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Freiheit und Versicherheitlichung

Von der Doppelmoral der EU oder über die Praxis, Roma an der mazedonischen Grenze an ihrer Ausreise zu hindern. Ein Testfahrt-Bericht.

Skopje, April 2015. Moses und ich sitzen in einem mazedonischen Linienbus, der jeden Samstag von Skopje über Dortmund nach Brüssel fährt. 30 Stunden für 110 Euro. Wir sind die einzigen Passagiere an Bord, die nicht mit nach Westeuropa wollen. Unser Ziel liegt nicht einmal eine Stunde von Skopje entfernt: Tabanovce, die Grenzstation, die an Serbien grenzt. Eigentlich werden die Tickets nur pauschal für Deutschland und Belgien verkauft, ohne Zwischenhalt. Aber die Busfahrer haben eine Ausnahme für uns gemacht. Sie wissen, dass wir „Testfahrer” sind, dass wir an Bord sind, um die Kontrollmethoden der mazedonischen Grenzer zu beobachten.

Unzähligen Aussagen von Betroffenen und Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge werden seit vier Jahren tausende mazedonischer Staatsbürger an der Ausreise gehindert, weil sie als „falsche Asylbewerber“ identifiziert werden. Allein im Jahr 2013 zählte FRONTEX 6.700 Personen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen bezeichnet sich selbst als Angehörige der Roma. Die Grenzer nehmen sie als solche wahr, weil sie dunkelhäutig sind oder in einer Nachbarschaft leben, die von staatlichen Autoritäten als ‚einschlägig‘ im Bezug auf die Zahl der „falschen Asylbewerber“ gelabelt wird.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb der Frankfurter Philosoph Adorno in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil unter dem Eindruck des faschistischen Terrors in Europa in seiner „Minima Moralia“. Ich möchte wissen, wer festlegt, wie „falsch“ das Leben für Roma aus Mazedonien ist, um es später als „falsches“ Asyl zu labeln; wer ein Interesse daran hat, dass sie kein „richtiges“ Leben leben; wer sie wie an der Ausreise hindert und weshalb.

 

Der Mensch aus Papier

„Wohin willst Du?“, fragt der Grenzbeamte, als er in Tabanovce vor Elvis steht und kritisch seine Frau und die zwei Kinder beäugt. „Nach Düsseldorf.“ „Was willst du dort?“ „Wir besuchen meine Familie.“ „Deinen Pass und die Garantie!“

Der Grenzer durchbohrt Elvis mit seinem Blick, als wäre in seine Retina ein Lügendetektoren-Scanner eingebaut, der „Betrüger“ per Instant-Scan identifiziert. Elvis reicht dem Beamten die geforderten Dokumente, zusammen mit den Pässen seiner Frau und der Kinder. Die Augen des Grenzers fliegen über die Pässe und die „Garantie“, eine vom Einwohnermeldeamt beglaubigte Einladung eines EU-Bürgers, der rechtlich und finanziell für die Familie während ihres Aufenthaltes bürgt, auch dann, wenn die Familie länger als gestattet bleiben und abgeschoben werden sollte.

„Wieviel Geld habt ihr dabei?“ Elvis schaut seine Frau an. Sie murmelt etwas. „Genug“, sagt Elvis. „700 Euro.“ „Aufstehen! Zeigt mir Euer Gepäck!“

Zögernd erhebt sich Elvis vom Sitz, seine Frau schaut den Grenzer unverwandt an. Als die beiden wiederkommen, führt der Grenzbeamte seine Kontrolle weiter. Vor den Personen mit dunkler Hautfarbe bleibt er länger stehen und stellt ihnen die selben Fragen wie Elvis. Einer von ihnen ist Moses, ein langjähriger Freund, selbst ein Rom aus Mazedonien, auch er wohnt in einer „einschlägigen“ Nachbarschaft. Er begleitet mich um mir beim Übersetzen zu helfen. Auch ihn fragt der Grenzer, wohin er will. „Nach Serbien“, sagt Moses und gibt dem Grenzer seinen Personalausweis, denn ein Pass ist nicht nötig, um als mazedonischer Staatsbürger nach Serbien zu reisen. Der stechende Blick des Grenzbeamten straft schon seine Worte: „Der Bus fährt nur nach Westeuropa.“ „Es ist mit den Busfahrern abgesprochen“, sagt Moses. „Dein Pass und die Garantie.“ „Für Serbien?“ „Ja.“ „Serbien ist nicht in der EU…“ Sein bohrend-drohender Blick erstickt den Rest des Satzes. Moses gibt dem Grenzer seinen Pass.

In den letzten Jahren wurden tausende Pässe von angeblichen „Asylbetrügern“ mit einem Stempel versehen, dessen obere Ecke von zwei handgezogenen Strichen durchkreuzt worden ist. Bis vor kurzem gab es zu diesem Labeling oft die Buchstaben AZ (für „Azil“). Die Striche bedeuten eine verhängte 24h-Ausreisesperre für ihre Träger. In der Regel werden Reisende mit diesem Label auch nach Verstreichen der 24-Stunden-Frist nicht aus dem Land gelassen. Begründet werden die verweigerten Ausreisen nur selten. Manchmal sagen Grenzer Sätze wie: „Das ist eine Anordnung vom Innenministerium“, oder: „Ihr habt nicht genug Geld dabei“.

