaktion zu sein und die sehen auch nicht aus, als ob sie dafür bezahlt werden. Ist in Sofia wirklich so wenig los, daß man bei Pro-NATO Songs einer mittelmäßigen Hip-Hop Band abhotten muß? Die enttäuschenden Jahre der post-sozialistischen Korruptions- und Mißwirtschaft scheinen den Leuten, vor allem denen, die endlich so schnell wie möglich westliche Lebensverhältnisse wollen, gleichzeitig auch den letzten Rest von kritischem Denken und Drang nach Eigenständigkeit genommen zu haben: „Nur keine Experimente mehr; so schnell wie möglich anpassen. So schnell wie möglich in die EU.“, oder wie zeitweise auf riesigen Werbewänden zu sehen: BULGARIA IN THE NATO = NOW !!!

Die Anarchistische Gruppe in Sofia hat sich zum „gemütlichen Beisammensein“ und für ein Interview in einer Wohnung zusammengefunden. Normalerweise hört man nicht viel von den Leuten in Bulgarien, weil hier, im Verhältnis zu anderen Ländern, eher wenig läuft. Zumindest ersteres soll sich hier und jetzt ändern.

lydia: Wir haben von Eurer Gruppe hier in Sofia gehört und würden natürlich gern etwas mehr über Euch und die Dinge, die Ihr hier tut, erfahren. Wie habt Ihr angefangen, seit wann gibt es Euch etc.?

m: Die ersten Kontakte kamen dadurch zustande, daß wir uns unabhängig voneinander bei den älteren Leuten von der F.A.B. (Anarchistische Föderation Bulgarien) um Kontakte mit anderen AnarchistInnen bemüht haben. Angefangen hat es mit reiner Theoriearbeit und dem Publizieren anarchistischer und antikapitalistischer Ideen auf der Website „Anarchy In Bulgaria“. Später begannen wir das Webmagazin „Chliab I Svoboda“ (Brot und Freiheit), sowie die Zeitung „Anarcho Asprotiva“ (1) (Anarchistischer Widerstand) herauszugeben. Kurz zu unseren Alt-Anarchisten von der F.A.B.: Sie haben den größten Teil Ihres Lebens in Camps wie Belene (2) und im Gefängnis verbracht und publizieren die Zeitung „Svobodna Misal“ (Freier Gedanke), welche mit unserer Zeitung „Anarcho Asprotiva“ zusammen herauskommt, sowie auch ein bißchen klassische anarchistische Literatur. Einer von Ihnen, Georgi Konstantinov, hat, ich glaube 1956 (2a), ein Stalin-Denkmal in die Luft gesprengt. Er wurde zum Tode verurteilt, hatte aber das Glück, daß Stalin kurz darauf starb, so daß die Strafe in 20 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Er saß davon 10 Jahre ab und entkam nach seiner Entlassung nach Frankreich. Nach der Wende kam er dann nach Bulgarien zurück.

Außerdem gibt es in diesem Zusammenhang noch eine Gruppe alter Anarcho-Syndikalisten (Ex-Bulgarien Confederation of Labour). Einer von ihnen – Nikola Mladenov – ist mittlerweile ca. 94 Jahre alt und hat in den 1930ern an der Spanischen Revolution teilgenommen. Die Leute von F.A.B. sind, wie gesagt, früher sogar richtig militant unterwegs gewesen, aber jetzt ist natürlich nicht mehr so viel mit ihnen los, da sie mittlerweile alle über 80 sind. Das Büro der F.A.B. war und ist für uns trotzdem immer noch ein guter Anlaufpunkt um mit anderen Leuten in Kontakt zu treten, und da sie dort über eine umfangreiche Materialsammlung verfügen, eine gute theoretische Basis.

Tja, irgendwann waren wir dann jedenfalls genug Leute um einfach auch mal an eigene Aktionen denken zu können.

lydia: Was für Aktionen waren das denn?

t: Die allererste war vielleicht noch nicht so interessant. Wir haben auf der offiziellen 1. Mai-Feier 2001 der Kommunisten (3) und Sozialisten Flugblätter über die Situation in Bulgarien verteilt. Ein lustiger Aspekt war dabei, daß die gar nicht gerafft haben, daß wir nicht da sind um mit ihnen zu feiern und irgendwelche älteren Muttis liefen dann mit unseren Flugblättern, mit dem großen Kreis A drauf, herum.

