Schlagwort-Archive: 2006

Die Gedanken sind Brei

Die WM und der Nationalstolz

The party is over, die WM vorbei, die allgegen­wärtigen schwarz-rot-gelben National­lappen bis auf ein paar Über­­reste ver­schwunden, die über­bordende Deutsch­­­­­­­tüme­lei zumindest in ihren sichtbaren Anteilen wieder zurückgegangen. Trotzdem lohnt es sich, nochmal einen Blick zurück zu werfen und den „neuen“ Patriotismus, wie er sich während der WM gezeigt hat, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Nationalismus: „Weicher Standortfaktor“

Aufrufe zum Nationalstolz erfreuten sich die letzten Jahre wachsender Beliebtheit. Die unsägliche „Du-bist-Deutschland“-Kampagne und die Patriotismus-Debatte in der sächsischen CDU (siehe FA! #21) sind nur zwei Beispiele der letzten Zeit. Zum Großteil hat das sicher die Funktion eines sozialen Bindemittels. Immer mehr Menschen werden vom gegenwärtigen Wirtschaftssystem als „überflüssig“ aussortiert, an den Rand gedrängt und ihrer Lebensperspektiven beraubt. Das gilt nicht nur für die Erwerbslosen: Für die, die noch einer Arbeit nachgehen, ist diese zunehmend prekär und schlecht bezahlt.

Die heutige Gesellschaftsordnung hat denen, die gezwungen sind, in ihr zu leben, als Ausgleich für ihr widerspruchsloses Mitwirken zusehends weniger zu bieten. Da materiell immer weniger rumkommt beim Mitmachen und Klappehalten, gewinnt der Nationalismus als Form der symbolischen Vergemeinschaftung an Bedeutung. Die Identifikation mit dem „großen Ganzen“ der Nation soll den Einzelnen entschädigen für die Einschränkungen, die diese Nation ihm auferlegt. Die „Du-bist-Deutschland“-Spots zeigen, wie man sich das vorstellt: Von der Putzfrau bis zum Firmenchef, jede(r) soll sich als vollwertiger Teil einer Gemeinschaft fühlen, sich in Zweckoptimismus üben und eifrig anpacken, damit es wieder vorwärts geht mit dem Standort.

Diese Aufforderung, sich mit einem Staat zu identifizieren, in dem man selbst nur austauschbare Manövriermasse ist, scheint vielleicht absurd. Sie funktioniert aber, weil sie sich mit dem Bedürfnis nach Teilhabe trifft. Will heißen: Auch für die, die sich zusehends an den Rand gedrängt sehen, ist es wichtig, sich der eigenen Zugehörigkeit zu versichern – und sei es nur sym­bolisch, indem man eine Deutsch­land­fahne aus dem Fenster hängt.

Die WM als Nationalstolz-Generator

Veranstaltungen wie das diesjährige WM-Spektakel spielen für die emotionale Bindung der Einzelnen an das „große Ganze“ der Nation eine wichtige Rolle. Im Alltag ist dieses recht abstrakt: Das, was an Gemeinsamkeiten da ist (die Sprache, der deutsche Pass), wiegt gegenüber den realen Unterschieden eher gering, das „Ganze“, von dem man da ein Teil sein soll, ist im täglichen Leben nicht zu finden – um so schwerer ist es, eine gefühlsmäßige Beziehung dazu zu entwickeln. Der emotionale Ausnahmezustand während der WM hilft da nach.

Klar kann man das, was die „eigene“ Mannschaft macht, einfach als das sehen, was es ist: Ein paar Leute kicken einen Lederball mehr oder weniger unterhaltsam über ein Stück Rasen und versuchen, damit ein Tor zu treffen. Man kann das als guten Fußball honorieren, den Staat, in dessen Farben die Mannschaft antritt, muss man darum nicht besser finden.

Nur wurde so eine Haltung nicht dem Publikum während der WM von Seiten der Politik und der Medien nahegelegt. Große Anstrengungen wurden (wie zu erwarten) unternommen, um das Ereignis im Sinne der herrschenden Interessen zu interpretieren und zu nutzen, die Identifikation mit der Mannschaft in eine mit der Nation umzumünzen. Die wirtschaftliche und politische Konkurrenz der Nationalstaaten ist dabei das Grundschema, welches auch die Sicht auf das sportliche Ereignis bestimmt. Die Spieler der „eigenen“ Mannschaft agieren also nicht nur als Sportler, sondern dieser Lesart nach auch und vor allem als Repräsentanten der Nation – und so erwartet man von ihnen, auch im Sport die Nation da hinzubringen, wo nach Ansicht aller Nationalisten die eigene Nation hingehört: an die Spitze.

Auch die emotional aufgeladene Atmosphäre in den Massen von Fans auf den public-viewing-Plätzen (im Verbund mit exzessivem Alkoholkonsum) war nicht gerade geeignet für Reflexion und kritische Distanz. Der dort stattfindende staatlich genehmigte Kontrollverlust bot Entlastung vom durch Vereinzelung und ökonomischer Rationalität geprägten Alltag. Geduldet wird das aus gutem Grund, sind doch Ereignisse dieser Art für viele Leute die einzige Gelegenheit, sich mit der eigenen Nationalität rundum einverstanden zu erklären – auch weil (im Gegensatz zum Handeln der politischen Repräsentanten) das, was immer die Spieler da leisten, am Ende keine negativen Folgen für einen selber hat.

Und weiter?

