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Interview: Squat Lindenow

Feierabend!: Wie habt ihr zusammengefunden und wie definiert ihr euch als Gruppe?

Squat Lindenow: Als wir hier angefangen haben, waren wir zu dritt. Über gemeinsame Freundschaften haben wir uns vergrößert, inzwischen sind wir neun. Als Gruppe haben wir keine festgelegte Ausrichtung, uns eint die politische Gesinnung.

FA!: Was war der Anlass, gerade dieses Haus in der Angerstraße zu besetzen?

SL: Wir waren unabhängig voneinander auf der Suche nach einem geeigneten Haus. Dieses Haus stand leer, hat einen Garten und ist stadtnah. Außerdem gefällt uns, dass es architektonisch heraussticht. Eines Tages stand die Eigentümerin plötzlich vor uns und hat ein sehr nettes Gespräch mit uns geführt. Sie duldet uns hier, weil wir die Bausubstanz erhalten. Das Haus stand 16 Jahre lang leer, darum ist vor allem das Dach in einem schlechten Zustand. Die einzige Bedingung ist, dass potenzielle Kaufinteressenten auch hereingelassen werden. Das war bisher viermal der Fall, jedoch machen wir denen klar, dass das Haus nur mit uns darin zu kaufen ist. Einmal waren auch Leute vom HausHalten e.V. da.

FA!: Was stört euch denn am Wächterhaus-Konzept von „Haushalten e.V.“?

SL: Wir haben deren Vertreter als scheinheilig erlebt, denn sie geben vor, für günstigen Wohnraum zu sorgen. Dabei kooperieren sie eng mit der Stadt und sind mitschuldig, dass der Westen und der Osten der Stadt momentan so aufgewertet werden. Wir fordern unser Wohnrecht ein und finden, für Besetzung ist jetzt genau die richtige Zeit.

FA!: Wollt ihr nicht letzten Endes selber einen legalen Status? Oder seht ihr euch auch nur als Zwischen-Nutzer?

SL: Wir brauchen keinen Vertrag! Wir wollen auch keine Miete zahlen! Wir fühlen uns auch so sicher. Wohnen ist ein Grundrecht, wieso viel Miete zahlen? Was wäre die Stadt ohne Menschen? Wir fänden es wünschenswert, wenn wir Akzeptanz finden und dieses Projekt so weiterentwickeln können. Schön wäre, wenn andere Leute angeregt werden, über die offensichtlichen Alternativen nachzudenken und sich selbst nicht so sehr einengen und eingrenzen lassen.

FA!: Welche Angebote habt ihr an den Start gebracht, was ist noch in Arbeit?

SL: Wir kochen jeden Dienstag Abend VoKü, am Freitag bieten wir auch eine Fahrradwerkstatt an. Zu diesen Zeiten kann auch der Umsonstladen genutzt werden. Wir sind jederzeit für Außenstehende offen, Auswärtige können hier pennen. Andere Angebote sind in Vorbereitung, jedoch noch nicht spruchreif.

FA!: Wie reagieren die Anwohner, Stadt und Polizei auf euch?

SL: Die Nachbarn bringen uns öfter mal Einrichtungsgegenstände vorbei, die sie nicht mehr brauchen und plaudern auch gerne mit uns, wenn wir zum Gassi gehen draußen sind. Dahingehend können wir uns also nicht beschweren. Die Polizei und die Stadt sind bislang friedlich geblieben, doch generell werden wir als Gefahrenquelle eingeschätzt. Das hat beispielsweise zur Folge, dass bei Demos im Stadtteil eine Wanne direkt gegenüber vom Haus geparkt wird. Lediglich das Ordnungsamt macht Stress und sitzt der Eigentümerin im Nacken. Die haben vor Monaten mal gemeckert, als sie den verstärkten Zaun bemerkt haben, aber seitdem ist nichts mehr gekommen. Wir sind schon aus eigenem Vorteil daran interessiert, nicht zuviel Stress zu haben.

FA!: Wie wichtig waren die Erfahrungen aus dem geräumten Hausbesetzungsprojekt in der Naumburger Straße vor zwei Jahren?

SL: Es hat uns viel Erfahrung gebracht im Umgang mit der Polizei. Jetzt wissen wir, was auf uns zukommen kann und sind besser vorbereitet für den Fall der Räumung.

FA!: Ihr strebt seit kurzem auch in die Öffentlichkeit, wollt ihr nur Werbung für eure Partys machen oder geht es euch auch um eine andere Botschaft?

SL: Wir finden es natürlich schön, wenn viele Menschen zu unserer wöchentlichen VoKü kommen oder zu Partys. Aber nach zwei Jahren Arbeit am Haus wollen wir auch mal „ausstrahlen“ und zeigen, dass man nicht gleich ein Haus kaufen muss, sondern es auch anders geht.

FA!: Wie stehen die Chancen für baldige weitere Hausbesetzungen in Leipzig?

SL: Aus unserer Sicht gut, wir sind auch schon eifrig dabei, Metastasen zu bilden und unser Wissen weiterzugeben. Wir unterstützen gerne jegliche Besetzer, die es ernst meinen. Einige Häuser sind in Arbeit, andere in Vorbereitung, aber genauer wollen wir zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht darauf eingehen.

Interview: bonz

Die Leipziger LebensmittelretterInnen stellen sich vor

Samstag 16:45 Uhr. Treffpunkt am Seiteneingang eines Wochenmarktes in Leipzig. Eine kleine Gruppe überwiegend jüngerer Menschen trifft sich hier, um Lebensmittel zu retten. Deutschlandweit werden jährlich bis zu elf Millionen Tonnen weggeworfen, ein Großteil davon bereits vor dem Verkauf.

Für die FoodsaverInnen geht es darum, dieser Verschwendung etwas entgegen­zusetzen und denjenigen, die das in Wirtschaft und Politik zu verantworten haben, die Gefolgschaft zu verweigern. Wer weggeworfene Lebensmittel rettet und sich darüber versorgt, muss schließlich kein Geld mehr dafür aufwenden. Auch der ökologische Gedanke spielt eine Rolle – wie kann es sein, dass wir Lebensmittel rund um den Globus transportieren, um sie dann direkt in die Tonne zu werfen? Und das, während immer noch ein Fünftel der Weltbevölkerung Hunger leidet und die Ressourcen schwinden?! Manche LebensmittelretterInnen ernähren sich vegan oder vegetarisch und sind über die Ablehnung industrieller Tierhaltung zum Lebensmittelretten gekommen. Es gibt viele gute Gründe, zum/zur FoodsaverIn zu werden – einig sind sich die Aktivist­Innen vor allem darin, dass es besser ist, für eine enkeltaugliche Gesellschaft etwas Konkretes zu tun, als nur darüber zu reden. Das Verwerten und Teilen anstelle des Wegwerfens und Konsumierens ist dabei aus Sicht der FoodsaverInnen eine grundlegende Notwendigkeit.

Für mich ist heute der erste Einsatz. Der Leipziger Wochenmarkt ist aber auch für meine MitstreiterInnen neues Terrain. Zunächst geht es darum, kooperative Händler zu finden. In Zweiergrüppchen werden die Stände abgegrast. So schreite auch ich zielstrebig zu einem Obst- und Gemüsehändler und spreche ihn freundlich, aber selbstbewusst an, um ihm das Konzept zu erklären. Kein leichtes Unterfangen im geschäftigen Treiben, denn der Mann hat keine Zeit.

Statt meinen Vortrag anzuhören, zeigt er auf Türme aus Holzkisten, die am Rand und hinter seinem Stand stehen. Mandarinen, To­ma­ten, Gur­ken, Kohlrabi und Weintrauben in Mengen, für die meine Fahrradtaschen kaum ausreichen dürften. Manche ein wenig matschig, andere mit Schimmel – Sortierung ist nötig. Und die Bereitschaft, sich dabei die Hände schmutzig zu machen.

Die Idee, Lebensmittel in größeren Mengen vor dem Müll zu retten, geht auf den Film Taste the Waste” des Regisseurs Valentin Turn zurück, der 2011 in die deutschen Kinos kam und einige Aufmerksamkeit erregte. Was zuvor nur in privatem Rahmen erprobt wurde, wenn Einzelne zum Containern” aufbrachen, bekommt seither durch die FoodsaverInnen eine professionelle Dimension.

Auch das Buch Leben ohne Geld” des Konsumverweigeres Raphael Fellmer hat das Problem in die Öffentlichkeit gebracht. Die zunächst parallel existierenden Internet-Plattformen www.lebenmittelsretten.de und www.foodsharing.de wurden kürzlich zusammengeführt, um die unterschiedlichen Ansätze – überschüssige Lebensmittel teilen auf der einen, Kooperationen mit Händlern auf der anderen Seite – zusammenzuführen. Inzwischen läuft die Sache bundesweit, in Österreich und der Schweiz erfolgreich. Insgesamt wurden so bis heute über 1000 Tonnen Lebensmittel gerettet. Sie werden untereinander nach Bedarf aufgeteilt, die Überschüsse werden verschenkt oder in sogenannten Fairteilern – öffentlich zugänglichen Verteilungsstellen – eingestellt. In Leipzig wird neuerdings auch die Volxküche in der Libelle (www.libelle-leipzig.de) beliefert.

Die Leipziger Gruppe der FoodsaverInnen besteht seit Oktober 2013 und hat derzeit etwa 50 aktive Mitglieder, die dennoch oft nicht ausreichen, um die Kooperationen mit den Händlern immer sicher abzudecken.

Da Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit Voraussetzung sind, um neue Kooperationen abzuschließen und diese dann dauerhaft zu halten, freuen sich die netten Leipziger LebensmittelretterInnen über jeden Neuzugang, der dann dank des persönlichen Einsatzes Einzelner und durch die Onlineplattform (www.foodsharing.de) in das FoodsaverInnen-Leben mitsamt seinen Regeln eingeführt wird.

Meine Fahrradtaschen sind bis zum Rand gefüllt. Der Händler schüttelt schmunzelnd mit dem Kopf und rät mir, nächstes Mal mindestens mit einem Anhänger zu kommen. Nicht immer funktioniert es so einfach. Bei vielen HändlerInnen muss noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Es gibt also noch viel zu tun. Packen wir’s an!

Rico Kranz

„Versagen mit System“

Ein Interview mit dem Forum für kritische Rechtsextremismusforschung

Vom 23. Februar bis 13. März 2015 war die Ausstellung „Versagen mit System – Geschichte und Wirken des Verfassungsschutzes“ in Leipzig zu sehen. Wir haben mit dem Forum für kritische Rechtsextremismusforschung gesprochen, von dem diese Ausstellung erarbeitet wurde.

FA!: Könnt ihr euch kurz vorstellen? Wer seid ihr und womit befasst ihr euch?

FKR: Wir sind eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftler_innen und Menschen, die in der politischen Bildungsarbeit tätig sind. Wir haben uns als studentische Initiative 2005 nach dem Einzug der NPD in den sächsischen Landtag zusammengefunden, weil wir das Gefühl hatten, dass die Forschung zu Themen wie Rassismus, Neue Rechte und Neonazismus an den sächsischen Hochschulen nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die es angesichts der politischen Lage verdient hätte.

Über die Beschäftigung mit dem Thema „Rechtsextremismus“ und auch den kritischen Implikationen dieser Kategorie, haben wir uns auch näher angeschaut, wie Gesellschaft und Politik vermeintliche „Extremisten“ identifizieren und von der demokratischen Teilhabe ausschließen. Von dort ist der Weg zur Beobachtung des Verfassungsschutzes und seiner Aktivitäten nicht mehr weit.

FA!: Dazu gibt es ja derzeit in Leipzig die Ausstellung „Versagen mit System“. Was war eure Motivation dabei?

FKR: Der NSU-Skandal hat seit November 2011 das völlige Versagen des Inlandsgeheimdienstes, der ja eigentlich ein Frühwarnsystem für die Demokratie in Deutschland sein will, offenbart. Doch trotz der schrecklichen Verstrickungen von V-Leuten in den Skandal, dem Unvermögen des Dienstes das rechte Terrornetzwerk zu enttarnen und der Behinderung der Aufklärung durch Öffentlichkeit und Justiz, scheint es, als würden die VS-Ämter gestärkt aus der Affäre hervorgehen.