Danach kam dann im Juli 2001 die Protestaktion zum Tod von Carlo Guiliani während der Riots in Genua. Zufälligerweise haben wir am Tag zuvor – auch wieder durch die F.A.B. – Leute, ein paar Deutsche aus dem Antifaspektrum getroffen, und uns dann mit denen zusammen spontan, erstmals zu einer offenen Aktion an einem Global-Action-Day entschlossen.

So spontan, daß die meisten aus unserer Gruppe gar keine Zeit hatten rechtzeitig da zu sein. Deshalb waren wir auch nur ca. 8 Leute, die sich dann mit Transparenten und Fahnen vor das italienische Konsulat gestellt haben. Bei der Aktion waren außerdem noch Leute von der kommunistischen „Che Guevara“- Gruppe dabei. Einer von uns hat sich dann ketchupblutend als toter Carlo Guiliani vor den Eingang gelegt.

Die Situation war ziemlich witzig. Stell Dir vor mitten in Sofia… Eine Menge Leute waren verunsichert und haben gefragt, was passiert ist und ob wir Hilfe brauchen. Von daher war es nicht so wichtig, wie viele Leute wir waren; durch die massive Aufmerksamkeit der PassantInnen war die Aktion ein voller Erfolg. Der Security-Mann der Botschaft war auch ziemlich locker drauf und hat sich nur auf das Wichtigste beschränkt. Als dann endlich mal die Polizei (old school Lada-Vopo-Streife-Style, Anm. d. Interviewerin) kam, ist da auch nur einer ganz lustlos mit offenem Hemd (Bulgarisches Klischee-Brusttoupet; siehe auch Schwarzmeerküstenbusfahrer-Syndrom, Anm. d. Interviewerin) mal kurz ausgestiegen, hat kurz geschwatzt und ist wieder abgehauen.

Diese Aktion war sehr wichtig für uns, weil wir uns zum ersten Mal richtig an die Öffentlichkeit gewagt haben. Zuvor haben wir immer nur diese Flyer- und Klebe-Aktionen gemacht.

Am nächsten Tag gab es dann eine kleine Meldung in der Zeitung, die eigentlich O.K. War. Allerdings hat dann ca. 6 Wochen später eines der bekanntesten Wochenzeitungen Bulgariens diese Aktion als Aufhänger für ihre Titelseite genutzt um zu fragen, was wohl passiert, wenn die GlobalisierungsgegnerInnen nach Sofia mit seiner, auf so etwas nicht vorbereiteten, Polizei kommen und damit gezielt Angst geschürt. Allerdings sind durch diesen Artikel auch neue Leute zu uns gestoßen, weil sie erstmals mitbekamen, daß hier solch eine Gruppe existiert. b. kann da sicher mehr dazu sagen…

b: Ja, ich habe durch diesen reißerischen Artikel mitgekriegt, daß es in Sofia Leute gibt, die sich für Globalisierung interessieren, so daß dieser Mist auch etwas Positives bewirkt hat. Ein paar Wochen später habe ich dann erstmals die Zeitungen „Anarcho-Resistance“ und „Svobodna Misal“ gelesen und bin dann während des Protestes, gegen den geplanten Angriff auf Afghanistan, vor der US-Botschaft zu dieser Gruppe gekommen.

t: Diese Protestaktion war zufällig 2 Stunden bevor der Angriff begann. Unser eigentlicher Grund dort zu erscheinen war ja, daß die bulgarische Regierung kurz vorher, obwohl selbst noch kein Mitglied der NATO, in einer Erklärung zugesichert hat, diesen Krieg im Bedarfsfall aktiv zu unterstützen. Die Cops haben erst mal hilflos dagestanden und herumtelefoniert. Nach einer halben Stunde haben sie dann die Personalien aufgenommen und uns zu verstehen gegeben, daß das mit der Demokratie und dem friedlichen Protest zwar alles ganz nett ist, wir aber jetzt langsam verschwinden sollten, weil sie sonst zu anderen Mittel greifen müßten….

lydia: Das klingt, als ob Ihr hier die einzigen wart, die gegen den drohenden Krieg protestiert haben. Gehen denn bei so etwas nicht wenigstens noch irgendwelche Friedensgruppen o. ä. auf die Straße?

