Über den Gebrauch „soziologischer“ Erklärungen im militanten Milieu
[Der folgende Artikel erschien zuerst auf der französischen Webseite www.mondialisme.org (1), die als gemeinsame Plattform von verschiedenen libertären Zeitschriften genutzt wird. Hoffentlich ist es auch für unsere Leser_innen interessant, welche Debatten unter französischen Anarchist_innen nach den Anschlägen in Paris geführt werden. Zu bemerken ist hier, dass sich der französische Kontext in einigen wichtigen Punkten vom deutschen unterscheidet. So ist die hier vertretene Position sicher nicht repräsentativ für die libertäre Bewegung in Frankreich. Das betrifft vor allem die Kritik an linkem Antisemitismus und Antizionismus. Wobei mondialisme.org nichts mit dem antideutschen Irrationalismus zu tun haben, und sich auch nicht als freischaffende Geostrategen an irgendwelche Staatsmächte ranschmeißen – das hier sind eben working-class-Anarchist_innen, keine übereifrigen Antifa-Kids oder frustrierte ehemalige K-Grüppler…
Manche Seitenhiebe auf „Globalisierungskritik“, „post-koloniale Theorien“ usw. mögen ein wenig platt wirken oder müssten jedenfalls weiter erläutert werden – sie beziehen sich aber auf ältere Texte, die auf mondialisme.org erschienen sind, wo diese Themen ausführlicher behandelt wurden. Die (relativ umfänglichen) Original-Fußnoten haben wir entfernt und durch eigene ersetzt – wo sich Zusatzinformationen ohne Probleme in den Text einfügen ließen, haben wir das getan (erkennbar an den eckigen Klammern).
Eine letzte Anmerkung vorab noch zum hier benutzten Begriff des „religiösen Faschismus“, da dieser leicht allerlei Missverständnisse und Kurzschlüsse hervorrufen kann. Dies ist auch dem Autor selbst bewusst, der in einer Fußnote dazu Folgendes erklärt:
„Der Ausdruck ‚religiöser Totalitarismus’ ist unbefriedigend, und ich nutze ihn nur in Ermangelung eines ausgefeilteren Konzepts. Der Begriff des ‚religiösen Faschismus’ ist ebenso wenig adäquat – allem voran deswegen, weil er zuerst von den neokonservativen Vorkämpfern der Theorie eines ‚clash of civilizations’ in der Debatte verwendet wurde. Ebenso, weil auch jene Linken, die diesen Begriff benutzen (etwa die iranische und irakische kommunistische Arbeiterpartei, oder neuerdings einige Anarchist_innen), ihn einerseits niemals präzise definiert haben und andererseits davon auszugehen scheinen, dass die islamische Religion weitaus gefährlicher als andere Religionen sei – wobei alle Religionen gleichermaßen abzulehnen sind.“
Auch hier wird der Begriff des religiösen „Faschismus“ bzw. „Totalitarismus“ vor allem polemisch benutzt – es handelt sich natürlich auch um einen polemischen Text. Als solcher taugt er hoffentlich als Denkanstoß und vielleicht zur Eröffnung weiterführender Debatten. – die FA!-Red.]
In einer Kolumne, die kürzlich in der Zeitung Le Monde erschien, verglich [der Politikwissenschaftler] Olivier Roy die Revolten der extremen Linken, die in den 70er Jahren den bewaffneten Kampf praktizierten, mit den europäischen Djihadisten des 21. Jahrhunderts. Wenn dieser Vergleich rein pädagogische Zwecke hat, kann man ihm sicher zustimmen … unter der Bedingung, dass zugleich betont wird, wo die Grenzen dieses Vergleichs liegen.
