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Freiheit für Marco, Daniel und Carsten!

Politische Repression in Magdeburg

Seit einiger Zeit ermittelt die Bundesanwaltschaft (BAW) in Magdeburg nach dem Gesinnungsparagraphen §129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung). Ein Jahr sind Daniel und Marco unter diesem Vorwurf nun schon in Haft. Und da die BAW und das LKA auch nach fünf Monaten keine glaubwürdigen Beweise vorlegen konnten, wurde im April 2003 Carsten, aktiv in der Unterstützungsarbeit für die Beiden, verhaftet – denn nur zu dritt ist man eine terroristische Vereinigung, und nur so konnte die Haftfortdauer aufrecht erhalten werden.

Am 21. Oktober soll ihnen in Halle der Prozess gemacht werden. Für sie ist klar, daß es sich „um einen staatlichen Angriff rein politischer Natur handelt, dem auch entsprechend entgegengetreten werden muß“ (Daniel).

Für den 25.10. 2003 um 14 Uhr ist deshalb am Bahnhof in Magdeburg eine bundesweite Demo angesetzt. Ihr Motto: „Freiheit für Daniel, Marco + Carsten! Weg mit dem Paragraf 129a/b!“

mehr Infos: www.soligruppe.de

Bewegung

Urlaub mit Kriminellen

Wir trauern. Sommer 2003. Um dich. Viel zu früh gingst du von uns, just im Zenit deiner Jugend… Doch wir trauern nicht nur wegen lauer Sommernächte, Badeseen und Tofuwürstchen, sondern auch, weil die heiße Zeit der politischen Sommercamps und -gipfel vorbei ist. Schade, schade… und weil’s so schön war, lassen wir einige Highlights noch einmal Revue passieren.

Manch einer mag sich fragen, was jetzt eigentlich ein Camp ist. Vielleicht ein Jugendferienlager mit Betreuern und festen Ess- und Schlafzeiten? Oder ein Rekrutierungspool obskurer Politsekten? Es wird gemunkelt, die Camps seien mehr ein „Urlaub mit Freunden“, ein „linker Freizeitspaß“ und mensch könne genauso gut auf ein Festival fahren. Aber bei näherem Hinsehen verbirgt sich hinter all der Camping- und Gemeinschaftsduschidylle eine ernste politische Aussage. Politische Camps, als relativ neue Aktionsform im Katalog der Sub-Politik, drehen sich laut Selbstdefinition um verschiedene Themen. Mal wird Antirassismus und die Abschaffung von Grenzen, mal Umweltschutz, mal selbstbestimmte Kultur in den Vordergrund gestellt. Dass es letzten Endes um das Erreichen einer befreiten Gesellschaft gehen soll, wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Das dort entstehende solidarische Miteinander ist praktisch eine gelebte Utopie – aber was wäre eine Utopie ohne …setzt bitte ein was ihr wollt…? Wo bliebe die Attraktivität politischen Handelns ohne den Slogan „Schöner leben jetzt!“? So wird Herrschaftsfreiheit nicht nur gefordert sondern soweit es eben geht vorgelebt – mit hierarchiefreien (oder zumindest -armen) Entscheidungsstrukturen (Plenum), gemeinsamer Versorgung (Volxküche), vielen Workshops, Gesprächsrunden, Musik, Kultur und gänzlich autonomer Entscheidungsfreiheit jeder/-s Einzelnen.

Teilweise dominierte der Aspekt, der herrschenden Politik, die ja in eine gänzlich andere Richtung geht, direkt in den Arm zu fallen (wie bei den Gipfel- und NoBorder-Camps). Teilweise stand die Vernetzung und eben auch die Nestwärme im Vordergrund, die eine Gruppe Gleichgesinnter nun mal ausmacht. So waren das A-Camp auf der Burg Lutter und das Wendland-Sommer-Camp dieses Jahr eher interne Veranstaltungen für AnarchistInnen und den Anti-AKW-Widerstand.

Das mit Abstand meistbesuchte Spektakel war unbestritten der G8-Gipfel in Evian am Genfer See (siehe FA! #7) mit bis zu hunderttausend TeilnehmerInnen in verschiedenen Groß-Camps und auf Demonstrationen. Gegen die neoliberale Verelendungspolitik („Globalisierung“) wurde hier im Juni ein deutliches Zeichen gesetzt. Ähnlich wie bei vorangegangenen Gipfeln wurde der Widerstand mit einem bombastischen Polizeiaufgebot konfrontiert. Die Gewalteskalation, die von den Medien immer gern bei den DemonstrantInnen („Chaoten“) gesucht wird, ist hier eindeutig auf Seiten der „Ordnungshüter“ zu finden, was die verletzten GlobalisierungskritikerInnen in den überfüllten Krankenhäusern beweisen. So riskierte die Polizei bewusst den Tod von angeseilten AktivistInnen, als sie diese einfach los schnitt (Resultat war ein Schwerverletzter) und setzte, wie schon in Davos (IWF-Gipfel im Januar mit massiven Protesten) neuartige Schockgranaten ein. Diese und andere „non-lethal weapons“ sind als nicht tödlich deklariert, sorgen aber mindestens für schwere Verletzungen. Erneut zeigt sich, dass herrschende Politik auf offene Kritik nur die Antwort der Gewalt kennt – und die wächst mit der Intensität der Proteste. Praktisch alle politischen Sommerevents waren massiver Polizeirepression ausgesetzt, die von Räumung und Kriminalisierung des Kölner Grenzcamps (siehe FA! #8) mit hunderten Verhafteten bis hin zur umfassenden Überwachung einer Kultur-Floßfahrt reichte.

Die auf den ersten Blick verrückte Idee, auf Brettern und Fässern die Elbe runter zu fahren, wurde praktisch umgesetzt, um gegen die Vorstellung anzugehen, „Flüsse wie Autobahnen auszubauen und zu zu betonieren“ sei wichtig für den ‚Standort‘, so die OrganisatorInnen-Gruppe. Hier wird deutlich, dass Widerstand vielfältige Formen annehmen kann und keineswegs Steine schmeißen bedeuten muss. Manchmal heißt Widerstand auch, „…auf der Elbe zu fahren, auf einem Floß zu liegen, und eben dieses Vehikel zu nutzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen und kulturelle Inhalte zu transportieren.“

Auf solch unkonventionelle Ideen reagiert die Staatsmacht im Allgemeinen argwöhnisch: Bei Nichteinhaltung der diversen Auflagenkataloge wird gewaltfreie, kulturelle Politarbeit einfach verboten. Zu sehen auch an der Fahrrad-Karawane, die sich im April Richtung Thessaloniki (Nordgriechenland) zum EU-Gipfel auf den Weg machte um in drei Monaten fünf Grenzen zu überqueren und sich den Protesten anzuschließen. Neben Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit anarchistischen Gruppen in Osteuropa und dem grandiosen, oft „anstrengenden“ (Zitat Teilnehmer) Reiseerlebnis fühlten die RadlerInnen mal ganz direkt, was geschlossene Grenzen bedeuten und wie wichtig es ist, gerade diese als Kernpunkt staatlicher Macht zu thematisieren um sie irgendwann einmal abzuschaffen.

So sehen die Einen Sommeraktionen als einen Weg an, „den Aufstand zu proben“, um die Obrigkeit immer wieder aufs Neue herauszufordern. Anderen ist die Vernetzung wichtig, nicht nur für politische Arbeit sondern auch um selbstbestimmtes, solidarisches Miteinander auch im restlichen Jahr über leben zu können. Und für viele mag es eben auch der „Urlaub mit Freunden“ sein, der im Vordergrund steht. Mit Inspiration und der Bestätigung, das viele, viele Menschen woanders auch so denken wie sie, kehren die „Kriminellen“ (Polizei), „Chaoten“ und „Krawallbrüder“ (BILD), „Störer“ (Express) und das „unappetitliche Pack“ (Ex-Minister Kanther) also zurück in ihre Winterquartiere um dort die „Sommerpause“ zu beenden und lokal aktiv zu bleiben.

Camps machen Mut weiter zu machen – bis zur Befreiung, vielleicht mal irgendwo, irgendwann. Oder bis zum nächsten „Urlaub mit Freunden“.

soja und wanst

Rot-schwarze Fahne weht über der alten Arbeitsbörse von Bordeaux

Ein Blick zurück … ist manchmal auch ein Blick nach vorn! So etwa im Falle der Bourse du Travail – der Arbeitsbörse – in Bordeaux. Was für zeitgenössische Ohren wie eine Vorform des Arbeitsamtes, dieses sterilen staatlichen Sklavenmarkts, klingen mag, das war etwas ganz anderes – und die Idee davon lebt fort. Die Arbeitsbörsen entstanden im Frankreich der 1870/80er Jahre als in Folge des Aufstandes unter anderem der Pariser Commune die republikanische Repression gegen jedwede Emanzipationsbestrebung im Anstieg, die linke politische Bewegung hingegen im Niedergang begriffen war. Der parteipolitischen Zersplitterung und Zerstrittenheit setzten die radikale Gewerkschaftsbewegung unter anderem eben jene Arbeitsbörsen entgegen. So entstanden in Selbstorganisation Räume des Austausches und der Zusammenkunft … wie wir sie heute in den berühmten Centri sociale in Italien finden. Die Aktivitäten der organisierten ArbeiterInnen beschränkten sich indes keineswegs auf den ökonomischen Bereich – etwa in Form von Arbeitsplatzbörse und Unterstützungskassen –, sondern sie spiegelten eine gesamtgesellschaftliche Perspektive wider: die Arbeitsbörse war vor allem Bildungsstätte und wurde so zu einem wichtigen sozialen Zentrum.

Was wir heute von dieser Bewegung lernen können ist, dasz es sich sehr wohl lohnt (auch finanziell) – und dasz es gar notwendig ist – über politische, nicht über weltanschauliche, Gräben hinweg unseren Alltag selbst zu gestalten. So können wir ein Stück Autonomie – Autonomie ist Leben – zurück erlangen. Im Austausch und in der Diskussion, im gemeinsamen Handeln und Feiern gewinnen wir nicht nur an Stärke, sondern vor allem eine Masse Lebensqualität und nicht zuletzt Klarheit über uns selbst.

Es folgt ein Interview der Zeitschrift Le Combat Syndicaliste (C.S.), Organ der Confédération Nationale du Travail (CNT: anarchistische Basisgewerkschaft in Frankreich mit ungefähr 4.000 Mitgliedern, Schwesterorganisation der Freien ArbeiterInnen Union in der BRD): Am 10. Januar 2002, um sechs Uhr früh, ergreift eine Gruppe von AktivistInnen wieder Besitz von einem verlassenen Gebäude mitten im Stadtzentrum von Bordeaux (Frankreich): der alten Arbeitsbörse in der 42, rue de Lalande.

C.S.: Warum diese Besetzung?