Bliebe noch die Frage, was die WM nun tatsächlich gebracht hat. Ein grundlegend neues Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur Nation wohl eher nicht. Die Meinung, jetzt endlich hätten die Deutschen zu einem unverkrampften Nationalgefühl und einer „normalen“ Beziehung zum eigenen Land zurückgefunden, ist selbst eine regelmäßig wiederkehrende Behauptung derer, denen der Nationalstolz sowieso nie weit genug gehen kann. Insofern kann man getrost bezweifeln, dass sich bei der WM eine grundsätzlich neue Dimension des Patriotismus gezeigt hätte – obwohl diese sicher dazu beigetragen hat, schon vorhandene nationalistische Stimmungen zu stärken. Ansonsten hat die WM vor allem eins gebracht: enormen Umsatz für die flaggenpro­duzierende Industrie.

justus

Editorial FA! #24

…großstadtflair kommt in diesen tagen kaum auf. die meisten redaxlerInnen entfleuchten in entferntere gefilde und die verbliebenen changierten zwischen der option, zu lernen oder als unverwüstliche geburtshelfer der schmalen #24 in die annalen des FA! einzugehen. der im letzten heft angekündigte schwerpunkt emanzipation läßt sich eher zwischen den zeilen lesen als in den überschriften, weil unser aller zeitgeschehen und die anzunehmende schreibfaulheit unserer leserschaft so schwer berechenbar sind.

letztlich mussten auch wir uns endlich eingestehen, dass das leben selbst die spannendsten geschichten schreibt und vorsätze sich im wind der zeit bewegen, weswegen es keinen vorabschwerpunkt gibt. und dennoch haben wir das diesmal ausdauernde sommerloch überlebt und hoffen auf frischen herbstwind um unsere verstopften nasen. für einen blick in den globalen raum gibts neben einem artikel zu „g8“ auch noch ne schmucke beilage „für die menschheit“ vom ya-basta-netz. der alltägliche kampf bleibt hart, weil emanzipation nunmal kein freizeitpark ist, aber herzlich, weil nun doch ein weiteres mal „die propaganda getan“ worden ist – viel spass beim lesen und sonstigen taten wünscht

eure Feierabend!redax.

Protest wohin?

Nicht ohne Grund ist das Hakenkreuz in Deutschland ein „verfassungswidriges Symbol“. Daher sollte mensch auch seine Ablehnung gegen das Logo von unheilvollem Gedankengut, welches eine menschenverachtende Weltanschauung und millionenfachen Mord verursachte, zur Schau tragen dürfen. Am 3.Oktober, als der Hamburger Chefnazi Worch seine „Kameraden“ vom Leipziger Hbf bis zum Ostplatz führte, war dies aber nicht mehr möglich. Was war passiert?

Die rund 200 FaschistInnen profitierten v.a. vom geringeren Widerstand der Bevölkerung vor Ort und massivem Polizeischutz. Bis 2012 sind die Aufmärsche schon beantragt, es gilt, Methoden zu entwickeln, damit sie in Zukunft nicht mehr vorwärts kommen. Am bequemsten wäre es, viel mehr Menschen zu gewaltlosen Sitzblockaden zu bewegen, die aufgrund ihrer Masse nicht geräumt werden. Steinewerfen und Barrikadenbau erhöhen zwar das Drohpotential, spielen aber auch der Argumentation der Nazis in die Hände. Jedoch sind sie eine gerade noch verständliche Reaktion auf die Aggression der Staatsgewalt, die die existentiellen Rechte der Antifaschisten mit Füßen tritt.

Als ob das nicht genug wäre, argumentiert auch die Legislative, das durchgestrichene Hakenkreuz müsse verschwinden, denn „es besteht die Gefahr der Gewöhnung“ ( Wolfgang Küllmer, Richter Landgericht Stuttgart). Soll das Symbol als Relikt des Hitlerregimes im Museum verrotten, während sich die BürgerInnen an zwei Nazi­aufmärsche pro Jahr gewöhnen sollen?

bonz

Kommentar

Ein frühes Ostereiersuchen – BUKO 30

Ende September fand das erste bundes­weite Vorbereitungstreffen des BUKO 30 statt, der Ostern´07 in Leipzig sein wird, erstmals in Ostdeutschland und knapp zwei Monate vorm G8-Gipfel in Heiligen­damm. Die „Bundeskoordination Internati­onalis­mus“ mit ca. 130 vernetzten Gruppen gibt es seit knapp 30 Jahren. Nach dem letzten Kongress im Frühjahr in Berlin (FA!#23 berichtete) hat sich ein kleiner Kreis in Leipzig gebildet, der zusammen mit den weiterhin in­­te­­res­sierten BerlinerInnen, der Hambur­ger Geschäftsstelle und weiteren Aktivist­Innen aus ganz Deutschland den 30. Kongress vorbereiten will.

Zunächst wurden inhaltliche und strukturelle Wunsch­vorstellungen zusammengetragen: Landwirtschaft, Energie­sicherheit, Migration, Antimilitarismus, (Frei-) Räume, Prekarisierung und Privati­sie­rung könnten eine Rolle spielen, wie auch die „Querschnittsthemen“ Feminismus und Gender (wozu bereits eine Gruppe besteht), sowie die verschiedenen politischen Anschluss­fähigkeiten, der Widerstand im weitesten Sinn und natürlich der allgegen­wärtige Bezug zur Agenda des G8-Gipfels. Methodisch soll es (auch in der Vorbereitung) statt zuvieler akademischer Konsumsituationen mehr hin zu hierarchiefernen Veranstal­tungs­strukturen und zum Austausch anwendungsorientierten Erfahrungs­wissens gehen.

Erste Arbeitsgruppen haben sich zu den Themen Widerstand, Krieg, Feminismus und Privatisierung gebildet. Neben einem „open space“ gibt es konkrete Workshop-Ideen zu Aktions­training und vor allem lokalen Zielen, denn eins ist klar: Leipzig soll mitgenom­men werden. Regionale Probleme, wie der Ausbau des Flughafens für die NATO, vielleicht aber auch Auseinandersetzungen in der „Linken“, wie die verschiedenen Positionen zu bestimmten Kriegen oder Diskurse um Antiamerikanismus, könnten ange­gan­gen werden.