Angesichts der derzeitigen anti-muslimischen Paranoia kann es nützlich sein, den Europäer_innen in Erinnerung zu rufen, dass auch sie selbst, in gewissen Momenten der Geschichte, sich für hochgespannte politische Anliegen begeistern konnten, auch in der Weise, dass sie sich dafür bewaffneten und bereit waren, ihr Leben für ihr Ideal zu opfern. Dabei muss aber bemerkt werden, dass weder die „antifaschistischen“ Ideale der 30er Jahre, beim Kampf gegen Franco, noch die „anti-imperialistischen“ oder „anti-kapitalistischen“ Ideale der 1970er den Tod oder die Zerstörung glorifizierten. Stattdessen
– waren sie mit marxistischen Ideologien verbunden, die zumindest eine einigermaßen rationale Grundlage hatten und in jedem Fall Gegenstand unzähliger Debatten waren, die in voller Freiheit geführt wurden;
– sie forderten weder den Menschenhandel mit Frauen noch die Versklavung ihrer Gegner_innen, weder die Tötung von Kindern noch die Ausrottung dieser oder jener Ethnie als Mittel, der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen;
– sie töteten nicht unterschiedslos alle Zivilist_innen, die ihnen in die Hände fielen;
– sie nahmen die Soldaten des gegnerischen Lagers oder (vermeintliche) Repräsentanten der kapitalistischen Klasse zum Ziel;
– und last but not least bezogen sich die antikapitalistischen Bewegungen auf egalitäre Ideen der Gleichheit zwischen den Menschen, den Völkern, zwischen Männern und Frauen, im Gegensatz zu den faschistischen oder autoritären Bewegungen des letzten Jahrhunderts oder zu den heutigen Islamisten.
Diese Punkte bezeichnen meines Erachtens die fundamentalen Unterschiede und zeigen, wo die Grenzen des von Roy gezogenen Vergleichs liegen. Dennoch finden sich unter jenen Linken und Radikalen, die sich vom Neostalinismus oder der gängigen „Globalisierungskritik“ haben verdummen lassen, auch Leute, die bereit sind, sich mit den heutigen Djihadisten zu „identifizieren“ oder deren Taten verständnisvoll gegenüberstehen. Als Beispiel zitiere ich im Folgenden zwei bezeichnende Stellen aus einer Korrespondenz, die ich mit einer Sympathisantin der radikalen Linken führte. Zu Beginn unserer Diskussion schrieb diese mir: „Wenn diese Frau als Tochter einer armen ‚migrantischen‘ Familie aufgewachsen wäre, isoliert in einem der Banlieues von Paris, stigmatisiert und diskriminiert von der französischen Republik, die ihre Herkunft und ihre Existenz nicht wahrnimmt, von den Männern unterdrückt… dann wäre sie wahrscheinlich auch zur Terroristin geworden.“
Amédy Coulibaly, der an den Morden in dem koscheren Supermarkt in Vincennes beteiligt war, arbeitete für einen amerikanischen multinationalen Konzern [für Coca Cola – d. Red.], war weder arbeitslos noch besonders arm, sondern verdiente ungefähr 2000 bis 2200 Euro monatlich, während von seinen neun Schwestern – Frauen und Migrantinnen, also zweifach diskriminiert – keine einen ähnlichen sozialen Aufstieg schaffte oder sich zur „Djihadistin“ entwickelte.
Erstaunlicherweise fragt sich offenbar niemand , warum etwa die Nachkommen der aus Afrika in die Vereinigten Staaten verschleppten Sklav_innen nicht zu „Terroristen“ geworden sind, sondern stattdessen alle möglichen anderen Mittel ergriffen haben, um gegen die weiße/kapitalistische Unterdrückung zu kämpfen – von der bewaffneten Selbstverteidigung, der Gründung eigener Organisationen und Gewerkschaften bis hin zum gewaltfreien Widerstand. Es ist also offensichtlich, dass es keinen Automatismus gibt, der von der unterdrückten Lage etwa der Sklav_innen und ihrer Nachkommen unvermeidlich zum „Terrorismus“ führt – was die eiligen Soziolog_innen freilich nicht weiter irritiert.
[…] Es ließe sich hinzufügen, dass die soziale Lage derer, die sich selbst als Muslime verstehen, vielfältiger ist, als man glauben könnte. Einer Untersuchung der CEVIPOF (2) zufolge, die im Jahr 2003 durchgeführt wurde, gehören 30% den sog. „intermediären Berufen“ an (Vorarbeiter, Grundschullehrer_innen, Krankenpfleger_innen, Sozialarbeiter_innen usw.), arbeiten im Handel, in handwerklichen Berufen oder der höheren Verwaltung. Diese Angaben widersprechen den Vereinfachungen derer, die die von Merah, Nemmouche, Coulibaly und den Kouachi-Brüdern begangenen Taten mehr oder weniger zu entschuldigen oder zu begründen versuchen, indem sie den Großteil der „Muslime“ als Opfer unerträglicher sozialer und ökonomischer Diskriminierungen darstellen, durch welche sie von der kapitalistischen Gesellschaft geradezu in die Arme der Djihadisten getrieben würden. Auch jene 66% (von denen, die nicht arbeitlos sind), die Arbeiter_innen und Angestellte sind, üben sich nicht täglich in der Handhabung von Kalashnikovs, bevor sie zur Arbeit gehen. Die „Muslime“ (im kulturellen oder religiösen Sinne) sind vollkommen in der Lage zu reflektieren und politische Entscheidungen zu treffen.