Wir haben uns zu dieser Besetzung entschieden als wir erfuhren, dasz die alte Arbeitsbörse an eine Privatperson verkauft werden sollte. Selbst in einer Zeit wie der unsrigen, da alles als Ware angesehen wird (vom Lebensminimum bis zum Individuum selbst), ist der Verkauf dieses öffentlichen Ortes durch die Stadtverwaltung ein Akt von hoher symbolischen Bedeutung. Das konnte die C.N.T.-A.I.T. nicht zulassen. Das Gebäude der Börse ist ein öffentliches, immerhin seit dem 18. Jahrhundert, vor allem aber ist es zum sozialen Erbe der Stadt zu zählen. Nicht zu vergessen ist auch, dasz die Arbeitsbörsen das Ziel hatten, die ArbeiterInnen aller Berufe zu vereinigen und ihnen ihre Würde wieder bewußt zu machen. Die C.N.T. hat, nach der C.G.T. (1), viel zur Belebung dieses Ortes der ArbeiterInnenkultur beigetragen. 1993 dann, wurde die Arbeitsbörse nach undurchsichtigen Manipulationen der Stadtverwaltung in andere, weniger attraktive Örtlichkeiten verlegt.

C.S.: Stellt ihr euch mit der Besetzung bewußt in eine Kontinuität?

Ja, denn in Bordeaux fehlt ein großflächiges und unkommerzielles Lokal. Die alte Börse kann auf dieses Bedürfnis reagieren. Konkreter: wir wollen diese Örtlichkeiten nutzen, um einen authentischen und offensiven Anarchosyndikalismus zu entwickeln. Wir wollen sie aber auch teilen mit allen Personen und allen gewerkschaftlichen oder anderen Organisationen, die eine Emanzipation des Individuums in Respekt der Prinzipien der direkten Demokratie anstreben. Wir wollen die Börse zu einem Ort der kulturellen Zusammenkunft machen, zu einem Ort des Kampfes gegen die “gesellschaftliche Neugestaltung” à la MEDEF (2), des Kampfes für bessere Lebensbedingungen. Und schließlich wollen wir dem Gebäude seinen Charakter einer offenen Universität wiedergeben. Das ist heute bitter nötig, da das Einheitsdenken nicht nur das Nachdenken zerstört, sondern auch die Hoffnungen all derer, die meinen, eine andere Welt sei möglich.

C.S.: Ihr seid unausweichlich mit Schwierigkeiten konfrontiert …

Selbstverständlich. Der Käufer unternimmt alles, um uns hier wieder rauszukriegen. Einige “UnterstützerInnen”, die uns helfen sollten, haben uns fallen gelassen. Und einige PolitikerInnen versuchten, das Projekt zu vereinnahmen. Wir haben sie freundlichst abgewiesen. Schließlich hat uns die Lokalzeitung ziemlich runtergemacht, zur Zeit fordern wir unser Recht auf eine Gegendarstellung ein.

C.S.: Heute ist der 21. Tag eurer Besetzung. Wie steht’s?

Wir sind entschlossener denn je. Heute morgen war der Käufer da, mit Polizei, und wollte uns den Strom abstellen. Das bewirkt aber nichts weiter, als uns in unserem Vorhaben zu bestärken. Es kommen nämlich mehr und mehr Einzelpersonen der verschiedensten Zusammenhänge hier vorbei und nehmen an den zweiwöchentlichen Vollversammlungen teil. Unser kulturelles, soziales und kämpferisches Projekt findet so langsam Anklang. Wir sind Tag und Nacht im Haus, und es kommen verschiedene Aktivitäten zustande: Musik, Vokü, Debatten, Konferenzen, eine Ausstellung … Unser Projekt, verkörpert in der Besetzung der Arbeitsbörse, fußt auf der Emanzipation des Individuums, auf einer wirklich solidarischen Konzeption von Orten, die jene vereinigen, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Arbeitskraft. Wir legen Wert darauf, dasz viele Leute dieses Projekt mit uns teilen können, dasz alle, die sich in diesen Ideen wiederfinden, nicht zögern, in der alten Arbeitsbörse vorbei und miteinander ins Gespräch zu kommen – sie werden willkommen sein. Je zahlreicher und entschlossener wir sind, desto größer sind unsere Aussichten auf Erfolg.

aus: Le Combat Syndicaliste, Nr. 72, Februar/März 2002;

Einleitung und Übersetzung von A.E.

(1) eine weitere französische Gewerkschaft, der KP nahe stehend
(2) französischer Unternehmerverband

Soziale Bewegung

Neues Altes aus Berlin – die Rigaer 94

„Sei optimistisch und halte das Unmögliche für machbar.“ So das Lebensmotto der Friedrichshainer Bezirksbürgermeisterin Reinauer, die allerdings die HausbesetzerInnen der Rigaer Straße 94 als „Kindergarten“ bezeichnet und deshalb weg haben will. Dies versuchen die Behörden zwar schon seit einigen Jahren, doch so nah dran wie heute waren sie dabei nie, seit der Besetzung 1990. Damals, in Zeiten autonomer Aufbruchstimmung, wurde auch die berühmte Kneipe „Kadterschmiede“ eingerichtet, die zum Label der Rigaer 94 avancierte. 1992 einigten sich Behörden und BewohnerInnen auf einen der vielen „Rahmenverträge“ zum „Instandbesetzen“.

Im Großen und Ganzen ging das auch solange gut, bis ein gewisser Suitbert Beulker im Jahr 2000 das Gebäude erwarb und ziemlich unverblümt bekannt gab, dass er die jetzigen BewohnerInnen „raus haben“ wolle. An Verhandlungen war anscheinend nicht mehr zu denken – es folgten Mietkündigungen wegen Bagatellen wie „lauter Musik“ und „illegaler Untervermietung“, die juristisch allerdings kaum haltbar waren. Trotzdem häuften sich Polizeieinsätze bei denen es zu Sachbeschädigungen und Verhaftungen kam. Im Sommer `02 erfolgte die teilweise Räumung der Kadterschmiede – Fenster wurden zugemauert, Stühle und Tische geklaut.

Der monatelange Hickhack mit Teilräumungen und Wiederbesetzungen gipfelte am 7. Mai dieses Jahres in einem Großangriff der SEK‚s (Sondereinsatzkommandos), in dem fünf Wohnungen geräumt und anschließend von einem axtschwingenden Suitbert Beulker (!) und einem angeheuerten Schlägertrupp unter den Augen der Beamten komplett zerstört wurden. Seitdem werden die BewohnerInnen rund um die Uhr von einem Wachschutz drangsaliert, der niemanden außer ihnen ins Haus lässt, während Beulkers Schläger weiter möglichst viel kaputtmachen und die freundliche Berliner Polizei aufpasst dass das alles auch so passieren kann.

Es fällt schwer, angesichts dieses Dramas noch Optimismus aufzubringen, doch die Rigaer Leute zitieren weiter Bürgermeisterin Reinauer und „halten das Unmögliche für machbar“: Entschädigungslose Enteignung von S. Beulker und freien Wohnraum für alle!

soja

mehr Infos: rigaer94.squat.net

Proteste gegen den G8-Gipfel

Demo-Tourismus oder Vorgeschmack einer libertären Gesellschaft?

In der Zeit vom 1. bis zum 3. Juni fand in Evian, dem malerischen französischen Ort am Genfer See, aus dem das berühmte Sprudelwasser kommt, das jährliche Treffen der Regierungschefs der sieben (einfluss-)reichsten Staaten der Welt sowie Russlands statt. Unter dem Titel „G8“ sprachen sie in „gemütlicher Runde“ über ihre Vorstellungen von der Gestaltung der Welt.

Seit einigen Jahren formiert sich immer breiterer Widerstand gegen diese Treffen, was die G8, vor allem nach den großen Protesten 2001 in Genua, die im Tod von Carlo Giuliani gipfelten, dazu zwang, große Städte zu meiden und in unzugängliche Gegenden auszuweichen. Nachdem der Gipfel 2002 hoch oben in den kanadischen Rocky Mountains stattfand, wurde in diesem Jahr das kleine und durch die Lage zwischen Genfer See und den Savoyer Alpen gut abzuriegelnde Evian als Austragungsort der sich ach-so-wichtig gebenden Plauderrunde gewählt.

Auch diesmal riefen verschiedenste Bündnisse, Gruppen und Einzelpersonen dazu auf, den G8 Gipfel mit phantasievollen Aktionen, Demonstrationen und Blockaden zu begleiten bzw. zu behindern. Zwar ist von einigen Seiten immer wieder der Vorwurf zu hören, ein solches „Gipfel-Hopping“ habe nicht gerade sonderlich subversiven Charakter, sondern fördere eine Art selbstgefälligen Demo-Tourismus, und gäbe darüber hinaus dem Treffen der Mächtigen deutlich mehr Aufmerksamkeit und Wichtigkeit als ihm bei genauem Hinschauen zukomme – als Medienspektakel, welches lediglich dazu dient, längst gefasste Beschlüsse der Welt mit lautem „Trara!“ zu verkünden. Doch bieten die in diesem Zusammenhang aus dem Boden sprießenden Camps zur Unterbringung, Versorgung und Koordinierung der von weit her anreisenden Demo-TouristInnen durchaus punktuell die Möglichkeit, gemeinsam einen kleinen Vorgeschmack eines anderen (besseren?) Zusammenlebens zu erträumen und teilweise auch zu erleben.

So entstanden bereits im Vorfeld des Gipfels, begünstigt durch den in mehreren angrenzenden Staaten lohnarbeitsfreien Himmelfahrtsdonnerstag, verschiedene Camps bzw. „Villages“ (frz. für „Dörfer“) in Genf und Lausanne, da in diesen Städten auch die meisten der offiziellen GipfelteilnehmerInnen (1) untergebracht waren, sowie in der Nähe des kleinen Dörfchens Annemasse an der französischschweizer Grenze, zwischen Genf und Evian.

Eines der Dörfer in Annemasse war das VAAAG – „village alternatif, anticapitaliste et anti-guerres“ (alternatives, antikapitalistisches und Anti-Kriegs-Dorf ), an dessen Gestaltung mehrere Tausend Menschen teilnahmen. Geplant wurde das Dorf schon Wochen im voraus von verschiedenen anarchistischen, libertär-kommunistischen und anarchosyndikalistischen Gruppierungen aus ganz Europa, dem „Zusammenschluss der anti-autoritären und anti kapitalistischen Kämpfe gegen die G8“ (ZAAKG8) (2). Deren Ideen für eine libertäre/egalitäre Gesellschaft nach Abschaffung von Kapitalismus und Lohnarbeit möchte ich im Folgenden vorstellen…

Quand on aura aboli le capitalisme et le salariat! (3)

Wenn Kapitalismus und Lohnarbeit abgeschafft sind…

Wir werden eine egalitäre Gesellschaft errichten, zu deren Aufbau und Funktionieren jede ihren Beitrag leistet und in der jede ihre Bedürfnisse befriedigen kann (4). In der jede die Möglichkeit hat, an den Entscheidungen teil zu haben, die sie direkt oder indirekt betreffen. In der jede die Bildung erhält, die sie benötigt, und das gemeinsame Wissen mit allen anderen teilt. Es gilt, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Freiheit der anderen die Garantie für die eigene Freiheit ist. Ziel ist es, Produktion, Verteilung und Konsum so zu gestalten, dass eine jede das erhält, was sie benötigt, und entsprechend ihrer Möglichkeiten, Bedürfnisse und Wünsche an der Produktion teilnimmt und konsumiert…

Es ist klar, dass das aktuelle ökonomische System, welches auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht, aufgrund der sozialen Klassenunterschiede, die es hervorruft und voraussetzt, abzulehnen ist. Wir wollen, ausgehend von unseren eigenen Idealen, ein vollkommen neues schaffen: Mit einer Ökonomie, die auf sozialer Gleichheit beruht, auf Freiheit, Solidarität und der Selbstorganisierung jeder einzelnen in freier Vereinigung mit anderen.

