Schlagwort-Archive: Nachbarn

Cuba: Soziale Alternative oder Diktatur?

Die Meinungen zu Cuba könnten kaum widersprüchlicher sein: Wäh­rend „orthodoxe Marxisten“ das kleine mittelamerikanische Land als sozialistische Alternative hochleben lassen, wird in „libe­ralen“ Kreisen Cuba oftmals auf Diktatur reduziert und ohne nähere Beschäftigung leichtfertig abgetan. Dies sind freilich nur die Pole eines Spektrums, in welchem es kaum möglich ist, an Informationen zu gelangen, die nicht durch die Massenmedien anti-cubanisch oder durch Gruppen, wie bspw. „Cuba Si“ pro-cubanisch eingefärbt sind. Die ca. 2 Mio. Exil-Cubaner in Miami tragen dabei ebenso zur Polarisierung bei wie die Informationspolitik der cubanischen Re­­gie­r­ung. Es gibt kaum ein Thema, an dem Schwarz-Weiß-Malerei und verkürzte Darstellungen so offensichtlich werden wie in der Berichterstattung über die kleine Insel. Um die daraus resultierende, meist schnelle und einseitige Urteilsbildung über die Verhältnisse dort selbst hinterfragen zu können, soll es an dieser Stelle vor allem um die Lebensrealitäten der Cubaner/innen gehen und die Frage, wie der Alltag wirkt. Denn so, wie sich ein einseitiges politisch-polarisierendes Bild nicht mit der erlebten Alltäglichkeit deckt, so gibt es auch keine einfachen Lösungen für die Probleme jenes Landes, dem bald ein umfassender Umbruch bevorsteht.

Lebensalltag

Der Großteil Cubaner/innen lebt in einfachen Verhältnissen auf der Insel. Selbst die vielen alten und zerfallenen Häuser bieten ein festes Dach über dem Kopf und seit der Ernährungskrise in den 90ern gibt es auch wieder ausreichende bzw. ausgewogene Ernährungsmöglichkei­ten für alle. Die nötigen finanziellen Mittel für das Überleben erarbeiten die Menschen hauptsächlich in den zahlreichen staatl­i­chen Betrieben. Dort gibt es wenig Produktionsdruck – wie er hier durch Angst vor Arbeitsplatzverlust geschürt wird – und die Arbeitsbedingungen sind am Menschen orientiert: feste Arbeitsverhält­nisse, ein Acht-Stunden-Tag, umfangrei­che Ausbildung und Weiterbildungen, Mutterschutz, Krankenversorgung und Sozialleistungen sind auch in Zeiten ohne Produktion selbstverständlich. Um effekti­ves Arbeiten zu fördern und den Produk­tions­­druck zu erhöhen, haben die Gewerk­schaf­ten – ähnlich wie der FDGB (1) in der DDR – zudem Belohnungssysteme eingerichtet, wie z.B. kollektiv gezahlte Extragelder bei Produktionssteigerung und die ‚besten Mitarbeiter des Jahres‘, die bspw. einen Aufenthalt mit der Familie im Luxushotel bekommen. Die durchschnitt­lich verdienten 300-600 Peso monatlich – die im übrigen relativ gleich auch bei unterschiedlichen Tätigkeiten und Qualifi­ka­­tio­nen sind, denn ein Arzt verdient kaum mehr als ein Gießer – reichen jedoch gerade mal für die nötigsten bzw. grundle­gen­den Nahrungsmittel und Waren, die auch vom Staat subventioniert werden. Dies ermöglicht zwar keinen Luxus, verhindert aber dennoch eine Mangeler­näh­rung, die besonders bei Kindern in vergleichbaren lateinamerikanischen Ländern keine Seltenheit sind. Generell haben die Cubanerinnen und Cubaner gesundheitlich kaum zu klagen, denn ihr Gesundheitssystem zählt zu den weltweit besten. Es gibt eine hohe Dichte gut ausgebildeter Ärzte, die die Menschen kostenfrei versorgen. Neben diesen sog. ‚Familienärzten‘, die selbst in den entle­gens­ten Winkeln Cubas vertreten sind, gibt es auf regionaler Ebene zahlreiche Polikliniken und einige Spezialkliniken für kompliziertere Operationen. Der breite Zugang der Bevölkerung zu den Ge­sund­heits­­­­­ein­rich­tun­gen zeigt seine Erfolge: die Kindersterblichkeit und die Lebenserwar­tung ist vergleichbar mit denen der führenden Industrie­länder. Beim Bil­­dungs­­­­­­sys­tem zählt Cuba eben­­so zu den weltwei­ten Vor­rei­tern. Es gibt de facto keine Analpha­be­ten, die durch­schnitt­­liche Klassen­stärke in den Schulen liegt bei 12, die Lehr­er/innen sind gut aus­ge­bildet und das Ge­samt­­schulsys­tem för­dert das Bildungsniveau. Die Schulbil­dung ist ebenso kostenlos wie die dazuge­hö­rigen Lehrmittel, Schulklei­dung, Nahrung und Transport.

Was jedoch im sozialen Bereich so fortschrittlich erscheint, ist keineswegs problemfrei: Im Gesundheitsbereich wird mit technisch veralteten und wenigen medizinischen Geräten gearbeitet und auch eine umfangreiche Medikamenten­ver­sor­gung kann nicht immer gewährleis­tet werden. Ebenso fehlt es in vielen anderen Produktionsbereichen an techni­schen Geräten und Rohstoffen. Ursachen dafür lassen sich sowohl in den histori­schen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, als auch der US-Blockade als Antwort auf den erklärten Sozialismus Cubas finden. Die kleine Insel hatte sich bereits vor der cubanischen Revolution [siehe Kasten] auf den Zuckerrohrexport konzentriert und war, wie viele lateinamerikanische Länder von US-amerikanischen Importen bzw. Exporten abhängig. Nach den ersten sozialistischen Veränderungen, wie der Land- und Bodenreform und der Verstaat­li­chung der wenigen industriellen Betriebe verhängte die USA 1960 ein bis heute geltendes Handelsembargo. Neue Verträge mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten sollten daraufhin den totalen wirtschaftlichen Zusammen­bruch Cubas verhindern, entpuppten sich allerdings als neue Abhängigkeiten. Denn neben der Cuba-Krise 1962, die fast in einem Atomkrieg geendet hätte, wurde vor allem nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder ab 1989 klar, dass sich die cubanische Wirtschaft zu sehr auf den Export der Monokultur Zuckerrohr konzentrierte und nicht an einer wirt­schaftl­i­chen Unabhängigkeit arbeitete. 85% des Außenhandels brachen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein und stürzten die Bevölkerung Cubas, durch fehlende Importe in eine bis dahin unge­kannte Hungerkrise. Die Krise wurde zudem durch den Druck der US-Blockade, der auch außenpolitisch wirkte und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern verhinderte, verstärkt. Umfang­rei­che wirtschaftliche Veränderungen wurden deshalb 1992 durch die Öffnung für Tourismus und ausländische Investoren eingeleitet. Sie sollten das Land und die Bevölkerung durch neue Devisenzugänge aus ihrer Misere befreien.

Neue Wege

Die Öffnung für den Tourismus jedoch hat viele neue Widersprüche innerhalb der Bevölkerung geschaffen, die vor allem in der Hauptstadt Havanna offensichtlich werden. Denn dort können die Touristen weniger von der Bevölkerung separiert werden, um einheimische Lebensweisen zu schützen und Kontrolle zu behalten, wie es auch in anderen auf Tourismus ausge­rich­te­ten Ländern oft üblich ist. Auf der Insel gibt es zwei verschiedene Währungs­sys­teme: die Devisenwährung Cuc, die dem ungefähren Handelswert von einem US-Dollar entspricht und mit denen die Touristen in speziellen Läden alle erdenkli­chen kapitalistischen Güter erwerben können und den einheimischen Peso, der ungefähr 24-mal weniger Wert besitzt. Die Angestellten in den staatlichen Betrieben, die umgerechnet nur zwischen 12 und 25 Dollar monatlich verdienen, können in den Touristen-Geschäften vor der Haustür kaum die Güter erwerben, die so begehrt sind. Vor allem technische Geräte, (Mar­ken-)­­­Kleidung und andere Luxusgüter werden gebraucht, sind beliebt, haben Konsumbedürfnisse geweckt und die Bevölkerung gespalten. Zwar zahlen auch viele staatliche Betriebe inzwischen ca. 30 Cuc im Monat zum regulären Lohn hinzu, um den Bedürfnissen der Bevölkerung ent­gegen zu kommen, doch ist eine Arbeits­stelle in der Tourismusbranche allemal ertragreicher. So kommt es, dass es viele Menschen vorziehen, trotz hoher anderer Qualifizierung, anspruchs­­­­lo­­sere Arbeit dort zu verrichten, wo mensch einem Trinkgeld hinter­her­­ja­gen kann, das für andere der Monatslohn ist. Der Staat ver­sucht einem unkontrollierten Devisen­han­del und der Spaltung der Bevöl­kerung in Bezug auf unter­schied­liche Wohlstands­ni­veaus, durch verstärkte Kon­trollen und harte Strafen beizu­kom­­men. So gibt es legale Ar­beits­­­plät­ze, wie Taxi­fahrer/innen oder Verwalter/innen sog. „Casa Particula­res“ (eine Art Mini-Pension in Fami­lien­­häu­sern), die eine hohe Summe monatlich an Steuern für ihr Geschäft zahlen müssen, so dass die verdienten Einnahmen durch die Touristen relativ gering bleiben. Illegalisierte Geschäfte, wie die der Taxifahrer/innen ohne staat­liche Geneh­mi­­gung oder ungemeldete Handelsge­schäfte mit Waren und Dienst­leistungsan­ge­bo­ten, werden mit harten Geldstrafen belegt, die schlichtweg unbezahlbar sind. Die Gesetze gehen sogar soweit, dass es z.B. verboten ist, als Ausländer/in in einer cubanischen Familie zu übernachten, da weder Geldgeschäfte noch kritische Worte dort kontrollierbar sind. Für die Überwa­chung und Ein­haltung dieser Richtlinien sind vor allem die ‚Komitees zur Verteidi­gung der Revolution‘ (CDR) verantwort­lich, die in jedem Barrio angesiedelt sind und neben der Organisation des Gemein­we­sens – wie z.B. Betreuung von älteren Menschen, Nachbarschaftshilfe, Durch­füh­­rung von Butspende- und Impf­kampag­nen sowie Gesundheitsaufklärung – auch für die Kontrolle der Kriminalität zuständig sind. Sie ersetzen vielfach Polizei und Militär im Inneren und üben durch die räumliche Nähe der ‚ehrenamtlichen Nachbarn‘ Druck aus. Angst vor Überwa­chung und dementsprechend überlegte Äußerungen, sowie gefühlte Repressionen durch Eingriffe in die Privatsphäre führen dabei vielfach zu Frustration innerhalb der Bevölkerung. So entpuppt sich die Öffnung für den Tourismus, die als einzige Alternative für das sozialistische Land nach dem Zusammenbruch der wirt­schaft­li­chen Beziehungen zur Sowjet­union gesehen wurde, als Falle für die sozia­listische Idee. Denn dass die staatlich eingenommenen Devisen durch die Tourismusbranche zum Teil in Subventio­nen der Grundnahrungsmittel für Cuba­ner/­­­innen umgesetzt werden, wiegt die fehlende Gestaltungsmöglichkeit des eigenen Wohlstands bei den meisten kaum auf. Auch wenn die Ernährungslage insgesamt jetzt besser ist, fehlt es an Freiräumen, mit den geweckten Konsum­be­dürf­nissen selbstverantwortlich umzu­ge­hen, ohne dabei ständigen Reglementie­rungen unterworfen zu sein.

Partizipation?

Neben dem schizophrenen Alltagsleben zwischen greifbarem Konsum der ‚westli­chen Welt‘ im Laden nebenan und der realsozialistischen Gemeinschaft mit ihren Mängeln, krankt das System jedoch vor allem am fehlenden Mitsprache- und Gestaltungsrecht der Cubaner/innen. Zwar gibt es Partizipationsmöglichkeiten, allerdings nur in den ‚systemkonformen‘ Massenorganisationen wie den Gewerk­schaf­ten (CTC), Frauen- und Jugendor­gani­satio­nen (FMC und UJC) oder dem Komitee zur Verteidigung der Revolution (CDR). Diese beschäftigen sich neben ‚der Verteidigung der Cubanischen Revolution‘ – also der Umsetzung staatlicher Richtli­nien – vor allem mit dem kulturellen und sozialen Leben der Gemeinschaft. Im Falle der Gewerkschaften, die alle dem Dachver­band CTC untergeordnet sind und denen ca. 97% der Bevölkerung angehören, kümmert man sich neben betrieblichen Belangen vor allem um die Produktivitäts­stei­gerung. Zudem werden Betriebsfeiern und -ausflüge organisiert und die Beschäf­tig­ten werden im Falle von Krankheit oder Mutterschaftsurlaub zu Hause versorgt. Auch wird der aktuell auf Cuba statt­findende Prozess der ‚konstruktiven Kritik‘ von Gewerkschaften maßgeblich mit durchgeführt und es finden Versamm­lungen statt, auf denen Verbesserungsvor­schläge der Arbeiter/innen gesammelt und weitergeleitet werden. Ziel ist es dabei, in den nächsten fünf Jahren in allen Lebens­be­rei­chen auf Cuba Defizite zu erkennen und zu beheben. Ob bei dieser, von der Regierung inszenierten Maßnahme, tatsächlich alles gesagt werden darf, kann an dieser Stelle zwar schwer beantwortet werden, deutet aber dennoch auf das eigentliche politische Versäumnis: Offen­heit. Denn echte Partizipationsmöglich­keiten an politischen Entscheidungspro­zessen, Mitgestaltungs- und Kritikmög­lich­kei­ten gibt es kaum auf der Insel, da Selbstkritik unerwünscht ist.

Was im sozialen Bereich an Menschen­rechten überdurchschnittlich gut funktio­niert, wird im Bereich der Freiheitsrechte umgekehrt. Dort gibt es zahlreiche Verletzungen bzw. Einschränkungen. Gerade für Gegner/innen des politischen Systems ist es schwer, da allgemeine Rechte wie Informationsfreiheit, Versammlungs­recht und Meinungsfreiheit nicht existie­ren und die Oppositionellen zuerst mit Maßnahmen wie dem Verlust des Arbeits­pla­tzes, öffentlichen Diffamierungen und Drohungen rechnen müssen, wenn sie „auffällig“ werden. Unabhängiger Journa­lis­­mus, insbesondere von politischen Gegner/innen wird ebenfalls verfolgt, gelegentlich werden Persönlichkeitsrechte wie das Recht auf Privatsphäre bei erklärter ‚Gefährdung des cubanischen Sozialismus‘ außer Kraft gesetzt. Auch in den Haftan­stal­ten ist der Umgang mit den Dissiden­ten hart. Selbst Organisationen wie amnesty international haben keinen Zugang zu den Gefängnissen, um den Gerüchten von Folter, Isolationshaft und mangelnder medizinischer Versorgung dort nachzugehen. Die harte Linie der Regierung wird dabei mit der Angst vor Destabilisierung und Sturz des sozialisti­schen Systems begründet. Diese, bereits seit den 60ern praktizierte Politik, zerstört dabei die Grundlage dieses Systems viel mehr, als der neue Massentourismus, da der kritischen Basis die Möglichkeit genommen wird, konstruktiv mitzugestal­ten und die Defizite gemeinsam zu bekämpfen. Die cubanische Regierung sieht immer nur den kapitalistischen (meist US-amerikanischen) Feind lauern, unterbindet dadurch interne Kritik, verfolgt den kritischen Teil der Bevölke­rung und gibt Entscheidungen von oben nach unten durch. Das frustriert vor allem die jüngere Generation, die mit dem Status quo unzufrieden ist. Während die älteren Zeitgenossen die einstige Idee einer sozialistischen Alternative in der Realität noch suchen und zu finden glauben, sind die Meinungen unter den Jungen eher gespalten. Es ist in der Größe schwer abschätzbar, wie viele einfach nur Kon­sum­­mög­lich­kei­ten, sprich Kapitalismus wollen, wie viele einen gemäßigten Sozialismus mit grundlegenden Verände­rungen anstreben oder die Anzahl derer, die ganz andere Vorstellungen vom Zusammenleben haben. Da die Menschen nicht ungestraft offen diskutieren dürfen, bleibt auch unklar, ob der von Regierungs­sei­te skizzierte ‚kapitalistische Feind‘ innerhalb Cubas tatsächlich so stark ist. Tatsächlich ist die zunehmende Mehrheit der Jüngeren unzufrieden mit den inzwi­schen verschärften sozialen und wirtschaft­li­chen Verhältnissen und wünscht sich Veränderungen.

Dass der Staatspräsident Fidel Castro im Sterben liegt und das Interesse an Cuba auch außerhalb groß ist, trägt zudem zur Prognose bei, dass demnächst wohl ein umfassender Wandel bevorsteht. Zwar kann der inzwischen regierende Raúl Castro versuchen, alles wie gehabt weiter­lau­­fen zu lassen, allerdings verkörpert er unter der Bevölkerung, im Gegensatz zu seinem Bruder Fidel, dem meist totales Vertrauen entgegen gebracht wird, nicht die Vaterfigur der Revolution. Wenn Druck von außen kommt, wird die weitere Geschichte Cubas auch von dem Handeln der Inselbewohner/innen selbst abhängen. Ohne Raum für Diskussionen jedoch, werden – ähnlich wie in der damaligen DDR – die Veränderungen wohl schneller über das kleine Land hereinbrechen, als Zeit besteht sich intern gemeinsam über einen neuen Weg zu verständigen.

Alte Hürden

Fernab politischer Propaganda in Richtung Diktatur oder soziale Alternative ist es für die Cubaner/innen nicht einfach auf dieser Insel, die versucht, dem weltweit herr­schen­­den Kapitalismus eine soziale Antwort entgegen zu setzen. Denn so sehr die sozialen Bereiche wie Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit auch gefördert werden, rechtfertigt das nicht die Repressionen im Inneren für den Erhalt selbiger. Dabei werden wichtige interne Stimmen mundtot gemacht, was zum einen die externe Bezeichnung als Diktatur bestärkt, zum anderen aber auch die Möglichkeiten einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus kaputt macht. Fakt ist, dass die Menschen vor Ort das Recht und die Souveränität haben sollten, über ihre Entwicklung selbstbestimmt und ohne Einfluss der Einheitspartei oder der ehemaligen cubanischen Großgrundbe­sitzer in Miami zu entscheiden. Cuba krankt daran, das dies nicht geschieht. Ob es jedoch gesundet, wenn die Epoche Fidel vorbei ist, bleibt stark zu bezweifeln. Denn wenn dann die Insel kapitalistisch wird, kann zwar Kritik offen geäußert werden, wie viel bzw. wenig Einfluss aber die Menschen dann auf ihre eigene Entwick­lung haben werden, sehen wir auch hierzulande.

Wenn also die Klassifizierung ‚Diktatur‘ benutzt wird, so hat das in Teilen ebenso seine Berechtigung, wie die Bezeichnung ‚soziale Alternative‘ in anderen Teilen. Die Einschränkung der Freiheitsrechte bilden zusammen mit den sozialen Leistungen dabei die Pole dieser Kontroverse. Im Ganzen betrachtet steckt Cuba voller Widersprüche, gegen die es keine einfa­chen Rezepte gibt. Ein Schönreden der Verhältnisse hilft auf diesem Wege ebenso­we­nig wie das Schlechtmachen des ganzen Systems. Was Cuba braucht ist Mut, Stärke und Durchsetzungskraft der eigenen Bevölkerung, um den mächtigen Interes­sens­politiken entgegenzutreten und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Wenn die Möglichkeit bestünde, unabhängig von Staat und Kapital aus den eigenen Erfah­rungen heraus Veränderungen mitzugestal­ten, könnte Cuba vor einem Schicksal wie dem der DDR bewahrt werden.

(momo)

(1) FDGB: Freier Deutscher Ge­­­­­­werk­­­schafts­­bund, Dachverband der Gewerkschaften in der damaligen DDR
(2) Ein vielschichtigeres Bild über Cuba bieten zum Beispiel die monatlich erscheinenden Lateinamerika Nach­richten

Cubanische Revolution

*** 1952: Diktator Fulgenicio Batista putscht sich an die Macht. Unter seinem Regime findet Korruption, Folterung und Mord an ca. 20 000 Personen statt *** 1953: Gescheiterter Angriff der ‚Bewegung 26. Juli’ auf die Monaca-Kaserne. Die Beteiligten werden dort getötet, später hingerichtet oder, wie Fidel Castro zu langen Haftstrafen verurteilt.*** 1955 Amnestie für politische Gefangene: Fidel und Raúl Castro fliehen nach Mexico, treffen dort auf Ernesto ‚Che‘ Guevara *** 1956: Rückkehr nach Cuba auf der Granma, mit dem Ziel das Land von Batista zu befreien. Die Überlebenden der Schlacht fliehen in die Berge der Sierra Maestra und führen, durch die massive Unterstützung der Bevölkerung ermöglicht, einen jahrelangen Guerillakampf gegen die militärischen Truppen.*** 1959: Die entscheidende Schlacht in Santa Clara zwingt Batista zur Flucht. Fidel Castro ruft die cubanische Revolution aus.*** Erste sozialistische Maßnahmen, wie Alphabetisierungskampagne, Land- und Bodenreform, die Verstaatlichung der Industriezweige sowie Verträge mit der Sowjetunion. Bisherige cubanische Elite, wie Großgrundbesitzer fliehen in die USA*** 1960: USA verhängt Handelsembargo (sog. Blockade) gegen Cuba*** 1961: Missglückte Invasion US-amerikanischer Truppen an der Schweinebucht auf Cuba*** 1962: Cuba-Krise: Militärische Seeblockade der USA gegen die Stationierung sowjetischer Raketen auf Cuba. Nur knapp wird ein Atomkrieg verhindert.***

CHIAPAS: Spannungen nehmen zu!