Als ich meine Gesprächspartnerin darauf aufmerksam machte, dass sich solche „Opfer des Kapitalismus und des Staats“ nicht nur unter Frauen „ausländischer“ oder migrantischer Herkunft finden ließen, sondern dass es diese auch haufenweise im „eingeborenen“ Proletariat gäbe – bei den italienischen Faschisten, den deutschen Nazis ebenso wie bei den ostdeutschen Neonazis von heute oder der Wählerschaft der Front National – erhielt ich eine Antwort, die gleichermaßen überraschend war, heutzutage aber ziemlich gängig ist: „Ich denke, man kann beide nicht vergleichen – Terroristen, die eine migrantische Herkunft haben und deswegen seit ihrer Geburt diskriminiert wurden, und Leute, die sich vielleicht zu Faschisten entwickeln, weil sie durch die Krise deklassiert worden sind. Der Ausgangspunkt ist einfach nicht vergleichbar. Du weißt genau, dass der soziale Status von migrantischen und ‚einheimischen‘ Arbeiter_innen nie der gleiche war, seit Entstehung des französischen Nationalstaats und seit der Kolonisierung. Diese ‚armen weißen Faschos‘ waren niemals DIE ANDEREN in ihrem eigenen Land, nicht unbedingt, was ihre wirtschaftliche, aber jedenfalls, was ihre soziale Lage angeht.“
DIE ANDEREN, das große Wort ist gesagt. Dieses Wort, das seit Jahrzehnten Verwirrung stiftet – meist zum Nachteil antirassistischer Bemühungen. Vor allem, wenn es eine selbstgenügsame Ideologie der Sorte „Schau, wie offen ich den Fremden gegenüberstehe!“ unterstützt, wie sie bei Salon-Antirassist_innen weit verbreitet ist, den Stadtteil-Vereinen, die von der Politik mit Hinblick auf die nächsten Wahlen gesponsert werden, besserwisserischen Politiker_innen usw..
Das mag im Rahmen einer therapeutischen Behandlung nützlich sein, oder in einer psychologischen Selbsthilfegruppe. Aber es lässt sich nur schwer in politische Begriffe übersetzen. Wenn man dies versucht, landet man nur bei einem kommunalen oder staatlichen Multikulturalismus, der bekanntlich zur Bildung von allerlei Gemeinschaften führt, die sich jede für sich gegen „die Anderen“ abschotten, aber zugleich eine Rhetorik aufrecht erhalten, die zwar mit ihrer Praxis wenig zu tun hat, aber eben nötig ist, damit weiter Subventionen fließen – zur Förderung des „Zusammenlebens“.
Denselben Katalog an soziologischen Erklärungsmustern – „Elend und sozialer Abstieg, Ghettoisierung, struktureller Rassismus, kulturelle Unterdrückung, individuelle und kollektive Stigmatisierung und Demütigung“ usw. – findet man in einem Artikel von Julien Salingue (3), einem Aktivisten der NPA [Nouveau Parti anticapitaliste, eine trotzkistische Partei – Anm. d.Red].