Gleichzeitig ging der VS in den letzten Jahren verstärkt gegen linke Strukturen vor, die in den jährlichen Berichten unter Extremismusverdacht und damit ins politische Abseits gestellt wurden. Viele Initiativen und Einzelpersonen mussten sich vor Gericht erstreiten, nicht mehr vom VS heimlich beobachtet und öffentlich diffamiert zu werden.

Als wir Ende des Jahres 2012 auf eine Podiumsdiskussion eingeladen wurden, auf der der sächsische VS-Präsident seine Ideen von Einsätzen seiner Behörde in der politischen Bildungsarbeit erläutern wollte, hatten wir das Gefühl, dass wir ein Zeichen setzen wollen, dass auch außerhalb akademischer Diskurse wahrgenommen wird. Ein Geheimdienst hat in der politischen Bildungsarbeit nichts zu suchen. Damit war die Idee für eine Ausstellung geboren.

FA!: Und was erfährt man in der Ausstellung?

FKR: Die Ausstellung beleuchtet auf 20 Tafeln in sechs thematischen Abschnitten die Ursachen und Hintergründe für Versagen des Verfassungsschutzes, nicht nur im Fall NSU. Wir zeigen anhand einer Vielzahl weiterer Skandalfälle, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst für die Demokratie sehr viel Schaden angerichtet hat. Zusätzlich zur Entstehungsgeschichte erläutern wir die problematischen Aspekte an der Verquickung von Geheimdienst und politischer Bildungsarbeit und dem V-Leute-System.

FA!: Die Ausstellung ist in Leipzig ja nur noch bis zum 13. März zu sehen. Wie geht es jetzt damit weiter?

FKR: Die Ausstellung ist als Wanderausstellung konzipiert. Sie war vor Leipzig bereits in Hamburg und Berlin zu sehen. Als nächstes stehen Orte in Sachsen-Anhalt, Bielefeld und Lüneburg auf dem Plan.

Wir werden im Laufe des Jahres auch noch mehr Begleitmaterial zur Ausstellung erarbeiten. Das kann dann auch auf unserer Webseite zur Ausstellung herunter geladen werden: vs-ausstellung.tumblr.com

FA!: Danke für das Interview.

Mindestlohn: Gutes Gewissen für nur 8,50 Euro die Stunde

Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn von 8,50€ pro Stunde. Für die Regierungsparteien CDU und SPD ist das Mindestlohngesetz (MiLoG) ein Ausdruck „unsere[r] Wertschätzung der Arbeit und derer, die sie leisten“ (Peter Weiß, CDU) (1) und ein Weg zur gerechten Entlohnung derselben (Andrea Nahles, SPD) (2). Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht im Mindestlohn ein Mittel, um Lohn- und Altersarmut zu verhindern, würdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, sowie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu fördern (3). Doch wie sieht es in der Wirklichkeit der Arbeitnehmer_innen aus?

Rechnungen der Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) zufolge stellt der Mindestlohn keine ausreichende Grundlage zur Sicherung des Lebensunterhaltes dar; der Gang zur Agentur für Arbeit jedenfalls werde durch ihn nicht verhindert (4). Außerdem ermöglicht auch ein Lohn von 8,50€ pro Stunde weder eine langfristige Lebens- bzw. Zukunftsplanung, noch bietet er den vom DGB hochgehaltenen Schutz vor Altersarmut.

Ausnahmen

Hinzu kommen die zahlreichen Ausnahmen, die den „flächendeckenden“ Mindestlohn schon vor seiner Einführung eher zum einem Flickenteppich gemacht haben. So sind folgende Menschen und Arbeitsverhältnisse vom Mindestlohn (vorübergehend) ausgenommen:

– Zeitungszusteller_innen (Sie werden bis 2018 stufenweise an den Mindestlohn angepasst.)

– Menschen unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung

– Auszubildende

– freiwillige und Pflichtpraktika im Rahmen von Ausbildung/Studium, die weniger als drei Monate dauern

– Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung (zumindest bis 2016; dann soll diese Ausnahme geprüft werden)

– 1€-Jobs, denn hierbei handele es sich nur um eine „Aufwandsentschädigung“

– bis Ende 2016 laufende Tarifverträge, in denen Löhne unterhalb des Mindestlohns vereinbart sind

– freie Mitarbeiter_innen (Selbstständige)

– Werkverträge

– Häftlinge

– nicht genau geklärt ist der Status von Bereitschafts- und Rufbereitschaftsdiensten (ausgenommen Pflegearbeit, wo der Mindestlohn auch bei diesen Diensten gilt!)

Die Länge dieser Liste spricht für sich!

Unter Minijobs versteht man Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeiternehmer_innen monatlich nicht mehr als 450€ verdienen. Auch für sie gilt der Mindestlohn, d.h. die monatliche Arbeitsstundenzahl muss entsprechend angepasst werden. Wichtig für Minijobbende ist die arbeitgeberseitige Aufzeichnungspflicht, die seit dem 01.01.2015 gilt: Demzufolge müssen Arbeitergeber_innen Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeiten erfassen.

Umgehung des Mindestlohns

Gerade so, als würden die zahlreichen Ausnahmen den Mindestlohn nicht schon genug aushöhlen, ist das Internet voll mit Tipps und Tricks von „Expert_innen“ und Rechtsanwält_innen (!) an Arbeitgeber_innen, wie man den Mindestlohn legal umgehen kann (5).

Auch für uns ist es von Vorteil, einen Blick auf diese Taktiken zu werfen, denn nicht alle von ihnen sind legal und nicht eine einzige von ihnen sollte unbeantwortet bleiben! Die folgende Liste bietet nur eine Auswahl:

– unbezahlte Überstunden bzw. Vor- und Nachbereitungstätigkeiten (die natürlich eigentlich bezahlt werden müssen);

– (Schein-)Werkverträge oder (Schein-)Selbstständigkeit (hierbei ist es wichtig zu wissen, dass eine Umwandlung eines vorherigen festen Arbeitsverhältnisses in eine Selbstständigkeit oder einen Werkvertrag nicht erlaubt ist);

– Beschäftigung von Praktikant_innen (auch hier ist eine Umwandlung nicht erlaubt);

– vermehrte Bereitschaftsdienste;

– Senkung der Arbeitszeit, die natürlich in den allermeisten Fällen mit einer Verdichtung der Arbeitsleistung verbunden ist (hier bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung der Arbeitnehmer_in);

– Anrechnung der Trinkgeldes (dies ist nicht zulässig, da es sich beim Trinkgeld um eine Schenkung(!) des Gastes an den/die Arbeitnehmer_in handelt);

– Verzichtserklärung des/der Arbeitnehmer_in – egal ob unterschrieben oder nicht, diese Verzichtserklärung ist ungültig! Der Mindestlohn ist unabdingbar und der/die Arbeitgeber_in hat die Differenz ebenso wie die sozialversicherungspflichtigen Abgaben nachzuzahlen!

Generell gilt, dass der/die Arbeitnehmer_in die Differenz zwischen gezahltem Lohn und Mindestlohn einklagen kann. Zusätzlich dazu und den Nachzahlungen der sozialversicherungspflichtigen Abgaben drohen bei Verstößen gegen den Mindestlohn Bußgelder von bis zu 500.000€.

Kritik am Mindestlohn

Wir halten es für äußerst wichtig, keine (versuchte) Unterwanderung des Mindestlohnes unbeantwortet zu lassen und legen jedem und jeder von euch ans Herz, für eure Rechte und euren Lohn einzustehen. Nichtsdestotrotz sehen wir den Mindestlohn weder als Allheilmittel, noch als überhaupt ein ausreichendes Mittel, um signifikante Verbesserungen zu erreichen.

Immer wieder wird die Kritik am Mindestlohngesetz laut, dass viele Punkte schon im Gesetzestext so undeutlich formuliert sind, dass sie einer Unterwanderung Tür und Tor öffnen. Hinzu kommen voraussichtlich mangelhafte Kontrollen seiner Umsetzung. Weiterhin ist es ohne Weiteres vorstellbar, dass aufgrund der generellen Abhängigkeitsverhältnisse der Arbeitnehmer_innen von den Arbeitgeber_innen, die häufig durch die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und mangelnder Alternativen noch verstärkt werden, Verstöße gegen das MiLoG nicht kommuniziert und der zustehende (Mindest-)Lohn nicht eingefordert wird.

Auch an der prinzipiellen Ausbeutung in kapitalistischen Verhältnissen wird das Mindestlohngesetz wenig ändern – weder für diejenigen, die ihn tatsächlich bekommen, noch überhaupt für die zahlreichen gesetzlichen Ausnahmen oder diejenigen, die um ihn geprellt werden, obwohl er ihnen zusteht.

Wir teilen die Auffassung der Genoss_innen der IWW und der Freien ArbeiterInnen-Union, dass der Mindestlohn weder eine ausreichende (geschweige denn zufriedenstellende) Grundlage des Lebensunterhaltes darstellt, noch einen Ausweg aus prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen bietet. Vor allem bedeutet er kein Ende der Ausbeutung! Und die zahlreichen Tricks, um ihn zu umgehen, zeigen, dass wir auch mit erlassenem Mindestlohngesetz für jede einzelne Verbesserung werden kämpfen müssen!

ASJ Leipzig

 

Wenn ihr weitere Fragen zum Mindestlohn an eurem Arbeitsplatz habt, ihr Umgehungstaktiken oder andere Missstände festgestellt habt und/oder für eure Rechte einstehen wollt, schreibt uns an:

leipzig@minijob.cc

Besucht uns im Internet: http://minijob.cc/

oder zu unserer Beratungs­stunde:

jeden 2. und 4. Donnerstag im Monat

19 Uhr, Libelle,

Kolonnadenstr. 19

 

(1) www.welt.de/politik/deutschland/article126480260/Bundesregierung-setzt-den-Mindestlohn-um.html

(2) www.tagesspiegel.de/politik/kompromiss-beim-mindestlohn-nahles-vier-millionen-werden-profitieren/9704414.html

(3) vgl. www.mindestlohn.de/hintergrund/argumente/

(4) www.wobblies.de/2014/12/27/850-euro-mindestlohn-hartz-iv-ist-gewiss/#more-2755

(5) www.etl-rechtsanwaelte.de/stichworte/arbeitsrecht/strategien-zur-umgehung-des-mindestlohngesetzes

www.owlaw.de/internationales-handelsrecht/3201-mindestlohn-umgehen-strategien-die-ab-2015-funktionieren/

Kein Gott, kein Herr

Für einen nicht-religiösen Anarchismus

Sicher, Anarchismus ist ein Nischenthema, und „christlicher Anarchismus“ noch viel mehr – eine Nische in der Nische sozusagen. Das Folgende dürfte also für Außenstehende ein wenig wie eine Auseinandersetzung zwischen „judäischer Volksfront“ und „Volksfront von Judäa“ anmuten. Aber in Zeiten, wo wir einerseits von selbsternannten Verteidiger_innen des christlichen Abendlandes genervt werden und andererseits islamistische Attentäter wegen „blasphemischer“ Karikaturen Mordanschläge begehen, ist es nicht verkehrt, sich ein paar Gedanken zum Thema Religion zu machen. Und manche Debatten müssen eben auch mal etwas länger geführt werden. Das ist allemal besser, als sie gleich in einem großen Bottich aus Toleranz und Pluralismus zu ersäufen.

Gerade, wenn über Religion diskutiert wird – wie in der Feierabend!-Redaktion beim Thema „christlicher Anarchismus“ (vgl. FA! #51 und #52) –, kommen häufig solche Forderungen nach Toleranz dabei heraus: „Man muss doch über alles reden können, oder?“ Gegen wechselseitige Verständigung ist natürlich nichts einzuwenden, allerdings führen solche „Man muss doch…“-Aussagen meist zielgenau dahin, dass gar nicht mehr geredet wird. Vielmehr wird vom ursprünglichen Thema auf eine Meta-Ebene abgewichen: Statt sich über das diskutierte Thema zu verständigen, verständigt man sich dann darüber, dass man sich ja über alles verständigen kann. Vor lauter Toleranz wird die Debatte beendet, bevor sie begonnen hat.