Organisatorisch wird es jedenfalls aller­hand zu tun geben: Veranstaltungsräume, Schlafplätze, Technik, Verpflegung, Übersetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Notfälle aller Art – erfahrungs­gemäß wollen 500 bis 1500 Leute in diesen vier Tagen umsorgt sein. Inhaltliche und infrastrukturelle Hilfe bzw. Mitgestaltung ist nötig und willkommen. Das nächste große Treffen ist vom 3. bis 5.11., Kontakt: buko-leipzig@listi.jpberlin.de

clara

Ein Antifa-Infoticker

Der 3.10. ist Geschichte, Probleme mit Rechtsex­trem­istInnen gibts weiterhin zu Hauf:

… in Leipzig

Kürzlich ist es vor dem „Wild Turkey“ – einer Kneipe am Wiede­bach­platz – zu Bedrohungen gekom­men. Hintergrund waren Beschwerden über die drinnen abgespielte rechtsextreme Musik. Der Inhaber des „Wild Turkey“ reagierte verständ­nis­los, aggressiv und ließ keinen Zweifel daran, dass ihn die menschen­verachtenden Texte nicht stören. In Lindenau wurden Anfang Oktober zwei Punker von Nazis bedroht und verfolgt, bis sie sich in eine inzwischen geschlossene Schreib­werk­statt flüchten konnten, die selbst vorher schon schlechte Erfah­rungen mit dem Nazi­treff­punkt in der Gutsmuth­strasse sammeln musste.

… anderswo

Am 16.9. demonstrierten 200 Nazis unter dem Deckmantel einer ver­meint­lichen Antikapi­talis­mus­kampagne in Plauen und Hof. Am selben Tag gründete sich in Sachsen-Anhalt eine NPD-Frauenorganisation.

Ebenfalls um die 200 Nasen liefen in Göp­pingen am 23.9., in Nordhausen am 7.10. und am 14.10. in Hamburg, während in Nürnberg um die 100 NPD-Anhänger­Innen demon­strier­ten.

… und darüber hinaus

Durch die traurigen Wahl­ergebnisse in MeckPomm können die Nazis nicht nur im nächsten Jahr nun mit großen infra­struk­­turellen „Verbes­ser­ungen“ rechnen, wenn sie etwa gegen „die Globalisierung“ und „den Kapitalismus“ auf dem G8-Gipfel in Heiligen­damm protestieren möch­ten. Dem Unmut gegen diese Heuche­leien kann auch schon davor Luft gemacht werden: Am 28.10. will Christian Worch zum dritten mal in diesem Jahr durch Göttingen oder Celle ziehen. Mehr Unter­stützung ist wahr­schein­lich aber in Bitter­feld gefragt, wo am selben Tag eine Nazidemo angemeldet ist. Zum Schluss was Gutes: Das in Jena oft angekün­digte „Fest der Völker“, eine Konzert­veran­staltung mit europäischen Nazi-Bands, die jährlich stattfinden soll, wird voraussichtlich schon im zweiten Jahr nicht über die Bühne gehen.

„You got to rock, you got to roll!“

rabe

Theater gegen Überwachung

Mit einer Aktion am Connewitzer Kreuz hat die Leipziger Kamera-Initiative gegen Überwachung am 21. 9.06 den zweiten Teil ihrer Kampagne „10 Jahre sind genug!“ eingeläutet. Inspiration dazu kam von den New York City Surveillance Camera Players, einer amerikanischen Aktivistengruppe, die kleine Theaterstücke vor Überwachungskameras aufführt (www.notbored.org). Vor der Polizeikamera am Connewitzer Kreuz kamen zwei Stücke zur Aufführung: „Alles klar, Herr Kommissar“ als Adaption eines Stücks der New Yorker, bei dem die Akteure mit beschrifteten Pappschildern offensiv auf die eigene Harmlosigkeit aufmerksam machen („Ich gehe nur spazieren“ usw.). Bei „Was guckst du?“, einer Eigenkreation der Leipziger Kamera, wurden Fragen an die überwachenden Beamten gerichtet. Die Polizei hielt sich zurück, zwar fuhren zwei- oder dreimal Streifenwagen vorbei, ein weiteres Eingreifen hielt man offensichtlich für unnötig. Die Haltung der Passanten reichten von begeisterter Zustimmung über stilles Amüsement bis hin zu blanker Verständnislosigkeit, die positiven Reaktionen überwogen aber deutlich. So wurde nach rund anderthalb Stunden die Aktion zufrieden beendet – weitere werden in nächster Zeit folgen. Infos unter www.leipzigerkamera.twoday.net

justus

Arbeitsgruppe AntiKa

Im Interview

FA!: Ihr habt im letzten Semester eine Kampagne gegen die Überwachungs­pläne der Universität im Rahmen des Neubaus gestartet. Mit welchen For­derungen seid ihr angetreten?

VdAK: Unsere weitreichendste Forderung ist, die Uni zu einem überwachungsfreien Raum zu machen. Diesem Ziel wollten wir im Rahmen unserer Mittel möglichst nahe kommen.

FA! Wie nah seid ihr denn diesem Ziel gekommen?

VdAK: Naja, der größte Skandal war für uns, dass auch die Hörsäle überwacht werden sollten, daher haben wir das als Auf­­­hänger für die Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ genutzt. Und in diesem Punkt haben wir tatsächlich Erfolg gehabt.

FA!: Die Pläne der Unileitung waren ja nun schon ausgemachte Sache. Wie habt ihr es geschafft, sie davon abzubringen?

VdAK: Erst einmal haben wir Öffentlichkeits­arbeit in Form von Infoständen, einer Podiumsdiskussion, Unterschrif­ten sammeln und Pressemit­­teilung­en gemacht. So wichtig das auch war, hat den Ausschlag für die Änderung der Pläne ein Rechtsgutachten von Prof. Degenhardt gegeben (der ironischerweise auch maß­geb­­lich an der Klage gegen die Studien­gebührenfreiheit beteiligt war), das ohne die studentische Initiative wohl aber nicht zu Stande gekommen wäre. Fakt ist, dass Hörsaalkameras dem Grundrecht von Freiheit der Lehre und Forschung derart widersprechen, dass sie juristisch im Prinzip nicht durchsetzbar sind.

FA!: Wie hat die Unileitung auf eure Aktionen reagiert?