m: Nein, nichts. Hier gibt es maximal noch ein paar NGO‘s, aber von denen, hat sich niemand gerührt. Als die NATO 1999 Serbien bombardiert hat, haben damals nur ein paar Kommunisten protestiert. Damals ist auch diese Gruppe Che Guevara entstanden. Die waren aber bei der Afghanistan-Krieg Sache nicht mehr dabei, weil sie sich mittlerweile aufgelöst hatten. Bulgarien hat damals für die NATO Bomber den Luftkorridor geöffnet, obwohl die meisten Leute hier dagegen waren. Eine der Bomben haben die ja dann dummerweise hier in Sofia verloren. Zum Glück ist nur das Dach eines Hauses weggesprengt worden…

t: Eine andere gute Aktion war unsere 1.-Mai-Demo 2002. Wir sind mit ca. 25 Leuten mit Fahnen und Transparenten durch das Zentrum von Sofia gezogen und haben hauptsächlich für den 6 Stunden Arbeitstag demonstriert. Da kamen dann echt Leute an: „Eh, kuckt Euch die an! Die fordern einen 6 Stunden-Tag! Leute hier in Bulgarien arbeiten mehr als 16 Stunden am Tag! Ihr jungen Schnösel wollt nur 6 Stunden arbeiten… So was faules…“ und ähnlichen Bullshit. Wir meinten dann einfach nur: „Wenn Ihr unbedingt wollt, dann müßt Ihr halt 16 Stunden arbeiten…“ Wir haben dann noch versucht Ihnen die Grundidee, die es schon beim Kampf für den 8-Stundentag in der Vergangenheit gab, zu erklären. Damals gab es auch eine Menge Arbeitslose und Leute die mehr als 10 Stunden gearbeitet haben. Es geht dabei einfach nur darum, die Arbeit unter den Leuten aufzuteilen – mehr Leute für die selbe Arbeit einzustellen. Aber die meinten nur: „…und wir verdienen dann weniger Geld!“.

lydia: …und checken nicht , daß sie bei fairer Entlohnung gar nicht länger arbeiten müßten.

t: Die denken alle nur an sich selbst.

m: Ziemlich paradox war, daß die meisten von denen Sozialisten waren. Die Cops haben dann noch angefangen, wir hätten keine Erlaubnis für unsere schwarze Fahne und solches Zeug.

lydia: Wie groß ist Euer Themenspektrum? Befasst Ihr Euch mit anderen Themen, wie zum Beispiel mit so Sachen wie Feminismus, Ökologie, Tierrechte…? Oder seid Ihr nur im Arbeitskampf beschäftigt..?

m: Nein, nein, wir sind natürlich nicht nur auf so was fixiert. Wir befassen uns z.B. auch mit Ökologie, Feminismus, Homosexualität… Wir haben mit einer Öko-Gruppe „Za Zemjata“ (für die Erde) zusammengearbeitet. Das sind zwar NGO´s, aber wir haben auch schon Aktionen mit denen gemacht. Keine illegalen Aktionen, alles ganz normale Sachen, wie Säuberungsaktionen in den Bergen oder Aktionen für Fahrradwege (4), die wir auch O.K. Finden. Mit denen haben wir aber auch eine Anti-Globalisierungsaktion gemacht; bei einem Treffen in Sofia wo es um den Balkan-Stabilitätspakt ging und wir kritisiert haben, daß diese Dinge wieder nur den Ländern mit der besseren Ökonomie nützen. Zu vielen anderen Themen, wie Feminismus und Homosexualität, haben wir bis jetzt nur theoretisch gearbeitet. Hier gibt es einen regen Meinungsaustausch mit Leuten von Gruppen aus dem Ausland, wenn die hier vorbeischauen. Ein anderes wichtiges Thema ist natürlich Antifa.

lydia: Perfekter Übergang. Meine nächste Frage ist nämlich die obligatorische. Natürlich, die nach dem Naziproblem. Wie sieht es hier in Bulgarien und Sofia damit aus?

Bulgarien war ja im 2. Weltkrieg Verbündeter von Nazideutschland und es gibt natürlich Leute, die sind stolz auf diese Zeit und der Meinung, daß es Bulgarien damals besser ging. Dazu kommt noch daß nun alle Kommunistenhasser sind und KommunistInnen sind nun mal AntifaschistInnen…

Die Nazizeit war für die eine großartige Zeit: Wir haben die Nachbarländer okkupiert – die natürlich zu uns gehören – und Groß-Bulgarien war vereinigt. Es hilft den Leuten den Komplex, der heute auf ihnen lastet, zu ertragen. Es gibt sogar Leute, die der Meinung sind, daß BulgarInnen Arier – keine Slawen – nämlich Bulg-Ariens sind.