Wie gesagt, gerade wenn es um Religion geht, passiert das öfter. Über „Gott“ lässt sich eben nicht sinnvoll debattieren, weil dieser – unabhängig davon, ob er nun existiert oder nicht – jedenfalls nicht als Fakt existiert, der sich überprüfen ließe und zwischenmenschlicher Verständigung zugänglich wäre. Aus genau diesem Grund versacken Debatten über Religion so leicht in wohlmeinendem Relativismus, nach dem Motto: Weil wir alle die „letzte Wahrheit“ ohnehin nicht kennen, sollten wir tolerant sein und z.B. religiösen Überzeugungen nicht allzu vehement widersprechen. Wobei das Argument hinkt, denn der Anspruch, sinnvolle Aussagen über irgendeine „letzte“ oder „absolute Wahrheit“ machen zu können, wird ja ziemlich einseitig, eben von Seiten der Religion, erhoben. Und wenn tatsächlich „wir alle“ die letzte Wahrheit nicht kennen, ist klar, welche Seite falsch liegt – nämlich die, die etwas anderes behauptet.

Demgegenüber werde ich im Folgenden versuchen, möglichst einseitig zu argumentieren – da ich nur eine einzelne Person bin, kann ich ohnehin nicht „pluralistisch“ sein. Ich bemühe mich dabei, meinen Standpunkt möglichst schlüssig und präzise darzulegen, damit alle anderen mich möglichst präzise kritisieren können, wenn sie das für nötig halten.

Christlicher Anarchismus – gibt’s das überhaupt?

Ich will an dieser Stelle die allgemeinen Vorüberlegungen beenden und mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Eine naheliegende Frage zuerst: Wenn der Anarchismus tatsächlich „eine politische Haltung jenseits von jedem Dogmatismus“ ist, wie verträgt er sich dann mit Religion, die ja auf Dogmen, also Glaubenssätze, nicht verzichten kann? Überhaupt nicht, könnte man sagen. Wobei das Argument natürlich schwach ist: Dass man „jenseits von jedem Dogmatismus“ stünde, behaupten so ziemlich alle politischen Vereine von sich – auch die CDU ist total „undogmatisch“ und „fern von jeder Ideologie“.

Ich will die Frage also etwas anders akzentuieren: Wenn der Anarchismus vor allem ein politische Haltung ist, kann es dann so etwas wie einen religiösen Anarchismus überhaupt geben? Oder nochmal anders gefragt, denn der Gedanke ist sicher nicht unmittelbar eingängig: Gehen die beiden Elemente, die da in dem Begriffspaar des „christlichen Anarchismus“ scheinbar flüssig und widerspruchsfrei aneinander gekoppelt werden, wirklich so sauber inein­ander über, wie es die Sprache suggeriert? Und wenn nicht: Wie stellt sich die Beziehung von Christentum und Anarchismus dann dar, in welchem Verhältnis stehen diese beiden Elemente zueinander?

Polemisch ließe sich sagen: Es gibt natürlich Christ_innen, die in politischer Hinsicht eine anarchistische Position vertreten (und diese eben christlich „begründen“). Das ergibt dann anarchistische Christ_innen, aber noch lange keinen „christlichen Anarchismus“. Die Verbindung ist eben ziemlich einseitig: Auch für religiöse Menschen ist es unvermeidbar, dass sie sich irgendwie zur Welt und zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, also eine politische Position einnehmen, die dann unter Umständen anarchistisch ist. Nur gibt es umgekehrt keinen Grund, eine politische Position wie den Anarchismus religiös zu begründen – außer, mensch ist eben zufällig religiös.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern, dass immer wieder gern bemüht wird, um aus der Bibel heraus eine antikapitalistische Haltung zu „begründen“ – ich meine das bekannte Zitat: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Himmelreich kommt.“ Das läuft zunächst mal auf ein reines Autoritätsargument hinaus: Seht hier, auch Jesus hat gesagt, dass Reichtum schlecht ist! – wobei dann der Name „Jesus“ als Begründung für die Sinnhaftigkeit der Aussage „Reichtum ist schlecht“ herhalten soll. Bei der CSU mag das ja als Argument durchgehen. Anarchist_innen sollten solchen Quatsch lieber unterlassen, weil es eben auch generell Quatsch ist: Die Aussage muss schon für sich selbst sinnvoll und schlüssig begründet sein, sonst hilft auch Jesus nicht weiter. Das gilt bei anderen Autoritäten natürlich genauso. Eine Behauptung von Kropotkin, Marx oder dem Dalai Lama ist auch nur eine Behauptung.

Zweitens: Mal angenommen, dass die Aussage faktisch richtig sei und der liebe Gott tatsächlich ein moralisches Vorurteil gegen reiche Leute hegt – hat das dann für unsere diesseitige, menschliche Existenz irgendeine Bedeutung? Die Frage, ob Bill Gates oder Josef Ackermann in den Himmel kommen, stellt sich ja ohnehin erst, wenn sie tot sind, und da hat sich das Problem ihres Reichtums bereits erledigt. Es mag vielleicht einer ominösen göttlichen „Gerechtigkeit“ dienlich sein, wenn Gates und Ackermann zu ewiger Verdammnis verurteilt würden. Aus menschlicher Sicht macht es keinen Unterschied – der Herrgott könnte sich dieses sinnlose Nachtreten also auch sparen.

Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Spekulation, und eine solche spekulative Letztbegründung braucht es gar nicht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Die naheliegendste, nicht religiöse, sondern politische Begründung reicht vollkommen aus: Kapitalismus ist schlecht, weil er auf uns schlechte Auswirkungen hat, weil er uns das Leben in der Welt unnötig schwer macht. Weil er uns von den materiellen Gütern ausschließt, die wir zum Leben brauchen bzw. sie uns nur gegen Bezahlung zugänglich macht. Weil er uns zu sinnloser Arbeit zwingt, uns wertvolle Zeit und Kraft raubt usw. Wenn wir unter den Verhältnissen leiden, dann brauchen wir keine übergeordnete moralische Instanz, die uns ein „Recht“ darauf verleiht, diesen Zustand als unangenehm zu empfinden.

Die Frage nach „dem Wesen“

Für einen Anarchismus, der sich in Prinzipienerklärungen und moralischen Postulaten erschöpft, mag natürlich auch die Bibel eine brauchbare Fundgrube bieten. Die Frage ist aber, ob das irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. So mag, wie Sebastian Kalicha schreibt (1), „in den Evangelien eine ablehnende Grundhaltung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeit, die dies hervorbringt“ vorherrschen – über den Kapitalismus ist damit noch nichts gesagt, den gab es vor 2000 Jahren auch noch gar nicht.

Und wie kommt mensch denn überhaupt dazu, die Bibel „kapitalismuskritisch“ oder „anarchistisch“ zu interpretieren? Muss mensch dafür nicht vorab schon ein wenig Kapitalismus- und Staatskritik geübt haben? Die Bibel lässt sich ja offensichtlich ganz verschieden interpretieren, wenn sowohl „christliche Anarchist_innen“ als auch solche konservativen bis faschistoiden Vereine wie Opus Dei oder die Pius-Bruderschaft, sowohl Pazifist_innen als auch George W. Bush jeweils passende „Begründungen“ daraus ziehen können. Natürlich kann man sich jeweils die Rosinen aus dem Text herauspicken, also die Bibelstellen, welche die eigenen Überzeugungen zu unterstützen scheinen – aber welche Textstellen das sind, hängt allemal von den eigenen Überzeugungen ab.

Wir berühren hier die heikle Frage nach dem „Wesen“ des Christentums, mit der offenbar auch viele Anarchist_innen so ihre Schwierigkeiten haben. So z.B. in der Sonderausgabe der Direkten Aktion, die dem Schwerpunktthema „Religion“ gewidmet war. In einer Art Einleitungstext schrieb dort ein DA-Autor: „Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.“ (2)

Dazu wäre Einiges zu bemerken. Zunächst mal kritisiert Religionskritik nicht einzelne religiöse Menschen (auch wenn diese das anders empfinden mögen, sofern sie die Religion als Teil ihrer „Identität“ begreifen). Die Sache ist auch gar nicht so kompliziert: In konservativen Milieus herrscht sicher auch eine konservative, rigide Vorstellung von Religion vor. Demgegenüber haben sympathischere Menschen dann auch sympathischere Vorstellungen von Gott oder von der Religion – das spricht dann für die jeweiligen Menschen, aber nicht für Gott oder die Religion.

Zweitens ist die Frage nach „dem Wesen der Religion“ falsch gestellt – „das Christentum als solches“ ist eine Abstraktion, die sich in der Realität genauso wenig auffinden lässt wie z.B. „das Säugetier schlechthin“. Damit will ich natürlich Christ_innen nicht ihre Menschlichkeit absprechen. Ich wähle nur ein absichtlich banales Beispiel, um die verschiedenen logischen Ebenen zu unterscheiden, die der Autor im oben zitierten Text recht umstandslos durcheinanderwirft. In der Realität lassen sich natürlich haufenweise Säugetiere finden (Hunde, Katzen, Schabrackentapire usw.), aber „das Säugetier“ ist nur die abstrakte Oberkategorie, unter die alle diese Tiere sortiert werden, weil sie bestimmte Merkmale miteinander teilen. In ähnlicher Weise ist auch „das Christentum“, „der Islam“ nur eine Abstraktion, eine Oberkategorie, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale (Glaubenssätze, Rituale usw.) gebildet wird. „Das Christentum“ wird sich real nicht finden lassen, sondern immer nur „dieses Christentum“, das Christentum in bestimmten, historisch und sozial geformten Ausprägungen.

In diesem Sinne ist es dann auch unsinnig zu sagen, der Islamismus habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, oder umgekehrt: der Islam als solcher sei gewalttätig. Der Islam „als solcher“ ist weder gewalttätig noch friedfertig – nur die Gläubigen verhalten sich, je nachdem, gewalttätig oder friedfertig. Eine abstrakte Kategorie ist als solche gar nicht in der Lage, sich irgendwie zu „verhalten“.

An diesen ersten logischen Fehler schließt sich unmittelbar ein zweiter an, nämlich der, Christ_innen immer nur als solche zu betrachten, als ob sie eben nur Christ_innen wären und nicht auch z.B. Lohnarbeiter_innen in einer Fabrik, Teil einer Familie, alleinerziehend, jung oder alt, arm, reich, oder was es eben sonst noch an Merkmalen geben kann. Auch wenn wir die Religion grundsätzlich als Irrtum betrachten (wie gesagt, ich bemühe mich, möglichst einseitig zu argumentieren), wäre immer noch zu fragen, welche Rolle dieser Irrtum für die einzelnen Menschen spielt. Ein „christlicher“ Unternehmer und ein „christlicher“ Lohnarbeiter haben vielleicht bestimmte Glaubenssätze gemeinsam, so wie sie auch ganz allgemein das Menschsein gemeinsam haben. Für die Frage, wie sie sich z.B. bei einem Streik positionieren, spielt das keine Rolle – es sagt nichts über „das Wesen des Christentums“, wenn ein christlicher Lohnarbeiter streikt.

Ein langer Umweg und ein kurzes Fazit

Auch der Autor des oben zitierten Artikels verfällt, obwohl er der Religion eher kritisch gegenüber steht, letztlich dem gleichen Irrtum wie die Gläubigen selbst: Diese neigen natürlich dazu, so ziemlich alle ihre Handlungen religiös zu begründen. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie tatsächlich aus religiösen Gründen handeln.

Wobei die religiöse Letztbegründung im besten Falle überhaupt nichts begründet – so wie im folgenden Zitat, das einem Artikel in der Graswurzelrevolution (3) entnommen ist: Der Verfasser lehnt dabei als „christlicher Anarchist“ zunächst mal die Anschauung ab, Gott sei eine übergeordnete, fremde Autorität. Nach seinen Worten ist Gott „kein fremdes Subjekt, das mich von außen bestimmen will“, vielmehr wolle er „das Gute für seine Schöpfung“: „Das ist ein Kriterium, an dem sich nach christlichem Selbstverständnis alles menschliche Verhalten und alle denkbaren staatlichen, kirchlichen, religiösen und sonstige Vorschriften messen lassen müssen. Und dies lässt die Frage inhaltlich offen, was das Gute für die Schöpfung – nämlich für mich, die anderen Menschen und die Natur – sei. Und dass diese Frage offen bleibt, ist gut so, ermöglicht doch genau das die Freiheit, sich immer wieder neu der Wirklichkeit zu stellen und so immer wieder neu sein Verhalten zu bestimmen. Diese Freiheit ist zutiefst antiideologisch und antihierarchisch.“

Da haben wir wieder etwas gelernt: Christ_innen sind also für „das Gute“. Das haben sie allerdings mit dem gesamten Rest der Menschheit gemeinsam, wenn man mal von der verschwindend kleinen Minderheit der orthodoxen Satanisten absieht. Wobei dem Autor das Gute selbst offenbar noch nicht gut genug erscheint. Jedenfalls braucht er noch eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass er das Gute für gut hält – nämlich „Gott“. Weil dieser „das Gute für seine Schöpfung“ will, findet auch der Verfasser das Gute gut. Nach dieser komplizierten ideologischen Übung können wir dann „zutiefst unideologisch“ selber schauen, was gut für uns ist.