Weil ich Moses potentielle und zukünftige Ausreisen nicht gefährden will, oute ich mich gegenüber dem Grenzer, sage ihm, weshalb wir hier sind, in der Hoffnung, dass er seinen Pass mit dem berüchtigten Label verschont. Er wird wütend, sagt, dass ich für solche Zwecke nicht ohne Genehmigung an die Grenze kommen dürfe.

Letzten Endes wird Moses Pass weder gestempelt noch gelabelt. Tatsächlich wird wider Erwarten keiner der Passagiere gezwungen wieder nach Hause zu fahren. Die Busfahrer sagen, es sei das erste Mal seit Jahren, dass alle durchkämen. Sie sind erleichtert, endlich eine Fahrt zu haben, bei der alle weiterfahren dürfen und sie keinem der Passagiere die Tickets zurückerstatten müssen. Sie sagen, es sei wegen mir. Sie sagen, die Grenzer befürchten schlechte Presse. Später stellt sich heraus, dass der Reise-Agenturleiter, mit dem ich die Fahrt abgesprochen hatte, die Grenzer über mein Kommen informiert hatte. Er sagte ihnen, dass eine Journalistin aus Deutschland mit an Bord sitze, die über die Kontrollen in der Mainstream-Presse berichten würde. Seine Strategie hatte Erfolg, auch für seine Reise-Agentur.

Als ich später eine Grenzerin frage, weshalb hier nur Menschen mit dunkler Hautfarbe nach „Garantien“ und ausreichend finanziellen Mitteln befragt werden würden, während weiße Reisende unbehelligt passieren könnten, erklärt sie unmissverständlich: „Wir handeln hier auf Anweisung der EU! Wir bekommen regelmäßig Berichte von Deutschland, dass es immer noch zu viele Roma-Asylbewerber gibt.”

Die Daten zur ethnischen Kategorie „Roma“ unter Asylbewerbern in der BRD werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesammelt, das die Asylbewerber aus dem Balkan anhört und über ihre Asyl-Gesuche entscheidet. Viele Roma begründen ihr Asylgesuch mit der ökonomischen und politischen Diskriminierung, die sie als Minderheit erfahren. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind über die verheerende Lage vieler Roma in Mazedonien informiert. Sie benennen sie in den Fortschrittsberichten, bezeichnen sie als „unzureichenden Minderheitenschutz“ des Staates. Gleichzeitig identifiziert FRONTEX in seinen letzten Western-Balkan-Risk-Analysis-Berichten das „common profile“ derjenigen, die ihrer Meinung nach Asyl-Missbrauch betreiben würden. Wiederholt werden hier einzig und allein „Roma“ benannt, „die oft mit ihren Familien anreisen“.

Wie hat es die EU geschafft, „die Roma“ als europäisches Problem zu konstruieren?

 

Zuckerbrot und Peitsche aus Schengenland

Ein Jahr nachdem die EU als Anreiz eines potentiellen EU-Beitritts Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina von der Liste der schwarzen Schengen-Staaten befreit und „weiß“ gepinselt hat, so dass die jeweiligen Staatsbürger für drei Monate als Touristen ohne Schengen-Visa in die EU einreisen dürfen, mehrten sich Beschwerden der Innenministerien, vor allem aus Belgien und Deutschland, über zu viele „Asyl-Betrüger“. Zeitgleich kursierten Begriffe wie „Wohlfahrtstourismus“, „Asylmissbrauch“ und „Masseneinwanderung“ im öffentlichen Diskurs. „Allein 30.000 Asylanten aus dem Balkan“, kreischten die Medien, ohne die Zahl in irgendein Verhältnis zur Gesamtzahl der Antragsteller in der BRD zu setzen. Es scheint, als könne die Gated Community EU es nicht ertragen, dass sie nun auch noch mit Binnen-Flüchtlingen fertig werden muss. Der Feind, so die Konstruktion im öffentlichen Diskurs, kommt jetzt auch aus Europa. Aus der Perspektive der EU müssen die Grenz- und Kontrollregime deshalb nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an den Grenzen der Drittstaaten (1) und Transitländer intensiviert werden. Die Rechte der EU-Bürger – damit sind vor allem die gewinnbringenden Reisenden gemeint, also Geschäftsleute, Studenten und Touristen – sollen geschützt werden. Wenn zu viele „andere“ reingelassen würden, könnte sich die Elite schließlich in ihren Rechten beschnitten, ausgenutzt fühlen. Mehr noch: Die Sicherheit der einzelnen Mitgliedstaaten könnte gefährdet sein. Mit der Strategie der Versicherheitlichung setzt die EU Mazedonien die Pistole auf die Brust, nach dem Motto: „Wenn ihr nichts aktiv gegen den Asyl- und Visa-Missbrauch unternehmt, führen wir das Schengen-Visum wieder ein!“ Im EU-Sprech heißt die Drohgebärde „Sicherheitsklausel“. Um zu zeigen, wie ernst ihnen damit ist, fahren EU-Ministerialvertreter eigens in das kleine Balkanland, um die „einschlägigen“ Nachbarschaften der „Betrüger“ und Regierungsvertreter zu besuchen. Schon zu Beginn schlug die Nachricht ein wie eine Bombe.

Ohne zu zögern, erweiterte die Regierung den Reisedokumente-Gesetzeskanon, stellte die Ausreise von „falschen Asylbewerbern“ unter Strafe, filzte und briefte Reise-Agenturen und sponsorte Visa-Liberalisierung-Aufklärungsworkshops in den „einschlägigen Nachbarschaften“. Diese Nachbarschaften/Adressen wurden fortan in den Computersystemen der Grenzer gespeichert und bei den Kontrollen abgeglichen. Das hatte zur Folge, dass zunächst die Pässe der „Betrüger“ für ein Jahr einbehalten wurden.