Unser Aktivist fährt folgendermaßen fort: „Die Faktoren, die dazu führten, dass die Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly sich radikalisierten, sind nicht nur in Frankreichs Außenpolitik zu suchen, sondern ebenso (und vor allem) in seiner Innenpolitik. Man könnte sich für einmal mit der ‚elenden Kindheit der Kouachi-Brüder‘ befassen oder – nicht ohne Hintergedanken – erwähnen, dass der beste Freund von Coulibaly 2000 bei einem Raubüberfall von einem Wachmann erschossen wurde. Oder dass derselbe Coulibaly sich 2010 dadurch bemerkbar machte, dass er die Haftbedingungen im Gefängnis Fleury-Mérogis kritisierte. In anderen Worten: Man könnte behaupten, ohne etwas entschuldigen zu wollen, dass es sich bei diesen Anschlägen um sehr französische Anschläge handelt – einen (wenn auch schrecklich verzerrten) Ausdruck eines gewalttätigen Ressentiments gegen ein Gesellschaftsmodell, das nur eine Maschine zur Produktion von Stigmatisierungen und Ungleichheiten ist.“
Es ist bezeichnend, dass Julien Salingue hier die Worte „schrecklich verzerrt“ [im Original. „horriblement déformée“] verwendet. Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der von Trotzkisten immer benutzt wird, um die Diktaturen des real nicht-existierenden Sozialismus´ zu bezeichnen. Für sie sind diese totalitären, der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter_innen dienenden Systeme letztlich „degenerierte Arbeiterstaaten“, die nur irgendwie „bürokratisch deformiert“ wurden. In irgendeiner Weise bleibt darin also etwas Positives erhalten – sie sind ein entfernter, „verzerrter“ Nachhall der Oktoberrevolution. Aber so wie es absolut nichts Positives, nichts „Arbeiterhaftes“, nichts Sozialistisches an diesen stalinistischen Staaten gab, gibt es ebenso nichts Positives an dem genannten „gewalttätigen Ressentiment“ […] Dieses ist, wenn es ein reines Ressentiment bleibt, ebenso die Grundlage aller Faschismen und Diktaturen.
Die Zitate zeigen, wie verheerend sich post-koloniale und anti-rassistischen Theorien, die sich nur auf „rein menschliche“ Anteilnahme stützen und von jeder Klassenfrage abgelöst sind, bei linken Aktivist_innen – vor allem aus dem intellektuellen Mittelschichts-Milieu – auswirken können.
Statt die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Formen von Faschismus aufzuzeigen (hier insbesondere religiös begründete „Faschismen“ oder „Totalitarismen“), bringen diese reaktionären Theorien bestimmte linksradikale, auch libertäre Aktivist_innen dazu, sich „soziologische“ Erklärungen zurechtzulegen, die sie ausschließlich für „Migranten“ (deren Familien mitunter schon seit drei oder vier Generationen in Frankreich leben) vorbehalten, von denen sie aber „franko-französische“ Proletarier ausschließen, die etwa die Front National wählen oder noch klarere Sympathien für den Faschismus hegen.
Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass der Faschismus sich nicht nur in Europa verbreitet hat. Auch die nationalen Bewegungen des „globalen Südens“ – von Indien, über Ägypten und Palästina bis hin zum Irak – waren vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus fasziniert. Dies beschränkte sich nicht nur darauf, taktische Bündnisse mit dem Dritten Reich abzuschließen, um die eigene nationale Unabhängigkeit voranzubringen.
Es ist sicher schwierig, den heutigen internationalen, inner- und außereuropäischen Djidahismus mit den Faschisten und Nazis der 30er Jahre zu vergleichen. Aber diese Formen von Faschismus – oder vielleicht besser: diese verschiedenen totalitären Ideologien – lassen sich vergleichen, wozu es freilich noch längerer Studien und Analysen bedarf (solche wurden bislang leider nur von konservativen Historikern im angelsächsischen Sprachraum durchgeführt, die der Theorie vom „Kampf der Kulturen“ folgen).
Dass die bloße Möglichkeit eines solchen Vergleichs von meiner Gesprächspartnerin so hartnäckig bestritten wurde, zeigt einerseits, welch unguten Einfluss „post-koloniale“ Theorien auf die radikale Linke haben, und andererseits, wie schrecklich diese Linke den heutigen global verbreiteten Antisemitismus unterschätzt. Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Diskriminierungen, denen Menschen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft in Europa ausgesetzt sind, und der Handlungsweise z.B. von Mohamed Merah, der eine jüdische Schule betrat und kaltblütig drei jüdische Kinder tötete; oder von Amédy Coulibaly, der die Kund_innen eines koscheren Supermarkts erschoss; oder von Mehdi Nemmouche, der Besucher_innen des jüdischen Museums in Brüssel ermordete.
Jene Linken und Anarchist_innen, die „soziologische“ Erklärungen bemühen, um diese Morde zu erklären, die in den letzten Jahren an jüdischen Menschen in Europa begangen wurden, gehen damit völlig in die Irre – man kann den heutigen Antisemitismus in Frankreich und anderswo nicht mit abstrakten, zeitlosen Erörterungen über den Kolonialismus oder den Rassismus erklären. Vor allem nicht in einem Staat, der [unter dem Vichy-Regime – Anm. d. Red.] die Vernichtung von 70.000 Jüdinnen und Juden zuließ und deren Kinder in Internierungslager der französischen Polizei verfrachtete.