Die sozialen Rollen und Aufgaben jeder Mitwirkenden müssen neu definiert werden. Wenn jede Zugang zu Bildung und Allgemeinwissen hat, wird jede die Entscheidungen, die sie betreffen, in voller Kenntnis der Sachlage bewältigen können. Abhängig von den Bedürfnissen und Wünschen der anderen sowie den eigenen, wird eine jede in Absprache mit den anderen über den Beitrag entscheiden, den sie leistet, um ihre soziale Rolle als Produzentin zu erfüllen, und darüber, was sie als Konsumentin erwartet. Meine Aufgaben innerhalb der Produktion werden sicherlich von unerwünschten Zwängen begleitet sein. Diese werde ich jedoch in dem Maße akzeptieren können, wie ich sie gleichberechtigt mit den anderen teile und sie als notwendig für die Befriedigung der Bedürfnisse aller erkenne.

Eine solche Neustrukturierung von Produktion, Verteilung und Konsum wird eine neue Art der Bewertung von produzierten Gütern mit sich bringen. Bisher bilden hierfür Angebot und Nachfrage, das Gesetz des Marktes, die Grundlage. Stattdessen könnten die für die Herstellung aufgewandte Mühe sowie die Auswirkungen der Produktion auf die Produzierenden und die Umwelt zur Bewertung der Güter herangezogen werden.

Es wird nicht jede die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben, und es werden nicht alle Lust haben, den gleichen Beitrag zum Wohlbefinden aller zu leisten. Wenn die Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Wünsche einer jeden zu befriedigen, werden wir ein neues System einheitlicher und gleichberechtigter Verteilung finden müssen. Einige werden es vorziehen, ihre Bedürfnisse einzuschränken, weniger zu konsumieren und weniger zu produzieren. Andere werden bereit sein, mehr Anstrengung für die Produktion aufzuwenden, um sich und anderen mehr Wünsche erfüllen zu können. Darüber hinaus wird es bestimmte Bedürfnisse geben, die von einer großen Zahl (wenn nicht sogar von allen) geteilt werden und deren Befriedigung notwendig für das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt ist.

Es wird die Aufgabe der miteinander verbundenen freien Vereinigungen von Einwohnerinnen, von Produzentinnen und von Konsumentinnen sein, die Bedürfnisse zu bestimmen, die notwendigerweise zu erfüllen sind, damit jede auf bequeme Art und Weise leben kann. Dies sind unter anderem die Wasser- und Energieversorgung der Einwohnerinnen und der Produktionsstätten, Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen sowie öffentliche Transport- und Kommunikationsmittel samt entsprechender Infrastruktur, in gewissem Maße auch die Versorgung mit bestimmten Nahrungsmitteln und anderen gebräuchlichen Konsumgütern. Wenn wir eine egalitäre Gesellschaft errichten wollen, müssen diese Güter und Leistungen jeder einzelnen zur Verfügung gestellt werden, und zwar ohne eine andere Einschränkung als die durch ihre Verfügbarkeit auferlegte – wobei jede nach ihren Möglichkeiten daran mitwirkt, sie zur Verfügung zu stellen.

Was die individuellen Bedürfnisse angeht, könnte es als egalitär bezeichnet werden, wenn jede entsprechend der Mühe konsumiert, die sie für die Bereitstellung von Gütern und Leistungen aufzuwenden bereit ist. Auch hier werden wir die Art der Bewertung der von jeder aufgebrachten Mühe neu definieren müssen. Tatsächlich basiert zur Zeit das Einkommen aus Lohnarbeit ebenfalls auf Angebot und Nachfrage, auf den physischen und intellektuellen Fähigkeiten einer jeden, auf dem Zugang zu Wissen und Bildung sowie auf der produzierten Menge. Dieses System schafft ungleiche soziale Klassen: Diejenigen, welche die Bildung und das Wissen unter sich aufteilen, dominieren die anderen, gemeinsam mit denen, die das Kapital besitzen. Auch die Arbeitszeit scheint keine gute Art der Bewertung zu sein: Einige ziehen es vor, kürzer und intensiver zu arbeiten, andere jedoch verteilen ihre Mühe lieber über die Zeit. Im Übrigen sind gar keine allgemeinen Regeln nötig, anhand derer die aufgewandte Mühe bewertet wird. Stattdessen wird es die Sache der freien Vereinigungen von Produzentinnen sein, hierfür Kriterien aufzustellen, indem sie sich untereinander absprechen.

Zur Zeit leben wir in einer Gesellschaft, in der körperliche Arbeit meist als von intellektueller Arbeit getrennt betrachtet und letztere überbewertet wird. Im sozialen System existiert jedoch eine deutliche Ungleichheit der Klassen in Bezug auf Bildung und Wissen. Jene, welche durch (Aus-)Bildung ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln konnten und dadurch einen größeren Zugang zu Wissen erlangt haben, profitieren von diesem Vorteil, indem sie sich einen besseren Platz in der Gesellschaft anmaßen und sich von der mühevollen körperlichen Arbeit befreien. In einer egalitären Gesellschaft werden körperliche und intellektuelle Aufgaben besser verteilt sein und als gleichwertig betrachtet werden.

Die Gestaltung von Produktion, Verteilung und Konsumtion sowie des Beitrages jeder einzelnen werden sich in jeder freien Vereinigung von Produzentinnen, von Konsumentinnen und von Einwohnerinnen von Grund auf herausbilden. Davon ausgehend wird es zu Absprachen und Verständigungen mit anderen freien Vereinigungen kommen, und letztendlich werden bestimmte Vorgehensweisen nicht „von oben“ vorgegeben, sondern durch die Basis festgelegt. Wenn jede in gleichem Maße an für die Produktion notwendigen Aufgaben teilnimmt und die Möglichkeiten der Mechanisierung und Automatisierung weiterentwickelt werden, kann der Teil des Lebens, den jede den gesellschaftlichen Aufgaben widmet, zeitlich reduziert werden. Dies führt dazu, dass wir mehr freie Zeit haben, um individuell und kollektiv aufzublühen, aufzuleben, aufzuleuchten (frz.: s’épanouir). Wir werden mehr Zeit zum Feiern haben!

lilo

(1) Inklusive der JournalistInnen, DolmetscherInnen und einer großen Menge die mächtigen acht Männer hofierenden Begleitpersonals nahmen etwa 10.000 Gäste am G8-Gipfel teil.
(2) frz.: CLAAACG8 – „Convergence des luttes anti-autoritaires et anti-capitalistes contre le G8“ … siehe auch im Internet unter: www.claaacg8.org
(3) Es handelt sich bei diesem Text um eine Übersetzung aus dem Französischen. Der Originaltext entstammt dem Heft „le journal de la CLAAACG8!“ numéro 2, mai 2003.
(4) Anm. d. Red.: Zur Vereinfachung der Lesbarkeit verwendet der Übersetzer hier ausschließlich die weibliche Form. Menschen anderen Geschlechts dürfen sich jedoch stets mitgemeint fühlen.

global gesehen

ArbeiterInnen kontrollieren Fabriken

Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise des Landes übernehmen argentinische ArbeiterInnen die Fabriken selbst und sind damit erfolgreich. Sie tauschen ihre Chefs gegen mehr Lebensqualität. Exemplarisch für diesen Prozess berichten wir hier von der Grissinopoli-Fabrik, ähnliche Vorgänge kann mensch aber auch an anderer Stelle beobachten, wie z.B. bei Brukman: So war die Familie Brukman – Besitzerin einer Textilfabrik in Buenos Aires – kurz vor dem Sturz des Präsidenten De la Rúa geflüchtet. Sie schuldete ihren MitarbeiterInnnen mehrere Monatsgehälter und fürchtete, im Rahmen der damaligen Ausschreitungen angegriffen zu werden. Die Fabrik wurde in Dezember 2001 besetzt und nach einigen Monaten der Vorbereitung wurde die Produktion von den MitarbeiterInnen autonom wieder aufgenommen. Jetzt läuft das Geschäft und die Brukmans wollen sich mit Hilfe der „Polizeiinfanterie“ ihre Fabrik zurück holen. Nachdem die Inhaber von der nichtbezahlten Arbeit ihrer ArbeiterInnen und Angestellten profitiert hatten und mit dem Restkapital geflüchtet waren, war es nicht leicht, die als insolvent geltende Fabrik wieder in Betrieb zu nehmen. Am 24.11.02, um 9 Uhr, stürmte die Polizei überraschend die Fabrik und verhaftete sechs Mitglieder der Wochenendbesetzung – ohne Durchsuchungs- oder Haftbefehle. Viele Organisationen mobilisierten dagegen; eine Stunde später hatte sich bereits eine Straßenblockade gebildet. Die Polizei hatte, da sie kein Widerstand erwartete, nur einige Wachleute vor Ort. Gegen 11 Uhr kam die Meldung, dass die MitarbeiterInnen die Polizei verdrängt und die Fabrik erneut besetzt haben!

Innerhalb eines Jahres erlebten die ArbeiterInnen in der Brotfabrik Grissinopoli einen Schwund ihrer Wochenlöhne von 150 auf 40 Pesos. Am dritten Juni schließlich, als die Firma Bankrott ging, verlangten die Angestellten die Auszahlung ihrer zurückgehaltenen Löhne. Der Fabrikmanager bot jedem der 14 ArbeiterInnen 10 Pesos und forderte sie auf, die Fabrik zu verlassen. Sie gingen nicht. Was als verzweifelte Aktion begann, um die eigenen Arbeitsplätze zu retten oder Ausgleichszahlungen zu erhalten, wurde zu dem hartnäckigen Versuch, die Kontrolle über das Unternehmen zu erlangen. Die ArbeiterInnen bewachten die Fabrik 24 Stunden am Tag und überlebten dadurch, dass sie an der Universität um Kleingeld baten und Gebäck verkauften. Weitere vier Monate später enteignete die Stadtverwaltung die Besitzer und übergab die Fabrik an die ArbeiterInnen. Im Oktober lief die Produktion in Grissinopoli wieder an.