„Warum stellen sie uns Pässe aus, die wir nicht benutzen dürfen?“, fragten damals viele zu Recht, die das erste Mal in ihrem Leben einen (biometrischen) Pass kauften, nachdem die EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen Druck auf die Westbalkanländer ausübte und sie aufforderte, alle Bürger endlich registrieren zu lassen. Nachdem das Einbehalten der Pässe an der Grenze vom mazedonischen Verfassungsgericht als illegal eingestuft worden war, wurden die Pässe zwar nicht mehr zurückgehalten, dafür aber mit den 24h-Ausreisesperre-Strichen versehen. Vollkommen unabhängig davon, ob die Reisenden nur nach Serbien zu Verwandten oder zum Einkaufen oder in die EU reisen woll(t)en.

Trotz Klagen vor dem Ombudsmann, dem Antidiskriminierungs-Kommitee und einigen niederen Gerichten änderte sich nichts an der Praxis. Auch Roma-Repräsentanten unter den politischen Entscheidungsträgern konnten nichts gegen das Racial Profiling (2) ausrichten. Das Gros der Roma-Politiker, die für die Regierung arbeiten, kritisieren das Vorgehen erst gar nicht. Ihre Gegner sind dagegen überzeugt, dass sie die Praxis gutheißen, um wertvolle Wählerstimmen im Land zu behalten. Die Roma, die in der Opposition arbeiten, haben landesweite Proteste organisiert. Mobilisieren konnten sie nicht viele. Die meisten haben Angst vor noch mehr Diskriminierung. Ein Rom sagte mir: „Vor allem die paar wenigen, die einen Job haben, wollen ihn nicht wieder verlieren.“ Viele Familien kämpfen ums Überleben. Die Sozialhilfe (Euro 30/Monat) reicht für viele nicht einmal aus, um die Stromrechnung zu bezahlen.

Anfang 2015 wurde nun zusätzlich ein Gesetz erlassen, das es Beziehern von Sozialhilfe verbietet, Western-Union-Überweisungen aus dem Ausland zu beziehen. Die Daten des internationalen Geldtransfers durch Western Union werden dazu von Staats wegen her überprüft. Sozialhilfebezieher, die dennoch WU-Gelder beziehen, werden von der „Wohlfahrtsliste“ gestrichen und verlieren damit ihren Anspruch auf Sozialhilfe.

 

Abschottungspolitik made in Germany

Auch die sogenannten Aufnahmeländer verschärften indes ihre Gesetze. Auf Empfehlung der EU ernannte Deutschland letztes Jahr die drei „bedrohlichen“ Balkan-Staaten kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ um, also zu Ländern, in denen politische Verfolgung durch den Staat ausgeschlossen ist und in denen der Staat Menschen, die durch nicht staatliche Akteure verfolgt werden, nicht schützen kann. Doch diese Maßnahme galt einzig dem Versuch, die Zahl der Asylbewerber einzuschränken, und nicht etwa der Erkenntnis, dass die Staaten sich in den letzten Jahren zu sicheren Regionen entwickelt hätten. Das Ziel der Gesetzesverabschiedung sah vor, dass politisches Asyl für Menschen aus diesen Ländern verunmöglicht werden sollte. Den „Betrügern“, die sich dennoch trauten, sollte ein beschleunigtes Verfahren drohen, das sie schnell wieder aus dem Land befördert. Verstärkte Einreisesperren und Abschiebeinhaftierungen sollen in Zukunft laut dem neuen Bleiberecht ihr übriges tun. Doch auch schon in den Jahren vor der Sicheren-Herkunftsland-Regelung lag die Anerkennungsrate für Asylbewerber aus Mazedonien, die sich in Deutschland bewarben, laut Eurostat unter 0,5 Prozent.

Besonders „engagierte“ Politiker – wie schon der ehemalige Innenminister Friedrich oder jetzt unlängst der Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt – drohten damit, die Beitragsleistungen für Personen aus „sicheren Herkunftsländern“ zu senken. Ähnliche Empfehlungen kommen bis heute auch direkt aus Brüssel. Im jüngsten Western Balkan Monitoring Report empfiehlt das European Asylum Support Office (EASO) der Europäischen Kommission u.a., Sozialleistungen für Asylbewerber, wie beispielsweise Taschengeld und Rückkehrhilfe, zu reduzieren. Im gleichen Bericht wird an anderer Stelle. Der erschwerte Zugang von Roma in Mazedonien zum Bildungs-, Wohn- und Gesundheitssektor bemängelt. Doch diejenigen von ihnen, die dem Teufelskreis der Armut und der Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder sexuellen Orientierung entkommen möchten, werden nicht aus dem Land gelassen. Die EU und die BRD helfen mit, indem sie Mazedonien weiter kräftig unter Druck setzen, die Grenzen stärker zu kontrollieren.