Es ist zudem bezeichnend, dass Julien Salingue einen ganzen Absatz in seinem Text darauf verwendet, die sog. „Islamophobie“ (10) anzuprangern, und zugleich die „Morde von Vincennes“ nur in einen Satz erwähnt. Als hätten diese Morde nicht in einem jüdischen Supermarkt stattgefunden, sondern eben nur irgendwo „in Vincennes“, einem Ort ohne weitere besondere Eigenschaften – und als ob er nicht in der Lage wäre, sich mit dem Antisemitismus ebenso auseinanderzusetzen, wie mit der heute herrschenden anti-muslimischen Paranoia! Diese Ignoranz ist in der radikalen Linken und bei „anti-zionistischen“ Anarchist_innen weit verbreitet. So ist auch nicht besonders überraschend, dass Julien Salingue den djihadistischen Antisemitismus nicht zur Kenntnis nehmen will, ebenso wenig wie die religiösen und politischen Wurzeln, die dieser in der arabisch-muslimischen Welt hat.
In seinem Weltbild und in dem von vielen der heutigen postmodern und akademisch geprägten Linken, stellt sich die „Islamophobie“ als unabtrennbarer Bestandteil der kapitalistischen, westlichen, neo-kolonialen Weltordnung dar, wogegen der Antisemitismus nur ein überholtes und letztlich zweitrangiges Vorurteil sei – ein „scheußliches Gift“, wie Salingue sagt, das aber sich aber fast schon verflüchtigt hat und nur noch von Israel, diesem „Brückenkopf des US-Imperialismus“ in manipulativer Absicht ausgenutzt wird. Ignoriert wird, dass auch der Antisemitismus eine mindestens ebenso „strukturelle“ Bedeutung hatte und immer noch hat, sowohl für die kapitalistischen westlichen Gesellschaften als auch die (laut Eigenbezeichnung) „sozialistischen“ Staaten des Ostblocks – und darüber hinaus auch in der Linken seit anderthalb Jahrhunderten gepflegt wurde und wird (11). Die Juden „auszumerzen“ war ein alter Wunschtraum nicht nur des christlichen Abendlands. Dieser wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der französischen und deutschen Rechten wieder aufgegriffen, von den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, und schließlich, Anfang der 1930er Jahre, auch von bestimmten islamisch geprägten nationalen Befreiungsbewegungen übernommen. Dass es wichtige Unterschiede zwischen diesen reaktionären/totalitären Bewegungen und ihren jeweiligen Ideologien gibt, darf uns freilich nicht blind machen für die offenkundigen Ähnlichkeiten. Die Vertreter_innen des politischen Islams – mindestens in seinen nationalistischen oder djihadistischen Ausprägungen –, welche Attentate auf Jüdinnen und Juden verüben, setzen eifrig fort, was der europäische Faschismus begonnen hat. Sie sind keine „Opfer von Staat und Kapital“, jedenfalls nicht mehr, als irgendein beliebiger Faschist proletarischer Herkunft es ist, welcher – als Anhänger der Chrysi Avgi, der Casa Pound oder der Front National (4) – seine Ideen in die Tat umsetzt, indem er migrantische Arbeiter_innen oder linke Aktivist_innen ermordet.
Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn europäische Faschisten zum Beispiel Arbeiter_innen arabischer, kabylischer, afrikanischer oder pakistanischer Herkunft töten, würden linke Aktivist_innen nicht auf die Idee kommen, soziologische Erklärungen zu bemühen, um „Verständnis“ für solche Morde zu fördern. Ich sehe keinen Grund, solche politischen Morde, seien sie antisemitisch oder nicht, mit zweierlei Maß zu messen, nur weil sie in einem Fall von Menschen begangen wurden, deren Eltern oder Großeltern aus dem „globalen Süden“ stammten. Ein „Faschist“ oder ein Vorkämpfer des religiösen Totalitarismus bleibt ein politischer Gegner, egal, was seine Herkunft ist oder welchen Diskriminierungen er ausgesetzt war.
Y.C., Ni patrie ni frontières, 25. 01. 2015