"Er schloß die Fensterläden und wir blieben drin." berichtet Norma Pintos, 49, die 11 Jahre in der Fabrik gearbeitet hat. "Wir wollten einfach weiterhin zur Arbeit

In weniger als einem Jahr errangen die ArbeiterInnen die Kontrolle über eine ganze Anzahl von argentinischen Unternehmen. Weitaus bemerkenswerter als die Übernahmen, ist aber die von ArbeiterInnen gesteuerte Wiederbelebung der Fabriken, welche in einigen Fällen profitabler wirtschaften als unter ihren vorherigen Besitzern. Abgesehen davon, dass so Tausende von Arbeitsplätzen gesichert werden und der massive Niedergang der vormals riesigen nationalen Industrieproduktion abgeschwächt wird, werden durch die Fabrikübernahmen meist unangefochtene Annahmen über das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Frage gestellt. Die ArbeiterInnen ziehen aber auch die Aufmerksamkeit der Konservativen auf sich, die sie als eine Bedrohung für die Eigentumsrechte betrachten. In dieser krisengeschüttelten Gesellschaft jedoch, mit 37 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze (1) lebt und 34% der Arbeitskraft arbeitslos oder unterbeschäftigt ist, haben die ArbeiterInnen die Billigung der Regierung und starke allgemeine Unterstützung.

Es dämmert bereits über dem Riachuelo-Fluß, der die südliche Grenze von Buenos Aires markiert, jedoch in der nahen Ghelco-Ice-cream-Fabrik herrscht reges Treiben. Männer in grünen Uniformen wischen den Boden, während andere Papiere ordnen. Im Februar hatte der Besitzer der Fabrik, die einstmals national führend im Produzieren von aromatisierten Puder war, welches der Grundstoff für Eiskrem ist, die Tore verschlossen und stellte wenig später Insolvenzantrag. Die Angestellten, denen noch tausende Dollars aus zurückgehaltenen Löhnen und Leistungen zustanden, blieben sich selbst überlassen, während sie auf die Ergebnisse eines langen und unsicheren legalen Prozesses warteten. Auf Drängen von Luis Caro, einem Rechtsanwalt, der schon über 40 besetzte Fabriken vertreten hat, bildeten die ArbeiterInnen eine Kooperative und organisierten vor den Fabriktoren einen permanenten Protest, um der Entfernung des Mobiliars und der Maschinerie vorzubeugen. Nach drei Monaten gestatte der Konkursrichter ihnen die Fabrik vorübergehend zu mieten. Im September dann, enteignete die Stadtverwaltung Ghelco und händigte die Schlüssel der Kooperative aus. Seitdem führen 43 ehemalige untere Ghelco-Angestellte die Fabrik. Obwohl es ihnen gefällt, für sich selbst zu arbeiten, war es ein hartes Stück Arbeit. Viele arbeiten 12 Stunden am Tag, da sie nun mit zusätzlichen Administrativ- und Managmentaufgaben jonglieren. „Früher sind wir zur Tür raus gegangen, als die Zeit um war… Jetzt ist es 21 Uhr am Abend und wir sind noch immer hier“, sagt Claudia Pea, die Kunden und Geschäftspartner an der Rezeption empfängt, die Container beschriftet und die Bäder putzt.

Auf der anderen Seite des Riachuelo quellen die Auftragsbücher für 54 Mitglieder der Einheit- und Kraft- Kooperative (Union and Force Co-operative) über – sie hatten für sechs Monate einen metallverarbeitenden Betrieb besetzt gehalten, bevor sie die offizielle Kontrolle durch eine Enteignung im vergangenen Jahr übertragen bekamen. Die ArbeiterInnen verdienen mehr als das doppelte ihres vormaligen Lohns und sind dabei, 20 neue Mitglieder aufzunehmen. Aufgrund der hohen Nachfrage für ihre Kupfer- und Messingrohre wollen sie expandieren und exportieren. Die ArbeiterInnen sind ebenso wie alle anderen von dem Erfolg überrascht. „Die Kollegen glauben, dass das alles ein Traum sein muss“, sagt der Präsident der Kooperative, Roberto Salcedo, 49. Die Bücher von den alten Schulden zu befreien, war nicht schwer. Was aber wichtiger ist, wie die ArbeiterInnen sagen, ist, dass die Gewinnabzüge für den Besitzer und die höheren Gehälter der Verwaltung wegfallen. Wie in den meisten besetzten Fabriken hat auch die Einheit- und Kraft- Kooperative egalitäre Lohnmaßstäbe. Entscheidungen werden durch Abstimmung in regelmäßigen Versammlungen getroffen und jede/R ArbeiterIn verdient das Gleiche, basierend auf den Gewinnen der vorhergehenden Wochen.

Caro schätzt, das die ArbeiterInnen landesweit etwa 100 Fabriken und andere Firmen übernommen haben. Supermärkte, eine medizinische Klinik, eine patagonische Mine und ein Hafen von Buenos Aires gehören dazu. Oftmals handeln die Besitzer aus, dass die ArbeiterInnen statt der zurückgehaltenen Löhne oder anderen Ansprüchen, die Produktion übernehmen. Andere Fabriken haben noch immer keinen rechtlich gesicherten Status. Aber das eigentliche Ziel für viele selbstverwaltete Betriebe ist die Enteignung. Während der letzten zwei Jahren wurden 21 Produktionsstätten in und um Buenos Aires enteignet. Provinzielle und städtische Repräsentanten riechen den Braten und reichen Anträge ein, die die Bildung von Regierungsagenturen fordern. Diese Agenturen sollen bei der Bildung von Kooperativen, der Enteignung von bankrotten Unternehmen, sowie deren Übergabe an die ArbeiterInnen behilflich sein. Wie dem auch sei, Uneinigkeit macht sich unter den verschiedenen ökonomischen Interessengruppen breit, was dazu führen könnte, dass die politische Unterstützung schwindet. Während die ersten beiden Enteignungen in der Hauptstadt noch einmütig von der Stadtregierung beschlossen wurden, hat die Radikale Mitte-Rechts Partei ihre Position seitdem geändert und weigerte sich für die Enteignung von Grissinopoli zu stimmen. „Enteignung kann nur zugunsten derAllgemeinheit vorgenommen werden. In diesen Fällen gibt es keinen allgemeinen Nutzen. Es ist das Wohl von 20 oder 30 Leuten.“, meinte Gregorio Badeni, ein Verfassungsrechtler. Nur wenn die lokale Unterstützung für die fabrikbesetzenden ArbeiterInnen stark ist, können auch Autoritäten nur wenig dagegen ausrichten. „Die Vorstellung, dass Kapitalisten nötig seien, um die Produktion zu organisieren, wird entmystifiziert,“ erklärt Christian Castillo, Soziologieprofessor an der Universität Buenos Aires. „Möglicherweise wird diese Bewegung verschwinden, wenn sich die wirtschaftliche Lage entspannt. Aber die Idee und Erfahrung der Arbeiterselbstverwaltung ist in den Köpfen.“

Reed Lindsay, IMC Buenos Aires

(Übersetzung: hannah b.)

(1) Unter der absoluten Armutsgrenze leben heißt, weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung zu haben.

Soziale Bewegung

Zugserscheinungen

Das Wendland – unendliche Weiten… zigtausende Menschen laufen, radeln, reiten und fahren durch die Gegend, wie sie es für gewöhnlich nicht tun. Grün gegen bunt, Hierarchie gegen Chaos, Räumpanzer gegen Trecker, Atomstaat gegen die Leute – Gut gegen Böse. Und massenhaft beunruhigte Wildschweine…

Wir, als (natürlich) allerradikalste Gruppe, sind (natürlich) auch dabei. Umwerfende Solidarität und Hilfsbereitschaft ganz von Anfang an. Mit Schlafplätzen gibt es keine Probleme, genau wie mit Essen oder auch Internet – die Wendland-Dörfer sind für den Widerstand geöffnet. Mobile Heizanlagen und Generatoren der Freiwilligen Feuerwehr werden fast überall für Camps genutzt – mit Ausnahme der Funkgeräte, die regelmäßig im Sinne des NgefAG beschlagnahmt werden. Alles macht einen eingespielten Eindruck: Die Volxküchen überbieten sich mit Leckereien und wirken ausgesprochen unchaotisch. Beim alkohoholfreien Lagerfeuer fachsimpeln Großstadtautonome und gesetzte Dörfler über effektive Sabotage – der Polizeistaat mit seiner „Besatzungsarmee“ ist der Feind – das schweißt zusammen. An rechtsstaatliche Appelle wie bei Xtausend-mal-Quer glaubt in der Göhrde kaum noch jemand. Beim Trampen schildern zwei ältere Damen stolz ihren Beitrag zum Widerstand – nämlich am Fenster auf Polizeikolonnen warten und sich dann auf der Straße die Schuhe zubinden. „Ist nicht viel, aber immerhin.“

Die Tage vor dem legendären Tag X werden traditionell mit entspanntem Geplänkel zugebracht. Bei Laternenumzüge allerorten sind Tausende dabei und nachts wird viel durch die Wälder geschlichen. Eine „Rallye Monte Göhrde“ soll bei der Polizei Verwirrung stiften – am Ende sind alle durcheinander: Ist der Wald gesperrt oder nicht? Wo sind die Stopschilder hin? Und wie absurd kann die Begründung eines Platzverweises eigentlich sein? An einer Sperre motiviert uns ein Rentner aus seinem Mercedes: „Jungs, das ist doch nur eine Wanne – kippt die doch einfach um!“ Euphorische Gerüchte machen die Runde: Einsatzkräfte sind von zornigen Bauern auf einem Hof in Gewahrsam genommen worden und erst nach stundenlanger Blockade wieder freigekommen. Mit der Dorfjugend geht es nachts nochmal los zum Beamte – ärgern, besonders die Kölner Bereitschaftstruppe ist wegen ausgefallenem Karneval demoralisiert.

Und dann ist abwarten angesagt, schon in Frankreich fangen diesmal die Blockaden an. Ab Lüneburg geht es dann nur noch im Schritttempo weiter. Im Wendland werden die Punkte gezählt – als es schließlich mit viel zuviel Kaffee und Adrenalin im Blut losgeht, steht es ungefähr „Hundert zu Null“. Dutzende Hubschrauber steigen auf und geben der Szenerie ein finstere Atmosphäre – in den nächsten Stunden ist Grün-Weiß eindeutig überfordert, überall sind plötzlich Leute: erst im Wald und dann auf der Schiene – dezentral und nie wirklich in Massen, aber meist erfolgreich. Trotz verschärften Demonstrationsverbots und größeren Gefangenensammelstellen können sich die Beamten kaum leisten, Gefangene zu machen und so gelingt es vielen, nach der ersten Räumung ein zweites oder drittes Mal zum Zug zu kommen.

Bei anschließenden Straßenblockaden dann die ersten Eskalationen: Hunde- und Reiterstaffel klären die Verhältnisse, Knüppel werden eingesetzt und ein besonders eifriger Grenzschützer schleudert seinen Helm.

In Gusborn sind inzwischen dutzende Trecker, die „Speerspitze des Widerstands“, beschlagnahmt und mit „Hamburger-Gitter“ eingezäunt. Die Türen versiegelt – bewacht von berittener Polizei. Vielleicht soll das rechtsstaatlicher aussehen als die polizeilichen Reifenstechereien der vergangenen Jahre, könnte man denken. Kurz darauf rächt sich ein Bauer durch versehentliche Gülledüngung einer Polizeikette.