Viel Erkenntnisgewinn kommt bei dem ganzen Vorgang also nicht heraus: Der Autor endet mit großem Umweg an genau dem Punkt, wo man anfangen könnte, eine sinnvolle Debatte zu führen – zum Beispiel darüber, was für uns gut ist und warum es gut ist, was für politische Ziele sich daraus ableiten und welche Möglichkeiten wir haben, um diese zu erreichen. „Gott“ hilft uns in dieser Beziehung nicht weiter, und in diesem Sinne ist auch ein „christlicher Anarchismus“ schlicht überflüssig.

justus

 

(1) zitiert nach Sebastian Kalicha (Hg.), “Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung”, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2014, S. 33.

(2) https://www.direkteaktion.org/218/bad-religion

(3) zitiert nach Sebastian Kalicha, “Christlicher Anarchismus”, a.A.o., S. 80.

Weder Opfer noch fehlgeleitete Genossen!

Über den Gebrauch „soziologischer“ Erklärungen im militanten Milieu

[Der folgende Artikel erschien zuerst auf der französischen Webseite www.mondialisme.org (1), die als gemeinsame Plattform von verschiedenen libertären Zeitschriften genutzt wird. Hoffentlich ist es auch für unsere Leser_innen interessant, welche Debatten unter französischen Anarchist_innen nach den Anschlägen in Paris geführt werden. Zu bemerken ist hier, dass sich der französische Kontext in einigen wichtigen Punkten vom deutschen unterscheidet. So ist die hier vertretene Position sicher nicht repräsentativ für die libertäre Bewegung in Frankreich. Das betrifft vor allem die Kritik an linkem Antisemitismus und Antizionismus. Wobei mondialisme.org nichts mit dem antideutschen Irrationalismus zu tun haben, und sich auch nicht als freischaffende Geostrategen an irgendwelche Staatsmächte ranschmeißen – das hier sind eben working-class-Anarchist_innen, keine übereifrigen Antifa-Kids oder frustrierte ehemalige K-Grüppler…

Manche Seitenhiebe auf „Globalisierungskritik“, „post-koloniale Theorien“ usw. mögen ein wenig platt wirken oder müssten jedenfalls weiter erläutert werden – sie beziehen sich aber auf ältere Texte, die auf mondialisme.org erschienen sind, wo diese Themen ausführlicher behandelt wurden. Die (relativ umfänglichen) Original-Fußnoten haben wir entfernt und durch eigene ersetzt – wo sich Zusatzinformationen ohne Probleme in den Text einfügen ließen, haben wir das getan (erkennbar an den eckigen Klammern).

Eine letzte Anmerkung vorab noch zum hier benutzten Begriff des „religiösen Faschismus“, da dieser leicht allerlei Missverständnisse und Kurzschlüsse hervorrufen kann. Dies ist auch dem Autor selbst bewusst, der in einer Fußnote dazu Folgendes erklärt:

„Der Ausdruck ‚religiöser Totalitarismus’ ist unbefriedigend, und ich nutze ihn nur in Ermangelung eines ausgefeilteren Konzepts. Der Begriff des ‚religiösen Faschismus’ ist ebenso wenig adäquat – allem voran deswegen, weil er zuerst von den neokonservativen Vorkämpfern der Theorie eines ‚clash of civilizations’ in der Debatte verwendet wurde. Ebenso, weil auch jene Linken, die diesen Begriff benutzen (etwa die iranische und irakische kommunistische Arbeiterpartei, oder neuerdings einige Anarchist_innen), ihn einerseits niemals präzise definiert haben und andererseits davon auszugehen scheinen, dass die islamische Religion weitaus gefährlicher als andere Religionen sei – wobei alle Religionen gleichermaßen abzulehnen sind.“

Auch hier wird der Begriff des religiösen „Faschismus“ bzw. „Totalitarismus“ vor allem polemisch benutzt – es handelt sich natürlich auch um einen polemischen Text. Als solcher taugt er hoffentlich als Denkanstoß und vielleicht zur Eröffnung weiterführender Debatten. – die FA!-Red.]

In einer Kolumne, die kürzlich in der Zeitung Le Monde erschien, verglich [der Politikwissenschaftler] Olivier Roy die Revolten der extremen Linken, die in den 70er Jahren den bewaffneten Kampf praktizierten, mit den europäischen Djihadisten des 21. Jahrhunderts. Wenn dieser Vergleich rein pädagogische Zwecke hat, kann man ihm sicher zustimmen … unter der Bedingung, dass zugleich betont wird, wo die Grenzen dieses Vergleichs liegen.

Angesichts der derzeitigen anti-muslimischen Paranoia kann es nützlich sein, den Europäer_innen in Erinnerung zu rufen, dass auch sie selbst, in gewissen Momenten der Geschichte, sich für hochgespannte politische Anliegen begeistern konnten, auch in der Weise, dass sie sich dafür bewaffneten und bereit waren, ihr Leben für ihr Ideal zu opfern. Dabei muss aber bemerkt werden, dass weder die „antifaschistischen“ Ideale der 30er Jahre, beim Kampf gegen Franco, noch die „anti-imperialistischen“ oder „anti-kapitalistischen“ Ideale der 1970er den Tod oder die Zerstörung glorifizierten. Stattdessen

– waren sie mit marxistischen Ideologien verbunden, die zumindest eine einigermaßen rationale Grundlage hatten und in jedem Fall Gegenstand unzähliger Debatten waren, die in voller Freiheit geführt wurden;

– sie forderten weder den Menschenhandel mit Frauen noch die Versklavung ihrer Gegner_innen, weder die Tötung von Kindern noch die Ausrottung dieser oder jener Ethnie als Mittel, der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen;

– sie töteten nicht unterschiedslos alle Zivilist_innen, die ihnen in die Hände fielen;

– sie nahmen die Soldaten des gegnerischen Lagers oder (vermeintliche) Repräsentanten der kapitalistischen Klasse zum Ziel;

– und last but not least bezogen sich die antikapitalistischen Bewegungen auf egalitäre Ideen der Gleichheit zwischen den Menschen, den Völkern, zwischen Männern und Frauen, im Gegensatz zu den faschistischen oder autoritären Bewegungen des letzten Jahrhunderts oder zu den heutigen Islamisten.

Diese Punkte bezeichnen meines Erachtens die fundamentalen Unterschiede und zeigen, wo die Grenzen des von Roy gezogenen Vergleichs liegen. Dennoch finden sich unter jenen Linken und Radikalen, die sich vom Neostalinismus oder der gängigen „Globalisierungskritik“ haben verdummen lassen, auch Leute, die bereit sind, sich mit den heutigen Djihadisten zu „identifizieren“ oder deren Taten verständnisvoll gegenüberstehen. Als Beispiel zitiere ich im Folgenden zwei bezeichnende Stellen aus einer Korrespondenz, die ich mit einer Sympathisantin der radikalen Linken führte. Zu Beginn unserer Diskussion schrieb diese mir: „Wenn diese Frau als Tochter einer armen ‚migrantischen‘ Familie aufgewachsen wäre, isoliert in einem der Banlieues von Paris, stigmatisiert und diskriminiert von der französischen Republik, die ihre Herkunft und ihre Existenz nicht wahrnimmt, von den Männern unterdrückt… dann wäre sie wahrscheinlich auch zur Terroristin geworden.“

Amédy Coulibaly, der an den Morden in dem koscheren Supermarkt in Vincennes beteiligt war, arbeitete für einen amerikanischen multinationalen Konzern [für Coca Cola – d. Red.], war weder arbeitslos noch besonders arm, sondern verdiente ungefähr 2000 bis 2200 Euro monatlich, während von seinen neun Schwestern – Frauen und Migrantinnen, also zweifach diskriminiert – keine einen ähnlichen sozialen Aufstieg schaffte oder sich zur „Djihadistin“ entwickelte.

Erstaunlicherweise fragt sich offenbar niemand , warum etwa die Nachkommen der aus Afrika in die Vereinigten Staaten verschleppten Sklav_innen nicht zu „Terroristen“ geworden sind, sondern stattdessen alle möglichen anderen Mittel ergriffen haben, um gegen die weiße/kapitalistische Unterdrückung zu kämpfen – von der bewaffneten Selbstverteidigung, der Gründung eigener Organisationen und Gewerkschaften bis hin zum gewaltfreien Widerstand. Es ist also offensichtlich, dass es keinen Automatismus gibt, der von der unterdrückten Lage etwa der Sklav_innen und ihrer Nachkommen unvermeidlich zum „Terrorismus“ führt – was die eiligen Soziolog_innen freilich nicht weiter irritiert.

[…] Es ließe sich hinzufügen, dass die soziale Lage derer, die sich selbst als Muslime verstehen, vielfältiger ist, als man glauben könnte. Einer Untersuchung der CEVIPOF (2) zufolge, die im Jahr 2003 durchgeführt wurde, gehören 30% den sog. „intermediären Berufen“ an (Vorarbeiter, Grundschullehrer_innen, Krankenpfleger_innen, Sozialarbeiter_innen usw.), arbeiten im Handel, in handwerklichen Berufen oder der höheren Verwaltung. Diese Angaben widersprechen den Vereinfachungen derer, die die von Merah, Nemmouche, Coulibaly und den Kouachi-Brüdern begangenen Taten mehr oder weniger zu entschuldigen oder zu begründen versuchen, indem sie den Großteil der „Muslime“ als Opfer unerträglicher sozialer und ökonomischer Diskriminierungen darstellen, durch welche sie von der kapitalistischen Gesellschaft geradezu in die Arme der Djihadisten getrieben würden. Auch jene 66% (von denen, die nicht arbeitlos sind), die Arbeiter_innen und Angestellte sind, üben sich nicht täglich in der Handhabung von Kalashnikovs, bevor sie zur Arbeit gehen. Die „Muslime“ (im kulturellen oder religiösen Sinne) sind vollkommen in der Lage zu reflektieren und politische Entscheidungen zu treffen.

Als ich meine Gesprächspartnerin darauf aufmerksam machte, dass sich solche „Opfer des Kapitalismus und des Staats“ nicht nur unter Frauen „ausländischer“ oder migrantischer Herkunft finden ließen, sondern dass es diese auch haufenweise im „eingeborenen“ Proletariat gäbe – bei den italienischen Faschisten, den deutschen Nazis ebenso wie bei den ostdeutschen Neonazis von heute oder der Wählerschaft der Front National – erhielt ich eine Antwort, die gleichermaßen überraschend war, heutzutage aber ziemlich gängig ist: „Ich denke, man kann beide nicht vergleichen – Terroristen, die eine migrantische Herkunft haben und deswegen seit ihrer Geburt diskriminiert wurden, und Leute, die sich vielleicht zu Faschisten entwickeln, weil sie durch die Krise deklassiert worden sind. Der Ausgangspunkt ist einfach nicht vergleichbar. Du weißt genau, dass der soziale Status von migrantischen und ‚einheimischen‘ Arbeiter_innen nie der gleiche war, seit Entstehung des französischen Nationalstaats und seit der Kolonisierung. Diese ‚armen weißen Faschos‘ waren niemals DIE ANDEREN in ihrem eigenen Land, nicht unbedingt, was ihre wirtschaftliche, aber jedenfalls, was ihre soziale Lage angeht.“

DIE ANDEREN, das große Wort ist gesagt. Dieses Wort, das seit Jahrzehnten Verwirrung stiftet – meist zum Nachteil antirassistischer Bemühungen. Vor allem, wenn es eine selbstgenügsame Ideologie der Sorte „Schau, wie offen ich den Fremden gegenüberstehe!“ unterstützt, wie sie bei Salon-Antirassist_innen weit verbreitet ist, den Stadtteil-Vereinen, die von der Politik mit Hinblick auf die nächsten Wahlen gesponsert werden, besserwisserischen Politiker_innen usw..