Die meisten der jungen Leute sind Nationalisten. Bei den Fußballfans ist dieses Denken auch weit verbreitet und man läßt dann auch gern mal Dampf bei irgendwelchen Minderheiten ab. Zigeuner, Juden, Türken (5) sind willkommene Schuldige am Elend der Leute. Die ganze klassische Naziliteratur ist bei uns unkommentiert frei erhältlich. Vor einem Jahr haben die sogar Hitlerposter geklebt. Es gibt zwar eindeutige Gesetze gegen die Verbreitung faschistischer Ideologien, aber die interessieren in der Praxis niemanden. Es gibt eine Menge legaler Unterstützungsaktionen. Man merkt auch, daß da eine Menge Geld dahinter steckt – die also auch finanziell gut unterstützt werden.

m: Eine interessante Sache in diesem Zusammenhang: Vor vielleicht 2 Jahren haben diese Che- Guevara-Leute bei den Feierlichkeiten zum Geburtstag von Hristo Botev, eines unserer Nationalhelden, ein Transparent wo das Nato-Symbol wie eine Swastika aussieht, gezeigt. Die wurden dann wegen Zeigen von rechtsradikalen Symbolen verhaftet und angezeigt. Bei jedem Fußballspiel kannst du Fahnen mit Hakenkreuzen sehen, und es interessiert niemanden. Ein gutes Beispiel wie unsere Anti-Nazi Gesetze gegen Antifaschistinnen gewendet werden.

lydia: Wie sieht es bei denen mit Parteien aus?

t: Eine der bekanntesten Parteien ist die Nationalistenpartei VMRO (6) (Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation), dann gibt es noch BNRP (Bulgarische National-Radikale Partei) und seit kurzem die BNS (7) (Bulgarische Nationale Union), die sich offenen zu rechtsradikalem Gedankengut bekennen. Wir attackieren gegenseitig unsere Websites…

lydia: Bekämpft Ihr die Nazis auch direkt, bzw. müßt Ihr Euch auf der Straße gegen sie wehren?

m: Ein paar aus unserer Gruppe und Leute von Ex-Che-Guevara gehen regelmäßig Nazis (be)suchen…

lydia: Was sagen die Nazis zum NATO-Beitritt?

m: Sie sind dagegen. Es gab sogar schon Einträge von Nazis im Gästebuch unserer Website, daß sie es gut finden, daß wir etwas gegen die NATO machen. Wir haben das aber eindeutig klargestellt, daß wir, trotz manchmal gleicher oder ähnlicher Themen, keine gemeinsame Sache mit Nationalisten oder gar Nazis machen.

lydia: Ich weiß nicht, ob Ihr davon wißt, bei uns in Deutschland demonstrieren die Nazis für die PalästinenserInnen, weil sie die als Verbündete gegen die Juden sehen und tragen deshalb sogar die so genannten Palästinenser-Tücher. Wie sieht das hier aus?

b: Sehr interessant (allgemeine Heiterkeit). Und zur selben Zeit verprügeln sie die wahrscheinlich noch… Die haben bei uns keine einheitliche Position zum Israelkonflikt. Die schreien natürlich auch, daß die bösen Juden arme Palästinenser umbringen, aber das geht nicht so weit, daß sie für Muslime Partei ergreifen, weil sie wegen unserer 500jährigen türkischen Geschichte und der daraus resultierenden türkisch-muslimischen Bevölkerungsschicht, immer noch eine große Abneigung gegen Muslime haben.

lydia: Wie sieht es allgemein aus hier in Bulgarien – wie ist die Stimmung bei den Leuten?

b: Die meisten Leute sind schon unzufrieden, aber auch einfach zu passiv, trauen sich nicht zu, selbst was zu verändern. Dabei ist es für viele ein schwieriges Auskommen – die Lebensbedingungen sind hart und es gibt vieles, was sich ändern muß. Dabei spielt sicher auch mit rein, daß die meisten voll damit beschäftigt sind ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da bleibt oft nicht viel Zeit an andere Sachen zu denken.