„Jene von uns die im Krieg gekämpft haben, kön­nen die Pfade wiedererkennen, auf denen er vorbereitet wird und näher kommt. Die Zeichen des Krieges am Horizont sind klar. Der Krieg wie die Furcht haben ihren Geruch. Und man fängt schon an, seinen übelriechenden Gestank einzuatmen.”

Das waren Subcomandante Marcos Worte am vorletzten Tag des freien Kolloquiums über “Antisystemische Bewegungen”, wel­ches vom 13. bis zum 17.12.07 in San Cristóbal de las Casas stattfand. Marcos Worte drücken die aktuelle angespannte Situation in den autonomen Gemeinden Chiapas‘ klar und unmissver­ständlich aus.

Die Bedrohungen und Übergriffe von paramilitärischen Organisationen nehmen derzeit bedenklich zu. Desweiteren gibt es aktuell 56 ständige Militärbasen auf in­di­­genem Gebiet in Chiapas, bei denen ge­nau­so eine sich stei­gernde Aktivität zu er­ken­nen ist. Waf­fen und Ausrüstun­gen wer­den moderni­siert und im­mer mehr Bataillone und Sonder­streit­kräfte rücken an. All dies sind Anzeichen einer militä­rischen Eskalation der Situation, die die mexika­nische Staatsregierung anzu­streben scheint. Im Moment jedoch wird “die Ar­beit” noch den paramilitärischen Organi­sa­tionen über­lassen.

Staatliche Vertreibungspolitik

Die Regierung setzt aber nicht nur auf die militärische Karte. Um den Vertreibungs­druck auf die freiheitsliebenden Einwoh­nerInnen Chiapas‘ zu erhöhen, vergibt sie parallel das besiedelte Land der autonomen Gem­einden an andere Bauern Mexikos. Sie schürt damit bewußt Konflikte zwischen den verschiedenen Bauern, um dann in der Öffentlichkeit den Konflikt als Krieg zwi­schen Bauern und indigenen Gemein­den darstellen zu können. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie stark die Regie­rung diese Vertreibungspolitik forciert: Allein in einer Region wurden 16 Millio­nen Pesos dafür investiert, Land zu enteig­nen und an Familien weiterzuge­ben, welche mit der regierenden Partei PRI (Partido Revolucionario Institucional) in Verbindung stehen. Viele dieser Fami­lien haben wiederum Kontakt zu den staatlich unterstützten Para­mili­tärs, die die zapatis­ti­schen Gemeinden immer wieder über­fallen, Angst verbreiten und selbst vor Morden nicht zurückschrecken.

Seit September letzten Jahres findet in Chiapas eine bedrohliche Steigerung der Ge­walt statt. Bestes Beispiel hierfür ist die zapatistische Gemeinde Bolon Ajaw in der Region Montes Azules. Vom Zusammen­schla­gen von Dorfbewohnern oder Schüs­sen auf sie bis zur Misshandlung von Kin­dern reicht die Liste der Bedrohungen sei­tens der paramilitärischen Organisation für die Verteidigung der Indigenen und Campe­si­no­­­rechte (OPDDIC), die die internationa­len Beobachter immer wieder tatenlos re­gistrieren müssen. Auch gibt es schriftliche Drohungen wie die folgende: „In guter Freundschaft und als Brüder warne ich die EZLN-Angehörigen von Bolón Ajaw und rate ihnen, so schnell wie möglich zu verschwinden, weil morgen oder heute Nacht die Armee einmar­schieren wird. Glaubt mir, meine Freunde. Aus der Region von El Mango.”

Obwohl die Namen der Täter oftmals bekannt sind, werden seitens der Regie­rung keinerlei rechtliche Schritte eingelei­tet. Im Gegenteil, aus verschiede­nen offi­ziellen Stellen, wie u.a. aus dem Regie­rungs­amt des (Bun­des-)Staates Chiapas und dem Büro des Direk­tors der nationa­len Kom­mis­sion für Natur­schutz­­ge­bie­te (Region Süd­gren­ze) wird ein klares Interesse an der “Umsied­lung” der zapa­tistischen Gemeinden be­kun­det und extra stillge­halten.

Die Gemeinde von Bolon Ajaw ist jedoch nur ein Beispiel unter vielen. Auch viele andere zapatistische Gemeinden leiden darun­ter, dass ihnen ihre Ernten gestohlen, die Felder abgebrannt, und die Menschen mit Tod, Vergewal­tigung und Folter be­droht werden. Mit der Umsetzung des “Plan México” ist noch mit einer weiteren Verschärfung der Repressalien zu rechnen. Nachdem Präsi­dent Felipe Calderon bekundet hat, dass es in Mexico keinen schmutzigen Krieg gebe, wurde im Namen des “Kampfes gegen das Verbrechen” die Justizreform von der Abgeordnetenkam­mer gebilligt und damit die polizeistaat­lichen Verhältnisse noch legitimiert. Der „Plan“ sieht eine Zu­sammenarbeit Mexicos mit den Vereinigten Staaten vor. Es soll gegen das organisierte Verbrechen (wie Drogen­handel) vor­ge­gan­gen und der Terrorismus bekämpft werden. Viele Andersdenkende und Andersleben­de, gerade die autonomen Gemeinden Chiapas‘, werden nun ver­stärkt dem Ter­roris­mus­verdacht zum Op­fer fallen. Die USA unterstützt México dabei militä­risch wie finanziell. In Bezug auf die sozia­len Kämpfe im Land führt dies zur weite­ren Beschneidung persönlicher Rechte und zu einer Verstärkung des “Krieges niederer Intensität” unter polizei­staatlichen Prämis­sen, wie das der welt­weite „Anti-Terror-Kampf“ auch in vielen anderen Ländern schon gezeigt hat.

Zwischen Angst und Entschlossenheit

Vom 20. bis zum 22.12.07 wurde in Acteal den Opfern des Massakers von vor zehn Jahren (22.12.1997) gedacht. Bei diesem Massaker, welches sich über Stunden hinzog, wurden 45 Tzotzil-Indígenas, meist Frauen und Kinder, brutal von der para­militärischen Organisation Mascara Roja ermordet. Eine 200 Meter entfernte mexikanische Polizeieinheit reagierte nicht und sah dem Abschlachten damals einfach zu. Zu der Veranstaltung waren viele natio­nale wie auch internationale Gäste und Organisationen angereist. Es gab Vor­träge von verschiedenen Menschen­rechts­organi­sationen und von Vertreterinnen der Maya-Frauengruppe, viele Plena und einiges mehr.

Bis heute steht die Forderung nach einer Bestrafung der Täter im Raum, ebenso wie die Forderung nach einer offiziellen Zu­sicherung, dass sich so etwas nicht wieder­holen wird. Bis heute hat sich diesbezüg­lich noch nichts getan.

Das Massaker in der Abeja-Gemeinde von Acteal hatte nicht ohne Vorzeichen stattge­fun­den. Damals wie heute gab es im Vor­feld vermehrt Drohungen und Über­griffe auf die Ein­wohner­Innen der auto­nomen Ge­meinden. Viele befürchten deshalb, dass die aktuellen Entwicklun­gen wie damals die Vorbo­ten einer bru­talen Eskala­tion der Ge­walt seitens der Para­mi­litärs und des mexi­ka­nischen Staates sind.

Die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional), der be­waffnete Arm der zapa­tistischen Bewegung, zieht ihre Konse­quen­zen daraus. Marcos liess am vorletzten Tag des Kolloquiums verlauten, dass die EZLN nun lange Zeit nicht mehr an öffentlichen Tagungen teilnehmen könne, da die Basisgemeinden momentan massi­ven Bedrohungen und Aggressionen ausgesetzt seien und man sich deshalb verstärkt um die Verteidigung der Men­schen vor Ort kümmern müsse. Auch wenn das für die kampferprobte Organisa­tion der autonomen Bauern von Chiapas keine neue Herausforderung ist, sei es das erste Mal seit 1994, dass die soziale Ant­wort, national wie international, so gering ausfiele, und die Gemeinden so stark auf sich selbst zurückgeworfen wären.

Nun liegt es an uns, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen uns klar werden, dass die Gefahr besteht, dass wir erneut untätige ZeugInnen weiterer Vertreibungen, Massaker und Morde in den autonomen Gebieten Mexicos werden.

Brutal angegriffen werden Andere, gemeint aber sind wir indirekt alle.

(sahne)

 

Quellen und weitere Infos:

Naomi Klein, La Jornada, 21. Dezember 2007

xttp://www.indymedia.org

xttp://www.enlacezapatista.ezln.org.mx

Wer sich für die Arbeit als unabhängigeR MenschenbeobachterIn interessiert, kann hierzu Informationen beziehen unter: carea@gmx.net

Grenzen sprengen

Der israelisch-palästinensische Kon­flikt ist in der deutschen Linken ein kon­­tro­­verses Thema. Sich zwischen den Fall­­stricken bedingungsloser Solidarität mit der einen oder der anderen Seite durch­zu­schlän­geln ist ein schwieriges, aber nö­ti­ges Unter­fangen. Denn auch wenn Na­tio­na­lismus, Antisemitismus und Isla­mismus auf palästinensischer Seite ein erns­tes Problem sind – wie antideutsche Lin­ke zu Recht bemerken – , sollte man auch die negativen Folgen der israelischen Be­sat­zung für die palästinensische Bevöl­ke­­rung nicht über­sehen. Die simple Freund-Feind-Logik des bewaffneten Kon­flikts einfach zu über­nehmen, bietet keinen Ansatz­punkt für emanzipatorisches Han­deln und konstruk­tive Lösungen. Diese Lo­gik hat das Geschehen die letzten 40 Jah­re lang bestimmt und ebenso wenig po­si­tive Folgen gezeitigt wie die immer neuen An­läufe zu Friedensverhandlungen und ei­ner Zwei-Staaten-Lösung. Die Arbeit der is­ra­elischen Anarchists Against The Wall (AATW) könnte hier eine Perspektive bie­ten, da sie mit ihren gewaltfreien Aktionen ge­gen den Mauer­bau, die sie zusammen mit palästinen­sischen AktivistInnen durch­führen, die simple Logik des „Wir-gegen-die“ über­schrei­ten. Das macht sie für uns inte­ressant. Yossi von den Anar­chists Against The Wall erläuterte in einem per Mail geführten Interview Hinter­gründe und Ziele der Arbeit der Gruppe.

Die Feierabend!-Redaktion

FA!: Zunächst mal: Seit wann gibt es die AATW, wie habt ihr euch gegründet?

Yossi: AATW wurde im April 2003 von ei­ni­gen größtenteils anarchistisch orien­tier­ten israelischen AktivistInnen gegrün­det, die schon zuvor in unterschiedlicher Form in den besetzten Gebieten aktiv wa­ren. Der Anlaß war ein Protestcamp in Mas´ha. Die Mauer näherte sich dem Dorf, letztlich hätten sich dadurch 96% der Ackerfläche auf der „israelischen“ Seite be­fun­den. Das Camp, an dem sich auch pa­läs­tinensische und internationale Akti­vis­tInnen beteilig­ten, bestand aus zwei Zel­ten auf dem Gelände, das konfisziert wer­den sollte. Die AktivistInnen waren vier Mo­nate vor Ort, in der Zeit war das Camp ein Zentrum für die Informa­tions­ver­brei­tung und für basisdemokratische Entschei­dungs­­fin­dung, direkte Aktionen gegen den Mau­er­­bau wurden dort vorbe­reitet. Ende Au­gust 2003, als die Mauer um Mas´ha fast fertig war, zog das Camp in den Garten ei­nes Hauses um, der auch weg sollte. Nach zwei Tagen, in denen wir die Bull­dozer blockier­ten und viele verhaftet wur­den, mussten wir aufgeben. Aber die Idee des Wider­standes blieb erhalten.

FA!: Was für Leute machen bei euch mit?

Y.: Die meisten sind junge Israelis, meist aus Oberschichts- oder Mittelklasse­familien europäischer Herkunft. Es gibt aber auch ältere AktivistInnen, viele arabisch-jüdischer Herkunft und aus der früheren Sowjetunion, auch Leute aus der Unter­­schicht. Ideologisch und kulturell ist die Gruppe ziemlich vielseitig: Es gibt Punks und Hippies, Queers, Veganer und Straight Edger, Pazifisten und Nicht-Pazifisten, und viele würden sich nicht mal als Anarchisten bezeichnen.

FA!: Kannst du etwas zu eurer Arbeit sagen, wie sehen eure Aktionen aus?

Y.: Seit ihrer Gründung hat die Gruppe an Hunderten Demonstrationen und di­rekten Aktionen – gegen die Mauer und die Besetzung allgemein – in der West Bank teilgenommen. Mit unserer Arbeit in Palästina wollen wir in erster Linie die Leu­te vor Ort unterstützen. Meist gibt es ei­nen Demonstrationszug vom Dorf dort­hin, wo die Mauer gebaut wird, und wir ver­suchen, die Bulldozer und Arbeiter zu blockieren. Wir versuchen auch oft, zu­sammen mit palästinensischen und inter­na­tionalen AktivistInnen die Mauer oder die Checkpoints zu sabotieren. Es gibt auch fokussiertere Aktionen – nicht in Form von Demonstrationen – gegen den Mau­er­bau, die Checkpoints oder die „Apart­heids-Straßen“ (Straßen, die von Pa­läs­tinenserInnen nicht benutzt werden dürfen). Wir nehmen auch an vielen De­mons­trationen in Israel teil und machen di­rekte Aktionen gegen Unternehmen, die von der Besatzung profitieren. Unsere Aktionen in der West Bank werden meist sehr gewalttätig unterdrückt. Friedliche Gummi­geschossen, Gummigeschossen, manch­mal sogar scharfer Munition zer­schla­­gen. Bei rein palästinensischen De­monstrationen gibt es noch ein weit höhe­res Maß an Gewalt als bei den Demos, an denen wir uns beteili­gen. Die Anwesen­heit von Israelis bietet einen gewissen Schutz. Die israelischen Soldaten verhal­ten sich deutlich anders, wenn wir dabei sind, und die Gewalt läuft auf niedrigerem Level ab. Obwohl viele israelische Aktivis­tInnen bei diesen Demonstrationen verletzt wurden, haben die Palästi­nenser­Innen den höchsten Preis zu zahlen. Bis heute sind zehn palästinen­sische Demons­tran­ten getötet und Tau­sende verletzt wor­den. Die Armee und die israelische Regie­rung wollen den palästi­nensischen Wider­stand mit allen Mitteln brechen und isra­elische AktivistInnen daran hindern, sich da­ran zu beteiligen. Die Repression ist auch deshalb für die palästinensischen Ak­ti­vistInnen wesentlich härter, weil es zwei Sys­teme bei der Justiz gibt. Wir werden nach dem Zivilrecht behandelt, während für die Palästinenser Militärrecht gilt. De­ren Haftstrafen sind also viel länger, sie be­kommen auch mehr und höhere Geld­strafen.

FA!: Was sind eure Ziele, unmittelbar und auch langfristig?

Y.: Wir haben kein Manifest oder eine kla­re Ideologie. Wir sind gegen Rassismus, Apart­heid und Krieg, wir wollen eine freie Ge­sellschaft, in der Juden und Palästi­nen­ser gleichberechtigt zusammenleben. Ich den­ke, unsere Aktionen zeigen, was wir er­rei­chen wollen. Gegen eine Mauer, die die Leu­te voneinander trennt, arbeiten wir mit Pa­lästinensern zusammen. Gegen Beset­zung und staatliche Herrschaft, die dazu da sind, die Leute ihrer Logik zu unter­wer­fen, kommen wir und brechen ihre Ge­setze mit einer nicht-hierarchischen Gruppe.

FA!: Wie sollte eurer Meinung nach eine Lösung des Konflikts aussehen?

Y.: Wir haben keine klare Lösung. Viele von uns unterstützen die Kein-Staaten-Lö­sung, andere denken, dass es zuerst eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung geben muss. Mir ist egal, wie viele Staaten es gibt, so­lange wir Freiheit und Gleichheit für alle Ein­­­wohner dieses Landes erreichen. Eine wirk­liche Lösung sollte auf sozialer Ge­rech­tigkeit und der Überwindung von Na­tio­nalismus und Kolonialismus basie­ren, d.h. dem Ende von Israel als ein „jü­discher“ Staat und dem Aufbau einer neuen bi-nationalen Gesellschaft. Uns wird immer gesagt, das sei unrealistisch, aber derzeit gibt es ohnehin keine „rea­lis­tische“ Lösung. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein Apartheids­plan, welcher von Bush und (Israels Ministerpräsident) Olmert ge­gen den Willen der Palästinenser durch­ge­setzt wurde. Was von der israe­lischen Re­gie­rung als Frieden verkauft wird, ist nur die Fortsetzung der Ok­ku­pation mit ande­ren Mitteln. Der Kon­flikt ist auch nicht von allein da. So lange euro­pä­ische und ameri­ka­nische Inte­ressen die isra­elische Po­li­tik und die Lage in der Re­gion be­stimmen, wird es keine Versöh­nung geben.

FA!: Die israelische Friedensbewegung (Grup­pen wie Peace Now und so weiter) ist derzeit ziemlich schwach, soweit ich weiß. Kannst du dazu etwas sagen? Wie ist euer Verhältnis zu diesen Gruppen?

Y.: Wir sehen uns nicht als Teil der „Friedens­bewegung“. Wir sind eine Bewe­gung gegen die Besatzung. Der Frieden wird oft benutzt, um den Status quo zwischen Unterdrückern und Unter­drückten zu erhalten. Der Hauptun­terschied in der israelischen „Linken“ besteht zwischen den Zionisten und den Nicht- oder Antizi­onisten. Für die meisten von uns sind Gruppen wie Peace Now, One Voice, das Peres-Center für Frieden und andere sogenannte „Friedens“-Gruppen irrelevant oder sogar eine Gefahr. Israe­lische Grup­pen, die einen Frieden in Form von Freihandelszonen und unter Beibe­haltung der meisten Siedlungen wollen, sind nicht links und werden keinen Frieden bringen. Diese Art von „Friedens“-Grup­pen sind viel schwächer, als sie vor der zweiten Intifada waren. Das liegt an dem Traumge­bilde einer „Pax Americana“ im Na­hen Osten, das sie der israelischen Öffent­­lichkeit verkaufen wollten – ein Traum­­gebilde, das ihnen nun auf die Füße ge­fallen ist. Wir arbeiten eng mit Anti-Be­satzungsgruppen wie Gush Shalom, Taa­yush, Coalition of Women for Peace zu­sammen. Die Zahl dieser Gruppen ist seit der zweiten Intifada stark gestiegen.

FA!: Hier hört man meist nur etwas über die Hamas oder die Fatah. Gibt es auf paläs­ti­nensischer Seite linke Gruppen, die dem Na­tio­nalismus der Fatah oder dem Isla­mismus der Hamas etwas entgegen­setzen, habt ihr da Kontakte?

Y.: Wir arbeiten nicht mit Parteien zu­sammen, also auch nicht mit Hamas oder Fatah. Unsere Arbeit läuft vor allem über die Kommitees in den Dörfern, wo die gan­­zen Familien vertreten sind, aber na­tür­lich auch Vertreter der Parteien – oft Leu­te von der Fatah, auch von kleinen lin­ken Parteien. Es sind auch Hamas-Leute da­bei, mit denen wir dann auch zusam­men­­arbeiten. Es gibt auch Unterschiede zwi­schen den Parteimitgliedern in den Dör­­fern und der Führung der Hamas. Wir wer­­den als Israelis akzeptiert – die Basis ist, dass wir gewaltfreie Aktionen gegen die Be­­set­zung machen. Die Hamas-Leute ar­bei­ten natürlich nicht so gern mit Israelis zu­sammen, aber wenn sonst alle dafür sind, widersprechen sie auch nicht. Wir sel­­ber schließen keinen aus – wir sind auch nicht in der Position, jemand ausschließen zu können.

FA!: Gibt es auch palästinensische Anar­chis­tInnen?

Y.: Wenige. Es gibt Leute auf palästinen­sischer Seite, mit denen wir eng zusam­men­­arbeiten, aber die sehen sich nicht un­be­dingt als AnarchistInnen. Wir haben auch eine gute Zusammenarbeit mit paläs­tinen­sischen Marxisten, Trotzkisten usw. Wir haben Kontakt zu Anarchisten im Liba­non und versuchen, mit anderen anar­chis­tischen Gruppen im Nahen Osten Kon­takte zu knüpfen.

FA!: Und wie würdest du die Hamas beurteilen?

Y.: Die ist mir natürlich nicht so sympathisch. Aber Fakt ist, dass die Hamas anfangs sehr von Israel unterstützt wurde, ähnlich wie die Taliban durch die USA. Die Hamas hat keine Waffen bekommen, wurde aber politisch unterstützt. Man wollte sie als Gegenpol zur PLO stärken, weil man dachte, die Islamisten wären besser zu kontrollieren. Die Hamas ist antiimpe­rialistisch, antiwestlich, sie macht auch viel sozia­le Arbeit, und sie ist sicher weniger korrupt als die Fatah. In gewisser Weise haben sie sich auch mit der Demo­kratie abgefunden – sie akzeptieren, dass Wah­len nicht gegen den Islam sind. Sie akzep­tieren die Demokratie, weil sie ihnen nützt. Wenn es nur die Wahl zwischen Hamas und Fatah gibt, ist es schwer, sich zu entscheiden. Die Hamas will einen islamischen Staat, in dem Schwule, Frauen, Juden usw. unterdrückt werden. Aber die Fatah würde Palästina zur Freihandelszone machen, was auch auf Ausbeutung und Unterdrückung hinaus­läuft. Wir gehen damit so um, dass wir nicht mit den Parteien kooperieren, sondern mit den Leuten an der Basis.