VdAK: Zunächst hat sich die Uni­leitung in Person von Kanz­ler Frank Nolden auf unserer Podiumsveranstaltung am 24.04.06 in der Mo­ritz­bastei für die Hörsaalkameras ausgespro­chen, mit den großartigen Argumenten, man müsse Diebstähle verhindern und kontrollieren können, ob das Licht aus sei. Das kam sowohl bei den Anwesenden als auch in der Presse eher schlecht an. Auch der Datenschutz­beauftragte Thomas Braatz, der uns anfänglich nicht einmal In­formationen zu den Plänen geben wollte, hat uns schließ­lich ernst genommen und mit uns zusammen gearbeitet. Mitte des Semesters hat das Studentenwerk die Webcam-Pläne für die Mensen auf unseren Druck hin zurückgenommen. Schließlich erhielt die Unileitung das besagte Rechtsgutachten, hatte an­scheinend wenig Lust auf weitere Aus­einander­setzungen und hat in der Frage der Hörsaalkameras eingelenkt. Das Rektorat sprach dann von einem „Kommunikationsproblem“, was so nicht stimmt, da die Installationspläne zu Beginn der Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ bereits beschlossene Sache waren.

FA!: Wie haben die Studierenden darauf reagiert, wieviel Unterstützung habt ihr da erfahren?

VdAK: Es gab erst mal viel Sympathie und Interesse, wir haben einige hundert Unterschriften gesammelt. Konkrete Unterstützung gab es dagegen nur von einer handvoll Studierender. Für eine Kampagne dieser Art reichen ein paar motivierte Leute aber auch aus, man muss eben taktisch arbeiten. Insgesamt hat sich gezeigt, dass erfolg­reiche Basisorganisation nötig und möglich ist, um Vorhaben, die unseren Interessen entgegenstehen, zu verhindern. Nebenbei hat es auch allen sehr viel Spaß gemacht, inklusive der großartigen „Victory Party“ auf dem Baustellencampus.

FA!: Wie soll es denn im nächsten Semester weitergehen. Habt ihr schon Ideen?

VdAK: Solange es Kameras gibt,braucht es eine AntiKa! Wer also Interesse hat mit­zu­machen: www.uni-leipzig.de/-antika

wanst

Arme Hilfssheriffs

Was würden wir bloß tun, wenn wir die Stadtverwaltung und das Arbeitsamt nicht hätten … die denken sich für uns, die Bür­gerInnen dieser Stadt, immer wieder was neues aus, damit es uns besser geht. Anfang Mai hoben die Stadtoberen ein neues Projekt aus der Taufe, um nicht nur die horrende Arbeitslosigkeit, sondern auch das Unsicherheitsgefühl in der Messestadt zu senken: den „Bürgerdienst LE“.

Das klingt erstmal ein bisschen nach Zivildienst, Dienst an der Gemeinschaft. Doch das täuscht. Es handelt sich – aus Perspektive der Macher – um einen Dienst für „den Bürger“, und „den Touristen“. In dunkelblauen Jacken mit dem schmucken Aufdruck „spazieren“ insgesamt 496 ehemals junge und/oder Langzeit-Erwerbslose in Zweier-Teams durch die Stadt, als Ansprechpartner für Fragen, die man sich auf der Straße so stellt: Was is’ das denn für’n Haus? Wie komme ich nach Stötteritz? Wie lange ist die Straße noch gesperrt und wo geht die Umleitung lang? Wie teuer wird eigentlich der City-Tunnel? Wann ist das nächste Feuerwerk auf der Festwiese?

Endlich, mit großen Schritten bewegt sich Leipzig auf die Dienstleistungsgesellschaft zu! Da macht es auch nichts, dass die Umsetzung mit einem alten Instrument – der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – und alten Partnern – dem Kommunalen Eigenbetrieb Engelsdorf (KEE) – bewerkstelligt wird: das heißt Befristung auf ein Jahr, danach kein Anspruch auf ALG I, aber immerhin 1.100 bis 1.300 Euro in der Tasche. Keine Lösung ist auch eine Lösung, wenn sie das Problem verschiebt.

Polizei des 21. Jahrhunderts?

Diejenigen, die sich da freiwillig zum Bür­gerdienst meldeten, sind nun in „Teams“ zu zwei Leuten auf acht Routen unter­wegs, um dem unwissenden, aber interessieren Mitmenschen eine Hilfe zu sein. Sie sind sogar rund um die Uhr unterwegs, in klassischen Acht-Stunden-Schichten … doch halt: warum das? Ein wichtiges Aufgabenfeld haben wir noch vergessen: Die professionellen Spazier­gängerIn­nen (drei Wochen Weiterbildung!) rücken nämlich nicht nur Informationen heraus, wenn man sie fragt. Sie sind auch Kontrollgänger und leiten, freilich ungefragt, Informationen weiter. „Sie sollen möglichst alles registrieren, was irgendwo im Argen liegt, von Polizei oder Ordnungsamt aber nicht bewältigt wird: Autoeinbrüche, Hundehaufen*, aufgebrochene Türen, schwarz endgelagerte Autos, umgeworfene Grabsteine, demolierte Bushäuschen oder Rempeleien, die auszuarten drohen. Quasi über Nacht bekam die Stadt damit ein flächen­deckendes System an allgegenwärtigen Augen, Nasen und Ohren.“ („Südkurier“, 1.9.06) … Handgreiflichkeiten bleiben weiterhin der Polizei vorbehalten, und wirklich „flächen­deckend“ ist wohl nur ein Blockwartsystem (1 Haus, 1 Spitzel). Dennoch kein Grund zur Beruhigung: Mit dem Bürgerdienst LE wurde Anfang dieses Jahres unter dem Deckmantel eines „Arbeits­markt­projekts“ die Kontrollkapazität der Polizeidirektion Leipzig (1.600 Schergen) um mindestens 25 Prozent ausgeweitet!