Am Nachmittag gegen 16:00 Uhr erreichen die zwölf Castoren den Verladebahnhof in Dannenberg, es geht in die zweite Runde. Eine Initiative namens WiderSetzen hat über AnwohnerInnen Straßenfeste mit Übernachtung organisiert und so sammeln sich etwa 2000 Leute in diversen Dörfern entlang der zwei Straßen zwischen Dannenberg und Gorleben. Angesichts soviel entspanntem Pazifismus reagiert die Einsatzleitung unkonventionell: Die Ortschaften werden gleich als solche in Gewahrsam genommen um die offiziell gefangenen Personen anschließend abzuräumen. Die Begründung auch diesmal kurios: „In umliegenden Scheunen verstecken sich Gewalttäter.“ Dort verschlafen einige Widerständler gerade den Straßentransport.

Und so rollt der Castor schließlich doch in Gorleben ein, begleitet von Protest der aber taktisch nicht in der Lage ist etwas gegen die Grüne Armada auszurichten und sich auf Pazifismus beschränkt: „Lasst euch nicht provozieren!“ – Lasst euch alles gefallen!

Schlussendlich sind alle mit dem Ereignis „zufrieden“. Die DemonstrantInnen mit dem geleisteten Widerstand, dem Gefühl, doch mal wieder etwas für das Gute in der Welt getan oder dies zumindest versucht zu haben, und die Polizei freut sich, die Tage „gemeinsam mit den DemonstrantInnen“ im Allgemeinen so reibungslos über die Bühne gebracht zu haben und bedankt sich für die friedlichen Proteste – nur ab und zu sei „unfair“ Widerstand geleistet worden. Vielleicht sollte dieser in den nächsten Jahren ja auch gleich gemeinsam von Polizei und DemonstrantInnen organisiert werden, nach dem Motto: „Hier könnt Ihr Euch jetzt auf die Schiene setzen und in Ruhe protestieren, wenn der Zug dann kommt, geht Ihr aber auch schön brav und friedlich wieder weg da.“ Wenn der Transport schon gegen den Willen der Bevölkerung durchgebracht werden muss, dann soll doch wenigstens alles friedlich bleiben – Konfliktmanagement ist alles. Bis zum nächsten Jahr!

soja und onsche

Der Wendland-Ticker

Dienstag, 11. 11. 2003

09:56:50 +++ Der Zug ist in Lüneburg +++

09:58:25 +++ Auf der Landstraße zwischen Quickborn und Langendorf wird die Fahrbahn wegen einer Unterspülung aufgegegraben +++

10:18:12 +++ In Lüneburg sind 120 Leute auf den Schienen +++ Bei Rohrstorf sind mehr als 100 Menschen auf den Gleisen +++

10:34:46 +++ 30-40 Leute blockieren den Ortsausgang von Dahlenburg Richtung Lüneburg +++

11:18:45 +++ Die USK (Bayerische Sondereinheit) Räumt die Blockade sehr ruppig +++ In Rohrstorf sind noch 50 Leute auf der Schiene +++

11:33:56 +++ Überall an der Schiene und im Wald sind Menschen unterwegs +++

11:38:19 +++ Harlingen ca. 300 Jugendliche werden mit einer Reiterkette von den Schiene gedrängt

13:27:07 +++ Robin-Wood-Aktivisten werden nicht in ihr Baumhaus in Langendorf gelassen, Seile und Leitern sind sichergestellt worden +++

14:19:13 +++die Sitzblockade vor Harlingen wird geräumt

14:21:50 +++beim Kilometer 187,7 sind Leute auf den Vorzug gesprungen +++ Er steht wieder +++

15:38:01 +++ Der Zug ist in Dannenberg angekommen, es sind viele Menschen vor Ort

16:20:26 +++ Der Transport ist mit mehr als 6 Stunden Verspätung am Verladekran angekommen

18:48:26 +++ 2500 Menschen sind auf der Kundgebung der BI Lüchow Dannenberg

19:08:43 +++ In Gusborn sind ca.500 Menschen auf der Straßentransportstrecke +++

Mittwoch, 12.11.

00:48:26 +++ Grippel: Die Polizei hat das gesamte Dorf samt Blockade in Gewahrsam genommen

02:33:35 +++ Die Blockade in Grippel wird geräumt

04:05:20 +++Der Transport auf die Straße beginnt über die Nordstrecke +++

05:38:24 +++Der letzte Behälter ist im Zwischenlager

Bewegung

HipHop Partisan

ein interview mit chaoze one über hiphop und partisanen

HipHop ist ein Lebensgefühl. Sprache der Wut. Ausdruck einer Identität. Eine Kultur, die Rap, DJ-ing, Breakdance und Graffiti mit ein­schließt. Mit Bildern an den Wänden der Städte erobern die einen den visuellen Raum, mit Worten und Tönen die anderen die Ohren der Menschen. Entstanden ist HipHop auf den Block Parties der Jugendlichen aus den Armenvierteln New Yorks Mitte der 70er Jahre und wurde in Erster Generation in Europa vor allem von Jugendlichen immigrierter Eltern weiter getragen. Die globale Community mit HipHoppern verschiedenster kultureller Hinter­gründe verband oftmals das Gefühl der Diskriminierung. Häufige Themen sind daher Rassismus, Rechts­extremismus, Arbeits­losigkeit, Chancenlosigkeit, Ungerechtigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sowie die Rolle der Medien und ihre Manipulationstechniken. Da sich heute immer mehr „sexistische, homophobe, faschistoide und nationalistische Tendenzen im kommer­ziel­l­en HipHop verbreiten, versuchen Netzwerke, wie HipHop-Partisan“ eine kritische Kraft aufzubauen, um eine neue, subversive Bewegung zu schaffen, die dem entgegenwirkt. (1) „Sobald du ein Mikro in der Hand hast und jemand dir zuhört, ist es ein politischer Akt“ meint Sat aus Marseille.

Das folgende Interview wurde von Turn It Down per e-mail mit Chaoze One, einem Aktivisten von HipHop-Partisan, Anfang diesen Jahres geführt. Es erschien bereits im Polit/Musik Magazin „Massenmörder Züchten Blumen“ #2, aus McPom (Mecklenburg Vorpommern) und auf www.turnitdown.de.

wanst

TID: Stell dich bitte kurz vor!

chaoze: Das ist immer so eine wunderbar offene Frage. Also gut – ich bin Chaoze One und mache seit ca. 2000 rapähnliche Music – meist mit per­sön­lichen oder politischen Tex­ten. Ich hab die klassische Laufbahn durchlaufen. Ver­suchte erst Punk zu sein, hörte „Deutsch­­punk“ und Hard­core, dann kam meine Zeit als (Möchtegern-) Sharp-Skin mit viel Ska und Reg­gae (den ich heute noch mag) und dann irgendwann wechselte der Musikge­schmack durch einen Antifa Soli-Sampler ziemlich abrupt rüber zu HipHop. ‚Schuld‘ daran waren Anarchist Academy, Kinderzimmer Pro­duc­tions und KRS-One die waren mit jeweils einem Track auf dem Tape vertreten. Ich hab dann viel Rap gehört und irgendwann ange­fangen zu schreiben – so entstand 2001 dann die Demo-CD ‚Neue Kreise‘ (u.a. mit ‚der Panther‘), die relativ viel Anklang fand und inzwischen mehrere hundertmal selbst­gebrannt verkauft wurde. Dann hab ich angefangen live zu spielen und die Sachen live auszuprobieren und mit der Erfahrung ist dann jetzt die zweite CD kurz vor der Veröffentlichung. ‚Rapression‘ ist mehr politisch als persönlich geworden und wird auf Twisted Chords – einem Indie Hard­core Punk Label aus Karlsruhe er­scheinen. Mit dabei sind Leute, die mich und meine Musik nachhaltig beeinflusst haben, sei es textlich oder musikalisch, z.B. Anarchist Academy, Microphone Mafia oder Irie Revoltes.

TID: Deine Texte sind politisch, warum?

chaoze: Schwer zu sagen. Ich hab nicht angefangen zu schreiben und mir dabei gesagt, „Ey Alter du schreibst aber nur politisch“. Ich habe über Themen ge­schrieben, die mich be­schäftigt haben – und da ich als Person linksradikal-politisch interessiert bin, haben mich eben Themen beschäftigt, die in diese Richtung gingen. Ich hab tat­säch­lich auch ver­sucht an­spruchs­volle Songs zu schreiben, die nicht so ernst sind. Aber das ist einfach nicht mein Ding. Hannes von Anarchist Academy hat mal kritisiert dass die „Neue Kreise“ mehr oder wenig­er zwanghaft versucht, alle Themen abzudecken (Sex­ismus, Rassismus, Gesell­schaftskritik, etc) – auf Konzerten höre ich manchmal aus dem Publikum „Der zieht ja alle Register“. Aber ich hab damals einfach geschrieben und danach geschaut was auf dem Blatt stand. Der Anti-Vergewaltigungstrack (‚Wir kriegen euch‘) resultiert aus drei Ge­schichten, die mir damals Freundinnen erzählt haben. Mir fällt es schwer so was un­kommentiert mit mir herum­zutragen. Ich hab dann den Text geschrieben und ihn von den Frauen lesen lassen – sie fanden ihn gut, fühlten sich repräsentiert bzw. fanden den Zustand gut verbalisiert, also hab ich den Track ge­macht. So wurde die Demo-CD ein ziemliches Aus­­kotz­album, struktur­los aber für mich wichtig. Noch was zu diesem „deine Texte sind politisch“ ding: unpolitisch gibt es nicht – auch ein Kool Savas ist politisch und viele seiner Texte traurige Realität. Sie sind Spiegel des sexistischen, homo­phoben Gesellschaftszustandes, auch wenn ich zugeben muss, dass gerade die HipHop Szene in weiten Teilen diese Formen von Diskriminierung verstärkt propagiert.

Jeder Text ist subjektiv geschrieben und zeigt ein Bild der Sozialisation des Verfassers oder der Verfasserin – somit ist es politisch.