FA!: Ihr seid wegen eurer Arbeit starker Repression ausgesetzt, Prozessen usw. Wie ist da die Lage?

Y.: Die Repression gegen uns findet vor allem bei den Demonstrationen statt, bei denen regelmäßig Gummigeschosse einge­setzt werden. Viele von uns wurden schon angeschossen, haben Kopfverletzungen davongetragen und mitunter immer noch mit den Folgen zu kämpfen. Das ist härter als bei Demonstrationen hier in Deutsch­land. Andererseits werden bei uns seltener Verfahren eröffnet, wenn man festge­nommen wird. Ich wurde schon zehnmal verhaftet, andere zwanzig oder dreißig mal. Meist wird man am selben Tag wieder freigelassen. Wenn es Verfahren gibt, dann Monate später. Zur Zeit laufen 70-80 Verfahren. Man muss dazu sagen, wir sind etwa 200 Leuten, also sind fast 50% betroffen. Das ist hart, aber es gibt auch viel Solidarität und Spenden, so dass wir die Anwaltskosten zahlen und weiter­machen können. Das Problem besteht aber weiter.

(justus)

Mehr Informationen zur Arbeit der Gruppe und Spendenmöglichkeiten findet ihr unter: xttp://www.awalls.org

Hilfe, die Polen kommen!

Die Angst macht sich breit in Sachsen. Eilig werden die Schaufenster von Ge­­schäf­­ten mit Brettern vernagelt, an den Kassen der Supermärkten drängen sich die Leu­te, um noch rasch die letzten Hamster­käu­fe zu tätigen. Alte Menschen wagen sich gar nicht mehr auf die Straße. Der Grund: Am 21. Dezember ist das Schen­ge­n­er Abkommen auch für die neuen EU-Staa­­ten in Kraft getreten, die Grenzkon­trollen an der polnischen und tschechi­schen Grenze sind damit Vergan­gen­heit.

Das macht den Leuten Angst – vor allem da­vor, dass osteuropä­ische Kri­mi­nelle bei uns künftig noch viel leichter rauben und mor­­den können. Oder wenigstens sollte es den Leuten Angst ma­chen, wenn es nach Sach­sens Innen­­­mi­­nis­ter Albrecht Buttolo (CDU) ginge. Er nimmt „die Be­fürch­­tun­gen der Bür­gerin­nen und Bürger“ auf je­den Fall „sehr ernst.“ Darum hat er auch „Maß­­­­­­nah­­men der säch­si­schen Poli­zei ver­an­­lasst“, damit sich die Leute „auch weiter sicher im Frei­­staat Sach­sen füh­len kön­­nen.“

Als erste Maß­nah­me hat er die Bro­schüre dru­cken lassen, der diese Zitate ent­nommen sind. Diese wurde Anfang Dezember an sächsische Haus­halte verteilt, um den potentiell schon ziemlich verängs­tigten Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie die Polizei sie vor der drohenden Gefahr schützen will.

Zunächst mal werden die „Kontrollen im grenznahen Raum“ verstärkt – statt der stationären gibt es nun dreimal so viele mobile Kontrollen. „Gemeinsam mit der Bundespolizei und dem Zoll“ soll so ein „Fahndungsschleier im grenznahen Raum“ errichtet und so der „Verfolgungs­druck auf Straftäter“ erhöht werden insbesondere durch verstärkte „Kontroll­tätigkeit auf den Bundesautobahnen“. Und nicht nur das: Mit Hilfe „aufeinander abgestimmter Lagebilder für ein zeitnahes Erkennen der Krimina­litätsentwicklung“ hofft man, diese „bereits in den Ansätzen“ bekämpfen zu können.

„Bereits in den Ansätzen bekämpfen“ klingt ja schon gut – fast wie „im Keim er­sticken“. Aber ein bisschen aufpassen müs­sen die Bürgerinnen und Bürger auch sel­ber. Denn die Polizei kann zwar hart durch­greifen, aber nicht zaubern. Darum will sie sich zusätzlich um die Beratung küm­mern und „Präventionsveranstal­tun­gen“ organi­sieren, bei denen erklärt wird, wie man sich schützen kann. Okay, der gu­te Wille zählt. Aber insgeheim fragt man sich schon: Prävention gegen Polen – geht das denn?

Für ältere Leute, die nicht mehr so gut zu Fuß sind und deshalb nicht zu diesen Ver­anstaltungen kom­men können, gibt es noch ein paar Ver­haltenstipps auf den Weg. Zum Beispiel: „Notie­ren Sie sich die Einzel­heiten, falls Sie ver­dächtige Perso­nen fest­stel­len oder ande­re ver­dächtige Wahr­­nehmungen ma­chen“. Wenn sich also zum Beispiel fremd­­­län­disch aus­schau­en­de Per­so­nen in Ihrer Wohn­­­­­gegend herum­­trei­­­ben, gilt: „Haben Sie keine Be­denken, im Zwei­­fels­­fall die Polizei anzurufen.“

Fragt sich nur, ob die im Ernst­fall wirklich helfen kann. Denn auch den tapferen Polizei­beam­ten macht die zu erwar­tende Invasion ost­eu­ropäischer Krimi­neller offen­bar Angst. Mehr noch: Sie haben die Hosen gestri­chen voll. Rund 1000 von ihnen gingen des­halb am 22. November in Frankfurt/Oder auf die Straße, um gegen den Wegfall der Grenz­kon­trollen zu demonstrieren. Das Motto der Demo lautete: „Offene Grenzen ja – KEINE Freifahrt für Terro­rismus und Krimi­nalität“.

„Polnische Superkriminelle sind uns überlegen!“ wäre vielleicht ein noch besseres Motto gewesen. Aber auch so kann einem Angst und Bange werden, wenn da von „Terrorismus und Krimi­nalität“ die Rede ist. Nicht genug, dass die fiesen Osteuropäer unsere Autos klauen – müssen wir uns künftig auch noch vor pol­nischen Selbstmordattentätern fürch­ten?! Und selbst die Polizei ist offenbar machtlos angesichts des drohenden Ansturms von Kriminellen und Terro­risten.

Und wenn nicht die Polizei, wer kann uns denn dann noch helfen? Vermutlich nur die Bundeswehr. Frau Kanzlerin: Handeln Sie JETZT!

(justus)

Libyen: Intervention im Namen des Volkes?

Mit einer ungeheuren Brutalität versuchen gegenwärtig die Truppen des Diktators Muammar al Gaddafi den Aufstand in Libyen niederzuschlagen. Auch wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt (3.3. 2011) unmöglich ist, verlässliche Prognosen über den weiteren Fortgang der Auseinandersetzungen zu treffen, eines lässt sich jetzt schon mit Sicherheit sagen: Diejenigen, die nun im Namen von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ eine Flugverbotszone oder gar eine westliche Militärintervention fordern, machen sich – ob bewusst oder unbewusst – zu Handlangern derjenigen, denen es lediglich darum geht, die Geschicke des Landes in „geordnete“ – sprich: pro-westliche – Bahnen zu lenken.

Für die USA und die Europäische Union ist Gaddafi, mit dem man in jüngsten Jahren zwar recht profitabel kooperiert und dabei mehrere Augen bei dessen Menschen­rechtsverletzungen zugedrückt hat (bzw. im Falle der Misshandlung von Migranten diese regelrecht ermutigte), ein zu unsicherer Kantonist geworden. Die massiven westlichen Interessen im Land erfordern einen zuverlässigeren Sachwalter und der Aufstand im Land eröffnet die Chance, einen solchen zu installieren. Auf der anderen Seite ist aber keineswegs ausgemacht, dass sich am Ende der Auseinandersetzung eine pro-westliche Regierung durchsetzt, weshalb das westliche Hauptinteresse darin besteht, über eine militärische Involvierung einen Fuß in die Tür zu bekommen, um die weiteren Ereignisse maßgeblich mitbestimmen zu können.

Eine westliche Militärintervention ist nicht nur mit massiven Risiken behaftet, sondern sie würde auch jegliche emanzipatorische und progressive Lösung des Konfliktes in Libyen erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Denn der Westen hat ausschließlich seine eigenen Interessen im Blick, nicht die der unterdrückten libyschen Bevölkerung. Hierüber scheinen sich auch große Teile der Aufstandsbewegung im Klaren zu sein, die ganz im Gegensatz zu ihren – vermeintlichen – Unterstützern im Westen eine Intervention von außen strikt ablehnen.

Vom westlichen Saulus zum Paulus?

Muammar Gaddafi hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich, innerhalb seiner mittlerweile 42jährigen Diktatur wandelte er sich von einem westlichen Hassobjekt allerersten Ranges zu einem wichtigen Koope­rationspartner. Einstmals war Gaddafi sogar ein Hoffnungsträger für viele Linke in und außerhalb des Landes, als dieser 1969 gegen den damaligen libyschen König Idris putschte: „Der Umsturz wurde im Land als ein Akt der Entkolonialisierung verstanden. Gaddafi ließ alle ausländischen Militärstützpunkte schließen, darunter die riesige US-Air Base Wheelus, die Ölindustrie wurde verstaatlicht und sämtliche Italiener wurden zur Aus­reise gezwungen. […] Muammar al-Gaddafi wurde in jenen Schichten des Landes, die politische Veränderungen überhaupt wahrnahmen, zunächst als Revolutionär und Befreier akzeptiert.“[1] Soweit ersichtlich, setzte Gaddafi zumindest anfangs sozialpolitisch auf eine progressive Politik: „[So] verdoppelte der Revolutionsrat als eine der ersten Maßnahmen den Mindestlohn, senkte die Mieten um 30-40% und verhängte ein Preiserhöhungsverbot – bereits von Beginn an sollte dem verarmten Land ein künftiges Teilhaben am Wohlstand signalisiert werden.“[2]

Kaum verwunderlich also, dass sich im Laufe der 1970er die Konfrontation mit den USA sukzessive zuspitzte, 1978 erließen die Vereinigten Staaten erstmals ein Embargo auf militärische Güter. Vor allem aufgrund der libyschen Verwicklung in Terroranschläge verschärften sich die Konflikte ab dem Amtsantritt Ronald Reagans nochmals erheblich. Bereits 1981 erließ Washington ein Handelsembargo und es kam zu ersten militärischen Scharmützeln. Den Höhepunkt erreichten die Konflikte mit den Luftangriffen vom 15.04.1986, die offiziell als Vergeltung für den Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ stattfanden, für den die libysche Führung mit verantwortlich gemacht wurde. Ziel der Operation war es, Gaddafi zu liquidieren, was allerdings nicht gelang. Im Jahr 1992 verhängten die Vereinten Nationen darüber hinaus auch multilaterale Sanktionen, sodass es westlichen Firmen nahezu unmöglich war, im Land zu operieren. [3]

So fand sich Gaddafi für viele Jahre weit oben auf der Liste westlicher Staatsfeinde, was sich erst ab 1999 wirklich ändern sollte, als er zwei libysche Staatsangestellte überstellte, die der Verwicklung in das „Locker­bie“-Attentat bezichtigt wurden, wofür die Vereinten Nationen ihre Sanktionen gegen Libyen im Gegenzug suspendierten. Der Wegfall der UN-Sanktionen ermöglichte europäischen Konzernen den Einstieg ins dortige Geschäft, weshalb sich in der Folge zahlreiche EU-Staatschefs regelrecht die Klinke in die Hand drückten. So wurde Gaddafi auch von Präsident Nicolas Sarkozy 2007 mit allen Ehren in Frankreich empfangen und 2009 änderte Silvio Berlusconi beim G8-Gipfel in Italien extra die Sitzordnung, damit der libysche Diktator den Ehrenplatz zu seiner Linken bekommen konnte (rechts saß Barack Obama). Neben der wirtschaftlichen „Öffnung“ erwies sich Gaddafi vor allem auch bei der brutalen Migrationsabwehrpolitik der Europäischen Union als überaus williger und nützlicher Komplize.[4]

Während EU-Konzerne also begannen, in Libyen „gute“ Geschäfte zu machen, wurde dies US-Firmen durch die fortbestehenden US-Sanktionen verboten. Aus diesem Grund formierten sich bereits im Jahr 2000 zahlreiche wichtige US-Konzerne unter dem Dach der „US-Libya Business Association”, um Lobbying für eine Aufhebung der US-Sanktionen zu betreiben. [5] Nachdem Gaddafi 2003 bekanntgab, Libyen hätte zwar an Massenvernichtungsmitteln gearbeitet, sei aber zur Aufgabe der Programme bereit, normalisierten sich auch die Beziehungen zu den USA rasch. Kurz darauf wurde damit begonnen, die US-Sanktionen schrittweise zu lockern und nachdem Libyen 2006 von der Liste der den Terror unterstützenden Staaten gestrichen worden war, wurden sämtliche Sanktionen aufgehoben, was auch US-Firmen endgültig den Einstieg ins Libyen-Geschäft ermöglichte.

Nun konnten also die Geschäfte richtig losgehen, insbesondere auch, weil Gaddafi im Laufe der Jahre auf einen neoliberaleren Kurs umschwenkte und alles tat, um ausländische Investoren anzulocken. Insbesondere wurde der vormals strikt nationalisierte Ener­giesektor für ausländische Firmen geöffnet. Von 2000 bis 2010 wurde zudem ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert und laut Re­gierungsangaben vom April 2010 sollte in den Folgejahren „100 Prozent der Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren übergeben werden.“[6] Kein Wunder also, dass der Internationale Währungsfonds Gaddafi noch Ende 2010 hervorragende Noten für seine Wirtschaftspolitik ausstellte. In einem Bericht hieß es: „Der Ölsektor profitiert weiter vom Bekenntnis zu ausländischen Di­rekt­investitionen.“ Weiter lobte der Bericht die „zahlreichen wichtigen Gesetze […] zur Modernisierung der Wirtschaft“ sowie die „Bemühungen, die Rolle des Privatsektors in der Wirtschaft zu ver­größern.“[7]

Ob gewollt oder ungewollt, diese „Wirt­schaftsreformen“ trugen sicherlich nicht zur Verbesserung der sozialen Situation im Land bei. Generell ist von der Sozialpolitik, die zumindest am Anfang der Gaddafi-Ära eine wichtige Rolle spielte, wenig übrig geblieben: „Libyen ist das reichste nordafrikanische Land. […] Aber dies spiegelt sich nicht in der wirtschaftlichen Situation des durchschnittlichen Libyers wider […] Die Arbeitslosenquote beträgt überraschende 30% und die Jugendarbeitslosigkeit 40-50%. Das ist die höchste in Nordafrika. […] Auch andere Ent­wicklungsindikatoren zeigen, dass wenige der Petro­dollars zum Wohlbefinden der 6,5 Millionen Libyer ausgegeben wurden. Das Bildungsniveau ist geringer als im benachbarten Tunesien, das über wenig Öl verfügt, und die Analphabetenrate ist mit 20% überraschend hoch. […] Vernünftige Wohnungen sind nicht zu bekommen und ein generell hohes Preisniveau belastet die Haushalte noch zusätzlich.“[8]

Gleichzeitig ging Gaddafi innenpolitisch brutal gegen Kritiker vor, wie ein Blick in den Jahresbericht von Amnesty International zeigt. [9] Nun sind schwere Menschen­rechtsverletzungen für die USA oder die Europäische Union selten ein Grund, nicht mit einem Regime bestens zu kooperieren, solange die Kasse stimmt. Auch Gaddafi machte hier keine Ausnahme, wie vor allem die schamlose Zusammenarbeit bei der Mi­grationsabwehr zeigt. Angesichts der anderen Bereiche, in denen der libysche Diktator innerhalb der letzten zehn Jahre westlichen Interessen ebenfalls weit entgegengekommen ist, drängt sich die Frage auf, weshalb er gleich zu Beginn des Aufstands – ganz im Gegensatz zu den Diktatoren Ägyptens und Tunesiens – vom Westen fallengelassen wurde wie eine heiße Kartoffel, ja mehr noch, weshalb offensichtlich darüber nachgedacht wird, militärisch beim Sturz des Diktators nachzuhelfen.

Westliche Interessen und Gaddafi als unsicherer Kantonist

Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich Gaddafi deutlich von seinen kürzlich abgesetzten Spießgesellen in Ägypten und Tunesien unterscheidet. Während Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali eindeutig westliche Marionettenfiguren waren, trifft dies für Gaddafi nicht zu. Für ihn stand und steht stets die eigene Agenda im Vordergrund, für die er auch immer wieder bereit war, sich mit dem Westen anzulegen, insbesondere im wichtigsten Bereich, dem Ölsektor. Die Relevanz der libyschen Ölvorkommen steht außer Frage, sie sind mit 44,3 Mrd. Barrel die größten Afrikas. Besonders für die Europäische Union, die 10% ihrer Ölversorgung aus Libyen deckt, ist das Land von enormer Bedeutung. Allein deshalb besteht ein großes Interesse an Stabilität und die ist mittlerweile mit Gaddafi ange­sichts der Breite der Aufstandsbewegung auf absehbare Zeit nicht mehr zu bekommen. Zudem fiel infolge der Konflikte zwi­schen­zeitlich etwa die Hälfte der libyschen Öl­produktion weg, was zu einem sprunghaften Anstieg des Weltölpreises führte, der zwischenzeitlich auf 120 Dollar pro Barrel kletterte. Anhaltende Konflikte würden den Ölpreis weiter unter Druck setzen und damit eine erhebliche Belastung für die Ökonomien der Industrieländer dar­stellen.

Ein weiterer Aspekt, bei dem sich Gaddafi als zunehmend hinderlich erwiesen hatte, betrifft die Profitinteressen der Ölindustrie. Westliche Firmen haben erhebliche Summen in den libyschen Ölsektor investiert bzw. Verträge mit astronomischen Summen abgeschlossen – insgesamt ist von einer Gesamtvolumen in Höhe von über 50 Mrd. Dollar die Rede. So unterschrieb etwa die italienische ENI 2007 einen Vertrag, der ihr bei einer Investitionssumme von 28 Mrd. Dollar Öl- und Gasversorgungsrechte bis ins Jahr 2047 garantiert; die britische BP bezahlte im selben Jahr allein für das Explo­rationsrecht auf einer Fläche von 55.000 Quadratkilometern über 900 Mio. Dollar und plant in den kommenden Jahren bis zu 20 Mrd. Dollar zu investieren; und die amerikanische Exxon zahlte 2008 für Explorationsrechte 97 Mio. Dollar. Auch die deutsche RWE sicherte sich Öl- und Gaskonzessionen im Sirte-Becken und hat vor, etwa 700 Mio. Dollar zu investieren, während die BASF-Tochter Wintershall mit einem Investitionsvolumen von 2 Mrd. Dollar in Libyen engagiert ist.

Doch der Euphorie folgte schnell eine große Ernüchterung, denn so ganz war auf Gaddafi dann doch kein Verlass. Als er 2009 tatsäch­lich „Eigentum“ der in Libyen operierenden kanadischen Ölfirma Verenex wieder verstaatlichte, war der Unmut groß, wie ein Bran­chenreport aus demselben Jahr zeigt: „Wenn Libyen die Nationalisierung von Privatbesitz androhen kann; wenn es bereits verhandelte Verträge neu aufmacht, um sein Einkommen zu vergrößern oder ‚Tribut‘ von Firmen zu extrahieren, die hier arbeiten und investieren wollen; […] dann wird den Unternehmen die Sicherheit verweigert, die sie für langfristige Investitionen benötigen. […] Libyen hat es versäumt, eine stabile Plattform bereitzustellen.“[10]

Aus Sicht der Ölindustrie bietet sich also mit dem Aufstand die Möglichkeit, sich des Diktators zu entledigen. Dass Gaddafi gehen muss, scheint jedenfalls mittlerweile aus westlicher Sicht unabdingbar geworden zu sein. So äußerte sich der britische Premierminister David Cameron am 1.3.2011: „Für die Zukunft Libyens und seiner Bevölkerung muss das Regime von Colonel Gaddafi enden und er muss das Land verlassen. Hierfür werden wir jede mögliche Maßnahme ergreifen, um Gaddafis Regime zu isolieren, es von Geld abzuschneiden, seine Macht zu verringern und sicherzustellen, dass jeder, der für Misshandlungen in Libyen verantwortlich ist, dafür zur Rechenschaft gezogen werden wird.“[11] Andererseits bestehen in den Reihen der Ölmultis auch große Sorgen, dass aus den Auseinandersetzungen eine Regierung hervorgehen könnte, die sich wo­mög­lich sogar noch unaufgeschlossener gegenüber ihren Profitinteressen erweisen könnte, als es das Gaddafi-Re­gime war, wie etwa das Magazin Fortune befürchtet: „Unglück­licher­weise könnten diese großen Deals mit hoher Wahrscheinlichkeit wertlose Papierfetzen werden, sollte Gaddafi das Land verlassen müssen. Jede Regierung, die an die Macht gelangen wird, wird zweifellos eine Neuverhandlung der Verträge wollen, was zu weniger Profiten aufseiten der Ölfirmen führen könnte. Eine neue Regierung könnte sogar die Industrie vollständig nationalisieren und alle Ausländer aus dem Land werfen.“[12]

Wie man es also dreht und wendet, für die Ölindustrie und die westlichen Regierungen besteht Handlungsbedarf. Ohne den Aufstand hätte man wohl mit Gaddafi leben und sich irgendwie arrangieren können: mit einem Bürgerkrieg und fortgesetzten Unruhen, die nicht nur die Ölversorgung gefährden, sondern auch die „Flüchtlingsgefahr“ erhöht, jedoch nicht. Und schon gar nicht will man zulassen, dass sich in Libyen eine Regierung etabliert, der womöglich das Wohlergehen der Bevölkerung mehr am Herzen liegt, als das ihrer Führungseliten und westlichen Komplizen.