Dass LGBT‘s und Roma in den „sicheren Herkunftsländern“ in der Regel behandelt werden wie Bürger dritter Klasse und der „sichere“ Staat eben wenig bis nichts tut, um sie zu schützen, um sie zu gleichberechtigten Bürgern zu machen, interessierte damals wie heute die Gesetzesgeber wenig. Der Bundestag organisierte zwar eine öffentliche Anhörung, die die politischen, ökonomischen und sozialen Missstände klar benannte. Der zweite Asylkompromiss mit der Schaffung der „sicheren Herkunftsländer“ und der Einteilung in „gute“ bzw. „ehrliche“ und „schlechte“ bzw. „falsche“ Asylbewerbern wurde aber dennoch durchgewunken. Die Tatsache, dass in Mazedonien seit Jahren auf Empfehlung der EU an der Grenze aussortiert wird und bereits um die zwanzigtausend Roma wiederholt an der Ausreise gehindert wurden, ist zwar auch schon länger bekannt, wird aber in der Konsequenz begrüßt, auch wenn hier Behörden eines „sicheren Herkunftslandes“ sowohl gegen die eigene Verfassung als auch gegen EU-Recht verstoßen. FRONTEX schreibt in seinem Western Balkans Annual Risk Analysis 2014 Report zu den operativen Maßnahmen in Mazedonien:

Im Jahr 2013 verstärkte Ausgangskontrollen: Überprüfung der notwendigen finanziellen Mittel, die Durchführung von Interviews in Bezug auf ihr Ziel, den Zweck und die Motive der Reise. Sollte es Anzeichen dafür geben, dass die eigentliche Absicht des Reisens ist, das Recht auf Asyl zu missbrauchen, wird der Person die Ausreise in Einklang mit Artikel 15 des Gesetzes über die Grenzkontrolle verweigert.
2. Verbessertes Profiling von Personen, die das Asyl in der EU missbrauchen: Dazu gehören die Identifizierung von Gemeinden, aus denen die meisten abgelehnten Asylbewerber kommen (…) Im Jahr 2013 konnte die Zahl der Personen, die an der Ausreise gehindert wurden, auf 6.700 erhöht werden. 41 Prozent mehr im Vergleich zum Jahr 2012.
3. Verstärkung der repressiven Maßnahmen: Im Jahr 2013 stellten Behörden dreimal mehr Straftaten von ‚Missbrauch der Visa-Freiheit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Schengen-Abkommen‘ fest. Die Zahl der verurteilten Täter verdoppelte sich.“
(Eigene Übersetzung aus dem Englischen).

 

Gated Community EU

Freiheit und Sicherheit sind in der EU zu Synonymen geworden, zumindest für die wohlhabende Klasse der EU-Bürger. Für die Drittstaatler und Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“ gibt es Freiheit oft nur als Freizügigkeit – unter bestimmten Bedingungen. No freedom of movement made by EU: Die Warnung der EU an die Westbalkanländer, die „falschen“ Asylbewerber zu stoppen, hat dazu geführt, dass sich die Katze in den Schwanz beißt. Mazedonien verstößt gegen sein eigenes nationales Recht, einschließlich seiner Verfassung, die EU wiederum gegen ihren eigenen fundamentalen (Menschen-)Rechtskanon und internationales Recht. Dem nicht eingehaltenen Minderheitenschutz gegenüber Roma, den die EU in ihren Fortschrittsberichten gegenüber dem kleinen Balkanland immer wieder bemängelt, wirkt der supranationale Staatenbund in keiner Weise entgegen. Die Verantwortung wird auf die politischen Entscheidungsträger des kleinen Balkanlandes abgewälzt, das indes von einer Reihe politischer Skandale gebeutelt wird und sich mit „ganz anderen“ Problemen konfrontiert sieht, als der Minderheit entgegenzukommen, die das Bild der „guten“ Mazedonier im Ausland „beschmutzt“. Konkrete Empfehlungen, die die EU gegenüber Mazedonien macht, der sozio-ökonomischen Situation von Roma gerecht zu werden, werden nur selten oder gar nicht überprüft. Finanzielle Mittel sickern kaum zu lokalen Projekten durch; die Situation bleibt die gleiche verheerende. In den Berichten an die Kommission zieht Mazedonien trotzdem eine positive Bilanz, um nicht allzu schlecht wegzukommen und die Beitrittsgespräche nicht zu stören. Da sich in der Realität indes kaum etwas geändert hat, versuchen die Menschen weiterhin ihrer Misere zu entfliehen, doch die Schlaufe um ihren Hals wird immer enger: denn die Drohgebärden der EU gegenüber Mazedonien werden deutlicher, die Grenzkontrollen schärfer, die Grenzübertritte von Roma werden stärker „illegalisiert“ und für die Betroffenen dadurch gefährlicher und teurer.

Aus Menschen, die mit ihren Familien nicht vor Krieg fliehen, sondern vor dem Leben in einem „sicheren“ Staat, der ihnen weder ökonomische Perspektiven noch politischen Schutz bietet, werden Täter. Aus Menschen, die kurzzeitig ihre Verwandten in einem EU-Land besuchen wollen, werden Täter – oft auch dann noch, wenn sie eine offizielle Einladung vorweisen können. Aus Menschen, die von ihrem Menschenrecht, ihr Land zu verlassen, Gebrauch machen, werden Täter, menschliche Bedrohungen, potentielles Sicherheitsrisiken für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der EU, eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft die erst unlängst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde – für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa. Witz komm raus, du bist von unsichtbaren Grenzen umzingelt.

Ein Beispiel für die Doppelmoral der EU, die sich nach außen mit ihrer liberalen, menschenrechtsorientierten Politik brüstet und nach innen eine Abschottungspolitik betreibt, zu der sie auch die Staaten ermuntert, die um eine EU-Anwerberschaft buhlen. Die Visa-Liberalisierung war das erste Leckerli – jetzt müssen sie zeigen, dass sie sich das auch verdient haben. Ansonsten wird die Schengen-Mauer wieder errichtet, der EU-Beitritt weiterhin verweigert werden. Wer aber zieht die EU zur Verantwortung, wenn sie (Anwerber-)Staaten ermutigt, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen?