lydia: Bulgarien ist jetzt auf dem Weg in die NATO…

m: Ja, die intensive Kampagne dafür begann kurz nach dem Jugoslawien-Krieg. Die wenigsten Leute in Bulgarien stehen dem NATO-Beitritt kritisch gegenüber und die Werbung dafür ist ein voller Erfolg, wie Du ja sicher vorhin auf dem Video gesehen hast. Um noch mal auf den Artikel wegen der drohenden GlobalisierungsgegnerInnen in Sofia zurück zu kommen… Das war natürlich nicht ganz grundlos. Einen Monat später, sollte hier nämlich ein NATO-Treffen (27. 09. 01) stattfinden und dafür wurden die Leute dann in Stimmung gebracht. Die Polizei konnte sich damit prima als Ordnungshüter wegen der vielen GlobalisierungsgegnerInnen, die dann kommen würden, in Szene setzen. Sofia war dann zu dieser Zeit dementsprechend im Ausnahmezustand. 6000 Polizisten (was hier ziemlich viel ist), haben damals in Sofia alles dicht gemacht. Wir haben uns natürlich auch ruhig verhalten. Die Leute von Che Guevara mußten damals unterschreiben, daß sie sich nicht an Protesten beteiligen.

lydia: Gibt es in Bulgarien ein Vermummungsverbot?

m: Ich glaube nicht, daß so etwas in unseren Gesetzen existiert, aber für uns ist diese Frage bisher unrelevant. Bei der leider nur geringen Anzahl von Leuten, die wir bis jetzt auf die Beine kriegen, ist es eher unklug sich aggressiv zu zeigen; die meisten Leute assoziieren ja Vermummung nur mit Terroristen. Außerdem erleichtert es die Kriminalisierung.

lydia: Was habt Ihr für Auslandskontakte – inwieweit arbeitet Ihr mit Anderen zusammen?

t: Ja, wir haben Kontakte zu Leuten, meistens AnarchistInnen, z.B. in Griechenland, Serbien, USA, Schweiz oder natürlich Deutschland. Das beschränkt sich aber meist auf den Austausch von Artikeln für die jeweiligen Zeitungen. Ansonsten, sind wir hier zwangsläufig größtenteils mit unseren eigenen Sachen beschäftigt – versuchen z.B. auch neue, jüngere Leute zu gewinnen. Wenn uns Leute besuchen, nehmen sie natürlich auch an unseren Aktionen teil. Umgedreht ist es für uns aber aus Kostengründen meist schwierig an Aktionen im Ausland teilzunehmen.

lydia: Was habt Ihr an Plänen für die Zukunft?

t: Wir brauchen dringend etwas, wo wir uns treffen können. Was wir auch als Infoladen, zum publizieren, zum Medienaustausch oder ähnliches nutzen können. Zur Zeit treffen wir uns immer in irgendwelchen Kneipen und das ist nicht so angenehm zum diskutieren. Außerdem gibt es keinen festen Anlaufpunkt für neu hinzukommende Leute. Und die können wir dringend gebrauchen.

Wir haben zwar eine Menge SympathisantInnen, eine Menge Leute lesen unsere Zeitung und sagen: „Oh, das ist gut, was ihr hier macht – wann kommt die nächste Ausgabe?“ aber wenn mal wieder eine Aktion ansteht…

lydia: Danke fürs Interview und alles Gute.