Interventionsgeschrei und militärische Planspiele

In den USA erschienen bereits unmittelbar nach Ausbruch des Aufstandes zahlreiche Artikel, die für ein bewaffnetes Eingreifen in der ein oder anderen Form plädierten. Prominent wahrgenommen wurde vor allem ein gemeinsamer Brief vom 25.2.2011, der von 40 US-Außenpolitikern unterzeichnet wurde, darunter zwölf, die in der Bush-Regierung teils hohe Posten innehatten. Er forderte Präsident Barack Obama auf, „sofort“ militärische Maßnahmen zum Sturz des Gaddafi-Regimes vorzubereiten. [13] Auch in linksliberalen Medien wie der New York Times wurde für einen Krieg getrommelt. Dort erschien am 27.2. ein Artikel, in dem davor gewarnt wurde, dass infolge der Auseinandersetzungen Chaos ausbrechen und sich im Zuge dessen Al-Kaida im Land festsetzen könne. Um dies zu verhindern, sei es erforderlich, „eine fremde Schutztruppe“ für eine Zeit lang im Land zu stationieren – sprich: es zu besetzen. [14] Die US-Regierung selbst schlug bereits am 22.2. harte Töne an, indem Präsident Barack Obama das berühmte „all options are on the table“ betonte, mit dem stets signalisiert wird, dass eine Militärintervention ernsthaft in Betracht gezogen wird.

Auf der anderen Seite des Atlantiks bot u.a. der linksliberale Guardian Ian Birrel, dem ehemaligen Redenschreiber David Camerons, eine Plattform für seine Kriegspropaganda: „Die einzige Lösung ist eine rasche Intervention, angeführt vielleicht von Ägypten oder Tunesien, deren Armeen sich in den letzten Wochen Respekt erworben haben, um Gaddafi aus seiner Basis zu jagen und seinem entsetzlichen Regime ein Ende zu setzen.“ [15] Bereits früh wurde denn auch gemeldet, dass die EU ernsthaft an Angriffsoptionen arbeite: „Die EU-Staaten ziehen Diplomaten zufolge für den Fall einer Katastrophe für die Menschen in Libyen Militäraktionen in Betracht. ‚Wir machen Notfallpläne mit verschiedenen Szenarien, das ist eine Möglichkeit, an der wir arbeiten‘, sagte ein EU-Diplomat am Donnertag [24.02] in Brüssel.“ [16]

Doch es blieb keineswegs allein beim Säbelrasseln. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Europäische Union verhängten Sanktionen. Frankreich und Großbritannien äußerten die Absicht, die Aufständischen unterstützen zu wollen und Italien kündigte einen Nicht-Aggressionspakt mit Libyen auf. Daniel Korski vom einflussreichen European Council on Foreign Relations liefert einen Überblick über die derzeit in Betracht gezogenen Militäroptio­nen. In einem Artikel forderte er die westlichen Staaten dazu auf, den NATO-Militärausschuss anzuweisen, mit der Ausarbeitung militärischer Einsatzpläne für sechs Szenarien zu beginnen: „eine Flugverbotszone; eine Evakuierungstruppe zur Rettung europäischer Staatsangehöriger; eine Truppe, um Öl und Energieeinrich­tungen zu schützen; Luftunterstützung für Regierungsgegner; und, schlussendlich, eine größere Interventionstruppe zum Schutz der Libyer.“ [17] Doch Militärexperten weisen lautstark darauf hin, dass jede dieser Optionen mit erheblichen Risiken verbunden ist und der Erfolg – gerade im Lichte der vergangenen Interventionen – keineswegs garantiert werden könne. In aller Deutlichkeit kritisierte etwa der prominente Militärexperte Andrew Exum das Kriegsgetrommel: „Ich bin entsetzt darüber, dass liberale Inter­ventionisten weiter vorgaukeln, es sei einfach, humanitäre Krisen und regionale Kon­flikte durch die Anwendung militärischer Gewalt zu lösen. So leichtfertig über diese Dinge zu sprechen, spiegelt ein sehr unreifes Verständnis der Grenzen von Gewalt und der Schwierigkeiten und Komp­lexitäten heutiger Militäroperationen wider.“ [18]

Flugverbotszone: Die Machtfrage ins Ausland verlagern

Inzwischen deutet alles darauf hin, dass eine Flugverbotszone in Libyen errichtet werden wird. Wer aber eine Flugverbotszone einrichtet, der muss diese gegebe­nen­falls auch militärisch durchsetzen – und das bedeutet einen Krieg zu führen. Der Chef des amerikanischen Zentralkommandos, James Mattis, betonte, man müsse „die Luftabwehr außer Kraft setzen, um eine Flugverbotszone einzurichten.“ Man dürfe sich keinen Illusionen hingeben: „Dies wäre ein Militäreinsatz und nicht etwa die einfache Ansage, dass niemand mehr Flugzeuge einsetzen dür­fe.“[19] Man sollte außerdem nicht vergessen, dass die Flugverbotszonen, 1991 über dem Nordirak (Operation Provide Comfort) und 1993 über Bosnien und Herzegowina (Operation Deny Flight), beide in eine westliche Militärintervention mitsamt anschließender Besatzung mündeten. Ein hellsichtiger Artikel wies sowohl auf die eigentliche Intention als auch auf die Folgen hin, die mit der Errichtung einer Flugverbotszone einhergehen würden: „Letztlich handelt es sich um eine Entscheidung mit politischen Folgen. Mit einem Mandat für den Lufteinsatz würde die Machtfrage ins Ausland verlagert. Wer aber einmal mitmacht, der gerät auf die schiefe Ebene, der wird sich nicht mehr entziehen können, sollte Gaddafi über Wochen oder gar Monate Widerstand leisten oder ein Guerilla-Krieg ausbrechen. Dann würde der Druck steigen, auch für einen Bodeneinsatz.“[20]

Ein praktisches Anschauungsbeispiel, auf welche Weise die „Machtfrage ins Ausland verlagert“ werden kann, liefert Jürgen Chrobog, ehemals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, gibt an: „Es muss eingegriffen werden. […] Ich halte eine Flugverbotszone für unausweichlich.“ Hierfür und auch für weitergehende Militärmaßnahmen sei „eigentlich“ eine Mandatierung des Sicherheitsrates erforderlich, wogegen sich vor allem Russland und China sträuben: „Doch wenn wir sie nicht kriegen, muss man überlegen, wie weit man sonst vorgehen kann und wo eine Rechtsgrundlage ist, und ich sagte ja, ein Hilfsersuch auch der Menschen vor Ort, der Menschen in Bengasi […] könnte letzten Endes aus humanitären Gründen vielleicht auch als ausreichend angesehen werden.“[21]

So einfach ist es also: Im Namen der Humanität folgt man dem Ruf der Opposition in Bengasi und aufgrund der hehren Absichten können dabei auch die Vereinten Nationen übergangen und damit das Völkerrecht gebrochen werden. Ganz so simpel ist die Sache jedoch nicht, denn innerhalb der libyschen Aufstandsbewegung reicht das Spektrum der Meinungen von der strikten Ablehnung jeglicher westlichen Einmischung über die ausschließliche Befürwortung einer Flugverbotszone bis hin zu vereinzelten Forderungen nach einer westlichen Militärintervention, wogegen sich aber die große Mehrheit kategorisch ausspricht. Indem selektiv auf die Kräfte gesetzt wird, die ohnehin aufgeschlossen gegenüber einer westlichen Involvierung sind, werden so auch pro-westliche Elemente innerhalb der Aufstandsbewegung systematisch gestärkt und für die Zukunft aufgebaut.

Intervention: Not in our name!

Auf westlicher Seite hat bereits fieberhaft die Suche nach geeigneten „Kooperationspartnern“ innerhalb der Aufstandsbewegung begonnen. Man wolle der Opposition jegliche „Hilfe“ zur Verfügung stellen, heißt es in den westlichen Hauptstädten, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man anders als etwa in Ägypten oder Tunesien über wenig Kontakte durch politische Stiftungen oder militärische Kooperationsprogramme verfügt. Eine Militärintervention soll demzufolge wahrscheinlich vor allem die Möglichkeit eröffnen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, um den Fortgang der Dinge maßgeblich mitbestimmen zu können.

Wohl nicht zuletzt deshalb wird eine westliche Militärintervention innerhalb der Aufstandsbewegung mehrheitlich abgelehnt. Hafiz Ghoga, Sprecher des neuen National Libyan Council, bestätigt den Eindruck: „Wir lehnen eine ausländische Intervention vollständig ab. Der Rest von Libyen wird vom Volk befreit werden.“ [22] Auch der Vorsitzende des National Libyan Council, Mustafa Abdul Dschalil, machte deutlich: „Wir wollen keine ausländischen Soldaten hier.“[23] Ein Blick auf andere vom Westen „befreiten“ Länder – Kosovo, Afghanistan, Irak – genügt, um sich die „Nebenwirkungen“ eines Mili­tär­einsatzes bewusst zu machen: „Das Beispiel des [instabilen] Irak beängstigt jeden in der arabischen Welt“, so Abeir Imneina, Politikprofessorin an der Universität in Bengasi. [24]

Muammar Gaddafi ist ein Verbrecher und er gehört vor Gericht – besser früher als später. Eine westliche Militärintervention zu fordern, heißt jedoch den Bock zum Gärtner machen, sie könnte auf absehbare Zeit jeglicher Perspektive auf eine progressive Regierung in Libyen den Dolchstoß versetzen: „Untrennbar mit den Forderungen nach demokratischen Freiheiten verbunden ist ein tiefgehendes Verlangen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. […] Eine Militärintervention würde nicht nur eine Gefahr für Libyen und seine Bevölkerung bedeuten, sondern auch für die Kontrolle [ownership] dessen, was bislang eine vollständig organische, hausgemachte Demo­kratiebewegung in der gesamten Region war.“[25] Leider scheint es genau das Ziel zu sein, diese demokratische Bewegung in den Griff zu bekommen, denn wenn die Europäische Union wirklich ein Interesse hätte, der Bevölkerung in Libyen und der Region zu helfen, so hätte sie schon längst die Grenzen geöffnet, anstatt ihre Grenz­schutzagentur FRONTEX zur Abwehr verzweifelter Menschen in Stellung zu bringen. Wie schamlos sich in dieser Frage verhalten wird, sollte all denen zu denken geben, die nun im Namen der Menschenrechte buchstäblich zu den Waffen rufen.

(Richard Hingsen)

[1] Kister, Kurt: Muammar al-Gaddafi. Letztes Gefecht eines alten Revolutionärs, Süddeutsche Zeitung, 23.02.2011.
[2] Vrabl: Andreas: Libyen: Eine Dritte Welt – Revolution in der Transition, Diplomarbeit, Universität Wien, Juli 2008, S. 7: othes.univie.ac.at/846/1/2008-07-30_9951900.pdf
[3] „Auslöser für weitergehende Sanktionen gegen Libyen war die Bekanntmachung der USA und Großbritanniens am 14. November 1991, dass zwei Libysche Geheimdienstoffiziere mit direktem Auftrag von Gaddafi für den Lockerbie-Anschlag verantwortlich seien und man dafür stichhaltige Beweise hätte. Über dem schottischen Ort Lockerbie explodierte am 21. Dezember 1988 eine Boeing 747 durch eine Bombe, 270 Menschen starben, davon elf am Boden.“ (Vrabl 2008, S. 78).
[4] „Menschenrechtsor­gani­sationen und Journalisten berichten seit Jahren regelmäßig von den brutalen Praktiken, denen Migran­ten in Libyen ausgesetzt sind. Dass die Flüchtlinge festgehalten, zu Hunderten in Container gepfercht und in Lager in der Wüste transportiert werden, wo man sie ohne genügend Nahrung in völlig überfüllte Zellen sperrt – Fläche pro Flüchtling: oft ein halber Quadratmeter –, gehört zum Alltag. Glaubwürdige Berichte belegen darüber hinaus, dass es in den Flüchtlingslagern immer wieder zu körperlicher Folter und zur Ermordung der Internierten kommt. Dass unerwünschte Migranten zuweilen in menschenleeren Wüstengebieten an der Grenze des Landes ausgesetzt werden – ohne überlebensnotwendige Ausrüstung und Nahrung –, kommt Mord ebenso gleich wie der gelegentliche Beschuss von Flüchtlingsbooten durch die libysche Küstenwache.“ (Der Zerfall eines Partnerregimes, German-Foreign-Policy.com, 23.02.2011).
[5] Zu den Firmen gehören ExxonMobil, BP, ConocoPhillips, Chevron, Marathon Oil, Occidental Petroleum, Shell und die Hess Corporation. Hinzu kommen Boeing, Caterpillar, Dow Chemical, Fluor Corporation, Halliburton, Motorola und Raytheon.
[6] Libya to privatise half of economy in a decade, Reuters, 02.04.2010.
[7] Zaptia, Sami: Another Positive IMF Report on Libya’s Economic Progress, Tripoli Post, 18.11.2010: www. tripolipost.com/articledetail.asp?c=2&i=5121
[8] Africa Online News zitiert bei How Gaddafi beca­me a Western-backed dictator, Peters Notepad, 24.02.2011: peterb1953. wordpress.com/2011/02/24/how-gaddafi-became-a-western-backed-dictator/
[9] Amnesty Report 2010: Libyen: www. amnesty.de/jahresbericht/2010/libyen?destination= node%2F2971
[10] Zweig, Stefan: Profile of an Oil Producer: Libya, Heatingoil.com, 29.09.2009: www.heatingoil.com/wp-content/uploads/2009/09/profile-of-an-oil-producer-libya.pdf
[11] Mulholland, Hélène: Libya crisis: Britain mulling no-fly zone and arms for rebels, says Cameron, The Guardian, 28.02.2011.
[12] Sanati, Cyrus: Big Oil’s $50 billion bet on Libya at stake, Fortune, 23.02.2011.
[13] Lobe, Jim: Neo-Con Hawks Take Flight over Libya, Inter Press Service 25.02.2011.
[14] MacFarquhar, Neil: The Vacuum After Qaddafi, New York Times, 27.02.2011.
[15] Birrel, Ian: On Libya we can’t let ourselves be scarred by Iraq, The Guardian, 23.02.2011.
[16] Welt Online: Live-Ticker Libyen: www.welt.de/politik/ausland/article12631912/Deutsche-Marine-schickt-Kriegsschiffe-nach-Libyen.html
[17] Korski, Daniel: What Europe needs to do on Libya, European Council on Foreign Relations, 25.02.2011.
[18] Lobe 2011. Vgl. für eine Einzelkritik jeder derzeit überlegten Einsatzoption Gupta, Susil: Libya: Dreams of Western Intervention, Antiwar.com, 26.02.2011.
[19] „Ohne Militäreinsatz keine Flugverbotszone“, tagesschau.de, 02.03.2011.
[20] Süddeutsche Zeitung – Deutschland: Flugverbot birgt Gefahren, 01.03.2011.
[21] Flugverbotszone in Libyen ist „unausweichlich“, Jürgen Chrobog, Ex-Diplomat, zu Handlungsmöglichkeiten, Deutschlandfunk, 03.03.2011: www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1402117/
[22] Libya rebels form council, oppose foreign intervention, Reuters, 28.02.2011.
[23] EU treibt Gaddafi in die Enge, Stern.de, 28.02.2011.
[24] World powers edge closer to Kadhafi solution, AFP, 01.03.2011.
[25] Milne, Seumas: Intervention in Libya would poison the Arab revolution, The Guardian, 02.03.2011.
Die ungekürzte Fassung des Textes unter:
www.imi-online.de/2011.php?id=2258
Zum Thema auch interessant:
Marischka, Christoph: Per Flugverbotszone in den Krieg in Nordafrika? www.imi-online.de/2011.php?id=2253

SUDAN: Ein neuer Staat für Afrika

Am 09. Januar 2011 stimmte die südsudanesische Bevölkerung darüber ab, ob aus dieser etwa zweimal die Fläche der BRD umfassenden Region ein unabhängiger Staat wird. Wie erwartet, fiel das Votum für die Unabhängigkeit fast einstimmig aus. Die offizielle Proklamierung eines neuen Staates ist nur noch eine Frage der Zeit. Die zukünftigen Bürger dieses Staates eint keine gemeinsame Sprache, auch keine gemeinsame Religion und zuvor wurden sie nicht als „südsudanesisches Volk“ bezeichnet (durch sich selbst oder von anderen), sondern als Dinka, Nuer, Schilluk, Azande, Acholi usw. Es fehlen also die wichtigen Merkmale, die Nationalisten weltweit für entscheidende Faktoren der Staatsgründung halten.

Die Gemeinsamkeit, die die neuen Staatsbürger eint, ist eine rein negative: Sie alle entsprachen nicht dem Ideal vom Staatsvolk, das der sudanesische Staat unter verschiedenen Regimen seit seiner Gründung propagierte – sie waren weder arabisch­sprachig noch islamgläubig. Die britische Kolonialmacht hatte den Süden vom arabischen Norden weitgehend isoliert und bei der Entlassung in die Unabhängigkeit 1956 darauf bestanden, dass der islamisch-arabische Norden und der „schwarzafrikanische“ Süden einen Staat bilden. Der Grund dafür war die Befürchtung, dass der unabhängige Nordsudan zum Satellitenstaat des panarabischen und damals sowjetfreundlichen Ägyptens würde.

Die meiste Zeit (1955-1972 und 1983-2005) herrschte in der Region Krieg, wobei die Rebellen mal Autonomie innerhalb des Sudan, mal Unabhängigkeit vom Norden forderten, während die Regierung aus dem Norden immer wieder versuchte, die islamischen Gesetze auch auf die Bevölkerung in und aus dem Süden auszuweiten. 2005 kam unter der Vermittlung respektive dem Druck der westlichen Staaten ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der größten Rebellengruppe Sudanese People´s Liberation Army/Movement (SPLA/M) zustande. In diesem wurde ein Autonomiestatus für den Süden inklusive der paritätischen Teilung der Rohstoffeinnahmen vereinbart (1). Das Referendum sollte quasi die Bilanz ziehen – zuerst ließen die Süd-Rebellen durchscheinen, dass sie nur für die Unabhängigkeit plädieren würden, wenn die Regierung sich nicht an das Autonomieabkommen hält. Doch nach dem Unfalltod ihres Anführers John Garang 2005 arbeitete die SPLA kontinuierlich auf die Unabhängigkeit hin.

Wenn die Abspaltung des Südens vollzogen wird, wäre dadurch erstmalig ein politisches Tabu im postkolonialen Afrika gebrochen: die Unrevidierbarkeit der von Kolonialmächten gezogenen Grenzen (2). Der sudanesische Staat hat außerdem durch die Begünstigung von arabischsprachigen Moslems – die 42 % der Bevölkerung bilden – für neue Autonomiebewegungen in Darfur und an der Rotmeerküste gesorgt. Inzwischen laufen im Land mehrere Missionen von bewaffneten Truppen der UNO und der Afrikanischen Union, die den Frieden in Darfur und im Süden überwachen sollen. Die schwerwiegendste Konsequenz des Referendums für den Norden ist aber der Entzug von beachtlichen Teilen seiner ökonomischen Grundlagen – der Rohstoffe.

Seine Wirtschaft

Wovon der neue südsudanesische Staat ökonomisch gespeist werden würde, steht bereits fest. Nämlich davon, wovon bisher der vom arabisch-islamischen Norden dominierte Sudan lebte: vom Export des im Süden zahlreich vorhandenen Erdöls. Einer der Gründe für die Rebellion im Süden war die Tatsache, dass die Ölförderung die Subsistenzwirtschaft der Bevölkerung zerstörte, während die Gewinne aus dem Export nie der Region zu Gute kamen. Mehr noch: Die Regierung plante, das Wasser aus den Quellen im Süden für die Landwirtschaft in den trockenen Norden umzuleiten. Die Rebellen revanchierten sich mit Versuchen, die Ölförderung zu sabotieren – Pipelines und Eisenbahn waren immer wieder Ziel der SPLA-Angriffe. Nachdem der Sudan nach 1989 beim Westen in Ungnade gefallen war, sicherte sich China die privilegierte Stellung bei der Ölförderung. Von den Gewinnen aus dem Export kaufte der Sudan wiederum chinesische Waffen (die westlichen Länder belegten den Sudan mit einem Embargo), um die Rebellen von den Ölfeldern fernzuhalten.

Der Sudan ist ein Staat, in dem die kapitalistische Wirtschaftsweise per Gesetz verordnet ist, aber kapitalistische Produktion kaum stattfindet. Die chinesischen Ölfirmen bringen ihre eigenen Mitarbeiter mit, das Bürgertum handelt mit importierten Waren oder vergibt „islamische (also offiziell zinsfreie) Geldkredite“. Ansonsten gibt es noch die Option, im staatlichen Apparat (dank zahlreicher Regionalkonflikte ist seine bewaffnete Abteilung nicht gerade klein) zu arbeiten, um bei der Selbsterhaltung durch Subsistenzwirtschaft nicht Natur, Klimawandel, Staat sowie feindlichen Nachbar-„Stämmen“ trotzen zu müssen. Darum sind Plätze im Staatsapparat begehrt und meist für loyale arabischsprachige Moslems vorgesehen; die anderen Gruppen sind am Staatserfolg oft weniger interessiert. Das haben die sudanesischen Bürger mit den Bevölkerungen der meisten anderen afrikanischen Staaten gemein – ein wichtiger Unterschied zu den Bürgern der sog. funktionierenden kapitalistischen Staaten im Westen, wo es wesentlich naheliegender ist, den eigenen Erfolg in der Konkurrenz an den Erfolg des Staates zu knüpfen. Denn die Bürger westlicher Staaten sind tatsächlich auch vom ökonomischen Erfolg „ihres“ Staates abhängig. Die Subsistenzbauern hingegen können sich dazu erstmal gleichgültig stellen, weil sie – im Gegensatz zu Lohnarbeitern – ohnehin nicht von einem Kapital benutzt werden, das einen Staat als Ge­schäfts­garanten voraussetzt. Die Entdeckung von neuen Rohstoffreserven bedeutet oft eine Katastrophe für Subsistenzbauern, die versuchen sich vom Boden zu ernähren, unter dem die begehrten Bodenschätze liegen. Die vertriebenen Bauern füllen allerdings nicht – wie im 19. Jahrhundert in Europa – die Fabrikhallen und Arbeitshäuser, sondern Flüchtlingscamps und die Reihen der Gruppierungen, die mit Waffen in der Hand um die Partizipation am Staat und damit am Gewinn vom Export kämpfen.