Europäische Gerichtshöfe? Um eine Klage wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft an der Grenze gegen einzelne Mitgliedstaaten vor den Europäischen Menschrechtsgerichtshof in Straßburg zu bringen, müsste erst erfolglos durch alle Instanzen im Herkunftsland geklagt werden. Bislang sind die Klagen von Betroffenen in Mazedonien nicht über die erste Instanz hinausgekommen.

Politische Akteure in den einzelnen Mitgliedsstaaten, die die binationalen Beziehungen in den Herkunftsländern stricken? Als ich bei der deutschen Botschaft in Skopje um eine Stellungnahme zum Racial Profiling an der mazedonischen Grenze bat, wurde ich an die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin verwiesen. Als ich das anschrieb, hieß es aus Berlin: „Wir betonen, jedwede diskriminierende Kontrollpraktiken abzulehnen, doch können wir Ihrer Bitte um eine Stellungnahme leider nicht nachkommen, da uns zu diesem spezifischen Thema keine verlässlichen Daten vorliegen. Gerne verweisen wir Sie auf die Expertise der Kollegen im BAMF.“ Als ich ihnen die entsprechende verlässliche Daten bzw. wissenschaftliche Berichte in Peer-review-Journalen und Berichte internationaler NGOs schicke, erhalte ich keine Antwort mehr. Aber auch die Leiterin der Außenstelle des BAMF in Sachsen entschuldigt sich aufgrund derzeitiger Arbeitsüberlastung.

Von der Grenze aus fährt kein öffentlicher Verkehr zurück in die nächstgelegene Stadt Kumanovo. Menschen, die von hier wieder zur Umkehr nach Hause gezwungen werden, müssen sich abholen lassen. Meistens erledigen das informelle Taxifahrer. Auch Moses und ich fahren nach unserer „Testfahrt“ mit einem informellen Taxi zurück. Unser Taxifahrer erzählt uns, dass er aufgehört habe, die Zurückgeschickten zu zählen, dass er jeden Tag hierherkommen könne und Kunden bekäme. Das Geschäft läuft gut, denn aufgrund der ungewöhnlichen Strecke, erheben die Taxifahrer eine extra Pauschale. Unser Taxifahrer diskreditiert die Rückschiebepraxis trotzdem: „Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, darüber was hier an der mazedonischen Grenze gerade passiert, dann sage ich: Hier werden zur Zeit Roma gekidnappt. Sie werden so stark ihrer Rechte beraubt, dass sie aufhören als Person zu existieren.“

Der Taxifahrer bringt es auf den Punkt: Indem „Wir“ (EU-Bürger) und „die Anderen“ (Drittstaatler) konstruiert werden, werden eben nicht nur „die Rechte der Anderen“ konstruiert, sondern auch eine „Entrechtlichung der Anderen“ legitimiert, indem sie kollektiv diskriminiert und kriminalisiert werden. Das Recht des Individuums, das hohe Gut des aufgeklärten Abendlandes, bleibt so exklusiv bei den Angehörigen einer „EU-Wertegemeinschaft“.

[Lotte Rie]

 

(1) Als Drittstaaten oder Drittländer werden Staaten bezeichnet, die nicht Mitgliedsstaat eines gegenseitigen Abkommens mindestens zweier anderer Staaten oder eines Suprastaates wie der EU sind. (Quelle: Wikipedia)

(2) Als Racial Profiling oder „ethnisches Profiling“ wird das Handeln von Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungs- und Zollbeamten bezeichnet, wenn dieses Handeln auf allgemeinen Kriterien wie ‚Rasse‘, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft einer Person basiert.

Literatur: Katrin Simhandl (2007). „Der Diskurs der EU-Institutionen über die Kategorien ‚Zigeuner‘ und ‚Roma‘: Die Erschließung eines politischen Raumes über die Konzepte von ‚Antidiskriminierung‘ und ‚sozialem Einschluss‘“, Nomos Verlag

Effektiver Reisen: mit Ausreisezentren

Um eine „Flüchtlingsschwemme“ einzudämmen, hat sich die Regierung seit ein paar Jahren was einfallen lassen. Das Problem ist wohl ein kompliziertes, denn ich habe noch niemanden gesehen, der solch‘ einer Katastrophe zum Opfer fiel

… wenn`s um „humanitäre“ Fragen geht: gegen Kriege und Flüchtlingselend helfen nur Selbstbestimmung und Solidarität.

Abschiebelager, auch „Ausreisezentren“ genannt, sind Zwangsunterkünfte für Flüchtlinge ohne Pass, denen unterstellt wird, falsche Angaben über ihre Herkunft zu machen, oder sich nicht an der Beschaffung neuer Papiere zu beteiligen. Denn Papiere sind die Voraussetzung der Abschiebung; um die zu vermeiden, verweigern viele ihre Papiere. Unerhört? Nun, ist jemand aus einem Land geflüchtet, in dem er verfolgt wird, dies aber von der BRD nicht anerkannt wird, da z.B. derjenige „nur“ zu einer gesellschaftlich bedrohten Gruppe gehört, aber keine persönliche Verfolgung nachweisen kann, dann gibt es keine Aufenthaltserlaubnis, und schon lebt mensch illegal in der BRD und kann jederzeit aufgegriffen und abgeschoben werden.