„Service und Sicherheit“

Und der Tanz geht weiter: Aufgrund der „guten Erfahrungen“ mit 290 Bürgerdienstlern als Bus- und Bahn-Begleit­personal während der WM, wird die LVB Mitte November ein Pilotprojekt starten, dass dank Verkehrsminister Wolle schon bundesweite Aufmerksamkeit erlangte. Bis Mai 2006 sollen ins­gesamt 300 Erwerbslose freiwillig bei den Verkehrsbetrieben anheuern, um (getreu dem Motto des Bürgerdien­stes) ÖPNV-Verkehrsbera­tung zu leisten, älteren Fahr­gästen zur Hand zu gehen und vor allem Sicherheit zu gewährleisten. „Aktiv Office“** wird getragen vom LVB-Tochterunternehmen LAB und begründet wie die Ein-Euro-Jobs kein Arbeitsverhältnis im eigentlichen Sinne. Die Testphase soll drei Jahre dauern, dann sollen 30 Prozent der Leute in Festanstellung übernommen werden – irgend­wie muss man die Leute bei dem lächerlichen Gehalt von weniger als 150 Euro (+ ALG2) ja bei der Stange halten, und solange solche windigen Verheißungen noch ziehen, warum nicht?! Handfester ist da schon die LVB-Monatskarte, die’s dazu gibt, so dass die Leute nach Feierabend nicht nach Hause laufen müssen. Die Kosten für diese „Vergünstigung“ lassen sich jedoch aus der Portokasse bezahlen, und die ist gut gefüllt: Die jährlichen Kosten belaufen sich nach Angaben der ARGE Leipzig auf knapp 865.000 Euro; die reinen „Lohnkosten“ abgezogen, verbleiben bei den LVB/LAB monatlich 27.000 Euro – nach offiziellen Angaben für Verwaltungs- und Materialaufwendungen. Ein „Klebe-Effekt“ der anderen Art. Damit sind Erwerbslose nicht nur effektiver und flexibler, sondern wohl auch billiger als Videokameras.

Das Schlimmste ist aber wohl nicht, dass die jugendliche Wut sich weniger in der Tram entfalten kann, sie wird andere Wege finden, oder dass damit Personal­einspa­run­gen in den LVB-Werkstätten in den Bereich des Möglichen kommen (gegen Entlassungen kann man kämpfen) – das Schlimmste ist sicherlich die neue Masche von Amts wegen, dass sich die Erwerbslosen freiwillig melden sollen, die einer „sinnvollen Beschäftigung“ nachzugehen wünschen. Dabei scheint von vornherein schon klar, dass es sinnvoll ist, an vor­derster Front, als Menschenmaterial, für einen Hungerlohn, den eigenen Kopf hinzuhalten zum Schutz fremden Eigentums und sich vom gesellschaftlichen Reichtum selbst ausschließen – finanziell stehen sie dann in etwa so gut da wie die Bediensteten der zahlreichen Sicherheitsservices.

Unwillkürlich kommt mir in diesem Zusammenhang ein Vers aus Mühsam’s Internationale-Übersetzung in den Sinn, eine einfache Antwort, die sich schwer umsetzen lässt: „Mag der Reiche selber Diebe greifen,/Mag er selber Kerker baun!/Laßt uns die eig’nen Äxte schleifen./Das Eisen glüht, jetzt laßt’s uns hau’n!“

A.E.

*) siehe FA! #13 zur Polizeiverordnung vom 2004;
**) Anscheinend sitzen in der PR-Abteilung auch nur unbezahlte PraktikantInnen, es lebe die Sabotage! Oder versteht eine/r der Feierabend!-LeserIn­nen den Namen des Projekts???

30 Jahre Mitbestimmung

– eine Party in schlechter Gesellschaft

Ende August beging der DGB in Berlin das 30jährige Bestehen des „Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ als eine Erfolgsgeschichte. Denn, so Michael Sommer, „Mit­be­stim­mung verringert das Konfliktpotenzial, fördert Kreativität und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bremst unverantwortliche Heuschrecken aus und ist deshalb ein Erfolgsfaktor für den Standort Deutschland.“ Auch Merkel erntete höflichen Applaus, als sie dies in ihrer Festrede unterstrich. Es dürfte ihr nicht weiter schwer gefallen sein, denn die Einflussnahme durch Mitbestimmung tut keinem Unternehmer wirklich weh, ist aber dennoch dazu geeignet, den sozialen Konsens in der Gesellschaft her­zustellen und zu bewahren.

Im Wesentlichen wird die Mitbestimmung durch Betriebs- bzw. Personalräte oder gewerk­schaft­liche Aufsichtsratsmitglieder ausgeübt. Die ihnen dafür zur Verfügung stehenden Mittel sind im „Betriebs­ver­fas­sungs­gesetz“ und im bereits angesprochenen „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ niedergelegt und sehen auf dem Papier erstmal ganz gut aus. Wie ein großer Gemischtwarenladen mit den verschiedensten Werkzeugen, die nur von wenigen Menschen benutzt werden können, um ein bisschen an der Maschine herumzudrehen. Jedoch sind sie, um im Bild zu bleiben, nicht geeignet die Ma­schine auseinanderzunehmen. Ein Veto hier, ein Veto da, und immer die Versicherung, nach §2 des BetrVG das Wohl des Betriebes im Auge zu haben und den Betriebsfrieden zu sichern. So hat der Betriebsrat einen überwiegend reaktiven Charakter, seine Aktivität beschränkt sich auf die Wahrnehmung der Informations- und Vetorechte … und zwar auf dem formalen Wege, also wenn beispielsweise bestimmte Fristen nicht ein­gehalten wurden – die Arbeit der Betriebsräte ist im wesentlichen Papierkrieg.

Reicht es den etablierten Gewerkschaften, vorher gefragt zu werden, bevor sie Dinge zulassen, die sie nicht ver­hindern können? Oder heißt Mitbestimmung eher, teilzuhaben an den Spielchen und sonderbaren Ver­gnü­gungen der Manager… ? Spätestens über Sitze im Aufsichtsrat (die betriebliche Mitbestimmung im engeren Sinne) werden die Gewerkschaften in die Mechanismen der kapitalistischen Unternehmensführung einge­bun­den und ihres Zweckes beraubt, nämlich offensiv und kollektiv die Situation der Lohnabhängigen in jeder Hinsicht zu verbessern. Die Delegation einzelner weniger aus den Abläufen des Betriebes hinaus in die Betriebsräte, wie es das Stellvertreterprinzip vorsieht, entzieht diese der Kontrolle derjenigen, die sie gewählt haben. Was dabei herauskommt lässt sich, im Großen, an den Parlamenten ablesen.