All diese Probleme nimmt der Südsudan in die Unabhängigkeit mit. Ändern werden sich die privilegierte Gruppe im Staatsapparat (Dinka statt Araber) und die profitierenden Großmächte (EU statt China). Die Ölge­winne muss der Süden mit dem Restsudan teilen, zumal sich die ganze Infrastruktur für den Export im Norden befindet. Die Mächte, die dem Süden seine Unabhängigkeit vermittelten, arbeiten schon an der Behebung dieses Mankos. Deutsche Firmen bauen eine Eisenbahnstrecke, mit der das Öl aus dem Süden über politisch zuverlässigere Länder in die Häfen Ostafrikas gebracht werden soll. Damit wäre der neue Staat in der Lage, dem restlichen Sudan den Zugriff zum Öl zu verweigern, womit wiederum dem Westen sowohl der Druck auf die Regierung im nordsudanesischen Khartum, als auch der (wohl viel wichtigere) Schlag gegen die aufstrebende chinesische Macht möglich wäre. Die Entdeckung von neuen Ölreserven im Süden machten den Südsudan doppelt interessant für die USA und die EU: Neben dem wirtschaftlichen Nutzen des Öls selbst bedeutet die Kontrolle über die Öl­quellen die politische Schwächung der Staaten, die versuchen, aus ihrer Stellung als Öl­lieferanten weltpolitisches Kapital zu schlagen. Damit steht Khartum wiederum zunehmend vor der Alternative: Kurs- und even­tuell Regimewechsel – oder aber Staatszerfall.

Seine Gründungspartei

Wie so manche „Befreiungsbewegung“ der so genannten Dritten Welt hatte sich die SPLA bei ihrer Gründung 1983 auch als irgendwie links und sozialistisch präsentiert. Seit­dem ließ die SPLA sich u. a. von so unterschiedlichen Mächten wie Libyen, dem real­sozialistischen Äthiopien, Israel, Kenia, Ugan­da und Ägypten unterstützen. Als der Su­dan in den neunziger Jahren auf der Liste der Terror-Unterstützer der USA landete, be­kam die SPLA immer mehr Hilfe von der Welt­macht Nr. 1 – was auch deren Sympathien für den Sozialismus schnell schwinden ließ.

Der politische und militärische Druck der Rebellen sollte das Regime in Khartum erschüttern. Die SPLA war sich lange Zeit nicht sicher, ob sie lieber die Unabhängigkeit für den Süden oder den Sturz des Militärregimes im Khartum erkämpfen wollte. Die Bewohner des Südens wurden von der Regierung während des Bürgerkrieges immer wieder von der Versorgung abgeschnitten und erlebten den sudanesischen Staat seit Jahrzehnten als eine feindliche Macht. Die SPLA konnte sich in den ländlichen Regionen als De-facto-Souverän etablieren und sah den kommenden Staat als ihr eigenes Projekt.

Noch während der Verhandlungen 2005 begann die SPLA damit, um die Ausweitung des Begriffes „Südsudan“ zu streiten. Während die Regierung den „Süden“ im Rahmen der britischen Verwaltungseinheiten definierte, sah die SPLA auch die benachbarten rohstoffreichen Provinzen, wo es viele „schwarzafrikanische“ Bewohner gibt, als einen Teil des Südens. Auch die Gebiete, in denen die Rindernomaden der „schwarzen“ Gruppe Dinka ihre Herden weiden lassen, sollten nach der SPLA-Definition beim Referendum über die Unabhängigkeit abstimmen dürfen. Die arabischsprachigen und regierungsloyalen Misseriya-Nomaden, die im selben Gebiet leben, werden von den Staatsgründern der SPLA dagegen als fremde Besatzer betrachtet. Den Kampf um die äußerst ölreiche Region Abyei (3) scheint die SPLA endgültig verloren zu haben – der Ständige Schiedshof in Den Haag hat den Großteil des Gebiets samt Ölfeld der Khartumer Regierung zugeschlagen, das Referendum fand dort nicht statt. Die SPLA akzeptierte den Schiedsspruch offiziell, schleust aber weiter ihre Truppen in die Region ein. Auch die Zugehörigkeit der Provinzen Südkordofan und Blauer Nil hat die SPLA zur Disposition gestellt – dort sollte ebenfalls über die Unabhängigkeit abgestimmt werden. Allerdings wurde am Ende auch dort das Referendum ausgesetzt. Für Südkordofan allerdings steht der Nachholtermin fest: der 9. Juli 2011 – der Tag, an dem der südsudanesische Staat offiziell proklamiert werden soll. Eine Gebietserweiterung des neuen Staates ist also nicht ausgeschlossen. Auch wenn die SPLA in Abyei, Südkordofan und Blauem Nil ihre Präsenz ausbaut, dürfte und darf sie sich dort bis zur Klärung des Status nicht als Quasi-Staatsmacht aufspielen.

Im restlichen Süden allerdings schon. Dort zeigt sich der Prozess von Staats- und Nationengründung in seiner ganzen Pracht. Als erstes wird mit internationaler Hilfe der Staatsapparat geschaffen, in dem die ganzen „Helden“ des Unabhängigkeitskrieges untergebracht werden. Hatte sich die SPLA zuvor über die Überrepräsentation der Araber im Khartumer Staatsapparat empört, wird nun der südsudanesische vor allem mit Dinka besetzt – der Gruppe, die auch die gesamte Führung der SPLA bildet.

Der Prozess der Staatsbildung schließt die Sortierung in zuverlässige und weniger zuverlässige Staatsbürger selbstverständlich mit ein: Die Parteigründungen durch Minderheiten, die sich gegen die Dominanz der Dinka auflehnen, werden von der SPLA als Agenten des Nordens denunziert, die Nomaden mit „falscher“ Sprache oder Religion am Zugang zu Wasser und Weiden gehindert. Die Araber im Süden, deren Familien nach der Unabhängigkeit des Sudans 1956 in die Region kamen, durften beim Referendum nicht abstimmen. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit kommt es auch vor, dass ein Aktivist der Kommunistischen Partei Sudans – die ehemaligen Verbündeten der SPLA im Rahmen der National Democratic Alliance (4) – für das Aufhängen von Plakaten ins Gefängnis kommt. Dabei hat die KP nicht einmal für den Kommunismus agitiert, sondern für einen gemeinsamen Kampf gegen das Regime des Khartumer Diktators Umar al-Baschirs im Namen der säkularen Demokratie. Die Idee der sudanesischen Kommunisten, die Scharia-Gesetze sollten von allen Bewohnern Sudans, unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Identität, bekämpft werden, passt eben schlecht zur SPLA, die ihr Unabhängigkeits-Projekt gerade mit den Unterschieden der Identitä­ten begründet. Beim Nationbuilding wird die Unterdrückungserfahrung im Sudan zum Grund für das Zusammenleben im neuen SPLA-Staat erklärt. Dass aus subsistenzwirtschaftenden Analphabeten demnächst nützliche Lohnarbeiter und Unternehmer werden, glaubt zwar niemand ernsthaft. Aber sowohl die SPLA als auch die westlichen Schutzmächte reden von angeblichen Chancen und einer Zukunft, die der Südsudan habe, wenn er endlich als souveräner Staat sein Erdöl von westlichen Konzernen abpumpen lässt.

Ansonsten ist die SPLA damit beschäftigt, unter internationaler Kontrolle ihre Truppen zu „demobilisieren“ – nach einigen Angaben sind diese inzwischen doppelt so stark wie beim Friedensabkommen 2005, also zu Beginn der Demobilisierung. Ab und zu hört man, dass somalische Piraten ein Schiff mit Panzern gekapert haben, die für den mit einem UNO-Waffeneinfuhrverbot belegten Südsudan bestimmt waren. 40 % des De-facto-Staatsbudgets gibt die Autonomieregierung für ihre Streit- und Sicherheitskräfte aus.

Damit hat die SPLA alles, was man in der so genannten Dritten Welt für eine Staatsgründung braucht: militärische Macht, für die Erste Welt interessante Exportprodukte, Kader für den Staatsapparat und den Segen einiger Weltmächte.

Und sein Feind

Die sudanesische Regierung, 1989 nach einem Putsch von Militärs und Islamisten an die Macht gekommen, hat im Kampf gegen ihre widerspenstigen Bürger kaum ein Mittel ausgelassen. Die Islamisie­rungs­kampag­nen und Militärangriffe waren verbunden mit der Dezimierung der illoyalen Bevölke­rungs­gruppen durch die Verweigerung der humanitären Hilfe mitten in der Hungersnot. Auch die Marktreformen im Sinne des Internationalen Währungsfonds (mit dem sich die Islamisten blendend verstanden) leisteten ihren Beitrag zur ökonomischen Notlage. Parallel schaffte es Khartum immer wieder, die Rebellen zu spalten, die Splittergruppen in die Regierung zu integrieren und deren Anhänger in den Kampf gegen die SPLA zu schicken. Den Angehörigen loyaler Gruppen gestattete man nicht nur, auf eigene Faust ihre rebellischen Nachbarn zu bekämpfen, sondern auch sich an deren Eigentum zu bereichern und sie in die Sklaverei zu verschleppen. Wenn die Nomaden durch die Dürren ihr Vieh verloren, wurde das Plündern bei den anderen „Stämmen“ und das Bewachen von Ölfeldern gegen die Rebellen ihre neue Lebensgrundlage.

Nun aber hat sich die Regierung mit der Abspaltung des Südens scheinbar abgefunden. Die Weltöffentlichkeit rätselt: Ist das der Anfang vom Ende, weil die SPLA das Fanal zur Staatsauflösung durch diverse Separatisten gegeben hat oder wird das Regime jetzt stabilisiert, weil die SPLA die schlagkräftigste Gruppe der gesamtsudanesi­schen Opposition war? Der Präsident al-Baschir, gegen den inzwischen ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermordes (die Bilanz seiner bisherigen Staatserhaltungsbemühungen) läuft, will lieber keinen direkten Konflikt mit dem Westen. Manche Islamisten wenden sich enttäuscht vom Versuch ab, den Süden zum wahren Glauben zu bekehren, und wollen lieber einen Rumpf-Sudan mit weniger Rohstoffen und am besten ohne Minderheiten. Dort erhoffen sie sich, endlich ihre Scharia-Utopie zu verwirklichen. Die weiteren Teile der Opposition fühlen sich dagegen von der SPLA im Stich gelassen. Während man im Westen spekuliert, ob die Proteste aus den benachbarten arabischen Ländern auf den Sudan überschwappen, greift die Khartumer Regierung schon einmal präventiv gegen die Opposition durch. Sie sperrt sowohl Islamisten als auch Kommunisten ein, unterstützt die SPLA-Abspaltungen im Süden und versucht in gewohnter Manier, durch die Integration einzelner Gruppen und Politiker die Opposition zu spalten. Da nach dem Votum für die Teilung die Preise für Lebensmittel und Benzin im Norden wie im Süden rasant anstiegen, ist die Gefahr von Massenunruhen für die Regierung nicht gebannt. Islamistenführer Hassan al-Turabi, in der Vergangenheit der Hauptideologe der Muslimbrüder und eine Schlüsselfigur des Staatsstreichs von 1989, hat sich vor langer Zeit mit den Militärs und al-Baschir überworfen und tritt nun als ein Verfechter der Demokratisierung auf. Um die Regierung zu stürzen, ist er auch bereit, mit Darfur-Rebellen, Kommunisten und sogar mit der SPLA zu kooperieren. Dabei hat die von ihm inspirierte Islamisierungskampagne seinerzeit für einen erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges gesorgt. Die Regierung wiederum reklamiert für sich, den „Kampf gegen den Terror“ zu führen, wenn sie gegen die Opposition durchgreift. Die Einwilligung in die Abspaltung des Südens soll politische Ruhe bringen und die Wahrscheinlichkeit von Umsturzversuchen verringern.

Gleichzeitig bahnt sich ein Streit der Regierung mit dem Süden an: Es geht um die Flüchtlinge aus dem Süden, die in den Großstädten des Nordens wohnen, die beim Referendum abstimmen sollten. Dabei geht es nicht nur um Armutsflüchtlinge, sondern vor allem um deren politische Position: Die SPLA wollte gewährleisten, dass auf den Wahllisten für das Referendum nur jene landen, auf deren Willen zur Unabhängigkeit man sich verlassen kann. Dafür wurde im Norden umso mehr Hass auf die Binnen­migranten geschürt. Ähnlich verlief der Nord-Süd-Kampf um das Stimmrecht der im Süden lebenden Araber. Nach der Abstimmung zieht eine Menge Rückkehrer bzw. Flüchtlinge aus dem Norden in den Süden, wo es für sie keine Aufnahme-Infrastruktur gibt. Je nach Interesse lassen die Regierung und die SPLA entweder den geographischen oder den ethnischen Faktor gelten. Man darf gespannt sein, welcher Staat demnächst wen zu seinen Untertanen zählen darf und wird.

(Kritik im Handgemenge / Bremen)

 

(1) Zur Vorgeschichte: www.junge-linke.org/de/die_intervention_in_den_sudan_noch_ein_ beweis_dafur_dass_es_ohne_weltpolizei_nicht_geht

(2) Einzige Ausnahme war bisher die Trennung Eritreas von Äthiopien 1993.

(3) Wo seit dem 07.1.2011 wieder gekämpft wird.

(4) Die National Democratic Alliance (NDA) ist eine Dachorganisation der Opposition, die sich nach dem Putsch von Militärs und Moslembruderschaft 1989 gegründet hat. Sie umfasst ehemalige Regierungsparteien (Umma, Democratic Unionist Party), regionale Autonomiebewegungen (SPLA, Beja Congress, Rashida Free Lions) und Linksnationalisten (Baath-Partei). Zum Thema Abspaltung des Südens konnte die NDA sich nie einigen.

Die deutsche Presse und der Fall „Griechenland“

An Krisenereignissen der relativ neuen Art hat man in den letzten drei Jahren einiges mitbekommen. Da gibt es eine Krise bei Finanzprodukten, die angeblich die Banker selber nicht verstehen. Dann gibt es eine weltweite Bankenkrise. Darauf folgt eine Krise in der Automobilwirtschaft und sowieso eine gesamtwirtschaftliche Krise. Zwischendurch sind auch schon immer wieder Staaten kurz vor dem Staatsbankrott gewesen und mussten Hilfegesuche an den IWF stellen. In jüngster Zeit war zunächst ein Mitgliedsstaat der Euro-Zone in Bedrängnis geraten – Griechenland, aber mittlerweile sind es mehr geworden, u.a. Spanien. Gegen Griechenland ist in dieser Phase eine richtige Hetzkampagne in den deutschen Medien losgetreten worden. Ein Auszug davon, der berüchtigte Brief der BILD an den Ministerpräsidenten Griechenlands, soll hier stellvertretend kritisiert werden.

Dass die BILD ein Stück schlechter Journalismus ist, in diesem Urteil sind sich vor allem Menschen mit einem höheren Bildungshintergrund einig. Und sicherlich entstammen Aussagen, dass „wir“ Griechenland den Trainer Ihrer Fußball-Europameister „geschickt haben“, so dass „die“ Griechen uns mal so richtig dankbar sein sollten, dem nationalistischen Absurditätenkabinett. Warum sich also mit der BILD ernsthaft argumentativ auseinandersetzen? Nicht nur aufgrund der Auflage und des Einflusses der Zeitung halten wir das für wichtig. Sondern vor allem finden sich in dem Brief Vorstellungen über Staatsschuld, Korruption und Wirtschaftskraft, über Fleiß und Faulheit, über „Wir“ und „Die“, die sich anders formuliert auch jenseits des Boulevards im Spiegel oder der FAZ finden und zum Standardrepertoire des Bürgerverstands gehören. Wir meinen also, es lohnt sich, diese Vorstellungen einmal genauer zu betrachten und sie zu kritisieren. Zugleich soll damit der Weg etwas frei gemacht werden für die Fragen anlässlich der aktuellen Krise, die es erlauben, zu verstehen, was da passiert.

„Lieber Herr Ministerpräsident, wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie ein Land betreten, das ganz anders ist als das Ihre. Sie sind in Deutschland. Hier arbeiten die Menschen, bis sie 67 Jahre alt sind. Ein 14. Monatsgehalt für Beamte gibt es schon lange nicht mehr.“

Griechenland hat ein Problem mit seiner Staatsverschuldung, Deutschland nicht. Die „Analyse“ der BILD zeichnet sich hier schon ab: In Griechenland lebten die Menschen besser und arbeiteten weniger. Der Staat gebe mehr aus und die Wirtschaft bekomme wegen der geringen Arbeitsleistungen weniger hin. Kein Wunder also, dass die Finanzmärkte zu dem Resultat gekommen sind, dass der Rückzahlung der griechischen Staatsverschuldung nicht zu trauen sei. Das gesetzliche Rentenalter in Deutschland hat die vergangene Regierung jüngst von 65 auf 67 Jahre angehoben. In Griechenland, so will es z.B. die Financial Times Deutschland weismachen, würde das Rentenalter bei 53 Jahren liegen. In anderen Artikeln steht, dass das durchschnittliche Rentenalter bei 61 Jahren liege. Das ganze Durcheinander kommt darüber zustande, dass laufend gesetzliche Bestimmungen zur Rente (z.B. wann darf jemand frühestens Rente bekommen und welches Alter muss jemand erreichen, um ohne Abzüge in Rente zu gehen) durcheinander gebracht werden, mit nicht zuletzt der Frage, in welchem Alter denn tatsächlich der Durchschnitt der Lohnarbeiter oder Staatsbeamte in Rente geht. Mit diesen Verwechslungen lässt sich natürlich eine erstaunliche Differenz konstruieren. Kaum jemand in Deutschland geht aber erst mit 67 Jahren in Rente. Auch vorher ist schon kaum jemand mit 65 Jahren in Rente gegangen. Selbst das Statistische Bundesamt Deutschland rechnet in seinen Prognosen mit dem bisherigen – sogar noch großzügig ausgelegten – tatsächlichen Renteneintrittsalter von 60 Jahren im Durchschnitt in der BRD. Wenn der Durchschnitt bei 60 Jahren liegt, dann ist auch klar, dass sich auch in Deutschland Leute finden, die bereits in den 50er Jahren in Rente gehen. Wenn die Bundesregierung also vor kurzem das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahre auf 67 Jahre angehoben hat, dann ändert das an dem tatsächlichen Renteneintrittsalter nichts. Damit hat die Regierung nur die Abschläge von der Rente erhöht, die die Rentner hinnehmen müssen. Sie hat über diesen Umweg schlicht die Renten gekürzt. Durch diese Verarmung von Lohnarbeitern im Alter wurde natürlich eine Zwangslage geschaffen, derzufolge die Leute von sich aus länger arbeiten wollen. Aber auch in der Vergangenheit, z.B. im Zuge der Agenda 2010, hat ein so geschaffener Zwang nicht zu einem höheren tatsächlichen Renteneintrittsalter geführt. Das hat seinen Grund darin, dass die Lohnarbeiter es in der Regel gar nicht selber in der Hand haben, wie lange sie beschäftigt sind. Unternehmen tun einiges dafür, dass alte Menschen frühzeitig im Betrieb aufhören, weil sie öfter krank werden. Einen neuen Job finden ältere Menschen, die arbeitslos geworden sind, daher in der Regel sowieso nicht. Die Unternehmen sorgen ja auch dafür, dass die Anstrengungen bei der Arbeit laufend hoch bleiben und höher werden, so dass ältere Menschen den Job einfach gar nicht mehr aushalten können.