Das mag im Rahmen einer therapeutischen Behandlung nützlich sein, oder in einer psychologischen Selbsthilfegruppe. Aber es lässt sich nur schwer in politische Begriffe übersetzen. Wenn man dies versucht, landet man nur bei einem kommunalen oder staatlichen Multikulturalismus, der bekanntlich zur Bildung von allerlei Gemeinschaften führt, die sich jede für sich gegen „die Anderen“ abschotten, aber zugleich eine Rhetorik aufrecht erhalten, die zwar mit ihrer Praxis wenig zu tun hat, aber eben nötig ist, damit weiter Subventionen fließen – zur Förderung des „Zusammenlebens“.

Denselben Katalog an soziologischen Erklärungsmustern – „Elend und sozialer Abstieg, Ghettoisierung, struktureller Rassismus, kulturelle Unterdrückung, individuelle und kollektive Stigmatisierung und Demütigung“ usw. – findet man in einem Artikel von Julien Salingue (3), einem Aktivisten der NPA [Nouveau Parti anticapitaliste, eine trotzkistische Partei – Anm. d.Red].

Unser Aktivist fährt folgendermaßen fort: „Die Faktoren, die dazu führten, dass die Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly sich radikalisierten, sind nicht nur in Frankreichs Außenpolitik zu suchen, sondern ebenso (und vor allem) in seiner Innenpolitik. Man könnte sich für einmal mit der ‚elenden Kindheit der Kouachi-Brüder‘ befassen oder – nicht ohne Hintergedanken – erwähnen, dass der beste Freund von Coulibaly 2000 bei einem Raubüberfall von einem Wachmann erschossen wurde. Oder dass derselbe Coulibaly sich 2010 dadurch bemerkbar machte, dass er die Haftbedingungen im Gefängnis Fleury-Mérogis kritisierte. In anderen Worten: Man könnte behaupten, ohne etwas entschuldigen zu wollen, dass es sich bei diesen Anschlägen um sehr französische Anschläge handelt – einen (wenn auch schrecklich verzerrten) Ausdruck eines gewalttätigen Ressentiments gegen ein Gesellschaftsmodell, das nur eine Maschine zur Produktion von Stigmatisierungen und Ungleichheiten ist.“

Es ist bezeichnend, dass Julien Salingue hier die Worte „schrecklich verzerrt“ [im Original. „horriblement déformée“] verwendet. Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der von Trotzkisten immer benutzt wird, um die Diktaturen des real nicht-existierenden Sozialismus´ zu bezeichnen. Für sie sind diese totalitären, der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter_innen dienenden Systeme letztlich „degenerierte Arbeiterstaaten“, die nur irgendwie „bürokratisch deformiert“ wurden. In irgendeiner Weise bleibt darin also etwas Positives erhalten – sie sind ein entfernter, „verzerrter“ Nachhall der Oktoberrevolution. Aber so wie es absolut nichts Positives, nichts „Arbeiterhaftes“, nichts Sozialistisches an diesen stalinistischen Staaten gab, gibt es ebenso nichts Positives an dem genannten „gewalttätigen Ressentiment“ […] Dieses ist, wenn es ein reines Ressentiment bleibt, ebenso die Grundlage aller Faschismen und Diktaturen.

Die Zitate zeigen, wie verheerend sich post-koloniale und anti-rassistischen Theorien, die sich nur auf „rein menschliche“ Anteilnahme stützen und von jeder Klassenfrage abgelöst sind, bei linken Aktivist_innen – vor allem aus dem intellektuellen Mittelschichts-Milieu – auswirken können.

Statt die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Formen von Faschismus aufzuzeigen (hier insbesondere religiös begründete „Faschismen“ oder „Totalitarismen“), bringen diese reaktionären Theorien bestimmte linksradikale, auch libertäre Aktivist_innen dazu, sich „soziologische“ Erklärungen zurechtzulegen, die sie ausschließlich für „Migranten“ (deren Familien mitunter schon seit drei oder vier Generationen in Frankreich leben) vorbehalten, von denen sie aber „franko-französische“ Proletarier ausschließen, die etwa die Front National wählen oder noch klarere Sympathien für den Faschismus hegen.

Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass der Faschismus sich nicht nur in Europa verbreitet hat. Auch die nationalen Bewegungen des „globalen Südens“ – von Indien, über Ägypten und Palästina bis hin zum Irak – waren vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus fasziniert. Dies beschränkte sich nicht nur darauf, taktische Bündnisse mit dem Dritten Reich abzuschließen, um die eigene nationale Unabhängigkeit voranzubringen.

Es ist sicher schwierig, den heutigen internationalen, inner- und außereuropäischen Djidahismus mit den Faschisten und Nazis der 30er Jahre zu vergleichen. Aber diese Formen von Faschismus – oder vielleicht besser: diese verschiedenen totalitären Ideologien – lassen sich vergleichen, wozu es freilich noch längerer Studien und Analysen bedarf (solche wurden bislang leider nur von konservativen Historikern im angelsächsischen Sprachraum durchgeführt, die der Theorie vom „Kampf der Kulturen“ folgen).

Dass die bloße Möglichkeit eines solchen Vergleichs von meiner Gesprächspartnerin so hartnäckig bestritten wurde, zeigt einerseits, welch unguten Einfluss „post-koloniale“ Theorien auf die radikale Linke haben, und andererseits, wie schrecklich diese Linke den heutigen global verbreiteten Antisemitismus unterschätzt. Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Diskriminierungen, denen Menschen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft in Europa ausgesetzt sind, und der Handlungsweise z.B. von Mohamed Merah, der eine jüdische Schule betrat und kaltblütig drei jüdische Kinder tötete; oder von Amédy Coulibaly, der die Kund_innen eines koscheren Supermarkts erschoss; oder von Mehdi Nemmouche, der Besucher_innen des jüdischen Museums in Brüssel ermordete.

Jene Linken und Anarchist_innen, die „soziologische“ Erklärungen bemühen, um diese Morde zu erklären, die in den letzten Jahren an jüdischen Menschen in Europa begangen wurden, gehen damit völlig in die Irre – man kann den heutigen Antisemitismus in Frankreich und anderswo nicht mit abstrakten, zeitlosen Erörterungen über den Kolonialismus oder den Rassismus erklären. Vor allem nicht in einem Staat, der [unter dem Vichy-Regime – Anm. d. Red.] die Vernichtung von 70.000 Jüdinnen und Juden zuließ und deren Kinder in Internierungslager der französischen Polizei verfrachtete.

Es ist zudem bezeichnend, dass Julien Salingue einen ganzen Absatz in seinem Text darauf verwendet, die sog. „Islamophobie“ (10) anzuprangern, und zugleich die „Morde von Vincennes“ nur in einen Satz erwähnt. Als hätten diese Morde nicht in einem jüdischen Supermarkt stattgefunden, sondern eben nur irgendwo „in Vincennes“, einem Ort ohne weitere besondere Eigenschaften – und als ob er nicht in der Lage wäre, sich mit dem Antisemitismus ebenso auseinanderzusetzen, wie mit der heute herrschenden anti-muslimischen Paranoia! Diese Ignoranz ist in der radikalen Linken und bei „anti-zionistischen“ Anarchist_innen weit verbreitet. So ist auch nicht besonders überraschend, dass Julien Salingue den djihadistischen Antisemitismus nicht zur Kenntnis nehmen will, ebenso wenig wie die religiösen und politischen Wurzeln, die dieser in der arabisch-muslimischen Welt hat.

In seinem Weltbild und in dem von vielen der heutigen postmodern und akademisch geprägten Linken, stellt sich die „Islamophobie“ als unabtrennbarer Bestandteil der kapitalistischen, westlichen, neo-kolonialen Weltordnung dar, wogegen der Antisemitismus nur ein überholtes und letztlich zweitrangiges Vorurteil sei – ein „scheußliches Gift“, wie Salingue sagt, das aber sich aber fast schon verflüchtigt hat und nur noch von Israel, diesem „Brückenkopf des US-Imperialismus“ in manipulativer Absicht ausgenutzt wird. Ignoriert wird, dass auch der Antisemitismus eine mindestens ebenso „strukturelle“ Bedeutung hatte und immer noch hat, sowohl für die kapitalistischen westlichen Gesellschaften als auch die (laut Eigenbezeichnung) „sozialistischen“ Staaten des Ostblocks – und darüber hinaus auch in der Linken seit anderthalb Jahrhunderten gepflegt wurde und wird (11). Die Ju­den „auszu­merzen“ war ein al­ter Wunschtraum nicht nur des christ­lichen Abend­lands. Dieser wur­de En­de des 19. Jahr­hun­derts von der fran­zösischen und deut­schen Rech­ten wieder aufgegriffen, von den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, und schließlich, Anfang der 1930er Jahre, auch von bestimmten islamisch geprägten nationalen Befreiungsbewegungen übernommen. Dass es wichtige Unterschiede zwischen diesen reaktionären/totalitären Bewegungen und ihren jeweiligen Ideologien gibt, darf uns freilich nicht blind machen für die offenkundigen Ähnlichkeiten. Die Vertreter_innen des politischen Islams – mindestens in seinen nationalistischen oder djihadistischen Ausprägungen –, welche Attentate auf Jüdinnen und Juden verüben, setzen eifrig fort, was der europäische Faschismus begonnen hat. Sie sind keine „Opfer von Staat und Kapital“, jedenfalls nicht mehr, als irgendein beliebiger Faschist proletarischer Herkunft es ist, welcher – als Anhänger der Chrysi Avgi, der Casa Pound oder der Front National (4) – seine Ideen in die Tat umsetzt, indem er migrantische Arbeiter_innen oder linke Aktivist_innen ermordet.

Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn europäische Faschisten zum Beispiel Arbeiter_innen arabischer, kabylischer, afrikanischer oder pakistanischer Herkunft töten, würden linke Aktivist_innen nicht auf die Idee kommen, soziologische Erklärungen zu bemühen, um „Verständnis“ für solche Morde zu fördern. Ich sehe keinen Grund, solche politischen Morde, seien sie antisemitisch oder nicht, mit zweierlei Maß zu messen, nur weil sie in einem Fall von Menschen begangen wurden, deren Eltern oder Großeltern aus dem „globalen Süden“ stammten. Ein „Faschist“ oder ein Vorkämpfer des religiösen Totalitarismus bleibt ein politischer Gegner, egal, was seine Herkunft ist oder welchen Diskriminierungen er ausgesetzt war.

Y.C., Ni patrie ni frontières, 25. 01. 2015

(1) www.mondialisme.org/spip.php?article2236

(2) Centre de recherches politiques de Sciences Po, dt. etwa Zentrum für politische Studien der Politikwissenschaften. 1960 gegründet mit Sitz in Paris.

(3) vgl. resisteralairdutemps.blogspot.fr/2015/01/tueries-charlie-hebdo-et-porte-de.html

(4) Chrysi Avgi: Goldene Morgenröte, griechische faschistische Partei. Casa Pound: italienisches Neonazi-Netzwerk. Der Name bezieht sich auf ein Haus, das 2003 in Rom von Faschisten besetzt wurde und seither als Hauptquartier dient.

Indiens unwidersprochene Widersprüche

Impressionen einer Reise

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen… Doch was lässt sich aus gut drei Monaten Delhi-Erfahrung, gekoppelt mit ein paar Reiseeindrücken aus dem nördlichen Indien, berichten? Ich war zu lange da, um lediglich Eindrücke zu beschreiben – ganz abgesehen davon, dass diese Gefahr laufen zu langweilen und Oberflächenklischees zu bedienen. Allerdings war ich auch zu kurz da, um mit viel Hintergrundwissen analytisch über die indische Gesellschaft zu resümieren. Vor allem aber habe ich heute mehr Fragen als Antworten im Kopf. Die zum Alltag gewordenen Eindrücke und Wahrnehmungen mischen sich wild mit unausgegorenen Analysen und meiner ganz subjektiven Brille. Aber deshalb schweigen? Nein – denn mein Blick über den Tellerrand, kann auch für euch an der Welt interessierte Menschen interessant sein, kann zum Nachdenken über Kapitalismus und Kaste, Tradition und Moderne, transkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, subjektive Wahrnehmung und objektive Realität anregen. Das ist es auch, was diesen Text vielleicht lesenswert macht – egal ob ihr Indien und Delhi schon mal selbst erlebt habt oder nur vom Hörensagen kennt.