Wie anders lässt sich erklären, dass Betriebsräte bei Umstrukturierungen, wie etwa neuen Arbeits­zeitregelungen, Auslagerung von Betriebsteilen, Schließung von Abteilungen – um nur einige Dinge aus dem Arsenal der „Arbeitgeber“ zu nennen – gemeinsam mit Gewerkschaftsvertretern nur noch den Verlust von Beschäftigung beklagen … als ob es alle Lohnabhängigen für gesund hielten, jeden Tag fremdbestimmt schaffen zu gehen. Auch wenn sie wissen, dass sie auf diesen Erwerb angewiesen sind. Fokussiert auf den Standort Deutschland, auf immerwährende Beschäftigung und ihre Rolle als Sozialpartner tun die Gewerkschaften und die ihnen eng verbundenen Betriebsräte so, als bräuchte es nur ein bisschen Verhandlung und Entgegenkommen von beiden Seiten und alles würde gut. Als gäbe es keinen Interessengegensatz zwischen Kapital und Lohnabhängigen! Wenn dem so wäre, wozu bräuchte man dann Gewerkschaften?

Bekanntlich wird die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisierung ja von einigen Unternehmer­verbänden in Frage gestellt. Sie wollen damit verschleiern, was auch die etablierten Gewerkschaften nicht in den Vordergrund stellen: Was alle Lohnabhängigen eint, ist ihre Situation. Und was ihnen hilft ist allein ihre Solidarität. Davor fürchten sich die Unternehmen, weil so klar würde, wer auf wen angewiesen ist. Deshalb sind ihnen ihre Betriebe ganz ohne Gewerkschaften am liebsten, deshalb machen sie weiterhin Front gegen die betriebliche Mitbestimmung, ist sie heute doch das deutlichste Zeichen gewerkschaftlicher Organisation. Ein Augenzwinkern schenkte ihnen die Kanzlerin, als sie in ihrer Festrede bei allem Lob auch den Wunsch nach Veränderung der bisherigen Mitbestimmungsrechte äußerte – im November soll die Biedenkopf-Kommission einen Bericht zum Thema vorlegen.

Mögen die etablierten Gewerkschaften ihre eigene Entzauberung feiern. Doch was geschieht, wenn die Mitbestimmung umgestaltet, sprich langsam abgeschafft wird? Spanische oder französische Verhältnisse? Etwas Dynamik ist im Sinne einer Entwicklung hin zu offensiveren Positionen unabdingbar, die deutsche Streikmüdigkeit dürfte mit erlittenen Reformen allein allerdings nicht vertrieben werden. Notwendig erscheint vielmehr, dem Stellvertreterprinzip den Rücken zu kehren und die Bildung eigenständiger und handlungsfähiger Betriebsgruppen voranzutreiben. Nirgendwo, in keinem Gesetz und auch nicht im Selbstverständnis der Gewerkschaftsspitzen, sind solche selbstbestimmt handelnden Syndikate vorgesehen – ihre Legitimität und Stärke beziehen sie aus dem Willen der Lohnabhängigen selbst. Nur wer sich in seiner Organisation nicht auf unkontrollierbare Stellvertreter und dehnbare Paragraphen stützt, sondern auf Vertrauen und Aktivität, wird auf die optimale Durchsetzung seiner Interessen hoffen können. Die Zukunft liegt nicht in der politischen Verteidigung toter Mitbestimmungsrechte, sondern in der Aufkündigung der verlogenen Sozialpartnerschaft und in einer Gewerkschaftsbewegung in den Unternehmen, die Rechte sichert und erkämpft.

Oskar Pfeiffer

Spanien im „Kampf der Erinnerungen“

Berneckers und Brinkmanns „Kampf der Erinnerungen“ (Verlag Graswurzelrevolution) beschäftigt sich mit dem aktuellen Forschungsstand der Erinnerungskultur in Spanien.

Den Anfang macht ein 70seitiger Abriss über den Spanischen Bürgerkrieg: Kriegsverlauf, internationale (Nicht)Einmischung, die Konflikte im republikanischen und nationalistischen Lager, die Rolle der durch Stalin gesteuerten kommunistischen Partei, die Rolle der Kirche, Anarchismus in der Praxis: die soziale Revolution… Nach dem Niederwerfen des Militärputsches am 19.7. 1936 durch sich selbst bewaffnende Arbeiter und Bauern kam es zu spontanen und dezentralen Kollektivierungen in Landwirtschaft und Industrie. Die Kollektivist/innen waren zu einem großen Teil in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT, mit zwei bis drei Millionen Mitglieder, organisiert, gehörten aber auch zur Basis der, der sozialistischen Partei nahestehenden, UGT. Es fand eine soziale Revolution statt, um eine sozialistische, rätedemokratisch strukturierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu errichten, die sich gegen die Grundlagen der bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Ordnung wandte.

Auch die unter Anderem durch den Kriegsdruck stattgefundenen Wandlungen in den anarchistischen Organisationen, werden beleuchtet … So stellen die Autoren angesichts der Übernahme von Ministerposten durch Anarchist/innen fest: „In dem Maße, in dem die Spontanität der Massen kanalisiert und kontrolliert wurde, nahm die Revolution von ihren ursprünglichen, herrschaftsfreien Zielen Abstand; sie engte ihren eigenen Aktionsraum zusehends ein und erweiterte damit das Wirkungsfeld des Staates, der als übermächtige Struktur schließlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordrang“.

Es folgt eine Darstellung der Repression des Franco-Regimes, wie der Siegerdiskurs installiert und die Diktatur ideologisch legitimiert wurde. Im Anschluß wird der Umgang mit der Repression in der postfaschistischen Gesellschaft beleuchtet. Auch regionale Erinnerungsdiskurse im Baskenland oder Katalonien werden angesprochen. Zu diesem ganzen Komplex haben wir dem Autor Walther Bernecker im Rahmen eines Interviews mit Radio Blau einige Fragen gestellt.