Kurzum: Der Rentenvergleich von der BILD ist konstruiert. Nicht zuletzt ist die ganze Argumentation vom Zynismus her kaum zu überbieten, wenn ausgerechnet mit der vorhandenen Armut in Deutschland gewuchert wird, um mehr Armut in Griechenland einzufordern. In dieser Hinsicht bleibt also die miese Frage: Schafft es Deutschland tatsächlich besser, die für kapitalistische Berechnungen nutzlosen und den Reichtum der Gesellschaft einfach auffressenden Rentner effizienter zu verarmen als Griechenland? Keine Frage, Deutschland hat schon immer eine Altersarmut besessen und in letzter Zeit wurde diese ordentlich ausgebaut. Aber das griechische Renten- und Lohnniveau sowie die Beamtengehälter liegen alle deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Auch ein 14. Monatsgehalt bei den Staatsdienern macht bei einem Durchschnittslohn im öffentlichen Dienst von 1.200 € und durchschnittlichen Lebenshaltungskosten, die nur leicht unter den deutschen liegen, das Leben nicht einfacher, wenn von diesem Gehalt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Regel noch mehrere Familienmitglieder unterhalten werden müssen (Der herkömmliche Lohn jenseits des Staatssektors beträgt dagegen je nach Branche und Region zwischen 700 und 1000 €). Das ist auch der Grund dafür, warum sich die meisten Griechen darum kümmern müssen, neben dem offiziellen Job hie und da noch was dazuzuverdienen, auch die Ärzte. Daher ist der folgende Hinweis der BILD zwar zur Hälfte vielleicht richtig, aber kein guter Beitrag zur Klärung der Verschuldungskrise:

„Hier muss niemand tausend Euro Schmiergeld zahlen, damit er rechtzeitig ein Bett im Krankenhaus kriegt.“

Die Sitte, bei jeder Geschäftsgelegenheit neben dem offiziellen Preis noch mal ein gesondertes „Dankeschön“ abdrücken zu müssen, ist wohl in Griechenland weiter verbreitet als in Deutschland. Der Grund dafür liegt ja gerade darin, dass auch 14 Monatsgehälter nicht mal zum schlichtesten Leben reichen und damit der flächendeckende Anreiz besteht, Zusatzverdienste einzustreichen. Korruptionsskandale gibt es in der BRD auch immer wieder. Wenn sie aufgedeckt werden, zeigt sich z.B., wie ein halbwegs gut bezahlter Politiker einen Millionenbetrag von einer Baufirma angenommen hat. Hier ist die Aussicht, von der Einkommens-Mittelklasse in die Oberklasse zu gelangen, der Grund für die Korruptionsbereitschaft des Politikers. Genau deswegen werden Staatsangestellte ein wenig besser gestellt als der Rest, um so besser, je mehr die Machtbefugnisse reichen. Der Staat will damit einigermaßen sicherstellen, dass die Staatsdiener auch das tun, was das Gesetz vorsieht und nicht ihre Machtbefugnisse für Privatmanöver aller Art ausnutzen. Wenn in einem Land wie Griechenland scheinbar ein Schmiergeld mehr die Regel ist, zeigt das doch nur, dass der Staat sich die Loyalität nicht im entsprechenden Umfang erkauft, weil er es sich selber nicht leistet. Das Verhältnis der Korruption wird von der BILD auf den Kopf gestellt: Sie sagt, dass die Korruption der Grund dafür sei, dass die griechische Wirtschaft nicht entsprechend flutscht. Die Wahrheit ist, dass sich die Korruption dort um so mehr breit macht, wo die Wirtschaft nicht so flutscht.

Noch ein kurzer Hinweis: Korruption als Ausdruck von nicht-gesetzlich vorgesehenen Einnahmen mag es in den deutschen Krankenhäusern noch nicht so umfangreich geben. Natürlich weiß aber heutzutage jeder Mensch, dass die normale Krankenversicherung eine ordentliche Behandlung nicht mehr gewährleistet. Eine private Krankenversicherung ersetzt hier für diejenigen, die es sich leisten können, das Schmiergeld.

„Deutschland hat zwar auch hohe Schulden – aber wir können sie auch begleichen.“

Dieser Satz soll die Staatsverschuldungskrise Griechenlands erklären und ja nicht einfach die Tatsache feststellen, dass Griechenland derzeit Probleme hat und Deutschland nicht. Deutschland hat einen absoluten Schuldenstand von ca. 1500 Mrd. Euro. Griechenland hat ca. 200 Mrd. Euro Schulden. Jährlich muss ein Teil dieser Schulden bezahlt werden. Weil es auch Staatsanleihen mit längeren Laufzeiten gibt, müssen also nicht jährlich alle Schulden zugleich zurückbezahlt werden. So musste z.B. im Jahr 2009 alleine der Bundeshaushalt der BRD ca. 250 Mrd. Euro nur für die bisherigen Schulden bezahlen. Griechenland hat derzeit Probleme, seine jährlich fälligen Schulden zu bezahlen. Die BILD tut hier aber so, als wenn Deutschland tatsächlich seine Schulden begleichen könnte, also auszahlen könnte. Das wird Deutschland aber niemals wirklich schaffen, denn um bei dem Vergleich mit dem Bundeshaushalt zu bleiben: Die gesamten Steuereinnahmen des Jahres 2009 für den Bund betrugen ca. 228 Mrd. Euro. Die Staatsschuld „funktioniert“ nur solange, wie die Staaten für die fälligen Altschulden neue Investoren finden, die ihnen das Geld leihen, damit sie die bisherigen Investoren auszahlen können. Im Bundeshaushalt wird dieser Haushaltsposten so bezeichnet: „Schuldentilgung am Kreditmarkt durch Kredite vom Kreditmarkt“. Dass dieses Verfahren für fast jedes Land der Welt so gilt, kann man leicht in den zugänglichen Statistiken im Netz nachschauen.

Das Problem, was Griechenland derzeit hat und Deutschland eben nicht, ist, dass sich nicht genügend Investoren finden, die neues Geld verleihen wollen, damit die alten Schulden bezahlt werden können. Von „Begleichen“ kann also keine Rede sein. Hier wäre ein richtiger Anfangspunkt der Frage gefunden, warum Griechenland Probleme hat: Warum misstrauen die Finanzmärkte ihrer langjährigen Praxis, die fälligen Altschulden von Griechenland durch neues verliehenes Geld fortzuführen? Das ist aber nicht die Frage der BILD, die sie dann so beantwortet:

„Weil wir morgens ziemlich früh aufstehen und den ganzen Tag arbeiten. Weil wir von unserem Gehalt immer auch einen Teil für schlechte Zeiten sparen. Weil wir fitte Firmen haben, deren Produkte rund um den Globus gefragt sind.“

Wie gesagt, könnte Deutschland mit seinen privaten Ersparnissen und den Gewinnen der Weltmeister-Unternehmen nie und nimmer seine Schulden zahlen. Von daher ist diese Antwort absurd. Nimmt man die Frage jetzt aber anders: Warum misstrauen die Finanzmärkte Griechenland und nicht Deutschland, dann könnte man sich denken, dass da was dran ist. Es stimmt, Deutschland als Exportweltmeister hat fitte Firmen, Griechenland kaum. Die BILD legt nahe, das liege daran, dass Menschen hier in Deutschland mehr und länger arbeiten, die Griechen dagegen einfach faul sind. In der Zusammenstellung der BILD ist wieder alles auf den Kopf gestellt: Erstens liegt es in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt nicht im Willen der Menschen, zu arbeiten oder auch intensiv oder lange zu arbeiten. In Deutschland gibt es zig Millionen Arbeitslose, die von Hartz IV sehr schlecht leben. Dass diese sich sogar um die 1-Euro-Jobs reißen und der Staat sie dazu gar nicht sonderlich zwingen muss, zeigt, wie verzweifelt die Menschen sich nach jedem zusätzlichen Einkommen strecken wollen. Dieses Wollen der Lohnabhängigen beruht wiederum schlicht auf der hiesigen gesellschaftlich eingerichteten Alternativlosigkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch nichts anderes als durch Lohnarbeit bestreiten zu müssen. Die Frage in kapitalistischen Gesellschaften ist für die übergroße Mehrheit der Menschen nie, ob sie arbeiten wollen oder nicht, sondern ob ihnen ein Unternehmen eine Beschäftigung anbietet. In dieser Hinsicht sieht es in Griechenland abgesehen von Tourismus, ein paar Werften und dem Staatssektor einfach mau aus, sie haben keine fitten Firmen. Sind Arbeitsplätze vorhanden, ist es in Griechenland wie in Deutschland dasselbe: Kein Lohnarbeiter handelt mit seinem Unternehmen aus, wie lange und wie intensiv er rangenommen wird. Das definieren die Unternehmen vorweg, bieten einen fertig eingerichteten Arbeitsplatz an und warten, wer da kommt. In der Regel haben sie dabei nie das Problem eines mangelnden Angebots an willigen Lohnarbeitern. Und ist der Vertrag erstmal unterschrieben, dann ist es wiederum das Management, das Überstunden fordert oder die Maschine schneller stellen kann. Hier am letzten Punkt ist die Absurdität der BILD perfekt: Als wenn bei VW und BMW in ihren Maschinenparks irgendetwas von der individuellen Leistung des Arbeiters abhängig gemacht würde. Die Unternehmen haben sich durch die Maschinen davon unabhängig gemacht und der Arbeiter muss sehen, wie er damit zurechtkommt. Lange und intensiv arbeiten wollen, schafft keine fitten Firmen. Fitte Firmen schaffen lange und intensive Arbeitstage.

Fitte Firmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich gegen andere fitte Firmen in der Konkurrenz um die globale Nachfrage behaupten können und die nicht so fitten Firmen niederkonkurrieren. Die deutschen Exportweltmeister füllen ja auch die griechischen Warenhäuser, was als Tatsache nur ausdrückt, dass sich in Griechenland niemand gegen diese starken Konkurrenten durchsetzen konnte. Insofern ist Griechenland ein Verlierer des europäischen Binnenmarktes im Besonderen und der weltweiten Konkurrenz im Allgemeinen. Um heute eine fitte Firma zu gründen, braucht es Unsummen an Geld. Nicht weil die Löhne so hoch wären, sondern weil man vergleichsweise produktive Maschinenparks hinstellen muss. Daran entscheidet sich hauptsächlich, wer Gewinner ist und wer Verlierer. Als erstes braucht ein Land oder seine Unternehmen ordentliche Geldmassen, um eine Produktionsstätte aufzustellen, in der dann die Lohnarbeiter hart, lange und intensiv arbeiten dürfen. Erst mit dieser entscheidenden Bedingung – viel Geld für eine moderne Produktionsstätte – kommt es dann im zweiten Schritt darauf an, diese durch viel und intensive Arbeit zu betreiben, damit der Erfolg in der Konkurrenz gesichert wird. Nicht die Arbeitsleistung ist die entscheidende Waffe in der kapitalistischen Konkurrenz, sondern die Geld- bzw. Kapitalmassen. Wenn die gegeben sind, kommt die nötige Arbeitsleistung fast von alleine.

Diese Kapitalmassen gab es in Griechenland bis zum Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1981 gar nicht. Griechenland hat sich durch den Beitritt versprochen, dass es darüber zu einigen Kapitalmassen kommt. Ein paar Investoren sind ja auch hingegangen, ein paar Transferleistungen hat Griechenland auch bekommen. Ein wenig hat sich was entwickelt. Dies und der Beschluss 1992, in der Euro-Zone mitzumachen, hat Griechenland dann erst das Vertrauen der Investoren und damit den Kredit verschafft, der sich bis heute angesammelt hat. Die Hauptsummen wurden nämlich in den 90er Jahren aufgenommen, um eine Entwicklung in Griechenland zu fördern. Die hat sich nicht eingestellt und das ist recht einfach zu erklären: Wenn Griechenland seine nationale Wirtschaft mit Staatskredit in Höhe von 200 Mrd. Euro aufzupäppeln versucht, muss man sich nicht wundern, dass der Exportweltmeister Deutschland mit seinem Staatskredit von 1500 Mrd. Euro, seine Wirtschaft noch besser aufpäppelt und die Konkurrenz der Standorte dann sachgerecht Verlierer und Gewinner schafft.

Damit ist die Griechenland-Krise aber noch nicht erklärt. Die Hauptschuldenlast wurde in den 90er Jahren angesammelt, nicht erst im letzten Jahr. Griechenland versuchte, mit diesen Krediten die Grundlagen dafür zu schaffen, dass eine kapitalistische Entwicklung entstehe. Das hat nicht geklappt. Der Staat ist der Hauptarbeitgeber geblieben, nicht die Privatwirtschaft. Warum sind die Investoren dann ausgerechnet jetzt erst so verunsichert ob der Güte der griechischen Staatsschuld? Dass Griechenland die Kriterien der EU nicht eingehalten hat und bei den alljährlichen Reports sogar etwas geschummelt hat, also buchhalterisch kreativ geworden ist, ist ebenfalls lange Jahre bekannt. Weiter war Griechenland ja scheinbar erst der Anfang und weitere Euro-Staaten geraten unter Druck. Könnte es daher nicht sein, dass nicht der Euro das Opfer von Griechenlands Staatsverschuldung ist, sondern umgekehrt Griechenland das Opfer des Euros? Da wäre dann zu klären, warum die EU-Staatschefs eine solche Härte gegen Griechenland bzw. gegen die dortige Sozialpolitik einfordern. Die Phantasie der deutschen Presse in Sachen Grausamkeiten für die griechisches Masse an Lohnabhängigen unterscheidet sich dabei nicht von der der Politiker. Letztere haben nur einen ganz anderen Grund – die Rettung ihrer Euro-Konstruktion.

Als Fazit der BILD – aber auch der allgemeinen deutschen Pressehetze – kann man festhalten: Sie stellt das Verhältnis von dem, was der Staat und die Wirtschaft den Arbeitenden abverlangt und was Letztere deswegen wollen müssen, auf den Kopf. Sie stellt das Verhältnis von erfolgreich Reichtum vermehren und Schulden machen auf den Kopf. Sie tut so, als wenn die ganze Sache eine individuelle Fehlleistung des griechischen Staates ist, der seine Bürger nicht genug drangsaliert hat. Sie agitiert ihre Leser für eine unerbittliche Härte gegen die griechischen Lohnabhängigen. Dabei wuchert sie mit der Armut, die die BRD und deren Unternehmen hier in Deutschland hergestellt haben. Sie spekuliert darauf, dass die Leserschaft stolz auf ihre Armut ist, weil sie dabei arm, aber insgesamt erfolgreich sei. Das geht nur, weil sie sowohl im Falle Griechenlands als auch im Falle BRD immer von einem „Wir“ bzw. „Die“ redet. Dabei ist es erst einmal der Staat, der Schulden hat und nicht die Lohnabhängigen. Dabei ist es der Staat, der beschließt, wie stark er bei den Steuern zulangt oder nicht – und nicht die Steuerzahler. Dabei sind es die Unternehmen, die erfolgreich wachsen in der globalen Konkurrenz, während die Lohnarbeiter ständig einzusehen haben, dass ihr Lohn zu hoch ist – in der BRD wie in Griechenland.

(Junge Linke – Gegen Kapital und Nation)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community

Von Freiheiten und Unfreiheiten in der Bosporus-Metropole

Ich schreie und wache auf. Unsere kleine Tiger-Katze beißt gerade herzhaft in meine Hand wie in einen saftigen Rinder­braten und glotzt mich dabei triumphierend an. Es ist morgens um sieben in Galata/Istanbul und ich habe Uni. Wie immer zu spät stolpere ich aus dem Haus. Nur der Regenschirm- und Tempo­ta­schen­­tuchverkäufer, der Granatapfel-Saftpresser an der Ecke und der Kuttel-Schneider haben bereits ihre Rollläden hochgefahren. Die Luft ist kalt. Es riecht nach nassem Stein. Von irgendwo weht eine Börekschwade in meine Nase. Heerscharen von scheinbar schlaflosen Straßenkatzen, fressen sich durch die Müllreste vom letzten Abend. Ich laufe den steilen Hang zum Hafen runter, die Sonne geht über dem Bosporus auf, taucht die unscharfen, von Nebel umhangenen Silhouetten der Moscheen auf der anderen Seite der Meeresenge in ein milchiges Gelb. Die Angler stehen schon seit Stunden auf der Galatabrücke, um sich ihre Brötchen zu fischen. An der neuen Fährstation (die alte ist vor einigen Wochen mal eben bei einem Sturm im Bosporus versunken) treffe ich zwei slowenische Kommilitoninnen. Bei Çay (Tee) und Sesamkringeln schaukeln wir auf die asiatische Seite zum Bus­bahn­hof. Wir haben Glück, der Bus steht noch da. Eine Duftskala billiger Parfums und Körpergerüche zieht an meinem mal­trä­tierten Riechorgan vorbei, wie die Be­ton­wüste von Hochhäusern und Autobahnkreuzen an meinen Augen.

Die Gebäudearchitektur…

…der asiatischen Seite besticht durch ihre schamlose Funk­tio­na­li­tät. Shoppingmalls und Hochhauskom­plexe, die in ihrer Ästhetik an den Gropius-Bau von Berlin erinnern, sind so un­sensibel in die Landschaft gesetzt, dass sich nur das zäheste Gestrüpp und die mutigsten Gräser am Rande der mehr­stöckigen Schnellstraßen ein bisschen Grün zutrauen. Die kilometerlangen Autoschlangen ziehen bleiern Richtung Horizont, aus dem die Häuserschluchten tauchen wie steinerne Riesen einer Dystopie. Je weiter unser Bus in den Nordosten vordringt, desto häufiger ragt ein Minarett wie eine verzierte Giftpfeilspitze aus dem Betonmeer, um sogleich wieder von ihm verschluckt zu werden. Vor dem protzigen Eingangsportal spuckt der Bus die gleichmütige Studentenmasse aus. Vor dem Eingang steht ein Sicherheitsbeamter, der jedes Auto, das auf den Campus fährt, inspiziert und mit einem Spiegel unter den Fahrzeugboden schaut um zu sehen, ob auch niemand eine Bombe druntergebastelt hat. Wir zeigen unsere Studi-Karte und laufen in Richtung Seminargebäude.

Wir haben „Anthropologie der modernen Türkei“. Unsere Professorin ist Leiterin des Instituts, eine international anerkannte Anthropologin, die so beschäftigt ist, dass während des Unterrichts mindestens fünfmal ihr Telefon klingelt. Sie ist leicht un­ter­setzt, lächelt immer freundlich und ist so opportunistisch wie das Amen in der Kirche. Es ist der letzte Kurs vor der Endklausur. Sie erkundigt sich nach unserem Wohlbefinden: „Ah Irmak, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen“ und dann danach, wie wir ihr Seminar – zu dem sie persönlich ganze vier Mal erschienen ist – fanden. Ein paar verhaltene Stimmen mel­den sich zu Wort. Sie hätten sich mehr aktuelle Themen gewünscht. Die Kurden werden angesprochen, über die während des gesamten Semesters kein einziges Wort fiel. Ein Student platzt heraus: „Die jungen Leute, die zur PKK gehen sind so gehirn­gewaschen wie die Diamantengräber in Afrika.“ Gut, danke. Der Nächste bitte.

Das „Armenierthema“…

…wird angesprochen. Eine kleine Rückschau: Vor ein paar Tagen hat sich ein Redakteur der türkischen linksliberal-antinationalistischen Tageszeitung Radikal das erste Mal öffentlich für den Genozid an den Armeniern entschuldigt. Die Rede ist hier nicht von einem Pamphlet oder einem Brief, sondern lediglich von fünf mageren, aber bekennenden Zeilen, in denen folgendes geschrieben steht: „Mein Gewissen erlaubt es nicht, teilnahmslos gegenüber dem großen Unglück zu bleiben, das die osmanischen Armenier 1915 erlitten, oder es zu verleugnen. Es weist dieses Unrecht zurück, teilt für sich Gefühl und Schmerz meiner armenischen Brüder, die ich um Verzeihung bitte.“ Für die türkische Presselandschaft, aber vor allem für AnhängerInnen des türkischen Staates ein Skandal (1). Im Netz zirkulierte die Entschuldigung als Petition unter türkischen Intellektuellen schon Tage im Voraus und wurde innerhalb weniger Wochen von mehreren 10.000, einschlägigen NGO’s und Prominenten unterschrieben. Nicht jeder, der wollte konnte sein Signum hinterlassen. Eine meiner anderen Professorinnen beispielsweise muss damit rechnen ihre Stelle zu verlieren, wenn sie unterschreibt, was sie gern tun würde. Die Yeditepe-Uni ist eine Privatuni. Gegründet von Dalan, einem ehemaligen neokonservativen Bürgermeister Istanbuls, produziert sie massenweise unkritische StudentInnen mit zahlungswilligen Eltern, die, wenn sie etwas zu sagen haben, den hegemonialen Konsens und Nonsens runterbeten, der ihnen während ihrer schulischen und universitären Karriere ein­geimpft wurde.

Zurück im Seminarraum. Eine Studentin, die die Entschuldigung nicht gelesen hat, meldet sich zu Wort und sagt: „Professor, wenn wir uns für etwas entschuldigen, das nur ein normaler Krieg [casual war] war, aber definitiv kein Genozid, dann fangen sie an Geld und Territorium zu fordern. Wir können und sollten das nicht tun!“ Dann erzählt sie von ihrem Großvater, einem Soldaten und seinen furchtbaren Erlebnissen im Vernichtungskrieg ge­gen die Armenier, woraufhin unsere Professorin ihrerseits von Ver­wandten und Bekannten und ihren furchtbaren Erlebnissen im Krieg gegen Griechen und Gruppen vom Balkan berichtet und dann sagt: „Jeden Tag sterben Menschen in dieser Welt. Wer ent­schuldigt sich dafür, sie getötet zu haben?“. Damit ist die Dis­kus­sion beendet. Vielleicht dauert es noch weitere 100 Jahre, bis dieses Thema auch an türkischen Privatunis diskutiert werden kann.

Vorgestern war ich mit meinem Freund das erste Mal im kleinen Büro der türkischen Grünen Partei, die erst vor ein paar Monaten gegründet wurde. Als wir gehen wollten, kam eine Frau schreiend in den Raum gerannt. In ihren Augen Verzweiflung, Wut, Hoffnungslosigkeit. Wie sich herausstellte, hatte sie soeben erfahren, dass das türkische Innenministerium „höchstpersönlich“ die Website der oben beschriebenen ArmenierInnen-Petition gehackt hatte und nun frei über deren Inhalt und (Nicht-)Weiterverbreitung verfügen kann. Ob jetzt Tausende mit Hilfe des § 301 wegen „Verunglimpfung des Türkentums, des Staates und seiner Organe“ (das türkische Pendant zum deutschen § 129a) angezeigt werden, wie bereits 462 Personen, inklusive den Youtube-Betreibern (2), dieses Jahr vor ihnen? Würde sich dann vielleicht etwas tun in der morschen, von Tabus durchzogenen Gesellschaft der Türkei, in der nicht nur kritische Journalisten ihre Nachrichten zwischen den Zeilen vermitteln müssen und täglich um Job und Leben bangen?