(1) change.to/anarchy, www.savanne.ch/svoboda, resistance.hit.bg/), www.radicalreader.net/ZBG
(2) Zehntausende BulgarInnen wurden während des Stalinistischen Regimes als „Feinde der Volksrepublik“ in Arbeitslagern festgehalten. Manche landeten hier für Kleinigkeiten wie Witze gegen das Regime oder Interesse an westlicher Lebensart. Diese Lager, ähnlich den sowjetischen Gulags, wurden Anfang der 1970er größtenteils geschlossen. Tausende starben hier, infolge von Schlägen und schlechter Behandlung, Das Schlimmste war das in Lovech, wo zwischen 1957 und 1961 ca. 150 Leute umkamen. Im Lager Belene wurden die Leute auf einer Donauinsel festgehalten. Viele von den Lagern waren geheim, aber ca. 60 waren in der bulgarischen Bevölkerung gut bekannt.
(2a) Tja, so ist das mit mündlichen Überlieferungen, Stalin starb bereits am 05.03.1953 …
(3) gemeint ist die größte Oppositions-Partei BSP (Bulgarische Sozialistische („gewendete“ ex-Kommunistische Partei), angeführt von Georgi Purvanov, welcher seine Partei im Mai 2000 eine Bitte um NATO-Mitgliedschaft unterstützen ließ. In einer Koalition zusammen mit Ecoglasnost und Stamboliiski’s Agrar Partei, bilden sie die Neue Demokratische Linke, mit 1997 22.1% der Wählerstimmen (eine harte Niederlage, verschuldet durch den ökonomischen Kollaps, nach noch 43.5% im Jahre 1994)
(4) in Sofia gibt es keine Fahrradwege, auf der normalen Straße fahren ist aufgrund der vielen Kamikaze-FahrerInnen lebensgefährlich und Bürgersteigfahren verboten
(5) BulgarInnen im ursprünglichen Sinne repräsentieren 85.7% der Bevölkerung. 9.4% türkischer Abstammung stellen die größte Bevölkerungsminderheit, welche hier jedoch, trotz des geschichtlichen Hintergrundes, größtenteils keine Probleme haben. Problematischer sind die Beziehungen zur dritten Gruppe, den Roma (Zigeuner), welche 3.7% der Bevölkerung ausmachen, und denen viele mangelndes Interesse an Integration in die Gesellschaft und Verantwortung für Kriminalität vorwerfen. 86.6% der Bevölkerung sind angeblich Orthodoxe Christen und 13.1% Muslime.
(6) eine Schwesterpartei einer eigentlich in Mazedonien gegründeten Partei, die für die Wiedervereinigung Bulgariens und Mazedoniens eintritt; war auch schon an Regierungskoalitionen beteiligt.
(7) deutsche Version: www.bgns.net/inde_de.php

Interview

LVB: Minus für Plus

Der Duden meint dazu: „Minus, das: Minder-, Fehlbetrag, Mangel; Ggs Plus“ und „Plus, das: Mehr, Überschuß; Ggs Minus“

Im öffentlichen Dienst muß seit jeher scharf kalkuliert und gerechnet werden. Die Zeichen Plus und Minus sind dort gewiß nicht unbekannt; und seit jeher jonglierte mensch in der Verwaltung damit aufs wunderbarste. Vor kurzem konnte das in Leipzig wieder erlebt werden: 30 Prozent weniger Lohn für neu eingestellte FahrerInnen von Bus und Straßenbahn im Stadtgebiet, aber immerhin (?) mehr BusfahrerInnen. Doch das Minus ist nicht nur ein Plus, sondern sogar zwei!

Durch „marktübliche Bezahlung“, so der Geschäftsführer der LVB, Hanss (1), sollen nämlich „marktgerechte Preise“ erzielt werden … heißt das jetzt, Fahrkarten werden um 30 Prozent billiger?

Durch die Ausgliederung der FahrerInnen in eine spezielle Gesellschaft (die LSVB) (2) – welcher der DGB-Betriebsrat umstandslos zustimmte – werden nicht nur Neuerungen umgesetzt: die FahrerInnen erhalten unterschiedlichen Lohn, ein feines, aber offensichtliches Netz hierarchischer Abstufungen: die ex-LVBler bekommen mehr als die vom RVL (3), die wiederum mehr als die vom RVT(4), und am wenigsten, nämlich 30 Prozent weniger Stundenlohn erhalten die neu eingestellten FahrerInnen. Und alle zusammen müssen flexibler arbeiten … „seid bereit!“ Beim alten bleibt’s mit dem engen Zeitplan, mit dem extremer Stress produziert wird: so manche Minute Verspätung (oft verkehrsbedingt) summiert sich da, und frißt die spärlichen Pausen auf. Wer geblitzt wird, beim Versuch die Pause zu retten, zahlt aus der eigenen Tasche.