Beim „Syndikat A“ (www.syndikat-a.de) ist zum Thema Soziale Revolution in Spanien vor kurzem eine einführende Broschüre herausgekommen und auf www.fau.org und in der Libelle-Bibliothek gibts auch mehr an Texten und Büchern zu lesen.
Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann:
Kampf der Erinnerungen – Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006
Verlag Graswurzelrevolution, 378 Seiten, 20,50 EUR, ISBN 3-939045-02-0
www.graswurzel.net

 

Interview

Herr Bernecker, können Sie kurz den Hintergrund ihres Buches anreißen?

 

Es geht um die Frage: Wie gehen post­diktatoriale Gesellschaften mit ihrer diktatorialen Vergangenheit um und konkret, wie geht die spanische Gesellschaft mit dem Bürgerkrieg um.

 

Sie hatten bereits einige Veröffentlichungen zu den Themen Bürgerkrieg und Revolution in Spanien. Wie kamen sie dazu? Was hat sie da fasziniert?

 

Also da gibt es zwei Antworten: Die eine Antwort ist rein biographisch, sozusagen lebensweltlich und hängt mit meiner Vergangenheit zusammen. Ich bin in Spanien aufgewachsen, dort auf die Schule gegangen und habe von daher schon immer eine enge Beziehung zu Spanien. Die zweite Antwort ist, dass ich zur Zeit meines Studiums voll in die 68er Bewegung reingekommen bin. Ich gehörte dieser Bewegung an und wir Studenten haben damals alle immer für Autonomie gekämpft, wir haben für Selbstverwaltung plädiert. Und immer wieder kam die Rede auf die Spanische Revolution, auf den Anarchismus in Spanien, auf die Selbstverwaltungskollektive im Spanischen Bürgerkrieg. Aber Tatsache ist, dass keiner von uns so recht darüber Bescheid wußte. Ich bin ja Historiker von Beruf, damals war ich Geschichtsstudent. Da ging ich auf die Suche nach Materialien und stellte fest, dass das ein Thema ist, das noch über­haupt nicht bearbeitet wurde. Ich spreche jetzt wohlgemerkt von der Zeit Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre. Und dann entschied ich, mich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen. Ich wurde ja damals immer wieder gefragt, wie es sich mit dem Anarchismus in Spanien verhielt. Auch ich wußte es damals nicht so genau. Und das ist gewissermaßen der Hintergrund meiner Beschäftigung mit diesem Thema, das mich dann viele Jahre, ja Jahrzehnte nicht mehr losgelassen hat. Ich habe darüber promoviert und auch eine Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt und im Grunde beschäftige ich mich noch heute damit.

 

Nun der „Kampf der Erinnerungen“: warum ausgerechnet zur jetzigen Zeit dieses Thema und welche Erinnerungen kämpfen überhaupt miteinander?

 

Also das Thema ist höchst aktuell. Ich muß ein klein wenig ausholen dabei: Natürlich erinnert sich eine Gesellschaft immer ihrer Vergangenheit. Aber im spanischen Fall ist es etwas anders gekommen. Am Ende des Bürgerkriegs bestand für die unterlegenen Republikaner und zwar für die Republikaner aller Schattierungen, damit meine ich Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten, Liberale, Demokraten, nicht die Möglichkeit, ihre Vergangenheit in dem Sinne aufzuarbeiten, daß man darüber publiziert, dass man darüber diskutiert. Die Unterlegenen hatten keine Chance der Aufarbeitung. Spanien ist also bis zum Tode Francos 1975 ein Land geblieben, wo über die Frage, was im Bürgerkrieg eigentlich geschehen ist, nicht frei diskutiert werden konnte. Die einzige Sichtwiese die es gab, war immer die offizielle Sichtweise der Sieger. Das hat sich nach 1975 geändert, aber nicht radikal. 1975 wurde zwar die Zensur abgeschafft, aber auch dann ist man in der spanischen Gesellschaft nicht frei mit dem Thema umgegangen, weil es so etwas wie einen unausgesprochenen Pakt gab. Man spricht von einem Pakt des Schweigens. Der Pakt des Schweigens bestand darin, in den Jahren nach Francos Tod im Übergang zur Demokratie diese Themen, also den Bürgerkrieg, die Repression, die Auseinandersetzungen, die Kämpfe, den Bruderkrieg, nicht zu thematisieren, nicht in der Gesellschaft Rechenschaft zu fordern, von den Leuten die noch lebten, damit die Gräben wie sie in den 30er Jahren bestanden in den 70er Jahren nicht wieder aufgerissen würden, damit der Übergang in die Demokratie einigermaßen glimpflich vor sich gehen konnte. Und an diese Maxime hat man sich in Spanien gehalten, mindestens bis weit weit in die 80er und eigentlich bis in die 90er Jahre. Und erst als sich die Demokratie definitiv stabilisiert hatte und auch eine neue Generation herangewachsen war, da hat man begonnen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Nämlich der Frage, wie sich die spanische Gesellschaft an ihre Vergangenheit erinnert.

Und auf die Frage, welcher Kampf ist das eigentlich, so möchte ich erst einmal einleitend sagen, dass es im Wesentlichen natürlich zwei Sichtweisen gibt: Es gibt die Sichtweise der Sieger, die gibt es bis heute. Und was heute immer stärker zum Tragen kommt, ist die Sichtweise der Besiegten, die endlich, 70 Jahre nachdem der Bürgerkrieg begonnen hat, wirklich die Chance haben in Form von Memoiren, in Form von Literatur, in Form von historischen Darstellungen, ihre Sichtweise durchzusetzen, ihre Sichtweise zum besten zu geben. Und in der Tat: Wenn man sich die Literatur anschaut, dann ist sie überwiegend von Testimonialliteratur geprägt, also von Leuten, die unmittelbar selber betroffen sind, oder von Historikern, die zumeist versuchen, die Perspektive der republikanischen Seite darzustellen. Das aber ist ein Phänomen der letzten ungefähr sieben bis neun Jahre, nicht länger, und wenn wir also bedenken, dass der Bürgerkrieg 36 bis 39 war, und wir sprechen jetzt von einem Phänomen Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts, dann sehen wir, welche enorme Zeitspanne verfließen mußte, bis in Spanien endlich definitiv und ernsthaft und ohne Voreingenommenheit über die Probleme diskutiert wird.