Es ist Mittagspause. Ich gehe mit einem Freund in die Mensa, die original aussieht wie ein Burger-King-Ableger. An den Wänden hängen riesige LCD-Flachbild­schirme, es läuft Werbung und MTV. Wir tratschen und lästern über die verwöhnten, handtäschchenschwingenden Kids der Yeditepe, die den Campus leidenschaftlich gerne mit einem Laufsteg verwechseln. Mensch versucht sich abzugrenzen. Ich gehe auf die Toilette und versuche mir einen Weg durch die Massen von sich eindeodorierender und Lippenstift nachziehender Mädels zu bahnen. An der Wand hängt eine Haarglättmaschine. Für umgerechnet 50 Cent kann sich frau hier ihre Wellen aus der Frisur bügeln.

Wir haben „Politische Anthropologie“, ein Lichtblick am grauen Horizont, denn unsere Professorin ist ein wahres Goldstück und im Gegensatz zur Leiterin des Instituts ist ihr sehr viel an kritischem Denken gelegen und sie gibt einen feuchten Dreck darauf was „die Yeditepe sagt“. Sie ist Türkin mit griechischem Hintergrund, ist mit einem Italiener verheiratet, forscht seit Jahren über Zypern und die zypriotische Diaspora und hat an der London School of Economics gelehrt, bevor sie von Heimweh getrieben wieder nach Istanbul zurückgekommen ist. Wir lesen Foucault, Gramsci, Hobsbawm, Žižek und Arextaga, lernen u.a. was der türkische „Sub-Staat“ ist, welche prominente Rolle das Militär hier spielt und mit welchen Instrumentarien ein Staat seine Leute an sich bindet und kontrolliert. Es ist eines dieser seltenen Seminare, in denen mensch sich von Geistesblitzen getroffen der Erleuchtung nahe wähnt. Ein Rausch. Unsere Professorin erzählt gerade von Susurluk, einer türkischen Stadt, in der Anfang der 90er Jahre ein Auto in einen LKW raste. Als die vier Opfer des PKW’s geborgen wurden, von denen nur ein einziger überlebte, fand mensch die folgende Passagierkonstellation vor: Abdullah Catli, einer der größten Mafia-Bosse der Türkei und gleichzeitig Mitglied von MIT (dem türkischen Geheimdienst), Hüssein Kodcada, der türkische Polizeichef, der Abdullah Catli einen „grünen“ Reisepass (3) und eine Waffenlizenz verschafft hatte, Sedat Bucak, ein Parlamentarier und eine Prostituierte. Von den genannten vier überlebte nur der Parlamentarier, dessen Familienclan in den darauf folgenden Wochen von Horden Journalisten von seinem Krankenbett fernhielt. Die Journalisten, die nach monatelanger Recherche über den Fall, der sicherlich für das zynische Verhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat mitverantwortlich ist, einschlägige Informationen sammeln konnten, wurden über kurz oder lang von „Unbekannten“ getötet. Ich schaue aus dem Fenster und denke daran wie ironisch Atatürks Leitspruch für „seine“ Türken unter diesen Umständen anmutet: „Ne mutlu Türküm diyene“ (Wie glücklich ist jemand, der sagen kann er ist ein Türke). Mein Blick fällt auf den Gipfel eines Berges (ein recht ungewöhnlicher Anblick in Istanbul), der gleich neben unserem Campus thront. Auf dem Berg steht ein Strommast. Daneben weht eine überdimensionale türkische Flagge (ein recht gewöhnlicher Anblick in Istanbul). Neben der Flagge ist ein überdimensionales Portrait Atatürks installiert, das den Strommast an Größe übertrifft. Die Türkei (die Mutter), und ihr Staat (der Vater) stehen an oberster Stelle, über ihr steht Atatürk (der Übervater), darüber gibt es nur noch Himmel und Allah.

Die Schule ist aus…

…und mein Kopf voll. Vor dem Eingang wartet Yunus, ein kurdischer Freund, der mich heute seinem Vater vorstellen will. Wir brausen mit seinem Motorrad Richtung Maltepe, einem Viertel auf der asiatischen Seite. Auf der Schnellstraße fahren wir durch das Meer roter Rücklichter, zwischen denen waghalsige Blumen- und Sesamkringelverkäufer ihre Produkte feilbieten. Zwischen den laufenden Motoren mutieren ihre Rufe zu stummen Schreien. Es riecht nach Feuer und Abgasen, die konturlosen Hochhäuser flimmern wie Geister in der Luft. Yunus balanciert sein Motorrad virtuos wie ein Seiltänzer durch den stehenden Verkehr und kommt mir in diesem Moment vor wie ein apokalyptischer Reiter. In „Wahrheit“ ist er Notfallapotheken-Schildaustauscher und verdient dabei sehr wenig. Das macht ihm nichts aus, sagt er, denn er lebt gerne wie ein „cingene“ auf der Straße, pennt mal hier, mal dort und kann sich auf eine Reihe guter Freunde verlassen. So wie auf den Wasch­ma­schinen­verkäufer, vor dessen Laden wir jetzt halten und der ihm auf einen Scherz hin einen 50 Lira-Schein in die Hand drückt. Wir gehen Köfte essen. Im Lokanta hängen die obligatorischen Fernseher (die Türken sind weltweit, nach den US-Amerikanern, die Nation mit dem höchsten Fernsehkonsum) in denen Arabesk-Klassiker laufen. Arabesk-Musik ist hier so etwas wie der türkische Blues; türkische Lyrik („das Leben meint es nicht gut mir“, „ich hab kein Geld und keine Frau“) mit arabischen Melodien, gesungen von Männern, die in ihren pathetischen Videoclips meist den Tränen nahe sind. Es ist zum Heulen.

Kurze Zeit später stehen wir vor der Arztpraxis seines persischen Vaters. „Halt die Augen auf“, sagt Yunus augenzwinkernd, „wir gehen jetzt ins Paradies“. Die Tür geht auf, vor uns steht ein bleicher Mann (Yunus selbst hat die dunkle Haut seiner kurdischen Mutter), in weißem Kittel, der zwei Köpfe größer ist als Yunus. „Hos­geldiniz, kommt rein“, sagt er und strahlt wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Wir treten ein – ins Paradies. Der lange Flur ist gesäumt von Plastikblumen in den schillernden Farben des Regenbogens. Auf einem kleinen goldenen Tisch­chen steht ein auf alt gemachtes Telefon aus silbernem Plastik, das an ein leuchtendes Aquariumsäulenimitat angeschlossen ist, in dem Plastikfische schwimmen. Er bittet uns in den Salon, aus dem klassische Musik kommt. Wir nehmen auf der knallvioletten exquisiten Polstercouchgarnitur Platz. Auf der anderen Seite des Raumes steht eine Staffelei, auf der ein Riesenbild eines anonymen Babys thront. An den Wänden hängen kitschige Birkengemälde. Der Doktor kommt in den Raum geeilt, serviert uns Kaffee, Sahnekuchen und gefüllte Weinblätter. „Sie haben aber viele Blumen“, sage ich, weil mir grade nichts Blöderes einfällt. „Ja, das ist persische Kultur, wir haben einen Sinn für das Schöne“, sagt er, schaltet die Musik aus und bedient einen Apparat, aus dem künstliches Vogelzwitschern trällert. „Ach so“, antworte ich, „ich dachte immer die persische Kultur ist berühmt für ihre Lyrik“. Bei dem Stichwort steht er auf und bringt mir ein Buch, aus dem er handgeschriebene persische Liebesgedichte rezitiert. Dann fragt er, ob ich gerne in die Disco gehe. Als ich bejahe, schaltet er die Vögel aus und steht jetzt mit der Fernbedienung vor seinem Plasmabildschirm, legt Trance-Techno ein und fordert mich zum Tanzen auf. Fassungslos ob der absurden Situation lehne ich lachend ab. Das scheint ihn nicht weiter zu stören und er fängt an wie ein 20jähriger das Tanzbein zu schwingen, bewegt den Kopf im Takt der monotonen Beats. Wenn er mir später nicht den Operationsraum seiner Praxis (er ist Internist), den Schrank mit chirurgischen Instrumenten und das Wartezimmer gezeigt hätte, ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich in einer Arztpraxis befinde. Höchstens bei einem durchgeknallten Psychiater, dessen Patienten durch die paradiesische Aura seiner heiligen Hallen geheilt werden. Irgendwie fühle ich mich erstaunlich frisch, als wir seine Praxis verlassen.

Um 22:00 bin ich in Taksim zum Abendessen verabredet. Als ich die Istiklal-Cadessi (sowas wie der Istanbuler Kuhdamm) betrete, sehe ich, wie vorwiegend männliche Studenten von Polizisten kontrolliert werden. Alexis lässt grüßen. Die Studenten-Proteste in Griechenland, die dem Tod des 15-jährigen Alexis folgten, der unlängst in Athen von den Kugeln so genannter Sicherheitsbeamter tödlich getroffen wurde, lösen Panik beim türkischen Staat aus. Kontrollen unter Studenten werden verschärft durchgeführt, denn KritikerInnen werden nicht geduldet. 1984 im Jahr 2008.

Vor einigen Wochen wurde ein junger Mann auf der Straße verhaftet. Er war Mitglied einer linken Organisation und verteilte Flyer, die auf den Fall seines im vorigen Jahr gefolterten Freundes aufmerksam machten. Sein Freund hatte damals wie er selbst Flyer verteilt, um auf den desolaten Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei aufmerksam zu machen. Er wurde daraufhin von so genannten Sicherheitsbeamten in Gewahrsam genommen, gefoltert und ist seitdem querschnittsgelähmt. Sein Freund, der den Fall seines Freundes nun kürzlich bekannt machen wollte, wurde seinerseits ebenfalls während der Gewahrsamnahme gefoltert. Nach einigen Tagen erlag er seinen Kopfverletzungen und starb. Allein in diesem Jahr sind bereits fünf Minderjährige durch Schusswaffen der Polizei in der Türkei ums Leben gekommen – abseits massenmedialer oder internationaler Wahrnehmung. Wenn ich die „Robo-Cops“ mit ihren gezückten abschussbereiten MG’s sehe, wie sie vor der Moschee posieren, den Finger immer am Abzug, spüre ich ernsthafte Aggressionen in mir aufsteigen.

„Ein Land zwischen…

…Tradition und Moderne“, heißt es sooft in deutschsprachigen Medien über die Türkei, die den Nahen Osten mit Europa verbindet. Aber wo ist die von Atatürk und seinen kemalistischen NacheiferInnen so hochgepriesene Moderne? Wird sie von den technoiden „Robo-Cops“ verkörpert? Stakst die Moderne auf der Istiklal Cadessi, der Konsum-und Partymeile Istanbuls, in Minirock und Highheels ohne den geringsten Plan, was außer Minirock und Highheels noch modern sein könnte? Sitzt die Moderne in der Cafeteria auf unserem Campus vor dem LCD-Flachbildschirm und zockt Playstation während der Pause? Arbeitet sie in Etiler in gläsernen Hochhäusern und verabredet sich abends im avantgardistischen Kosmo­politenviertel auf Sushi und italienischen Weißwein und redet über die furchtbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise?

Und die Tradition, wo ist die Tradition? Wartet die Tradition in den heruntergekommenen Vierteln von Tarlibasi oder Sulukule auf den Abriss ihrer „illegalen“, selbst gebauten Häuser? Feiert die Tradition mit einem ungeheuerlichen Aufmarsch an Sicherheitskräften den Tag der Unabhängigkeit von den Alliierten? Liegt die Tradition in Form einer traditionellen ^alvar-Hose im Regal eines Textilienverkäufers – made in China? Oder spielt die traditionelle Musik etwa in einer der unzähligen türkischen Bars, in denen sie auch Champagner reichen, weil man ja seinen fremden Gästen was bieten muss?

Die Türkei (oder zumindest die wenigen Teile, die ich bislang kennen gelernt habe) ist mehr als nur eine gespaltene Gesellschaft. Sie ist zersprungen, wie die unzähligen Teile eines gebrochenen Spiegels und sie ist schizophren. Mit Sicherheit wird es noch eine Weile dauern, bis ich hier durchsteige – durch das Minenfeld der tabuisierten Diskurslandschaft, durch die 1001 Widersprüche, durch die abermillionen Details, durch die Sprache der Straße und die der Hochschule. Aber ich bin zuversichtlich. Die Rampen und Schlaglöcher des Alltags machen mich vertraut mit dieser Welt. Und ich habe ein paar wichtige Gefährten gefunden: eine super-knorke Mitbewohnerin, eine geniale türkischen Ersatzfamilie und süperbe Freunde aus allen Himmelsrichtungen. Alles wird gut. Inshallah.

(Klara Fall)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community III

Schwaben goes Turkiye

Mal wieder ein wichtiges Dokument verloren. Mal wieder Opfer des bürokratischen Hürdenlaufs. Ich steige in ein Sammeltaxi in Richtung Haupt-Polizeirevier. Ich frage wohin die Reise geht, denn Fahrpläne gibt es hier nicht und Sammeltaxis haben keine fixen Haltestellen. Auf dem Vordersitz des gelben Kastenautos sitzt ein Fahrgast, der mir erklärt, wo das Taxi hinfährt und wie ich zu besagtem Polizeirevier komme. Irgendwas an der Art und Weise wie er spricht, erinnert mich an zu Hause. Als ich aussteige, steigt der Mann auch aus, sagt, er müsse in dieselbe Richtung. Nach wenigen Minuten Smalltalk stellt sich heraus, dass er aus Deutschland kommt, genauer gesagt: „Ha, i ben zwoa in Ischtanbul gebore, aber i komm uhrsprünglich aus der Nää von Stuttgart, Landkreis Esslingen.“ Ich weiß nicht, ob er, nachdem ich ihm sage, dass ich dort geboren bin, in den folgenden zehn Minuten soviel Vertrauen zu mir fasst, dass er mir von den einschlägigen Abschnitten seines Lebens erzählt oder ob er einfach nur reden will. „Ha, weisch, i ben jo Feinmechaaniker und irgendwann hat mai Schäff zu mir gsagt: ‘Ha Hakan, du bisch ja scho talendiert, ge, du könntsch au logger als a Zaanmechanigger oabeite.’ En endrer Kumbel hat mia damals au gschteggt, dass ma hier in der Türkei in dem Gschäft guts Geld verdiene koa. Ha ja, und na bin i hoalt ganga.“ Nachdem er mir ein paar weniger interessante technische Details aus seiner Zahnmechanikerkarriere verraten hat, sagt er plötzlich: „Weisch, i war heroinabhängig, hab gschnupft, aber i ben imma boim Daimler oaboide ganga.“ Als sein Arbeitgeber von seinem Dro­gen­konsum erfuhr, bekam er eine Therapie in München verordnet. Während eines Freigangs kaufte er sich eine Flasche Rotwein, die er in einem Zug trank. Daraufhin fing er eine Schlägerei an, bei der er seinen türkischen Pass verlor, den daraufhin die Polizei fand. „Der Richta hat denn gsagt ‘Du warsch jetzt scho zu oft bei uns’“. Daraufhin wurde Hakan bis auf weiteres des Landes verwiesen. Seitdem ist er clean. Er sagt, er will nicht mehr zurück. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Freimaurern, recherchiert und schreibt in freimaurischen Internet­foren. „I ben hier in na Universidäd als Refrent ogschtellt. Ha, un du weisch scho, dass hier a Großdeil der Professora Freimaurer sen?“ Ehrlich gesagt ist mir dieses Detail, wie 1001 andere, bisher noch verborgen geblieben. Er berichtet gerade von den unterschiedlichen Logen in den unterschiedlichen Istanbuler Stadtteilen, als wir das Polizeirevier erreichen. Ich schaffe es gerade noch, ihm das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco zu empfehlen, da wünscht er mir einen schönen Tag und zieht von dannen.

Selbst wenn wir uns die ganze Zeit auf türkisch unterhalten hätten, hätte ich spätestens jetzt bemerkt, dass er k1r1k (dt: gebrochen; der hiesige Ausdruck für das im deutschen noch schlimmere Äquivalent „Mensch mit Migrationshinter­grund“) ist. Denn er hat mir seine Telefonnummer nicht aufgedrängt, geschweige denn angeboten.

Soldaten und Hippies

In Leipzig habe ich Hippies hassen gelernt. Das hatte vor allem einen Grund: das Rainbow Gathering. Ständig und überall musste ich mir von Adepten der Harmonie und Gleichheit, die in seliger Erinnerung schwelgend Geschichten über das bessere Leben im großen, friedlichen Kollektiv erzählten, anhören, denen auch im kältesten Winter die Sonne aus dem Arsch schien während sie sich in einer Aura der Erleuchtung wähnten, bis mir die Ohren anfingen zu bluten. Um meine Vorurteile bestätigt zu sehen und auch, um mir ein eigenes Bild zu machen, beschloss ich die Leipziger Weltenwanderin Malifu in Antalya zu treffen und mit ihr aufs Middle East Gathering nahe Fetiye zu fahren.

Die Reise beginnt am 27. Mai. Raus aus dem Betonmoloch Istanbul, rein ins satte Grün. Vom hohen Norden in den tiefen Süden. Die Szenerie, die ich am Zentral-Busbahnhof vorfinde, erinnert mich spontan an den Wahnsinn eines losgelassenen Fußballstadions: hunderte grölender Halbstarker in türkische Flaggen gehüllt. Sie springen sich gegenseitig an wie Heuschrecken, reiten aufeinander, tanzen, drehen frei. „Was passiert hier?“, frage ich Ömer, den Verkäufer am Ticketschalter, mit dem ich gerade über den Preis meines Bustickets verhandle. „Soldatenverabschiedung“, sagt er. „Nur heute und morgen.“ Er grinst. Ich habe oft von dem Ritual gehört, bei dem die zukünftigen wehrpflichtigen Soldaten verabschiedet werden, aber bis heute nie die Dimension begriffen.

Vollständige Familienclans haben sich eingefunden. Weinende Mütter und Großmütter, die vor Kummer über das Schicksal ihres geliebten und vielleicht einzigen Sohnes jenseits des sicheren Nestes fast vergehen und sich mit bunten Polyestertüchern den salzigen Schmerz von der Haut wischen; tanzende Brüder, Freunde, Nachbarn, die Rauchbomben zünden, die die aufgeheizte Stimmung und die Lungen der Anwesenden blutrot einräuchern; schreiende Kinder. Am distanziertesten verhalten sich die Väter. In ihrer Ausdruckslosigkeit starre Monolithen verkörpernd, stehen sie am Rande des Geschehens und beobachten. Wenn sie stolz oder traurig sind, lassen sie es sich zumindest nicht anmerken. Freunde werfen ihre zukünftigen Soldaten in die Höhe. Sie brüllen: „Bizim asker en büyük asker“ (dt: Unser Soldat ist der größte Soldat). Sogar die Busfahrer tanzen mit. „Es kann noch eine Weile dauern bis der Bus losfährt“, sagt Ömer und schleppt mich in ein kleines Lokal, wo wir Reis mit Kichererbsen essen. Er erinnert sich an seinen Militärdienst in Di­yar­bakir, der Kur­denhaupt­stadt der Türkei. „Zweimal haben sie mich ins Militärgefängnis verfrachtet“, berichte er, als erzähle er eine Geschichte, die er selbst gar nicht erlebt hat, „weil ich meinem Kommandanten nicht gehorcht habe“. Und dann fügt er mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, die klingt als hätte man sie ihm eingeprügelt: „Wer etwas Falsches tut, muss bestraft werden“. Wir laufen zurück. Die Nation feiert sich noch immer selbst. ‘Welch effektives Ritual’, denke ich, ‘Nationalismus-Reproduktion ohne Staatsintervention. Bravo!’.

Für die Söhne – die meisten noch keine 20 – ist es das erste Mal, dass sie ihr Zuhause verlassen. Für 15 Monate keine Mutter mehr, die für sie kocht, überhaupt keine Frau werden sie zu Gesicht bekommen. Stattdessen werden sie, wie mir aus vertraulichen Quellen versichert wurde, mehr denn je masturbieren und jeden Tag vier Kilo schwere MGs tragen, deren Kugeln denen, die sie treffen, handflächengroße Löcher in die Körper reißen. Für die, die in den Osten und die Kurdengebiete fahren, beginnt die Hölle auf Erden, die ihren Nationalismus in der Regel endgültig besiegelt. Sie sind überzeugt, dass der Militärdienst sie zu ehrwürdigen türkischen Bürgern macht, im Falle des Todes zu Märtyrern für ihr Mutterland. Wenn sie zurückkehren, haben sie das wichtigste Übergangsritual in ihrem Leben gemeistert: Sie sind erwachsene Männer und fähig eine Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Mit noch erhitzten Gesichtern vom Feiern steigen sie zögernd, nach mehrmaliger Aufforderung der Fahrer in den Bus. Die Angst vor dem Ungewissen steht ihnen ins Gesicht geschrieben, trotz der Erhabenheit des Momentes. Zwei Stunden nach planmäßiger Abfahrt fahren wir los. Zumindest tut der Busfahrer sein Bestes. Hunderte Hände schlagen gegen das Busblech, die Zurückgebliebenen tanzen vor dem Bus, der sich langsam im Schritttempo durch die Massen quetscht. Auf dem von Autos und Menschen verstopften Weg sammeln wir weitere Passagiere auf anderen Istanbuler Busbahnhöfen ein. Auch dort das gleiche Schauspiel: Massen von zukünftigen Soldaten mit ihren ergebenen Fans – out of control.