TID: Wie kommt Politik in der Hip-Hop-Szene an? Bist du für die Leute der PC-Heini, oder werden dadurch Dis­kussions- und Denkprozesse angestoßen, wie z.B. HipHop-Partisan.net?

chaoze: Du sprichst da zwei Dinge an, einmal mein persönliches Projekt Chaoze One und dann den Zusammenschluss HipHop-Partisan. Es kommt auf den Blickwinkel an. Die Hip­Hop Heads sind schock­iert, wenn jemand solch radikale Texte kickt und dabei auf die üblichen Normen wie „Skills“ und „Flow“ scheißt – manchmal minutenlang nur die Musik laufen lässt ohne zu rappen und dabei die Gesichter im Publikum beobachtet. Mit Sicherheit krieg ich oft schiefe Blicke ab; der frisst kein Fleisch, trinkt keinen oder kaum Alk, und kifft nicht mit uns. Für die Hiphops bin ich schätzungsweise der Punk mit Baggys für die „linksradikalen“ bin ich erstmal der „Hiphopper“ und dadurch schon mal obligatorisch mit Kritik behaftet. Letzten Endes habe ich von beiden Seiten Kritik und Respekt einge­steckt. HipHop-Partisan ist ent­standen aus einer Diskussion im ‚Fear of a Kanak Planet‘ Forum (kanakplanet.de), der Homepage zum Buch von Hannes Loh und Murat Gün­­gör. Viele Leute, die auf den Vor­lesungen von den Zweien waren, trafen sich nachher dort und ir­gen­d­wann stellte sich die Frage „Was machen wir mit den neuen Eindrücken und der Notwen­dig­keit an nachhaltiger Kritik“. Dann entstand die Idee eines Netzwerks – um subversive Kräfte zu bündeln und eine Gegenseite zu den faschistoiden oder homphoben Tendenzen in der Szene aber auch in der Gesellschaft zu bilden. Die Aktiven aus diesem Netzwerk – inzwischen annähernd 200 Leute, beschränken sich weder im Background, noch im Wir­kungs­feld auf die Hiphopszene. Das Kind ist noch sehr jung und brab­belt grade mal die ersten Einwortsätze – bin gespannt was daraus wird, wenn es seinen ersten Text schreibt.

TID: Gibt es so etwas wie patriotische Tendenzen in der HipHop-Szene? Ich bin mir ziemlich sicher, das es keine Stiefelnazis gibt, aber wie sieht es mit rechten Ten­denzen aus?

chaoze: Bekannt sind mir die Tendenzen insofern als dass es in der rechts­radi­kalen Szene Dis­kussionen über die Über­nahme des Musik und Kleid­ungs­stils von Hip­Hop statt­finden – ins Rollen ge­bracht haben das Rap Crews, die faschistoide Rap-Me­taphern be­nutzten: „Affen wie Afrob in den Zoo“ oder „Skills en Masse ins Gas“ o. Ä.. Ich hab ein Snippet zugesendet be­kommen von einer extrem schlechten ‚Rap‘ Crew, die Freestyles kickt, die so tönen: „Ich hätt so gerne wieder 36 / mit nem eigenen KZ ich wär so fleißig“. Patriotische Tendenzen gab’s ja aber im Grunde genommen seid der Erfindung der Fanta 4, als die Boulevard Blätter die neue deutsche Reimkultur feierten, während Migranten-Rap-Crews, die seit Jahren Blut und Schweiß in ihre Vision steckten, eben nicht ins „deutsche Format passten“ – wie es die MC’s der Microphone Mafia ausdrücken. Mehr zu dem Thema Nazirap etc. findet ihr in ‚Fear of a Kanak Planet‘, einem Buch von Hannes Loh und Murat Güngör.

TID: Ist dieser gern gepflegte Lokal­patriotismus nicht auch eine Art von Patriotismus?

chaoze: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich denke, dass Mensch hier die Posi­tion ­der Gruppe be­achten müsste. Rap als Möglichkeit der Über­­mittlung von Infor­­ma­tionen muss klar ma­chen aus wel­chem Um­feld diese Infor­ma­tio­nen stam­men. Denn das ist eine wichtige Infor­mation zum Ver­ständ­­nis eines Textes. Ob Mensch seine Reg­ion als die Beste propa­gieren soll­te, weiß ich nicht. Aller­­dings stößt sich auch nie­mand an dem neuen Be­ginner Track in dem sie – zu recht – Hamburg huldigen. Ich denke es ist wichtig, differenziert zu bleiben. Ich bin in einem kleinen Vorderpfälzer Provinz­städtchen aufgewachsen und natürlich liegt mir dieses am Herzen. Ich habe an jedem Eck, an dem mal ein Hund sein Revier markiert hat, irgendetwas erlebt. Trotzdem bleibt die Politik und eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem Städtchen für mich kritikwürdig. Und zwar radikal.

(1) aus dem Manifest der HipHop-Partisanen
Versuch einer Legende:
Hannes Loh…Rapper und Texter von Anarchist
Academy
Murat Güngör…ehemaliger Rapper und Mitglied von Kanak Attak
Track…Lied
Tape…Kassette
Rap…reimender Sprech­gesang durch den MC (Master of Ceremony) vermittelt, von amerik. Slangausdruck to rap=quasseln
Homophobie…krankhafte Angst vor und Ab­neigung gegen Homosexualität
PC-Heini…politisch korrekter Heini
Baggys…weite Hosen
Rap Crews…Bands
Freestyles…improvisierte Einlagen
weitere Infos unter:
www.hiphop-partisan.net, www.kanakplanet.de

Soziale Bewegung

Auftakt der „Freedom of Movement…“:

Aufruf zur Tour gegen Abschiebung und Ausgrenzung

Intro:

Jedes Jahr werden in Deutschland annähernd 50.000 Menschen durch den BGS abgeschoben. Die regressive Asylpolitik wird europaweit angeglichen. Europa ist schon jetzt eine Festung, deren Außengrenzen für Flüchtlinge immer schwerer zu überwinden sind. Menschen sterben beim Versuch, diese Grenzen zu überwinden und schaffen sie es doch, so droht ihnen in den Staaten der Europäischen Union und somit auch in der BRD, ein langjähriger Aufenthalt in Ungewissheit um die Zukunft, immer häufiger werden Flüchtlinge dazu in Abschiebelagern interniert.

Ursachen:

Die Wurzel dieses staatlichen Rassismus liegt in der kapitalistischen Verwertungslogik. Menschen werden in erster Linie nach ihrem kapitalistischen Nutzen beurteilt. Während z.B. hochqualifizierte IT-Spezia­list­Innen willkommen sind, sind nicht so gut ausgebildete Menschen in der Regel unerwünscht. Eine wesentliche Ursache für das Elend in den Heimatländern vieler Flüchtlinge stellen die Machenschaften der Industrienationen dar. Die Wirtschaftspolitik der führenden Wirtschaftsmächte ist es, welche Armut forciert. Und Armut ist es, welche als Krisenpotential Nummer Eins einen ganzen Rattenschwanz negativer Folgewirkungen hinter sich herzieht (Hunger, militärische Konflikte, mangelnde Bildung, Krankheiten, Vertreibung, etc.).

Globale Wirtschaftspolitik verläuft nach einseitigem Interesse. In Europa z.B. werden Agrarmärkte milliardenschwer subventioniert, damit diesbezügliche Produkte auf dem Weltmarkt einen Vorteil gegenüber Waren aus der „3. Welt“ haben. Gegenüber bestimmten Gütern (z.B. Textilien) werden von den Industrienationen so horrende Zölle erhoben, dass eine Einfuhr aus den „3. Welt-Ländern“ kaum möglich ist. Im Gegenzug jedoch werden Trikont­ländern­ harte Strafen und Kreditkürzungen angedroht, öffnen sie ihre Grenzen nicht für Waren bzw. Konzerne aus den Industrienationen.

Wenn Menschen unter diesen Zuständen leiden und ihr natürliches Recht in Anspruch nehmen und der Misere entfliehen wollen, sind die Außengrenzen Europas dicht. Ausbeutung ja, Einreise nein, lautet das Motto, und es ist Teil der ungerechten Weltwirtschaftsordnung. Stattdessen müssen globale Lebensbedingungen entwickelt werden, die einen gerecht verteilten Wohlstand überall auf der Welt schaffen. Nur dann wird es keine Grenzen mehr geben, die den reichen Teil der Welt gegen den armen Teil abschotten.

Es gibt keine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen

Dass Menschen aus Gründen politischer oder religiöser Verfolgung bzw. aufgrund militärischer Konflikte fliehen, ist auf den ersten Blick auch nach deutschem Asylrecht selbstverständlich. Aber auch jede Flucht, die wegen fehlender Lebensperspektive aufgrund von Armut und Hunger geschieht, ist aus den vorgenannten Gründen politisch. Armut offenbart keine Perspektiven, Armut tötet, und doch werden diese Menschen abgewiesen, es wird das Scheinargument der Flucht aus „wirtschaftlichen Gründen“ geschaffen, mit dem die Flüchtlinge in Europa und somit auch in der BRD kein Recht auf Asyl erlangen.

Die Schwächsten der Schwachen werden als „Schmarotzer“ tituliert, welche unsere Gesellschaft ausnutzen wollen. Vor dem Hintergrund des tagtäglichen Gejammers über die Zukunfts- und Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland erscheint es vielen Menschen als ganz normal, ja sogar als positiv, wenn restriktive Regelungen für Menschen nicht-deutscher Herkunft verabschiedet werden. Diese Politik ist in hohem Maße rassistisch, sie entsolidarisiert die Menschen verschiedener Nationen. Sie führt dazu, dass Menschen ausländischer Herkunft als „gesellschaftsschädlich“ bezeichnet werden können, als Menschen, die den eigenen Wohlstand gefährden.

Situation

Nur die wenigsten Flüchtlinge erreichen überhaupt die Außengrenzen Europas. Die meisten Flüchtlinge weltweit bewegen sich in den armen Ländern der Welt. Es sind die ärmsten Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Vor allem Frauen mit Kindern haben kaum eine Chance, die reichen Länder zu erreichen. Niemand begibt sich freiwillig auf die Flucht. Jedem Menschen fällt es schwer, die angestammte Heimat, die Familien, die eigene Kultur zu verlassen. Aber auch die wenigen, die es tatsächlich schaffen, die Außengrenzen Europas zu überwinden, haben es nicht leicht. Sie leiden unter staatlich unterstützter gesellschaftlicher Frem­den­feindlichkeit und haben, solange über ihren Asylantrag beschieden wird (was schon mal einige Jahre bis Jahrzehnte dauern kann), kein Recht auf Arbeit oder auf Bewegungsfreiheit. Durch die sogenannte Residenz­pflicht der BRD, welche einzigartig in Europa ist, müssen Flüchtlinge, deren Asylantrag läuft, eine Genehmigung beantragen, wenn sie ihren Landkreis verlassen wollen. Diese Genehmigung wird oftmals nicht erteilt. Wird gegen diese Residenzpflicht verstoßen, drohen Geld- oder Gefängnisstrafen, bis hin zur Ausweisung. Die Flüchtlinge hierzulande sehen sich rassistischen Verfolgungen der Behörden ausgesetzt. Die BRD wurde bereits mehrere Male vom Europarat und den Vereinten Nationen wegen Polizeibrutalität kritisiert. Rassistische Polizeigewalt ist hierzulande alles andere als eine Ausnahme. Die bekannten Übergriffe haben zu unterschiedlich schweren Verletzungen bis hin zu Todesfällen geführt. Am bekanntesten ist in der Öffentlichkeit der Fall von Aamir Ageeb, der bei seiner Abschiebung durch BGS-Beamte zu Tode kam.