Es gibt da wohl nichts zu beschönigen: die Stimmung in den LVB ist unter null. Und auch auf der Straße, in den Augen der Fahrgäste dürften sich die Minuspunkte häufen, wenn Geschäftsführer Hanss meint, Tariferhöhungen seien auch nach dem 1. August „immer möglich“. Es ist nun wirklich an der Zeit, sich um Alternativen, um die eigenen Anliegen zu kümmern. Viele verließen die Gewerkschaften, diese Bürokratie, die um des „sozialen Friedens“- Willen – Friedhofsfrieden, Totenstille – alles mitträgt. Diese vielen müssen sich zusammenfinden, um der ursprünglichen Gewerkschaftsbewegung wieder Leben einzuhauchen … dezentral, solidarisch, kämpferisch, ohne Hierarchien, für ein besseres Leben!

A.E.

(1) im übrigen ehemaliger Gewerkschafts-Funktionär
(2) LSVB = Leipziger Straßenverkehrsbetriebe
(3) RVL = Regionalverkehr Leipzig
(4) RVT = Regionalverkehr Taucha

Lokales

Nightmare on Raumschifffolter

Am 16. Oktober wurde in dem Wohn- und Kulturzentrum Gießerstraße 16 im Rahmen eines Kleinkunstabends das Theaterstück „Nightmare on Raumschifffolter“ uraufgeführt.

Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Mensch befindet sich mit ein paar Dutzend anderen Leuten innerhalb einer Industrieruine. Schrott liegt scheinbar nutzlos herum. Roboterartig legen sich Wesen aus alten Reifengummi und Müll bestehende Rüstungen an. Dazu dröhnt live Musik von Schlagzeug und Bass, flirrende Lichter. Robocops aus dunklen Zukunftscomics lassen grüßen. Es wird ein grausam düsteres Bild gezeichnet. Womöglich das Bild unserer Zukunft?

Da ist eine kaum mehr als menschliche Kreatur zu bezeichnende „Gebärmaschine“, die genetisch exakt für eine bestimmte Arbeit ausgerichtete, zum Gehen aber unfähige, Wesen erzeugt. Hinrichtungen gehören schon zum Normalzustand. Zwischendurch erscheint ein gut gekleidetes Pärchen. Candellight-Dinner bei völliger Ausblendung der überall vorhandenen Gewalt. Aber auch hier ist Gewalt zu spüren: durch das Gefangensein in den Rollenbildern. Der Ausbruch aus beiden Welten wird versucht und endet ebenso blutig. Die Rebellis beider Welten vereinigen sich zwar, ein „happy end“ mit Zukunftschancen gibt es dennoch nicht.

Das Stück macht seinem Namen „Nightmare on Raumschifffolter“ alle Ehre. Es besticht durch dröhnende Beats und die brutalen Gewaltszenen, welche so gar nichts mit den alltäglich im Fernseher zu sehenden Gewaltplots gemein haben. Ekelgefühle gegen die extrem abstoßend wirkende Darstellis bahnen sich ihren Weg in den Bauch. Jeder in Mann/Frau sortierende Gedanke ist im Keim erstickt. Leider bleibt etwas Verwirrung zurück, da einige Rollen von mehreren Personen gespielt wurden und die ausgewechselten Personen wiederum in anderen Rollen auftreten. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Bühnen gelangen sehr flüssig. Die Spielzeit von ca. einer Stunde verging wie im Flug, so dass das Stehen kaum auffiel. Alles in allem also eine sehr zu empfehlende „Antiperformance“. Weitere Aufführungen sind geplant. Haltet also Augen und Ohren offen oder schaut in die Gießer-Veranstaltungsflyer.

feuerstein

Kultur

Arbeitgeber, Arbeitnehmer…

Ein Verständnisproblem

Manchmal erklären Worte mehr als diejenigen bezwecken, welche sie in den Mund nehmen. Um welche Worte es im folgenden gehen soll, kann man in der Überschrift erkennen. Keine Tageszeitung, keine Nachrichtensendung und kaum ein längeres Gespräch über das als Hauptübel der Menschheit verkannte „Problem“ der Arbeitslosigkeit kommt ohne Kommentare zu Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite aus. Zwischen diesen beiden Parteien werden Verhandlungen geführt, es gibt diesen und jenen Streitpunkt, die einen möchten mehr Rechte, die anderen hingegen würden ihrem Widerpart gerne (zugespitzt!) jegliche Rechte aberkennen. Zum Gipfel nennt sich die ganze Chose dann auch noch Sozialpartnerschaft…

Tröstlich allein stimmt es, dass sogar hier im gesellschaftlichen Normalgeplänkel Rivalitäten und Unterschiede vorausgesetzt werden, die man doch eigentlich zusammen mit Karl Marx aus der öffentlichen Diskussion entsorgt hat. Jedoch soll das hier nicht das Thema sein.