Zwölf traumdurchweichte Stunden und dutzende traumhafte Dörfer später kommen wir in Antalya an. Es ist Mittag und genauso stickig heiß wie letztes Jahr Anfang August, als ich hier mein Leben in der Türkei begonnen habe. Ich treffe Malifu am Busbahnhof. Andy, ein Freund aus Leipzig ist dabei und weil wir zu dritt sind und das letzte Sammeltaxi zu unserem Zieldorf um sieben Uhr abends fährt, beschließen wir, einen regulären Bus zu nehmen. Weitere drei Stunden später erreichen wir Fetiye. An der Sammeltaxi-Ecke warten bereits acht andere in- und ausländische Hippies inklusive Melek, einem kleinen Engel. Der kleine Engel ist vier Jahre jung und hat in ihrem kurzen Leben bereits mehr Rainbow-Erfahrung gesammelt als ich. Das Sammeltaxi ist schon voll mit Dorfbewohnern. Macht nix, Sammeltaxifahrer sind professionelle Stapler. Die Serpentinen-Fahrt ins Dorf dauert noch mal eine Stunde, während der wir von den Dorfbewohnern Informationen über Ort und Lage sammeln können. Sie laden uns für den nächsten Tag zum Wochenbazar ein. Es dämmert bereits, als wir in einem kleinen bergigen Paradies ankommen und ein alter Mann auf Moped mit Sense in der Hand uns beschreibt, welcher Pfad zum Ziel führt und anbietet, den Kinderwagen von Melek bei sich unterzustellen. Bald stellt sich heraus warum. Der Weg zum Rainbow führt durch den Wald und ist steinig, bergig. Es ist dunkel. Mit Taschenlampen versuchen wir wie Hänselhippi und Gretelhäppi die weißen Bänder an den Büschen und Bäumen zu orten, die uns zum Camp weisen sollen. Wir sind elf und verlaufen uns mehrmals beim Wo-ist-das-weiße-Bändchen-Spiel. Ich hab mal wieder zu viel Gepäck dabei. Nach ca. eineinhalb Stunden sehen wir Feuer auf einer großen Lichtung. Ich höre, wie sich Meleks zarte Stimme hinter mir vor Freude überschlägt. Auf türkisch ruft sie in Richtung Feuer: „Freunde! Freunde! Wie geht es euch?“. Die Nachricht von den Ankömmlingen ist vorgedrungen. Willkommens-Rufe. Irgendein Hippie, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hab – auch wenn er mich verdächtig an Nemo, den amerikanischen Russen erinnert, mit dem ich vor fünf Jahren von Südmexiko nach Kalifornien getrampt bin – umarmt mich, als würde er nach etlichen Jahren endlich seine Mutter wieder sehen. In dem Moment bin ich zu erschöpft und zu erleichtert, um mich zu wundern und umarme ihn, als würde ich nach all den Jahren Nemo wieder treffen. Wie sich später herausstellt, ist dieses Geschöpf nicht nur ein außerordentlich extrovertiertes Energiebündel, das seinesgleichen sucht, sondern auch ein Mensch mit einem außerordentlichen Liebesbedürfnis. Erstaunlicherweise schafft er es, dieses Bedürfnis zu stillen, sprich andere willige Liebesbedürftige zu finden. Es wäre, falsch Pete als sexkrank zu bezeichnen, denn was er fühlt und sucht, ist Liebe in ihrer süßesten Form. Durchschnittlich verliebt er sich am Tag in fünf seines Erachtens charismatische Mädchen, die ihm in der Regel sofort erliegen. Als er neulich während der Pride Week in Istanbul war und wir gemeinsam tanzen waren, wurde ich Zeuge, wie selbst schnieke Chicks in einer Salsa-Bar seinem barfüßigen Charme erlagen.

Nach der wahrscheinlich längsten Umarmung meines Lebens falle ich auf den Boden. Irgendjemand kommt mit einer riesigen Schüssel, in der noch ein paar Salatreste schwimmen und streckt mir selbst gebackene Chapatis entgegen. Glücklich mampfend und gleichzeitig seltsam indifferent ob meiner neuen Umgebung fühle ich plötzlich Solidaritätsgefühle mit indischen Kühen in mir aufsteigen, als ich die rund 80 Hippies am Feuer beobachte, die gerade anfangen Mantras zu singen. Ein paar Leute beginnen, um die Darbukas und Djembes zu tanzen. Eine blonde Frau macht sich frei und lässt ihre Brüste hüpfen. „Girl, come on, get dressed!“, ruft jemand aus der Runde und erinnert, um was bereits in der Einladung zum Middle East Gathering gebeten wurde: „This is Turkey – an honour and shame society!“ „I don`t give a fuckin shit!“, kontert es zurück, „I came here to change this wrecked system!“ Ich muss lachen. Für wie revolutionär hält sich diese Dame? Denkt die mondäne, englisch und französisch sprechende Hippie-Braut im Ernst sie könne in diesem Land durch ihren verbrämten Reaktionismus und ihr edel wildes Gehabe irgendetwas verändern? „On every gathering we`ve been naked since we live in harmony with nature. We create our own world in our own universe“, mischt sich ein anderer Hippie in die Diskussion. „What’s up folks, we have good relations with the villagers. They come here and visit us, also their children, if they get to know about this we can’t come back here.“ Das Politikum scheint den gerade noch friedlich summenden Essenszirkel zu spalten. Die peacige Lagerfeuerstimmung ist am Arsch. Ich fühle, wie sich mein Verdauungstrakt zu Wort meldet und frage nach dem Ort der Erleichterung. „Down there are the shit-pits. Not too easy to find in the dark. Just find yourself a place“, informiert mich mein Nebensitzer. Soviel zum Thema in Harmonie mit der Natur leben und sich seine eigene Welt kreieren, denke ich und verschwinde in die Sterne funkelnde Dunkelheit.

Mit den Ereignissen der nächsten Tages verpuffen viele meiner angestauten Hippie-Vorurteile, einige andere verhärten sich. Die Rainbow-Family stellt sich als überraschend zugängliche, offene und kritikfähige Gemeinschaft heraus. Ich lerne Ömer kennen, der sich im Wald wie ein einheimisches Tier bewegt aber eigentlich sein Leben als Obdachloser in Istanbul fristet; Shuhur, einen Iraner, der acht Jahre in Indien gelebt hat und weder Yogi noch Bhaba geworden ist; Gündem, der mit seiner türkischen Familie gebrochen hat und eine Leidenschaft für Straßentheater hat; Cihan, einen Leipziger Türken mit einem Herz so groß wie eine Galaxie und einem Hang für Ethnobotanik; July, die kleine, zärtlich-resolute Mutter von Melek, die, wie sich im Nachhinein herausstellt, schon mit meinem neuen Mitbewohner zusammengewohnt hat; Nacho, der begnadete Flamenco-Gitarrist, der Tourismus studiert hat, aber eigentlich Ethnologe werden will; die verrückte Mer, die mir zeigt, wie man einen kurdischen Turban bindet, die von einem Skorpion gebissen wurde und mich zwei Wochen später auf eine magische griechische Insel entführt. Das erste Mal in meinem Leben werde ich als Deutsch-Türkin wahrgenommen, lerne mich mit Asche anstatt mit Seife zu waschen, dass man als Küchenhelferin jederzeit anwesende Musiker zur allgemeinen Unterhaltung bestellen kann, wie gemütlich es ist, eingewickelt in einen Schafsfellteppich neben Malifu zu schlummern und dass es in Indien ein Festival mit 20 Millionen aktiven Teilnehmern gibt. Der Tag besteht aus reden, kochen, essen, Musik und Erkundung von Flora, Fauna und Fantasien. Wir diskutieren unter Myriaden von Sternen über Aliens und unter sengender Hitze über Astrologie, Hygienemaßnahmen, die Notwendigkeit von Hierarchien und aufgeblähten Egos; wir sehen in nüchternem Zustand eine Regenbogen­corona um die Sonne, treffen rasende Schildkröten, baden in kaltem klaren Flusswasser und üben uns meistens weniger erfolgreich in Basisdemokratie. Innerhalb von drei Tagen fühle ich mich bei dem Haufen habloser Hippies zu Hause, auch wenn ich die einzige mit schwarzen Klamotten bin, Petes wiederholten Einladungen in sein Zelt trotzig widerstehe und beim zweimal täglichen Om-Gesumme und Händchen halten vor Beginn des Essenszirkels jedes Mal losprusten muss. Nach drei Tagen muss ich zurück in die große Stadt: mein geliebter Belator-Mitbewohner kommt mit Dresa aus Budapest und der Meggiepeggie-Wonneproppen mit Fritzi vom Balkan gestoppt. Die Leipzig-Connection ruft und ich freu mich wie ein Honigkuchenpferd auf die Jungs und Mädels. Trotzdem, der Abschied vom Camp ist schwer, der Gedanke an Istanbul in dieser Umgebung irgendwie absurd. Gündem begleitet mich ins Dorf. Im Wald hören wir die Rufe und das Trommeln vom Camp und auf einmal erscheint der Platz, an dem ich die letzten Tage verbracht habe, wie eine Insel des Glücks, den Ort den es eigentlich gar nicht gibt. In Fetiye springe ich in den letzten Bus, als der schon losgefahren ist. Das Zwischenwelten-Mobil gleitet aus dem Regenbogen-Land in Richtung glühend heiße Beton-Megapolis. Wie viele L(i)eben hat ein Leben?

(Klara Fall)

Tod der Diktatur!

Zur Situation im Iran

Die Protestbewegung im Iran hat einiges ins Wackeln gebracht. Die Anzeichen, dass ein grundlegender Wandel be­vorsteht, verdichten sich. Längst wird unter gebildeten Iraner_innen mehr oder we­niger offen über Repression, die Verwei­gerung bürgerlicher Freiheiten und die außenpolitische Isolation des Landes diskutiert. Die Bewegung stellt in vielen Bereichen die bislang in der „islamischen Republik“ herrschenden Verhältnisse in Frage.

Die Unzufriedenen

Obwohl auch Frauen im iranischen Parla­ment sitzen (allein aus dem Grund, weil die heutigen Machthaber auf ihre aktive Un­terstützung bei der Revolution ´79 an­ge­wiesen waren), hat sich die rechtliche La­ge verschlechtert. Kenner der Lage sprechen häufig von Geschlechterapartheid. So dürfen Frauen bspw. nicht einmal Fahrrad fahren. Bereits kurz nach der Vertreibung des Schahs und der Machtübernahme durch die islamische Republik unter Führung Khomeinis vor 30 Jahren gab es erste Demonstrationen gegen den Schlei­er­zwang.

Realpolitische Erfolge gegen die diskrimi­nie­rende Gesetzgebung des Regimes kann die Frauenbewegung zwar nicht vorweisen, doch konnten Aktivistinnen z.B. Steinigungen verhindern, über Folter sowie Ar­beitsverhältnisse der Frauen aufklären und diese bei Scheidungen unterstützen. Außerdem wuchsen sie, besonders durch staat­liche Repression, zu einer der zahlenmäßig stärksten Oppositionsgruppen an. Sie konnten das Thema Frauenrechte in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Bei den aktuellen Protesten sind sie deshalb auf gleicher Augenhöhe mit den männ­lichen Regimegegnern. Nicht zufällig wurde die bei den Demonstrationen ermordete Studentin Neda Aghasoltan zur Symbolfigur des Protestes gegen das is­la­mistische Regime.

Anlass für die Proteste waren zwar die Wah­len im Juni, aber die wichtigsten Beweggründe sind die Unterdrückung der Frauen, verbunden mit der Pressezensur, der Einschränkung des kulturellen Lebens, der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit Armut, Inflation und sozialer Unsicherheit sowie der politischen Ohnmacht.

Inzwischen haben die Proteste flexible Ak­tionsformen angenommen, statt nur noch Massendemonstrationen gibt es vermehrt kleinere, dezentrale Blockaden, die für die Machthaber nicht mehr so leicht kon­trol­lierbar sind und daher meist nur wenige Ver­haftungen nach sich zogen. Eine Stärke der Bewegung ist einerseits ihre Vielfältigkeit – Religiöse und Nichtreligiöse, Junge und Alte, Frauen und Männer – anderseits der gemeinsame Gegner, das er­starrte Regime. Bisher ist die Bewegung vor allem auf die Großstädte begrenzt. In den ländlicheren Regionen ist es dagegen bisher eher ruhig geblieben, denn dort ha­ben die Menschen größere Angst vor Re­pr­ession, da sie leichter identifizierbar sind – in den Minderheitenregionen (lediglich 58% der Bevölkerung haben Persisch als Muttersprache (1)) wie beispielsweise den Kurdengebieten im Westen des Landes, ist außerdem die Militärpräsenz sehr stark.

Die moderne Jugend

Was die aktuellen Aufstände für Ergebnisse bringen werden, hängt zum größten Teil davon ab, wie das politische Lager in den kommenden Wochen und Monaten reagieren wird. Viele Iraner_innen vergleichen die massiven Proteste mit dem Ausbruch eines Vulkans. Die Frage wäre also nicht ob, sondern wann und wie sie das Regime zum Kollabieren bringen werden. Dass das gegenwärtige System selbst in An­sätzen nicht reformierbar ist, hat die junge Generation von Iraner_innen (der Großteil der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre) auf die harte Tour lernen müssen. Nicht nur, dass die reformistischen Ansätze von Politikern wie Mohammed Chatami aufgrund der alles überragenden Machtposition des seit 1989 amtierenden geistlichen Führers Ajatollah Chamenei ins Leere liefen, in den letzten 20 Jahren wur­den auch alle Protestaktionen mit brutaler Repression beantwortet. Auch heute sind willkürliche Verhaftungen mit Folter und Ermordung von Systemkriti­ker_in­nen an der Tagesordnung. Die soziale Bewegung konnte dadurch zwar im Wachstum behindert, aber nicht zerschlagen werden. Somit sieht sich die iranische Führung momentan mit sehr bunten und viel­gestaltigen Gruppen und Protestfor­men konfrontiert. Denn trotz aller Ein­schüch­terungsversuche lassen sich weite Teile der Bevölkerung nicht zwingen, sich mit der theokratischen Staatsideologie zu identifizieren.

Zu großen Teilen werden die Proteste von Jugendlichen getragen, die zuvor nicht po­litisch aktiv waren, aber sich durch die Le­bensverhältnisse im Iran eingeengt fühlen. Umso mehr, als das Internet und die damit einhergehenden Möglichkeiten der glo­ba­len Kommunikation und Vernet­zung den Blick über den Tellerrand drastisch vereinfacht hat. Die westliche Wahrnehmung der Vorgänge in der islamischen Republik speist sich fast ausschließlich aus Twitter-Meldungen, YouTube-Videos und Facebook-Einträgen. Dies zeigt zum einen, dass sich unter den Regimegegnern viele jun­ge und formal gebildete Menschen be­finden, zum anderen, wie wenig sie der Re­pressionsdruck der Überwachungsorgane zu beeindrucken vermag. Immer­hin werden infolge der ersten Verhaftungswellen zumeist die Gesichter der Protestierenden unkenntlich gemacht. Auch im Iran selbst ist die Informationslage un­über­sichtlich, die Regierung lässt gezielt un­liebsame Journalist_innen und Akti­vi­st_innen verhaften oder verschwinden und nutzt die unter anderem von Nokia Siemens Networks (MSN) gelieferte Technik zur Kontrolle der Kommunikation (2).

Reformer und Revolutionäre

Die iranischen Blogger_innen, Intellektuellen, Menschenrechtler_innen und sonstigen Demonstrationsunterstützer_innen, ebenso wie die exiliranischen Organisationen sind sich weitgehend einig, dass das herrschende System dem Untergang geweiht ist. Das sicherste Zeichen dafür ist, dass die Menschen die Angst und den Respekt vor dem Regime verlieren. Als vor allem in den Großstädten Hunderttau­sende auf die Straßen gingen, skandierten sie im Überschwang der Gefühle Parolen wie „Tod dem Diktator“ und „Tod Dir!“, die sowohl auf den Präsidenten Ahmadinedschad als auch auf den geistlichen Führer Ajatollah Chamenei gemünzt waren und brachen damit ein Tabu. Offene Kritik am geistigen und faktischen Staatsoberhaupt galt bislang als kürzester Weg zur umgehenden Hinrichtung.

Die Reaktionen der iranischen Führungselite dagegen sind von Planlosigkeit und ersten Anzeichen von Panik gekennzeichnet. Große Geldsummen werden ins Ausland verschoben, auch der Umgang mit Ver­hafteten ist ein Indiz für die um sich greifende Unsicherheit: Schwiegen sich die Behörden zunächst noch über die An­zahl und Identitäten der Inhaftierten aus, wurden die Namen später doch noch veröffentlicht. Am 28. Juli schließlich wurden auf Anordnung des obersten Rechtsgelehrten Chamenei die meisten Insas­s_in­nen eines Gefängnisses, wo es zu massiven Miss­handlungen und Vergewaltigungen ge­kommen war, gegen Zahlung einer Kaution entlassen, dieses soll nun geschlossen werden. Auch einige Beamte der Sicherheitsapparate wurden ohne Angabe von Gründen ausgetauscht. Interessant ist, dass sich viele Ajatollahs, Mullahs und Parlamentarier, die in Opposition zu Ahmadinedschad stehen, entweder vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben oder sich zumindest vorsichtig zugunsten der empörten Masse aussprechen. Aus Protest gehen Ajatollahs ins Exil, ins irakische Nadschaf, die zweite wichtige Stadt der shiitischen Geistlichen neben Qom.

Die iranische Machtelite ist in konkurrierende Clans gespalten, die sich am ehesten mit Mafiosifamilien vergleichen lassen. Wer Schwäche zeigt, indem er von seinen Forderungen auch nur ein Stück zurückweicht, begeht damit zugleich politischen Selbstmord. Das patriarchalische System stützt sich seit Beginn der islamischen Republik auf Korruption und Gün­stlingswirtschaft. Dessen sind sich auch die Iraner_innen bewusst.

Die Diskussion wird vor allem von zwei Gruppen geprägt. Da ist zum einen der radikale Diskurs, der in der Frauen-, Studierenden- und Arbeiter_innenbewegung weit verbreitet ist. Diese fordern, dass die Bevölkerung an allen Entscheidungen teilhaben muss, soziale und politische Gleich­be­rechtigung und die Unabhängigkeit des Landes von fremden Interessen. Vor allem die Frauenbewegung vertritt, ausgehend von der Kritik an der patriarchalen Herrschaft, stark antiautoritäre Positionen. Durch die Repression haben diese Bewegungen bis jetzt keine größeren Organi­sa­tionsstrukturen bilden können – Gewerkschaften z.B. sind im Iran verboten. Dies führt auch dazu, dass der radikale Teil des Protestbewegung weniger beachtet wird als die sogenannten Reformer. Da einige von diesen selbst Teil des Machtapparats sind, haben sie auch Zugang zu den Medien. Die „Reformer“ vertreten vor allem liberale Positionen, wie sie auch von vielen iranischen Intellektuellen, Schrift­steller_innen, Journalist_innen, Wirt­schafts­wissenschaftler_innen usw. geteilt werden. Sie wollen die iranische Wirtschaft modernisieren, das Land nach außen öffnen, ein Mehrparteien-System nach westlichem Vorbild einrichten, Staat und Religion trennen – wobei es unterschiedliche Meinungen gibt, wie weit die Trennung gehen soll. Sie machen vor allem die Mißwirtschaft und Korruption der Regierung und der mit dieser verbundenen Machtcliquen für die Armut im Land verantwortlich – eine normal funktionierende kapitalistische Wirtschaft wür­de ihrer Meinung nach diese Miß­stände beseitigen. Ähnliche Positionen wer­den auch von einigen – von den USA und der EU finanziell unterstützten – exiliranischen Gruppen und über die per­sischsprachigen Sender von BBC, Deutscher Welle oder Voice Of America propagiert.

Das Verhältnis zwischen diesen Fraktionen und den „Aushängeschildern“ des Protestes, wie den bei der Wahl gescheiter­ten Kandidaten Charrubi und Mussawi ist widersprüchlich. Charrubi und Mussawi kön­nen, da sie Teil des Apparates sind, Kri­tik an der Regierung üben und den Protestierenden einen gewissen Schutz bieten. Gleichzeitig versuchen sie, den Protest für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Liberalen haben derzeit die Oberhand in der Bewegung, aber auch Angst da­vor, dass der Protest sich weiter radikalisieren könnte. Wenn das geschieht, könnten die Gegensätze unter den Protestierenden, die zur Zeit durch die gemeinsame Opposition gegen das Regime überdeckt werden, in den Vordergrund treten. So weit könnte es schon bald kommen, denn obwohl die Repression zunehmend brutaler wird, ist nicht zu übersehen, dass das Regime die Kontrolle über die Lage ver­liert. Die Frage ist, welche Fraktion sich durchsetzen wird, wenn das Regime stürzt, ob der regime change über die Köpfe der großen Mehrheit der Bevölkerung hinweg geschieht. In diesem Fall würde wohl der Iran in einen liberal-kapitalistischen Staat nach westlichem Vorbild umgewandelt und einige Reformen durchgeführt werden. Wenn es den „Reformern“ gelingt, die auch für sie und ihre Ziele gefährliche Situation in dieser Weise zu beruhigen, wür­de das aber auch das Fortbestehen sozialer Ungleichheiten, der Benachteiligung von Frauen ebenso wie der kurdischen, aser­baidschanischen und anderer Minderheiten bedeuten. Unter diesen Umständen dürfte es eine lange Zeit dauern, bis die sozialen Bewegungen im Iran wieder an dem Punkt stehen, an dem sie heute sind. Aber noch ist die Sache nicht entschieden: Sollte es wirk­lich zu einem Generalstreik kommen (eine Möglichkeit, über die viele Arbeite­r_innen diskutieren), könnten auch die Reformer an den Rand gedrängt werden.

Die emanzipatorischen Kräfte stehen im Iran dem Regime und den Reformern gegenüber, auch auf Hilfe von der westlichen Politik können sie nicht rechnen. Sie sind auf unsere Unterstützung angewiesen.

(waldorf & statler)

(1) de.wikipedia.org/wiki/Iran

(2) Kein Geschäft mit den Mullahs, taz vom 29.06.09