In „Ausreisezentren“ sollen die meist schon traumatisierten Flüchtlinge zur Aufgabe der Suche nach einem menschlicheren Leben in der BRD gezwungen werden. Es wird alles getan, die Menschen spüren zu lassen: „Du bist kein Mensch, Du bist nur lästig.“ Als Abschiebelager sollen bestehende Unterkünfte für AyslbewerberInnen dienen, diese ersetzten keinen Abschiebeknast, sondern dienen den Behörden als Ergänzung. In Hamburg z.B. wird den Flüchtlingen von vornherein ein Alltag in der BRD verwehrt: „Einreisezentren“ sind gleichzeitig Abschiebelager. Von diesen geht es „freiwillig“ gleich (oder über den Umweg Abschiebeknast) zurück in´s Herkunftsland. So wird Perspektivlosigkeit erst geschaffen.

Diese Lager arbeiten mit einem ausgeklügelten, perfiden System. Die Insassen dürfen das Lager kurzzeitig verlassen, unterliegen aber einer täglichen Meldepflicht. Sie müssen sich beim Kommen und Gehen melden. Es ist verboten, das Stadtgebiet zu verlassen und sie dürfen über keine finanziellen Mittel verfügen. Ebenso wenig ist es erlaubt zu arbeiten (auch nicht ehrenamtlich). Sie erhalten das Taschengeld (40 Euro), dass ihnen nach dem Gesetz zusteht nicht, auch Deutschkurse sind streng verboten. So wird Eingewöhnen verhindert. Jederzeit können Durchsuchungen stattfinden, bei denen alles was auf die Identität hinweisen kann, beschlagnahmt wird. Hinzu kommen regelmäßige Verhöre der Polizei, die immer gleich verlaufen und einschüchternd wirken.

Äußerlich sind die Lager von Stacheldrahtzaun umgeben und videoüberwacht. Zum Schlafen gibt´s Baracken oder Container, pro Person 4 Quadratmeter. Die Versorgung erfolgt mit Lebensmittelpaketen oder durch eine Großküche, wobei auf Allergien o.ä. keine Rücksicht genommen wird.

Selbst die Sozialdienste – eine Farce: ein Betreuer für 200 Menschen – sind nur dazu da, mittels pvscho-sozialen Drucks den Insassen ihre „Perspektivlosigkeit“ in Deutschland zu verdeutlichen. Gleichzeitig dienen die Sozialarbeiterinnen dazu, die Persönlichkeit des Einzelnen zu erforschen, mit dem Ziel, das Herkunftsland zu erfahren, um Papiere besorgen und danach abschieben zu können – somit müssen die SozialarbeiterInnen von Amts wegen ihre Schweigepflicht verletzen.

Das erste Abschiebelager wurde Anfang 1998 nach niederländischem Vorbild in Niedersachsen eröffnet. Weitere Lager mit dem Namen „Projekt X“ befinden sich in Braunschweig und Oldenburg, sie fassen 250 Personen. Ein Abschiebelager in Nordrhein-Westfalen, wurde nach 18 Monaten geschlossen, da ein Insasse Selbstmord begangen hatte. Seit 1999 gibt es Abschiebelager in Rheinland-Pfalz mit 180 Pritschen und in Fürth (Bayern). Im niedersächischen Lager in Bramsche-Heppe, (200 Plätze) werden auch Personen aufgenommen, über deren Asylantrag noch nicht endgültig entschieden ist Sachsen-Anhalt verfügt über ein Ausreisezentrum in Halberstadt mit 100 Plätzen. Weitere werden folgen.

Wenn auch keiner mit den „Ausreisezentren“ reisen will, sind diese für die Behörden dennoch ein Erfolg: Von 248 eingewiesenen Personen im „Projekt X“ reiste nur eine Person aus, 29 wurden abgeschoben. Ähnlich in anderen Lagern: In Ingelheim reisten 5 von 174 Personen aus, 5 wurden abgeschoben. Die Hälfte der Insassen tauchen nach Erhalt des Einweisungsbescheids oder nach kurzer Zeit im Lager in die Illegalität unter – bei den Behörden heißt das „Erfolg“ und „unkontrollierte Ausreise“. So spart man die wenigen finanziellen Aufwendungen für Flüchtlinge und entrechtet sie völlig. Was letztendlich auch der deutschen Wirtschaft zugute kommt: ohne Pass (Recht), in höchster Not scheint jeder Hungerlohn annehmbar. Eingewiesene sind keineswegs nur Alleinstehende oder Nichtintegrierte: in Fürth wurde ein tschetschenisch-russischer Kriegsdienstverweigerer eingewiesen, der mit seiner deutschen Partnerin in einer Wohnung gemeldet ist und heiraten will.

Wer im Lager nicht abgeschoben werden kann; bleibt dort und zwar auf unbegrenzte Zeit! Abschiebelager kennen keine Zeit – legal raus kommt nur, wer ausreist, freiwillig oder nicht. „Ausreisezentren“ sind staatliche Beugemaßnahmen: ohne Ausweg vegetieren Menschen wie du und ich bei Wasser und Brot dahin. Weltweite Freizügigkeit gilt bisher eben nur für Güter und Waren – menschliches Leben ohne Pass hat hier und heute keinen Wert.

hannah

www.noborder.org
www.ausreisezentren.cjb.net

Migration

Unbegrenztes Camp(f)en

Es läuft bekanntlich so einiges falsch. Das meiste sogar miserabel. Und wir kön­nen uns über alles aufregen, denn immer­hin erfahren wir es. So die weitverbreitete Einstellung sich kritisch fühlender Men­schen. Nur wer, das ist die Frage, hat denn aus „normalen“ Medien etwas über den größten deutschen Dauer-Polizeieinsatz gehört, der jemals außerhalb eines Gip­fels stattfand und Köln für die erste Augusthälfte in den „Ausnahmezustand“ (0-Ton Polizei) versetzte? Nur wenige reg­ten sich auf über dauernde Kontrollen, Straßensperren und Verhaftungen durch den „Grünen Block“.