Vielmehr ist es das Anliegen dieser Zeilen, auf eine zugegebenermaßen recht banale Absurdität hinzuweisen: Wer gibt denn hier wem Arbeit? Und wer nimmt dieselbe im eigenen Interesse an?

Richtig! Der Mensch, welcher auf Geld angewiesen, Tätigkeiten ausübt, die garantiert nicht immer seinem Geschmack entsprechen, gibt „Arbeit“! Er hat ja auch nichts anderes zu bieten, um seine Existenzberechtigung nachzuweisen; kreativ als Ich-AG umschrieben. Wahrscheinlich ist es äußerst trivial anzumerken, dass zu dieser Gruppe von Menschen Fließbandmalocher, Handwerker, Angestellte in Bank, Werbeagentur und Unterhaltungsindustrie, etc. gehören. Normalerweise „Arbeitnehmer“ genannt, sind sie alle Woche für Woche damit beschäftigt, ihre Arbeit gegen Lohn zu tauschen. Waschechte Arbeitgeber sozusagen!

Wer hingegen ist nun der wahre Arbeitnehmer ? Vielleicht sind es die Selbstständigen (1), die ja wirklich furchtbar selbstständig im ökonomisch und politisch vorgegebenen Rahmen umherwirbeln dürfen, da sie neben ihrer Arbeitskraft auch noch das nötige Geld haben oder es sich leihen, um eine Firma zu gründen, bzw. am Laufen zu halten. Wenn diesen Selbstständigen dann alles nach Wunsch gerät, holen sie aus eigener (ja, auch das) und „genommener“ Arbeit wieder hübsche Sümmchen heraus.

Leider ist es oftmals nicht so einfach, in einem komplexen Wirtschaftssystem, wie es der Kapitalismus nun einmal ist, die Frage nach den Arbeitnehmern zu beantworten. Konzerne, Kapitalgesellschaften und auch der Staat, die unsere Arbeit nehmen, zeichnen sich durch die groteske Struktur aus, die ganz im Sinne der vorherrschenden Ordnung, zunehmend anonymisiert und atomisiert. Vielleicht ist es ja ein Nachbar, ein neben mir in der Straßenbahn sitzender Mensch, eine sympathische, flüchtige Kneipenbekanntschaft, die Aktien an der Firma halten, die mich am kalten Morgen aus dem warmen Bett zwingt.

Als beliebter Sonderfall sei auch der Eigenanteil eines Angestellten an „seiner“ Firma erwähnt: Eine treffliche Einrichtung, um sich selbst maximal auszubeuten und Fragen nach Sinn und Zweck der eigenen Tätigkeit hinten anzustellen. Problematisch wird es nur dann, wenn die Firma den Bach heruntergeht und die Aktienanteile plötzlich nichts mehr wert sind. Die baldige Auflösung des Neuen Marktes und etliche ruinierte „Ich-AGs“ sprechen Bände!

Das verwickelt die Sache ungemein und macht deutlich, wie schwer es ist, einen Angriffspunkt zu finden, von dem aus diesem ganzen Unsinn Einhalt geboten wird.

Daß sich die Gesellschaft bereitwillig und unreflektiert in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberhaufen einteilen lässt, wenn auch völlig falsch verstanden, hilft zumindest Interessenskonflikte auszumachen, die zu Widerstand führen könnten.

Doch sogar hier ist Verschleierung im Gange, wenn ein „Bündnis für Arbeit“ oder eine Standortdebatte die Aufmerksamkeit nur noch auf Probleme richtet, die streng genommen keine sind. „Arbeitslosigkeit“ sollte in diesem Sinne auch mehr als Segen denn Problem aufgefasst werden: Zumindest teilweise von der Kette der Arbeit „los“gelassen zu werden, solange das noch möglich ist, klingt doch nicht so schlecht.

Die demnächst umgesetzten Vorschläge der Hartz-Kommission werden jedoch auch damit bald Schluß machen . Alles kann man sich wirklich nicht gefallen lassen.

kao

(1) Selbstständige können sicherlich nicht nur als kleine Krämerseelen gesehen werden, stoßen sie doch auch oft genug auf die Grenzen ihrer „Freiheit“ !

Arbeit