Die materiellen Möglichkeiten der Flüchtlinge in der BRD sind minimal. Das den Flüchtlingen zur Verfügung stehende Geld liegt weit unter dem Sozialhilfesatz. Oftmals erfolgt eine Auszahlung sogar nur in Form von Gutscheinen oder Naturalien (bis auf ein sehr geringes „Taschengeld“), was den Flüchtlingen sogar die Autonomie nimmt, ihre Lebensmittel selber auszusuchen.

Sich einen Anwalt zu nehmen, ist aus Kostengründen für AsylbewerberInnen auf herkömmlichem Wege unmöglich, der dringend benötigte Rechtsbeistand kann somit in der Regel nicht erfolgen.

Die Unterkunftsmöglichkeiten in den Flüchtlingslagern sind katastrophal, nicht selten teilen sich sechs oder mehr Leute über Jahre ein Zimmer. Noch wird von der Möglichkeit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen in den Städten und Gemeinden Gebrauch gemacht, allerdings immer weniger, obwohl diese Art der Unterbringung kostengünstiger ist, als der Betrieb von Lagern. In Niedersachsen z.B. ist angestrebt, Flüchtlinge nur noch in Lager unterzubringen. Und das hat einen politischen Hintergrund: Die Lager werden bewusst weit von der einheimischen Bevölkerung eingerichtet, ein Kontakt soll nicht stattfinden, Flüchtlinge sollen am Leben hier nicht teilhaben können. Und zu oft haben solche Kontakte zu Bleiberechtskampagnen geführt, denn auch hier gibt es immer noch genug Menschen, die, wenn sie erst mal die Geschichte der Flucht gehört haben, nicht einsehen können, warum ihre Nachbarn in Hunger, Folter oder Tod abgeschoben werden sollen.

Ja … und wenn dann, wie in den meisten Fällen üblich, negativ über den Asylantrag beschieden wird, droht die sofortige Zwangsausreise oder bis zu deren Vollstreckung die Haftunterbringung in einem Abschiebeknast. Diese „Sicherungshaft“ kann sich über ein halbes Jahr hinziehen. Der psychische Druck, welcher auf den Flüchtlingen lastet, ist enorm, drohen doch in ihren Heimatländern oftmals Folter, Tod oder Krieg, mit Sicherheit aber Perspektivlosigkeit. Die katastrophale menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge führt immer wieder zu Suizidversuchen.

Aber nicht alle Flüchtlinge können trotz nicht gewährtem Asyl abgeschoben werden und müssen aus den verschiedensten Gründen „geduldet“ werden. Gerade diese Menschen sollen mehr und mehr in Deutschland und in ganz Europa in Abschiebelagern interniert werden. Damit schließt sich die Lücke im System von nicht gewährter Einreise und Abschiebung. In Deutschland erhalten diese Lager ihre gesetzliche Grundlage als sog. „Ausreiseeinrichtungen“ im neuen „Zuwanderungsgesetz“. Anders als in den Abschiebeknästen kann die Aufenthaltsdauer in den Lagern unbegrenzt sein. Die Flüchtlinge werden massiv unter Druck gesetzt, aktiv bei ihrer Deportation mitzuhelfen (z.B. durch Beschaffung von Ausreiseunterlagen). Tun sie das nicht, werden ihnen auch noch die letzten Rechte verweigert, sie haben nur noch die Wahl zwischen einem unbegrenzten Aufenthalt im Lager mit nur drei Mahlzeiten am Tag oder der Ausreise. Immer mehr Flüchtlinge begegnen dem, indem sie in die Illegalität untertauchen, was durchaus auch politisch gewollt ist.

Situation im Abschiebelager Bramsche-Hesepe

Das Abschiebelager in Bramsche-Hesepe ist, im westlichen Niedersachsen liegend, nicht nur ein Eckpfeiler dieser Politik, es hat darüber hinaus Modellcharakter für das, was an menschunwürdiger Unterbringung möglich ist. Die Situation in Bramsche-Hesepe ist, wie in vielen anderen Lagern auch, miserabel. Das Lager befindet sich gänzlich abgelegen von der einheimischen Bevölkerung, zu der ein Kontakt kaum möglich und nicht erwünscht ist. Auch die ca. 50 Kinder, die in dem Lager untergebracht sind, sollen das Lager noch nicht einmal für den Schulbesuch verlassen, dafür wurde nun eine Lagerschule eingerichtet. Die medizinische Versorgung der MigrantInnen ist mangelhaft. Die oftmals durch Folter und Krieg stark traumatisierten Flüchtlinge erhalten in der Regel keine psychologische Betreuung, und auch andere Facharztbesuche sind erst nach langen Auseinandersetzungen möglich.

Bei der Verpflegung wird kaum Rücksicht auf kulturelle Vorlieben bzw. Abneigungen genommen. Die Unterbringung ist katastrophal, ein 16 qm Zimmer müssen sich bis zu vier Personen oder ganze Familien teilen, eine Privatsphäre ist somit nicht möglich.

Eine Rechtsberatung sieht das Konzept des Lagers nicht vor. Stattdessen gibt es die sog. „Rückkehrberatung“. Entscheidend dabei ist, daß es sich bei den in Bramsche-Hesepe untergebrachten Flüchtlingen keineswegs um abgelehnte AsylbewerberInnen handelt, die „ausreisepflichtig“ sind. Fast alle Flüchtlinge haben erst kurz vor der Einweisung in das Lager ihren Asylantrag gestellt. Die Einweisung findet ausschließlich aufgrund der „Prognoseaussage des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ statt, die allein aufgrund der Herkunftsländer „keine Perspektive für einen dauerhaften Aufenthalt“ erkennt. Mit dieser Praxis wird selbst der letzte Rest des deutschen Asylrechts ausgehebelt, das immerhin nach seinem Text eine individuelle Prüfung der Asylgründe vorsieht.

Mit 550 Insassen als größtes Abschiebelager Europas ist dieses Lager ein zentraler Baustein in der rassistischen und repressiven Ausländerpolitik der BRD. Deshalb ist es besonders wichtig auch in der Abgelegenheit des ländlichen Raumes gegen diese Politik vorzugehen und sich zahlreich an der Auftaktdemonstration und den Camps – besonders auch in Bramsche-Hesepe – der „Anti-Lager-Action– Tour“ zu beteiligen.

Wir wenden uns entschieden gegen das Universum der Lager und Knäste in der BRD und in Europa, das Ausdruck einer Politik sozialer Ausgrenzung ist.

Abschaffung der rassistischen Sondergesetze, wie z.B. der Residenzpflicht!

Schließung der Lager und Abschiebeknäste und selbstbestimmte, menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge!

Uneingeschränktes Recht auf Asyl und Teilnahme am Leben in Deutschland, dazu gehört neben dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf Bildung!

(…)

Für Freizügigkeit und Selbstbestimmung überall!

Hoch die internationale Solidarität!

Avanti! e.V. Osnabrück, Karawanegruppe Osnabrück, LiVe (Linkes Vechta) im Juni 2004

Daten: Widerstandscamp bei Bramsche-Hesepe im Rahmen der Anti-Lager-Action-Tour Bundesweite Auftaktdemo: 21.8.2004, 12.00 Uhr , Bahnhof Bramsche-Hesepe

Internet: www.camp-bramsche.de.vu

Bewegung

Eine kurze Analyse der soziopolitischen Rolle des WSF-ESF

Zunächst müssen wir das WSF und somit das ESF als eine Institution verstehen, die den parallelen Entwicklungen der kapitalistischen Institutionen des Regierens folgt. Während der letzten 30 Jahre expandierte das Kapital sowohl horizontal (auf der ganzen Welt), als auch vertikal (Verwertung des täglichen Lebens, z.B. Freizeit). Neue Insti­tutionen müssen die Dynamik des Weltmarktes regulieren, wie die Weltbank, G8, WTO, etc. Das WSF wurde als eine „Opposition“ zu solchen Institutionen gegründet und insbesondere als „Opposition“ zum WEF, das in Porto Alegre 2001 stattfand. Das ESF ist das Kind des WSF, das hauptsächlich die EU kritisiert.

Wogegen richtet sich das WSF-ESF wirklich? Bei einem Blick auf die Prinzipien und Ziele (und noch schlimmer, die Ziele einiger seiner Mitglieder) können wir vor allem reformistische Forderungen erkennen, wie Steuern für Konzerne, Antiprivatisierungspolitik durch die Regierung, Macht für die „Zivilgesellschaft“, etc. Diese Forderungen sind von Grund auf „systemintern“; sie versuchen die „schlechten“ Auswirkungen des Neolib­eralismus zu kontrollieren, als ob die politische Linie das Problem sei und nicht der Kapitalismus und seine Institutionen als Ganzes. (1) Anders gesagt, das WSF propagiert keinen Systemwechsel. Es fragt nur nach „einem Kapitalismus mit menschlichem Gesicht“, „einem neuen sozialen Vertrag weltweiter Gerechtigkeit“. So können wir das WSF und somit auch das ESF als „neue reformistische Internationale“ sehen, als „außerinstitutionelle soziale Demo­kratie“, die sich der neuen internationalisierten Politik des Kapitals angepasst hat (und gleichzeitig dem Verfall der parlamentarischen Politik auf Staatsebene).

Praktisch muss sich das ESF, ein Außerregierungsmittler, als „recht­mäßiger Verhandlungspartner“ präsentieren, der versucht, EU Politik zu beeinflussen. Es handelt innerhalb der Grenzen heutiger Institutionen, ohne sie im Geringsten herauszufordern. Die Zusammenarbeit mit Institutionen des Status quo, wie nationale Regierungen oder Parteien und die Verurteilung jeder gegen das System gerichteten Bewegung, die radikal die auferlegten Grenzen sozialer Kontrolle (2) bricht, sind Offenbarungen ihrer Komplizenschaft.