Die Arm-Reich-Bandbreite

Was mich vor allem an der indischen Gesellschaft bewegt und mir ins Auge sticht, ist die Spanne zwischen armen und reichen Menschen. Denn sie scheint mit europäischen Verhältnissen verglichen sowohl offensichtlicher, als auch größer zu sein. Auf den Hauptstraßen in Delhi hat man die seltene Gelegenheit, alles auf einmal beobachten zu können. Denn da drängelt sich der dicke, große und sauber glänzende Schlitten (natürlich mit getönten Scheiben) zwischen verbeulten kleineren Autos, abgeranzten uralten Linienbussen, unzähligen Auto-Rikschas, Motorrädern und manch mutigem Fahrradfahrer hupend seinen Weg frei. Das Ende der Kette bilden dort wohl die Straßenhändler und verstümmelte Bettler oder Kinder, die an den Ampeln umher laufen, um Kleingeld zu schnorren.

Ansonsten wird die Arm-Reich-Bandbreite nur sichtbar, wenn man unterschiedliche Stadtviertel besucht – denn die Menschen leben hier eher segregiert, v.a. anhand der Tätigkeitsart und dem entsprechendem Einkommen. Die Wohngegenden unterscheiden sich v.a. durch den Grad der Sauberkeit, Architektur und Größe der Häuser, Breite der Straße, Höhe der Mauern, Anzahl der Autos im Hof, Menge an postierten Wachpersonal sowie der Anzahl an Menschen, die auf einen Schlag sichtbar sind. Vis a vis betrachtet, bilden v.a. der Kleidungsstil, die Schmuckdichte und die Dominanz im Auftreten im öffentlichen Raum gute Indikatoren für die Dicke des Portemonnaies und den Status der Menschen. Und im Haus drin ist es neben der Inneneinrichtung v.a. die Anzahl der Hausangestellten, die darüber Aufschluss geben.

So weit so gut. Klingt gar nicht so besonders und anders als bei uns, sagt ihr vielleicht. Mag sein, sofern wir die riesige Menge an Menschen, die in extremer Armut leben müssen, hier ausklammern. Und dementsprechende Gegenmaßnahmen wie hohe Mauern und Wachpersonal bei den extrem Gutverdienenden.

Wieso, weshalb, warum?

Dennoch habe ich das Gefühl, dass diese Gegensätze hier offener ausgelebt werden und sichtbarer sind. Auch und vielleicht weil sie unwidersprochener nebeneinander stehen können? Denn außerhalb der Universitätskreise höre ich nichts von sozialen Kämpfen. Sehe keine Demos auf den Straßen. Zudem habe ich erfahren, dass sich nur Wenige bspw. in Gewerkschaften organisieren. Woran liegt also die scheinbar geringe Bereitschaft gegen diese soziale Ungleichheit aktiv zu werden?

Liegt das nur am Fehlen eines großen klassischen „Industrieproletariats“ zugunsten eines riesigen informellen Sektors voller Einzelkämpfer? Oder gibt es keinen Glauben an mögliche Veränderungen durch aktives und gemeinsames Handeln einer Zivilgesellschaft? Inwiefern ist eine solche bisher überhaupt gewachsen (jenseits parteipolitischer Seilschaften)? Oder ist die gesellschaftliche Fragmentierung und das Reproduzieren von extremer Ungleichheit eine Nachwirkung des immer noch eine Rolle spielenden Kastensystems? Oder der ebenso sehr ausgeprägten Clan-Identitäten aufgrund von Regions- und Familienzugehörigkeiten? Oder liegt es am inzwischen verinnerlichten kapitalistischen Versprechen, dass jeder den materiellen Aufstieg schaffen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet?

Arbeit ist das ganze Leben

Ohne Zweifel, die Leute hier arbeiten ziemlich viel und vor allem lang – in jeder Gesellschaftsschicht. Alle Geschäfte und Straßenstände in meinem Viertel haben täglich von 8 oder 9 Uhr morgens (so genau weiß ich Langschläferin das leider gar nicht….) bis 22 Uhr geöffnet – und das sieben Tage die Woche. Es stehen auch immer die selben Leute hinterm Ladentisch. Eine Autorikscha kannst du rund um die Uhr ziemlich leicht finden, denn oftmals ist sie zeitgleich auch Schlafplatz ihrer Fahrer. Und selbst die ärmsten Omas versuchen bspw. durch Süßigkeitenverkauf vor der Haustür ganztägig zum Familieneinkommen durch Kleinstbeträge beizutragen (siehe Bild). Aus einem spannenden Buch von Rana Dasgupta (1) habe ich gelernt, dass auch in der aufstrebenden Mittelklasse der Arbeitsplatz zum Familienersatz und neuen Zuhause geworden ist. Was lange Arbeitszeiten und eine sehr hohe Identifikation mit dem Beruf und dem dazugehörigen Status impliziert. Nicht zuletzt seien auch noch die vielen Hausangestellten erwähnt, die ab mittlerem Einkommen eigentlich in allen Haushalten zu finden sind und das Putzen, Kochen, Waschen, Abräumen usw. übernehmen. Je nach Status und Einkommen in unterschiedlicher Anzahl. Oftmals leben diese auch dauerhaft bei ihren Arbeitgebern und sind dementsprechend auch rund um die Uhr verfügbar.

Kurzum, die Arbeit und Erwerbstätigkeit definiert hier das Leben der Menschen in besonderem Maße – und die Menschen definieren sich selbst über diese. Auch eine Auswirkung des Kastensystems, in dem die Menschen nach ihrer Tätigkeit unterteilt wurden? Oder liegt es eher an den wirtschaftlichen Veränderungen, die mit der Marktöffnung Anfang der 90er begannen und derzeit das Land in einen extremen Wirtschaftsboom versetzen? Oder doch einfach an den existenziellen materiellen Notwendigkeiten der Bevölkerung, die bei uns dank (marodem) Sozialnetz zumindest nicht so extrem sind? Aber was treibt die Leute aus höheren Schichten an, ihr ganzes Lebensglück über ihre Erwerbsarbeit und dementsprechende Luxusgüter und Status zu definieren?

 

Arrangierte Ehen

Eine Erklärung könnte die starke Bindung an und traditionelle Identifikation über Clan-/Kasten-Familienzugehörigkeit sein, die sich meist über das Tätigkeitsfeld definiert. Generell spielt die familiäre Bindung in Indien eine große Rolle, meist leben verschiedene Generationen unter einem Dach und Söhne treten oft in die beruflichen Fußstapfen ihrer Väter.

Eine weitere Erklärung könnte ich in der (zeitgleichen) Flucht vor der eigenen Familie finden. Aber stopp, da muss ich aufpassen, nicht mit meiner eurozentristischen Brille den Leuten was unterzujubeln, was sie vielleicht gar nicht fühlen. Und dennoch ist folgendes wichtig, um die indische Familie besser zu verstehen: Die allermeisten Ehen werden noch immer durch die Familie initiiert und arrangiert. Und die allermeisten werden auch verheiratet während ihrer 20er. Oftmals lernen sich die zukünftigen Paare bei zu diesem Zweck veranstalteten Familienzusammenkünften zum ersten Mal kennen. Unterschiede gibt es jedoch in der Art, wie viel Mitspracherecht die zu verheiratenden Menschen selbst haben. Und wie viele potentielle Partner_innen sie sich angeschaut haben. Und wie lange sie vorher miteinander Zeit verbringen dürfen, bis es entschieden wird. Was aber nicht heißt, in dieser Zeit miteinander leben zu dürfen.

Insgesamt fühlen sich die Eltern dafür verantwortlich, ihr Kind unter die Haube zu bringen, machen Vorschläge (ggf. unterstützt durch unzählige Kuppelbörsen), arrangieren Treffen und achten v.a. darauf, dass möglichst Status-/Clan-/Kasten-/Einkommensgleich geheiratet wird. Neben dem Materiellen spielen auch Äußerlichkeiten – wie die Helle der Hautfarbe – nicht selten eine sehr wichtige Rolle. Ich bekam die Gelegenheit für zwei Tage bei einer indischen Hochzeit eingeladen zu sein und allen Ritualen beizuwohnen (meine helle Hautfarbe machte mich dort quasi zum erwünschten Ehrengast (2)). Generell zählen Hochzeiten zu den größten Feierlichkeiten in einem indischen Menschenleben und werden dementsprechend groß und lang zelebriert und treiben (insbesondere die Familie der zu verheiratenden Frau) nicht selten an die Grenzen des Ruins. Die bei dieser Hochzeit zu verheiratende Frau aus einer auf dem Land lebenden Jat-community hatte ihren Zukünftigen zweimal zusammen mit den Eltern getroffen – weiterer Kontakt war unerwünscht. Spannend und befremdlich zugleich waren auch die etlichen (streng ein­gehaltenen) Ri­tuale und Zeremonien – die al­le irgendwie mit dem Ge­ben und Neh­men von Geld ver­bunden waren. Das öffentliche Küssen hingegen ist in Indien verboten – selbst auf der eigenen Hochzeit. Während also die Frau bis auf wenige Auftritte den Haupttag der Hochzeit abgeschirmt im Zimmer verbrachte, feierten mehr als 1000 Gäste auf einem riesigen Gelände – bis der Bräutigam auf einer Kutsche gegen 22 Uhr mit seiner Familie in die Feststätte geritten kam. Danach schrumpfte die Gemeinschaft auf ca. 100 Familienangehörige, die gegen Null Uhr der hinduistischen Trauungszeremonie beiwohnen durften. Der Bräutigam saß davor und danach v.a. mit den männlichen Familienmitgliedern beider Familien zusammen, um Geld und Juwelen in diversen Ritualen entgegenzunehmen – inklusive Mitgift. Am Ende gegen 4 Uhr nachts fuhr das Brautpaar dann mit dem Auto in die Heimat des Ehemannes. Ein tränenreiches Abschiednehmen, denn damit verschwindet auch die Tochter aus dem Elternhaus zur Familie des Mannes. Zwar ist sie dort nicht zwangsweise zur Hausfrau und Mutter verdammt – zunehmend mehr Frauen bleiben auch nach ihrer Hochzeit erwerbstätig (oder sind schlichtweg aufgrund ihrer Armut gezwungen zu arbeiten), aber bleiben dennoch hierarchisch dem Mann und auch dessen Eltern untergeordnet.

Interessanterweise erfährt diese Tradition wenig hörbaren Widerstand von jungen Menschen – obwohl sie alle von der Liebesheirat träu­men, was auch in vielen Bolly­wood-Filmen kolpor­tiert wird. Einige Leute (eher jun­ge Bildungselite) berichten auch von einem gesellschaftlichen Wandel hin zu reinen Love-marriages. Andere erzählen, dass die Liebe dann mit der Zeit gewachsen ist, und dass sie dementsprechend eine Mischung aus love-marriage und arranged-marriage haben (3). Warum lassen sich eigentlich so viele darauf ein? Ist es der Wunsch nach Familie und Sicherheit? Die geringeren Möglichkeiten, jenseits familiärer Beobachtung vorher mit dem anderen Geschlecht Zeit zu verbringen und herum zu experimentieren? Oder die starke familiäre Bindung, verbunden mit finanziellen Abhängigkeiten, der man sich nicht zu widersetzen traut? Oder wird einfach auf das Schicksal und die Weisheit der familiären Entscheidung vertraut? Heißt das aber dann nicht auch, dass die jungen Leute ebenso implizit dem Identitätsdenken gemixt mit religiösen Schicksalsvorstellungen folgen? Oder rebellieren sie nicht (lautstark), weil sie es einfach nicht anders kennen? Und weil ein Ausbruch mit gesellschaftlicher Missachtung und Diskreditierung bestraft werden würde? Auch Scheidungen sind leider gesellschaftlich verpönt. Zwar sind diese prinzipiell legal, dennoch haftet danach – vor allem an der Frau und der dazugehörigen Familie – ein großer Makel. Demzufolge ist der familiäre Druck oftmals sehr groß, und viele nehmen lieber ihre Ehe als unglückliches Schicksal an, als sich zu trennen. Flucht aus dem tristen Liebesschicksal könnte dann entweder eine geheime Liebschaft sein (ich habe mehrfach vernommen, dass das sehr stark verbreitet ist, aber eben streng geheim) – oder eben die Erfüllung durch Arbeit und kollegiales Miteinander.