Lediglich die Kölner Lokalpresse trau­te sich, tagelang gegen „Gewalttouristen", „Chaoten" und „Schläger" zu hetzen, wo­mit jedoch ironischerweise nicht die om­nipräsenten Grünuniformierten gemeint waren…

Auslöser für die gigantische Repressionsmaschinerie, die sage und schreibe 8300 meist schwer gepanzerte Beamte mitsamt Wasserwerfern, Räumpanzern, Hubschraubern und so weiter aufbot, war das diesjährige Antirassistische Grenzcamp das sich auch dieses Mal wieder auf die Fahnen geschrieben hatte, staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu demaskieren und anzugreifen.

Menschen mit nichtdeutschem Aussehen und dem fal­schen Pass werden hierzulande aus­gegrenzt, in Lager gesperrt, zur Drecks­arbeit gezwungen und bei Nichtausnutzbarkeit abgescho­ben. Menschenleben und -schicksale spie­len für diese perfide Verwertungspolitik keine Rolle, sie bedient sich vielmehr (weil´s so schön einfach ist) der noch wi­derlicheren Rassismen, die in Deutschland immer noch gegen „Untermenschen“ und ähnlich „undeut­sches“ Gesindel exis­tent sind, letztendlich, um von der eigenen Ausbeutungssituation ablenken zu können. Ein Relikt der NS-Zeit, sowohl men­tal als auch ökonomisch.

Als „Spitzen des Eisbergs" thematisierte das Grenzcamp besonders die als Abschre­ckung gedachte Zwangs­unterbringung von Mi­grantInnen in Lagern und die brutale Ab­schiebepraxis, bei der BGS-Beamte schon so manchen Flüchtling um­brachten. Beiden Prakti­ken gemeinsam ist, dass private Konzerne aus dem Leid der Menschen saftige Gewinne schlagen. So die Hotel­gruppe Accor, die „Ferienlinie“ LTU und die Lufthansa AG. Diese hervorstechen­den Beispiele bilden Ansatzpunkte für Antirassistische Öffentlichkeitsarbeit so­wohl mit Flugblättern und lautstarken Demos als auch mit Direkten Aktionen und echt subversiver Kommunikations­guerilla („deportation class"). Und so ge­lang es den Aktivistinnen des Camps in der ersten Augustwoche einigermaßen, den öffentlichen Raum umzugestalten und der Brutalität der herrschenden Ideologie etwas buntes, anderes entgegenzusetzen – etwas, auf das ein Staat nur eine Antwort kennt….

Am Morgen des 9. August, die Polizei war schon hochmotiviert dabei, eine Nazi-Demonstration zu schützen und Antifa­schistinnen fest zu nehmen, wurde das komplette Camp von etwa zwölf Hundert­schaften Bereitschaftspolizei umzingelt. Knüppel und Tränengas wurden einge­setzt, viele verletzt. Die Polizei stellte den Leuten bei fast 40 Grad das Wasser ab und fing irgendwann mit dem Abtransport der „Gefangenen“ an, von denen einige 16 Stunden im Kessel verbringen mussten.

Die Polizei, die den ganzen Tag über den Eindruck von Hooligans vermittelte, stützte sich bei dem Raid auf das geneh­migte Camp auf eine schwammige „allge­meine Gefahrenabwehranalyse“. Worum es eigentlich ging war wohl nicht die Be­endigung des Camps (das wäre am nächs­ten Tag eh vorbei gewesen) sondern viel­mehr um das Sammeln von über 500 Datensätzen der eingekesselten Menschen für den Staatsschutz.

Antirassismus wird also kriminalisiert – Rassismus und Menschenrechte sind ein Tabuthema für unsere ach so tolerante Staatsmacht. Diese könnte sich mit einer derart willkürlichen Repressionsmaß­nahme allerdings selbst ein Bein gestellt haben, denn trotz der ziemlich gleichge­schalteten Presse, die meist gar nichts und wenn dann meist Hofberichterstattung brachte, kam es in ganz Europa zu einer Welle der Solidarität. Allein in Deutsch­land fanden in über 30 (!) Städten, darunter auch in Leipzig, Demos und Be­setzungen statt. Das Motto: „Köln ist überall – das camp(f)en geht weiter!" In Frankreich, Spanien und Italien kam es zu weiteren, grenzenlosen Protesten und na­türlich auch wieder zu Verhaftungen und Repression. Dass kein Wort davon in irgendwelchen etablierten Medien zu se­hen oder zu hören war, zeigt einmal mehr, was für ein gefährliches Thema mit Anti­rassismus angeschnitten wird und wie wichtig es ist, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen!