 

Welche neuen Erkenntnisse haben sie in ihrem Buch verarbeitet?

 

Wir haben in diesem Buch die historischen Erkenntnisse, der letzten fünf bis sieben Jahre verarbeitet, das sind Dinge, die man vor zehn Jahren noch gar nicht wußte, zum Beispiel die Anzahl der von Franco umgebrachten Personen. Hier konnte man in der Literatur die abenteuerlichsten Zahlen lesen. Das begann bei einer Million Toten über 500 000 oder 300 000 Toten. Heute weiß man ziemlich genau, dass es sich um eine Größenordnung von 140 000 handelt.

Ein weiteres Beispiel: Wie wurden die unterlegenen Republikaner behandelt? Also das ganze System der Konzentrationslager, der Arbeitsbataillone, der Verfolgung, der sozialen Erniedrigung…

 

Sind auch die militärischen Opfer dabei?

 

Nein, ich spreche nicht von den an der Front Gefallenen, ich spreche von denen, die liquidiert worden sind. Aber wir haben auch eine Zahl von denen, die auf republikanischer Seite umgebracht wurden, da bekanntlich auf republikanischer Seite nicht gerade nur gute Menschen waren. Da liegen die Zahlen inzwischen bei ungefähr 50.000*. Also man sieht an der Relation, ungefähr das dreifache an Toten durch die franquistische Seite.

 

Gibt es einen eigenen anarchosyndikalistischen Erinnerungsdiskurs?

 

Diese Erinnerungsdiskurse sind zum großen Teil nicht parteipolitisch, sie sind auch nicht ideologisch in dem Sinne, dass es einen gesonderten Diskurs gäbe, sagen wir der Anarchisten, der Sozialisten, der Kommunisten. Es hat in der Übergangszeit so etwas gegeben. Es hat auch Auseinandersetzungen auf der Seite der Linken gegeben, die unterschiedliche Vorstellungen hatten, was z.B. auf die Mahnmale geschrieben wird, wie man mit den früheren Verbrechern umgehen soll. Aber das waren eher die Ausnahmen. Wir gehen in unserem Buch auf einzelne Beispiele ein. Im Großen und Ganzen muß man aber sagen, geht der Diskurs auf Seiten der unterlegenen Republikaner, in einem weiten Sinne nicht parteipolitisch differenziert, gegen den Diskurs der Sieger vor. Und insofern lässt sich praktisch die Frage gar nicht beantworten, ob es einen eigenen anarchosyndikalistischen Aufarbeitungs- oder Erinnerungsdiskurs gibt. Im Großen und Ganzen, möchte ich meinen, gibt es den nicht. Es gibt auch keinen eigenen sozialistischen oder eigenen kommunistischen. Die Repression der Franquisten war gegenüber den Anarchosyndikalisten genauso wie gegen die Sozialisten oder Kommunisten oder Liberalen. Hier wurde kaum differenziert und deswegen würde es auch wenig Sinn machen, anhand der alten ideologischen Gräben unterschiedliche Diskurse zu führen.

 

Wenn Sie sich die aktuelle Debatte um den rechtsextremen Bestseller Pio Moas anschauen: Ist das ein Rückschlag im Kampf der Erinnerungen?

 

Das ist ein Phänomen. Die ernsthafte Historiographie in Spanien ist heute überwiegend linksliberal. Das Leute wie Pio Moa oder Fesal Vidal oder ähnliche Revisionisten derartigen Erfolg haben, ich meine quantitativen Erfolg, was die Verkaufszahlen dieser Bücher betrifft, das hängt sicherlich damit zusammen, dass es sich hierbei um eine Art Gegenbewegung gegen den Mainstream der Historiographie handelt. Und diese kommt sehr gut an bei einem Großteil der historisch-politisch interessierten Öffentlichkeit, die aber eben nicht die Bücher der etablierten Historiker, sondern gerade die vereinfachte Sicht der Dinge lesen möchte und zwar aus einer konservativen Perspektive. Die ist ja sehr stark in Spanien, wenn man bedenkt, dass die konservative Partei einen Großteil der Bevölkerung erreicht.

 

Ist der Spanische Bürgerkrieg inzwischen erschöpfend erforscht?

 

Der Bürgerkrieg ist sicherlich ein Thema, das außerordentlich gut erforscht ist. Wir haben aber schon wiederholt in der Vergangenheit gesagt, jetzt müsste doch alles erforscht sein, und das war eben nicht der Fall. Zum Beispiel die Frage einer genauen Quantifizierung und auch Systema–tisierung der Repression. Das ist bis heute noch nicht erschöpfend geschehen. Wir wissen heute nur ungefähr von 50 bis 60 % der Provinzen, wie die Repression erfolgte, also 40 % sind noch gar nicht erforscht. Die klassischen Themen sind weitgehend aufgearbeitet: Militärge–schichte, internationale Geschichte, innenpolitische Fragen, sozioökonomische Fragen der Sozialen Revolution. Mögli–cherweise wird es hier auf lokaler und regionaler Ebene immer noch was zu tun geben, aber die großen Fragen sind beantwortet. Wo auch noch viel zu tun sein wird, ist an dem was wir Kulturgeschichte nennen können, und zwar auf beiden Seiten, sowohl auf der republikanischen Seite, wie auf der nationalen Seite. Und ich denke, dass ich mich auch an dieser Diskussion beteiligen werde, wenigstens mit einem kleinen Körnchen Forschung. Also ich habe schon vor bei diesem Thema zu bleiben.

 

 

KFM

* in dieser Zahl sind auch die Opfer innerrepublikanischer Konflikte enthalten, wie z.B. die Repression der stalinistischen Geheimpolizei, wobei es dahingehend keine gesicherten Zahlen gibt.