Aber vielleicht ist solch eine Kausalkette zwischen Arbeit und Familie auch nur ein Konstrukt meiner westlich geprägten Weltsicht? In jedem Falle ist sie weder monokausal noch pauschal zu ziehen – denn für die allermeisten Menschen in Indien ist der permanente Verkauf der Arbeitskraft schlichtweg notwendig, um sich und die Familie ernähren zu können.

Kapitalismus trifft Kaste

Zusammenfassend ist also das, was mir hier in Delhi ins Auge sticht, einerseits die stark ausgeprägte Bindung zur eigenen Familie und die Identifizierung mit einer bestimmten community oder Gesellschaftsschicht/Kaste. Und andererseits die Auswüchse eines kapitalistischen Systems ohne soziales Auffangnetz.

Ersteres führt allerdings auch zu Abgrenzung und Misstrauen gegenüber Inder_innen, die nicht zur Familie oder gleichen Berufsgruppe/ Gemeinschaft/ Kaste gehören. Egal ob arm oder reich. Wie oft ich gehört habe, dass ich keinem vertrauen soll, weil 70-90% der Inder böse/ schlecht/ hinterhältig seien…Stimmt aber nicht – so viel kann ich mit Sicherheit sagen! Derlei Misstrauen aber könnte ein tatsächlicher Grund sein, dass größere soziale Bewegungen schwer organisierbar sind.

Das stark ausgeprägte kapitalistische Wirtschaftssystem hingegen beeinflusst nicht nur den (Arbeits-)Alltag, sondern auch die formulierten Bedürfnisse – die abgesehen von der Liebesheirat ziemlich materialistisch sind, insbesondere bei der jungen Generation. Da ist es irgendwie extrem wichtig, welche Marke die Kleidung hat, dass das Handy ein Smartphone ist und dass man sich irgendwann mal einen Mercedes Benz leisten kann. Genährt wird die Sehnsucht nach dem materiellen Glücksgefühl wohl durch die allgegenwärtige Werbung (vorzugsweise mit weißen Models), riesige Shopping-Malls und einen Präsidenten, der zu den Apologeten des indischen Aufschwungs durch Wirtschaftswachstum gehört.

Vielleicht ist das, was ich hier wahrnehme aber gar nicht so ungewöhnlich und vielleicht ist es auch gar nicht so viel anders als bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht fällt es mir nur deshalb so auf, weil ich selbst zu Hause meine Zeit meist in einer kleinen Blase voller toleranter Idealist_innen verbringe… Anyway, es fällt mir hier auf. Und Rana Dasgupta bestärkt das, wenn er die aktuelle Delhi-Gesellschaft als materialistisch und egoistisch (außerhalb der Familie) beschreibt.

Aber stopp, das so stehenzulassen und mit meinen Eindrücken zu bestätigen, widerstrebt mir total. Und es stimmt so auch nicht. Denn die Diversität der Menschen ist überall auf der Welt so groß wie hierzulande, und ich habe auch ziemlich idealistische (bettelarme) Künstler_innen kennengelernt, für die Geld zwar ein tägliches Thema ist (aus der Notwendigkeit heraus), die aber dennoch ihr Lebensglück in der Zwischenmenschlichkeit suchen und große Idealist_innen sind. So bleibt am Ende also die Einsicht, dass die Gesellschaft in Indien sich von unserer strukturell zwar an einigen Punkten stark unterscheidet, und sie auch prägt, die Menschen als solche hingegen doch überall gleich und zugleich ganz unterschiedlich sind. Und wenn man ihnen mit offenem Herzen begegnet, dann sind sie ebenso offen herzlich.

Zugleich steht das, was die indische Gesellschaft meines Erachtens nach strukturell so prägt – die gruppenspezifische (traditionelle) Identität und der (moderne) Kapitalismus – an vielen Stellen auch konträr zueinander und trägt sicher maßgeblich zu Konflikten in Familien und Lebensplanung bei. Beispielsweise, wenn junge Frauen sich aus der traditionellen Abhängigkeit und Hierarchie zur Ehemannfamilie durch eigene Berufstätigkeit befreien wollen. Oder wenn die Verfolgung des kapitalistischen Traumes, dass jede_r reich werden könne, mit der Haltung kollidiert einen beruflichen Weg einzuschlagen, den schon die Ahnen beschritten haben. All diese Konflikte und noch viel mehr davon gibt es auch. Zugleich ist die Gesellschaft auch in stetiger Bewegung und Veränderung.

Leider stoße ich hier wieder an die Grenzen meines Tellerrandblickes. Nicht nur, weil ich zu kurz da war, um wirklich tiefgründig all die vielen Zusammenhänge zu verstehen und noch immer zu wenig Hintergrundwissen habe. Sondern auch, weil ich immer von meinem Teller aus auf das Außen blicke, ich eine ganz andere Sozialisation erfahren habe und dementsprechend das, was ich wahrnehme, immer eine Konstruktion der Wirklichkeit aus meiner Sicht bleibt. Eine objektivere Wirklichkeit darzustellen, ist (wenn nicht von vornherein als methodologisch unmöglich abgelehnt) hier nicht leistbar. Dennoch war dieser Artikel nicht umsonst (auch wenn eine grundlegende Unzufriedenheit mindestens bei mir bleibt). Denn durch ihn konnte ich all die verschiedenen Eindrücke mal sortieren, reflektieren, mit meiner Sozialisation in Beziehung setzen. Auch wenn sich dabei mehr Fragen als Antworten auftun, bringen sie mich weiter. Und dem Verständnis anderer Welten näher. Ich hoffe euch geht es auch ein wenig so. Egal ob Indien, Ghana oder Nicaragua: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben – nicht nur mit dem faszinierenden Außen, sondern auch mit sich selbst.

momo

(1) Rana Dasgupta (2014): „Capital“. Darin porträtiert er anhand zahlreicher Interviews die Menschen in Delhi quer durch alle Schichten im 21.Jahrhundert.

(2) Eine Form der „positiven Diskriminierung“, die mir hier begegnet ist und sicherlich auf das von den Briten implementierte Kastensystem zurückzuführen ist. Denn die Zuordnung dieser bemaß sich auch an der Helle der Hautfarbe.

(3) Ich denke auch, dass die weitestgehende Alternativlosigkeit zum besiegelten Eheleben einen großen Einfluss auf die positive (liebenswertes suchende) innere Einstellung gegenüber dem Partner hat und die Bereitschaft dafür die eigenen Grenzen weit zu dehnen. Demgegenüber bringt uns hierzulande die stärker gelebte Individualität und Autonomie viel mehr dazu solche Bünde in Frage zu stellen, wenn das Gefühl der Liebe schwindet.

Anarchismus zwischen den Stühlen

Errico Malatestas anarchistische Interventionen

Als „hochangesehener Querkopf der anarchistischen Bewegung“ wird Errico Malatesta im Klappentext des neuen, von Philippe Kellermann zusammengestellten, eingeleiteten und informativ kommentierten, Malatesta-Sammelbands„Anarchistische Interventionen“ bezeichnet. Die Bezeichnung trifft es recht gut, wie in diesem Buch, das repräsentative Artikel aus Malatestas Gesamtwerk von 1892 bis 1931 versammelt, deutlich wird.

Warum aber ein Querkopf? Generell wird Malatesta als von Bakunin beeinflusst und zunehmend dem anarchokommunistischen Spektrum nahestehend beschrieben. Ein Querkopf war er u.a. deshalb, weil er sich dennoch nie wirklich einer einzigen anarchistischen Richtung in die Arme warf, sondern sich eher immer zwischen vielen anarchistischen Stühlen bewegte. Er bezog sich auf Unterstützenswertes aus unterschiedlichen Traditionen, kritisierte aber ebenso unaufhörlich diese oder jene Szene, wenn ihm etwas zuwiderlief.

Ein gutes Beispiel ist hier die Frage der Organisation und des (Anarcho-)Syndikalismus. Für Malatesta waren zwei Dinge klar: der Anarchismus muss einerseits eine Massenbewegung und andererseits in der ArbeiterInnenklasse verankert sein. Er trat dafür ein, dass sich AnarchistInnen organisieren sollten und kritisierte anarchistische Tendenzen, die jeden Grad an Organisa­tion als autoritär und anarchismusfeindlich abtaten. Nun mag man bei solchen Vorlieben davon ausgehen, dass sich Malatesta vor allem in anarchosyndikalistischen oder plattformistisch-anarchokommunistischen Zusammenhängen wohl gefühlt hätte. Hat er auch. Dennoch trat er immer wieder als Kritiker beider Strömungen auf. Die (Anarcho-)SyndikalistInnen seiner Zeit kritisierte er dafür, dass sie sich selbst genügten, bei der Organisation und ihrem Engagement entlang gewerkschaftlicher Belangen (die für ihn potentiell reformistisch und nicht revolutionär waren) stehen blieben. Dies allein war ihm zu wenig und er forderte explizit anarchistische Organisation, die dann wiederum die Gewerkschaften beeinflussen sollten. „Klingt nach Plattformismus“(*), möchte man meinen. Doch dieser 1926 von russischen ExilanarchistInnen – unter ihnen Machno und Arschinoff – formulierte Organisationsentwurf, für den er durchaus gewisse Sympathien hatte, war ihm dann doch zu rigide und er befürchtete, wie viele andere AnarchistInnen seiner Zeit, eine „Bolschewisierung“ des Anarchismus.

Ein großer Verdienst Malatestas war seine Rolle als standhafter Kritiker der AnarchistInnen rund um Kropotkin, die sich während des Ersten Weltkriegs zu einer Pro-Kriegshaltung (auf Seiten der Entente) hinreißen ließen. Die beiden Texte „Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen“ (1914) und „Anarchisten als Regierungsbefürworter“ (1916) vermitteln einen guten Eindruck von diesem damals wütenden Grabenkampf in der anarchistischen Bewegung – auch wenn die Pro-Kriegsfraktion glücklicherweise eindeutig in der Minderheit war. Zum unvermeidbaren Zerwürfnis mit Kropotkin kam es dennoch. Eine schmerzliche Erfahrung für Malatesta.

Auch bezüglich der Gewaltfrage, die sich hieran anknüpft, lohnt es sich, bei Malatesta näher hinzusehen. Hier erscheint er zeitweise recht widersprüchlich. Einerseits wird man beim Lesen des Sammelbandes mit dem Gewaltkritiker Malatesta konfrontiert, der auf die schädlichen und antiemanzipatorischen Dynamiken von Gewaltanwendung hinweist, andererseits pochte er aber gleichzeitig beständig auf nichts weniger als den bewaffneten Aufstand der ArbeiterInnenklasse, auf eine Revolution, die auf ein militärisches Kräftemessen mit dem Staat hinausläuft. Dabei war er aber wiederum ein Gegner individueller Attentate und (terroristischer) Gewalttaten – der sog. „Propaganda der Tat“. Man sieht, der Mann lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken.

Die Tatsache, dass Malatesta eben jener „anarchistische Querkopf“ war, macht das Lesen dieses Sammelbandes so spannend, weil man ständig damit beschäftigt ist, seine eigenen Standpunkte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er setzt sich nicht einfach in ein gemachtes anarchistisches Nest, sondern wägt ab, prüft, reflektiert, stellt Fragen und gibt auch Antworten – die man dann selbst wiederum überdenken kann. Malatesta ist auch heute noch ein Anarchist, dessen Ideen nicht in die Mottenkiste, sondern wieder und immer wieder kritisch diskutiert gehören. „Anarchistische Interventionen“ ist eine ausgezeichnete Basis für diese Diskussion.

Sebastian Kalicha

Errico Malatesta: „Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften ( 1892 – 1931)“. Herausgegeben von Philippe Kellermann. Unrast Verlag, Münster 2014, 244 Seiten, 14,80 Euro. ISBN: 978-3-89771-921-7

(*) Plattformismus bezeichnet einen 1926 von russischen ExilanarchistInnen formulierten Organisationsentwurf. Er strebt gut durchorganisierte anarchistische Gruppen an, die auf einer gemeinsamen und verbindlichen politischen, anarchokommunistischen Basis aufbauen.

Wo es keine Dilettanten und Laien gibt…

Anarcho-Poetry“ is for everyone

Bei dem Titel des kleinen, mir hier vorliegenden Gedichtbandes – „Hoch lebe sie die Anarchie!“ von Ralf Burnicki mit Zeichnungen von Findus – ist mensch versucht zu denken „Reim dich oder ich fress dich“. In der Tat: Der Titel lässt Schlimmstes befürchten.