Die Synthese des ESF ist durchaus problematisch. Sein Hauptmerkmal ist eine Pluralität, die aus den Bemühungen entsteht, alles zu umfassen. Diese Pluralität unterstützt die Zirkulation verschiedener Erfahrungen, Ideen, Kämpfe. Weiterhin gelingt es dadurch Menschen, die sich auf der ersten Stufe politischen Interesses befinden, für Politik zu interessieren. Somit scheint das ESF positive Aspekte zu haben. Trotzdem führt dieser Pluralismus unvermeidlich zu einem Mangel an einer umfassenden, allgemeinen sozialen Analyse und an gemeinsamen Aktionen von ESF Gruppen, weswegen dem ESF als Machtinstitution (3) nur minimale Ziele bleiben. Lasst uns diesen Punkt vertiefen, da Unterschiede in der Analyse zu verschiedenen Zielen im sozialen Kampf führen. Kurz gesagt, fassen wir als Anarchisten/Antiautoritäre den Kapitalismus als ein System auf, das durch zwei dynamische Ströme entwickelt wird – der erste hat mit „der Konkurrenz der Kapitalisten“ zu tun; der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Institutionen (z.B. Firmen), die auf der Marktwirtschaft basiert und zur „ökonomischen Entwicklung“ führt, zu der Verwertung jeden Aspektes unseres Lebens (vertikale Ausweitung) und zur Vermarktung von allen Teilen der Erde (horizontale Ausweitung). Der zweite Trend, der für uns wichtiger ist, ist die „soziale Konkurrenz“, die Konkurrenz zwischen dem Kapital und der Gesellschaft, der vor allem mit der historischen Entwicklung des Staates zusammenhängt (z.B. vom liberalen Staat und seiner Krise zum Wohlfahrtsstaat / erst soziale Demokratie und jetzt die „Einkommens-Sicherheits-Netzwerke“ / neoliberalistischer Staat, von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft etc.). (4)

Der Mangel einer solch umfassenden Analyse führt das WSF-ESF dazu, Organisationen wie etwa NGO’s zu integrieren, die unkritisch sind und indirekt die Expansion des Kapitals fördern, sowohl die Verwertung und Vermarktung (Oxfam spricht erst über die „Unterentwicklung“ in Nordkorea und dann kommt NIKE) als auch die soziale Kontrolle (Amnesty International wirft die „Bomben der Ethik“ in Jugoslawien und dann interveniert die NATO) betreffend. Mit anderen Worten, es führt zur Integration von Gruppen und Organisationen, deren Aktionen nicht im Mindesten antikapitalistisch sind. (5)

Ein anderes Problem des Mangels an einer umfassenden Analyse zeigt sich an folgendem Beispiel: an dem WSF, das in Porto Alegre im Februar 2001 organisiert wurde, nahm Lula da Silva (derzeitiger Präsident von Brasilien) mit seiner Partei teil. Zusammen mit den nationalistischen Basken von Batasuna und anderen „Feinden des Neoliberalismus“ begünstigten sie eine Aktion gegen die FTAA, die von den USA unterstützt wird. Aber können wir Lula als echten Feind des Neoliberalismus betrachten? Natürlich nicht. Lula war gegen die FTAA, weil diese Mercosur herausforderte, eine wirtschaftliche Vereinigung zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, die im Grunde von Brasilien kontrolliert und von der EU unterstützt wird. Mit anderen Worten, er wollte das Kapital seines Landes beschützen. Somit waren die Aktionen im Grunde Teil des „Konkurrenz der Kapitalisten“. Die meisten WSF Mitglieder schienen jedoch nicht zu verstehen, was die da wirklich unterstützen.

Ein anderer unangenehmer Aspekt vieler Gruppen, die am ESF teilnehmen, ist (als Resultat ihres Mangels an einer umfassenden Analyse), dass sie die Probleme des Kapitalismus nur auf überstaatlicher, internationaler Ebene zu entdecken scheinen und dass sie die kapitalistischen Beziehungen und deren Auswirkungen in unserem alltäglichen Leben vernachlässigen. Das indirekte Ergebnis ist, dass die Betonung allein auf dem Zentralen (auf der „Ungerechtigkeit der EU-Politik“) liegt und das Lokale vollkommen vernachlässigt wird (lokale Regierungen, Gremien oder Bosse). Diese Betonung des „Zentralen“ zeigt sich auch an den Organisationsstrukturen des ESF. Selbst wenn das ESF die „dezentralisierte partizipatorische Demokratie“ publiziert, ist es durchaus hierarchisch organisiert und wird so zum Spielfeld auf dem andere hierarchische Organisationen – wie Parteien – versuchen, ihre Interessen zu verfolgen. Die Vernachlässigung des lokalen Londoner Sozialforums ist ein gutes Beispiel für diese organisatorischen Tendenzen. Um es zusammenzufassen, das ESF kritisiert Neoliberalismus als eine Ideologie, die von den Mächtigen der Welt befördert wird und nicht den Kapitalismus als Ganzes, als ein sozioökonomisches System und alltägliche Beziehungen. Weiterhin liefert es keine umfassende Kritik von anderen Beherrschungsmechanismen, z.B. Nationalstaat, der direkt mit dem Kapital verknüpft ist. Als ein Ergebnis dieser Analyse begünstigt es reformistische Forderungen durch symbolischen (und nicht direkten, materielle) (6) Druck und es schlägt eine vage Vision von „einer demokratischen Zivilgesellschaft“ vor.

So ist das ESF der perfekte „Widersacher“ für die derzeitigen Netzwerke und Institutionen der Macht – ein Widersacher, der nicht wirklich herausfordert, einer mit minimalen Zielen, der am Ende des Tages das Image einer „guten, pluralistischen Demokratie“ perfekt angenommen hat. Es geht noch weiter: der Fakt, dass das WSF-ESF bis jetzt versucht hat die Antiglobalisierungsbewegung (7) und die „Zivilgesellschaft“ zu vertreten, zeigt seine potentiell gefährliche Rolle in der weltweiten Szene – nämlich das neue „Sammelbecken“ zu werden, in dem Leute fühlen, dass sie politische Teilhaber und Aktive sind, aber in dem die Hoffnungen, Enttäuschungen und Wut der Leute gefiltert werden, so das sie keine radikalen, emanzipatorischen Forderungen und Visionen entwickeln, sondern reformistische.

Autonome Räume während der Tage des ESF

Da wir glauben, dass jede Person das Potential für Radikalismus hat, sowohl in Gedanken, als auch in Taten, wollen wir Veranstaltungen organisieren, die nicht nur verschiedene (horizontale) Organisationsweisen, sondern vielmehr eine radikale, antiautoritäre Kritik an den aktuellen Institutionen der Herrschaft unterstützen (und wir verstehen das ESF als eines von ihnen). Die Unterscheidung des LSF von den hauptsächlichen Vorgängen beim ESF ist für uns ein klares Beispiel für einen Radikalisierungsprozess. So akzeptierten wir, nach vielen Treffen, Zögern und Skepsis, mit dem LSF, Indymedia und anderen Gruppen die Zusammenarbeit in einem losen Koordinierungsverbund, um etwas autonomen Raum während der ESF-Tage zu ermöglichen. Unsere Unterschiede nach außen tragend, meinen wir, dass viele Gruppen des ESF und auch viele Einzelpersonen, die für die Veranstaltung kommen, an einer radikaleren sozialen Analyse und direkten Aktionen interessiert sind.

Anstatt das ESF die neue repräsentative Institution der „sensiblen, politisch aktiven Bürger“ sein zu lassen, wollen wir „eine andere mögliche Welt“ zeigen, die bereits hier ist. Die Welt von… Horizontaler Selbstorganisation – Solidarität – Autonomie – Direkter Aktion.

Der Text stammt von der Londoner Gruppe wombles, die sich an beyond ESF: autonomous spaces beteiligt hat. Übersetzung: FA! Original: wombles.org.uk/auto/esfcritique.php
(1) Zum Beispiel das WSF-Prinzip 4, das sehr bezeichnend für die Analyse des WSF ist: „Die Alternativen, die auf dem Welt-Sozialforum vertreten werden, stehen im Gegensatz zu einem Prozess der Globalisierung, der von multinationalen Konzernen, von Regierungen und von internationalen Institutionen, die in deren Interessen agieren, gelenkt wird, mit der Komplizenschaft der nationalen Regierungen.“ Ist das Problem also der böse Konzern oder die böse Regierung? Unserer Meinung nach, nein. Es ist die „Natur“ des Kapitals zu expandieren und global zu werden, so wie sich die Konzerne aufgrund des Wettbewerbes der Marktwirtschaft kontinuierlich entwickeln müssen (oder „sterben“). Die Politik (sozialdemokratisch oder neoliberal) der Staaten oder internationalen Institutionen reguliert nur den Rhythmus der Entwicklungen, aber sie können sie nicht aufhalten (wie das Scheitern der Sozialdemokratie zeigte), wenn sie nicht die Marktwirtschaft und die kapitalistischen Beziehungen, die zur Kapitalakkumulation und Expansion führen, selbst abschaffen.
(2) Ein Beispiel wären die Demonstrationen von Genua und Thessaloniki, wo das ESF die Unterscheidung zwischen „gewalttätigen“ und „nicht gewalttätigen“ Demonstrierenden vertrat, um dem Status quo zu folgen und als „der legitime Vertreter der Anti-Globalisierungsbewegung“ gesehen zu werden. Es ist unnötig darüber zu sprechen, welche Stufe aktiver Solidarität das ESF, als Ganzes, den politischen Gefangenen nach den Demos zukommen ließ; nur sehr wenige der teilnehmenden Gruppen zeigten etwas Interesse…
(3) Es wird behauptet, dass das ESF keine Institution der Macht ist, sondern nur ein Forum. Das ist ein unzutreffender Punkt, weil praktisch (wenn nicht offiziell) das ESF die Macht hatte, Dinge zu tun, z.B. zu großen Anti-Kriegsdemos aufzurufen.
(4) Unglücklicherweise war das 20. Jahrhundert von marxistischer Politik dominiert, die die Kontrolle des Staates als das Grundziel des antikapitalistischen sozialen Kampfes sieht, ohne anzuerkennen, dass der Staat selbst, als eine von der Gesellschaft getrennte Regierungsinstitution, eine zentrale Quelle der Beherrschung der Gesellschaft ist. Darum spielte die „soziale Konkurrenz“ für die Entwicklung von Form und Rolle des Staates eine so bedeutende Rolle.
(5) Ganz zu schweigen von der Haltung der ESF-Mitglieder zu den Nationalstaaten.
(6) Lasst uns an die riesige Anti-Kriegsdemo in London letztes Jahr denken. Die „Stoppt den Krieg„-Koalition, von SWP dominiert (wie auch das ESF in Großbritannien gerade), brachte 1,5 Mio. Menschen auf die Straße. Wenn all diese Leute nur einen kleinen Stein an die Mauer des Parlaments hätten werfen können, als sie vorbeiliefen, dann wäre die Wand zusammengefallen; sie wäre gefallen, weil 1,5 Mio. kleine Steine sie getroffen haben. Aber SWP, wie das ESF in anderen Ländern, bevorzugte den „symbolischen Druck“. Haben sie den Krieg beendet? Nein. Was wir damit sagen wollen, als allgemeinen Schluss aus einem sehr einfachen Beispiel ist, dass symbolischer Druck gut ist, aber nicht allein wirksam, um einen sozialen Wandel herbeizuführen.
(7) Die Anti-Globalisierungsbewegung ist sowieso zu verschieden, um als „Bewegung“ durchzugehen.

Buchstabensalat:

Batasuna – baskische Partei (baskisch für Einheit)

ESF – Europäisches Sozialforum

FTAA – Free Trade Area of the Americas

(Freihandelszone der Amerikas)

G8 – Gruppe der führenden Industrienationen

LSF – Londoner Sozialforum

Mercosur – Mercado Común del Sur

(Gemeinsamer Markt des Südens)

NGO – non-governmental organizations

(Nicht-Regierungsoragnisation)

Oxfam – Oxford Committee for Famine Relief

(Oxforder Komitee zur Bekämpfung von Hunger)

SWP – Socialist Workers Party

(trotzkistisch orientierte Partei in GB)

WEF – Weltwirtschaftsform

WSF – Welt-Sozialforum

WTO – World Trade Organisation

(Welthandelsorganisation)

soziale bewegung