Aber diese Sorge kann den Leser_innen gleich wieder genommen werden. Die Dichtung Ralf Burnickis besteht nicht in vierzeiligen Versen, die sich am Ende reimen. Im Gegenteil, der Dichter bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen Prosa und Poesie. Man könnte die einzelnen Gedichte tatsächlich für Kurzgeschichten halten, wenn sie denn einen Plot hätten, also eine Geschichte erzählen würden.

Es ist letztlich schwer zu beurteilen, ob sie das tun oder nicht. Sie haben zwar meistens keinen Plot, aber durchaus einen roten – oder vielmehr: schwarz-roten – Faden. Was Burnicki erzählt, hat durchaus immer ein Leitmotiv, das aber ganz woanders enden kann als erwartet. Es sind tatsächlich die Wörter, die Begriffe, die seine Dichtung zusammenhalten. Und die sind dann doch von ganz anderer Qualität als der Titel: Da fallen Mittage von den Chefetagen wie Steine, ziehen Fragen ins Sperrgebiet und die Eintagswut stirbt in Nachtlokalen. Burnickis Sprachempfindsamkeit zeigt sich schlicht immer wieder in ungewöhnlichen Wortkombinationen, die alltagssprachlich keinen Sinn ergeben, deren Sinn die Leser_innen aber trotzdem sofort erfassen können: Der Nicht-Sinn ist in dem veränderten Kontext der Dichtung völlig logisch.

Damit ist der Inhalt des Gedichtsbandes recht abstrakt und dem Zeichner Findus fällt die nicht ganz einfache Aufgabe zu, diese abstrakten Inhalte real zu zeichnen. Das ist wohl kaum anders lösbar, als Findus es gemacht hat: Er hat sich einzelne Zeilen, einzelne Sinnzusammenhänge, aus den Gedichten genommen und sie illustriert – meist sehr flächig in schwarz und weiß, im Stile von Stencils etwa. Einige dieser Motive wird man sicherlich irgendwann an Haus- und Fabrikwänden wiederfinden.

Hintangestellt an das Gedichtbändchen ist der literaturtheoretische Beitrag „Allgemeine Kriterien einer anarchistischen Ästhetik am Beispiel von ‚Anarcho-Poetry’ und: Wozu überhaupt ‚Anarcho-Poetry’?“ Aber auch ohne diesen Bei­trag gelesen zu haben, lassen die Gedichte für sich be­reits eine Re­flexion zu. Denn letztlich: Jede Kunst versucht immer – sehen wir von dezidierter Propaganda, etwa aus dem rechtsextremen Spektrum ab – ohne gesellschaftliche Konventionen auszukommen oder über diese hinauszugelangen. In einem bestimmten Sinne sind Literatur, Gemälde, Fotografie immer „anarchistisch“. Theodor W. Adorno hat 1965 in seinem Beitrag „Engagement!“„autonome“ und „engagierte“ Kunst differenziert und der autonomen Kunst den Vorrang eingeräumt – auch in dem Sinne, dass diese politisch mehr bewirke. Ein Beispiel: Die Absurdität des kapitalistischen Gesellschaftssystems wird in Franz Kafkas „Der Process“ oder „Das Schloss“ deutlicher als in vielen Stücken Bertold Brechts. Und „Autonomie“ ist ein schöner literarischer Anspruch, wenn die Ästhetik anarchistisch sein soll.

In dem Sinne verstehe ich die „Anarcho-Poetry“ Burnickis durchaus ganz autonom als eine, die sich von künstlerischen, aber auch politischen Zwängen frei macht, sich aber spezifisch „Anarcho“ nennen kann, weil der Autor seine Wortspiele auf dem Wissenshintergrund des anarchistisch engagierten Menschen macht: Barrikaden, schwarze Fahnen, Demonstrationen und Revolutionen kann können künstlerisch aneinander gereiht werden, ohne in plumpe Parolen zu verfallen. „Hoch lebe sie, die Anarchie!“ ist dann ein augenzwinkender Titel.

Ralf Burnicki sieht das dann aber doch anders, wie der genannte Schlussaufsatz zeigt. Im Sinne des politischen Anarchismus fordert er gemeinsam mit Michael Halfbrodt einen Zweck-Mittel-Zusammenhang, eine politische Inhaltlichkeit („Entlarvung herrschaftlicher Bedingungen“, „Lob der Herrschaftslosigkeit“) und die Einbettung in ein anarchistisches Umfeld. Ganz der Idee verpflichtet, ist dies aber natürlich kein Regelkatalog, sondern „Anarcho-Poetry“ kann immer vorschlagsweise so sein. Am sympathischsten ist in diesem Zusammenhang die soziale Komponente, die für die anarchistisch geprägte DIY-Kultur immer auch schon in anderen Bereichen (Punk und HipHop, Fanzines) relevant war: Literat_innen sind keine Expert_innen für Literatur, die mehr oder weniger können als andere, sondern jede_r kann „Anarcho-Poet_in“ sein.

Übrigens kann dann auch jede_r Literaturkritiker_in oder -rezensent_in sein und braucht dafür kein Germanistik-Studium und muss weder Adorno, noch Brecht oder Kafka gelesen haben. Mensch kann das einfach gut finden. Interpretieren mussten wir ja alle schon genug in der Schule, und ob das richtig oder falsch war, war in gewisser Weise immer eine willkürliche Entscheidung der Lehrer_innen. Abschließend daher die durchaus anarchistische Empfehlung: Einfach mal lesen – und anschauen! – und genießen.

Teodor Webin

Ralf Burnicki & Findus: „Hoch lebe sie die Anarchie! Anarcho-Poetry.“ Verlag Edition AV, Lich 2014. ISBN 978-3868411027, 45 Seiten, 9,80 €.

Die Redaktion … sucht

… Balance zwischen der inneren und äußeren Zeit

Es ist ein ewiges Dilemma: Bin ich mit mir allein, fühl ich mich ganz fix unendlich einsam. Bin ich hingegen unter Menschen, fehlt es mir schnell an innerer Ruhe für mich und meinen Kram. Mit, in und durch Gemeinschaft empfinde ich Freude, sie ist für mich Lebenselixier und Quelle des Glücks. Zeitgleich ist die (reflexive) Zeit mit mir selbst unendlich wichtig, um zu verstehen was ich warum fühle und brauche, welcher Weg für mich richtig ist. Ohne Selbst kein Kompass – ohne die Anderen keine Landschaft.

Meistens vermiss ich gerade das, was ich nicht habe. Meistens fühle ich (abwechselnd) ein Ungleichgewicht zwischen der Zeit, die mir für mich selbst bleibt und der Zeit, die ich mit Anderen bin. Am allermeisten aber schimpfe ich auf die fehlende Zeit an sich. Suche sie dann in meinem Kalender – um sie im Anschluss gleich wieder zu verplanen.

Denn es gibt noch eine dritte Kategorie an Zeit, die meine Zeit frisst: die Arbeitszeit. Intuitiv schlage ich sie wohl der Selbst-Zeit zu, aber da gehört sie im Grunde gar nicht hin. Denn auch wenn ich mich als Schreibtischtäterin im homeoffice schnell einsam fühle, komme ich leider kaum in den Genuss von Selbstreflexion und innerer Ruhe.

Zusammenfassend könnte man also sagen, dass ich Zeit suche, die mir ermöglicht eine Balance zwischen meinem Innen und Außen herzustellen? Ja, das stimmt. Und ich glaube, ich bin damit nicht allein auf dieser Welt. Das aber ist kein Grund zur Verzweiflung, denn das Erbauliche an diesem Problem ist, dass bis zum Tode die Zeit in berechenbaren Intervallen immer wieder zur Verfügung steht. Sie also nicht verschwunden ist. Jedes Jahr kaufe ich einen neuen leeren Kalender. Jedes Jahr wird er von mir selbst gefüllt. Ich hab es also in der Hand. Ich kann sie also finden, die Balance zwischen innerer und äußerer Zeit. Und du kannst das auch.

momo

 

…Hoffnung!

Wer braucht sie nicht? Schon Kant meinte, der Schlaf, das Lachen und die Hoffnung helfen, das Leben erträglicher zu machen. Zugegeben, würde er heute noch leben, müsste er noch ein paar Dinge wie Bier, Facebook und Katzenbilder auf seine Liste setzen. Nur worauf soll man heute noch hoffen? An Gott, Nachleben und Paradies glaub ich auch eh nicht. Und selbst wenn es stimmte, wäre es doch ziemlich langweilig oder anstrengend. Eine Ewigkeit im Garten Eden? Habe eigentlich nur noch zwei Seasons von Battlestar Galactica, die ich schauen wollte. Und Dutzende von Jungfrauen finde ich dann auch irgendwie anstrengend. Fühle mich da auch, um ehrlich zu sein, nicht potent genug dafür. Wie machen diese Märtyrer das nur? Ich würde mir da ziemlich den Kopf drüber zerbrechen. Lasse ich mal lieber die Finger von.

Hoffnung im Diesseits zu finden ist aber auch irgendwie knifflig. Unterm Kühlschrank und zwischen den Sofakissen hab ich schon nachgeschaut. Und die Weltrevolution wird auch nicht mehr viel wahrscheinlicher. Oder dass Hollywood-Filme mal gut werden. Liebe klingt eigentlich ganz gut! Die altmodische, ohne Peitschen, Fesseln und Buttplugs und so (muss übrigens noch 50 Shades of Grey sehen). Ist aber auch ein wenig unfair. Ich würde auch nicht wollen, dass jemand von mir sein komplettes Seelenheil erwartet. Aber vielleicht geh ich da ja auch ganz falsch ran. Hoffnung darf man nicht nur suchen und erwarten, sondern muss sie selber in die Welt bringen.

Finde das ist eine gute Idee!! Fange ich aber erst morgen damit an. Wollte mir heute noch ein paar hundert Bilder auf LolCats.com anschauen.

alphard

 

…Hausschuhe und Glück

Suchen, suchen. Was suche ich? Ganz klar: meine Hausschuhe. Fast täglich. Sie liegen immer woanders. Manchmal suche ich auch das Glück. Nur das kleine versteht sich. Nach dem Sinn des Lebens suche ich noch nicht. Das kommt sicher noch. Zurzeit habe ich einfach zu viel zu tun dafür. Ab und zu suche ich schöne Orte. Orte, die ich noch nicht kenne, die geheimnisvoll sind, unberührt oder zumindest ziemlich lange nicht mehr berührt wurden. Alte leerstehende Häuser, verlassene Fabrikgelände, stillgelegte Bahnhöfe. Vielleicht suche ich dort auch manchmal nach dem Sinn. Vielleicht nicht gleich des ganzen Lebens.

mv

 

… mein geklautes Fahrrad

Ich teile wirklich gerne und versuche auch, mich nicht zu sehr an materiellen Besitz zu binden. Aber mein Fahrrad ist mein Fahrrad ist mein Fahrrad. Denn wir teilen Geschichte. Meine mittlerweile verstorbene Oma hatte damit in den 1960igern auf dem Dorf einen fast tragischen Unfall, bevor zwei weitere Generationen mit ihm über Leipzigs Pflaster rollten. Meine Mutti noch zu DDR-Zeiten und ich seit über 10 Jahren. Aber nun ist es weg. Gestohlen, wahrscheinlich im Suff und dann lieblos irgendwo abgestellt.

Schon einmal hätte ich meinen Diamantengel fast verloren. Damals hatten besoffene Hoolschränke den grünen Liebling in den Kanal geworfen. Eine gute Woche lang klagte ich überall mein Leid, bis an einem feuchttraurigen Abend die Idee erwuchs, meinen zweirädrigen besten Freund wieder raus zu angeln. Nach Ortungsversuchen mit Lautsprechermagneten in 5 Meter Tiefe (missglückt: waren nur Kronkorken dran), besorgte ich Schlauchboot, Eisenhaken, Seil und Freunde. Und wer hätte es gedacht … eine Stunde später hatten wir den kleinen Schatz tatsächlich am Haken.

Nun sind schon einige Wochen ohne ein Lebenszeichen vergangen. Aber ich suche weiter. Denn du, mein geliebtes grünes Diamant-Damenrad, hast es einfach nicht verdient, durch besoffener Diebe Hände deiner Geschichte und deines Fahrers beraubt, achtlos in einem fremden Hinterhof zu Tode zu rosten.

wanst