Dies könnte weiter dazu beitragen eine offensive, antirassistische Bewegung zu schaffen, die sich nicht auf Staaten bezieht, sondern die Kernpunkte gesellschaftlicher Herrschaft, nämlich jede Form von Gren­zen angreift und abschafft.

no nation no border – fight law and order

soja

An der Grenze

Krieg Um Welt

Welcome all Refugees from capitalist War

Fluchtursachen und ihre „Bekämpfung“

Weltweit sind ganze Regionen zu Kriegsgebieten verkommen. Hier wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen ZivilistInnen und KombattantInnen. Massaker an eben Unbeteiligten dienen der ethnischen Mobilmachung und so der Verlängerung der für die (staatlichen und privaten) Warlords einträglichen Konflikte. Es gibt Zwangsrekrutierungen selbst von Kindern und durch die gewaltsame Zerstörung ziviler Lebensgrundlagen und die allgemeine Unsicherheit und Militarisierung bleibt vielen nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen und sich einer Miliz anzuschließen. Oder eben die Flucht. In diesen Regionen leben Millionen Menschen in gewaltigen Flüchtlingslagern, die aber zugleich Ziel und Operationsbasis der Milizen sind. Eine weitergehende Flucht wird von den potentiellen, reicheren Zielländern militärisch und durch Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen und dem UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) unterbunden.

Andere Gebiete und Schichten sind auch ohne blutige Konflikte durch eine anhaltende und wachsende Armut geprägt. Durch die Privatisierung der Grundversorgung und des Landes wird den Menschen die Möglichkeit selbst zur eigenständigen Grundversorgung genommen, sie werden proletarisiert und vertrieben, ohne dass ihnen die Möglichkeit auf ein einträgliches Einkommen gegeben würde. Viele versuchen es dennoch und siedeln in die Vorstädte der nächstgelegenen Großstädte, aus denen gewaltige Slums werden, die teils durch unerträgliche Lebensumstände geprägt sind. Dort fristen sie ihr Dasein oder machen sich auf die Weiterreise dorthin, wo sie bessere Lebensperspektiven sehen. Entweder sie passieren illegal die Grenzen in die Wohlfahrtszonen und führen dort ein Schattendasein das sie sich mit illegaler Arbeit zu Niedrigstlöhnen finanzieren, oder sie treiben irgendwo genug Geld auf, um sich ein Visum zu erkaufen und probieren dann, über Eheschließung, Arbeitsverträge oder ähnliches einen längerfristigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.

Zudem gibt es überall auf der Welt bedrohte und diskriminierte Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen. Frauen ist in religiös-fundamentalistisch geprägten Gesellschaften ein selbstbestimmtes Leben verwehrt und ihnen drohen drakonische Strafen wie die Steinigung. Wer nicht für seine Rechte kämpfen will oder kann, dem bleibt nur ein Ausweg: die Flucht.

Zahlreiche dieser Fluchtursachen werden mittlerweile als Grund für militärische Interventionen der Großmächte genannt, die aber stets eigene Interessen verfolgen und die Lage der Bevölkerung durch weitere Militarisierung und die Provokation militärischen Widerstands meist noch weiter verschlechtern. Die gute Schwester der militärischen Intervention, die staatliche Entwicklungshilfe, gibt vor, sich mit zivilen Mitteln dieser Probleme annehmen zu wollen. Dies geschieht immer häufiger durch die Finanzierung und den Aufbau neuer Polizeieinheiten, kann die Unterstützung eines Gewaltregimes bedeuten (z.B. EUPOL KINSHASA (1) in der Demokratischen Republik Congo). Oft geht es bei Entwicklungshilfe auch nur darum, Länder und Regionen für die Anbindung an den Weltmarkt vorzubereiten oder internationalen Unternehmen den Aufkauf der zivilen Infrastruktur und der profitträchtigsten Wirtschaftsbereiche zu ermöglichen (So haben BMZ und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) gemeinsam mit USAID im Windschatten des Afghanistankrieges die Agentur AISA gegründet, die mit Werbung für profitträchtige Anlagen und der Privatisierung von Wasser- und Stromversorgung deutschen und internationalen Konzernen den Ausverkauf Afghanistans ermöglichen soll, siehe aisa.org.af ). Im besten Falle sind Entwicklungshelfer meist kleinerer Organisationen damit beschäftigt, die sozialen Härten der kapitalistischen Globalisierung abzufedern und den Menschen in neu kolonialisierten Gebieten Tipps für das Überleben im globalen Markt zu geben – meist, das soll hier gar nicht geleugnet werden, in bester Absicht und manchmal mit ansehnlichem Erfolg.

Migration ist Entwicklungshilfe – von Unten

Dennoch ist Entwicklungshilfe als Bekämpfung der Fluchtursachen, wie sie gerade v.a. mit Blick auf Afrika propagiert wird – sofern dies ernst gemeint ist – in mehrfacher Hinsicht Paradox. Wenn das Ziel lauten sollte, die globale Ungleichheit an Wohlstand, Sicherheit und Rechten abzumildern, dann müsste zunächst das wesentliche Instrument angegangen werden, welches diese Ungleichheit territorial festschreibt, nämlich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen aus Armuts- und Konfliktgebieten. Denn wenn Menschen aus unerträglichen Lebensumständen fliehen und wo anders tatsächlich ein besseres Leben finden, dann hilft das nicht nur konkret all diesen Menschen, sondern auch den Regionen, aus denen sie stammen. Nicht nur, dass Migration aus kargen oder überbevölkerten Regionen das Überleben dort schon deshalb erleichtert, weil vom selben Boden weniger Menschen zu ernähren sind und damit auch das Konfliktpotential wesentlich sinkt. Die meisten Migrant- Innen bleiben den Gesellschaften, aus denen sie stammen, die ihnen oft auch die Wegreise ermöglicht haben, weiterhin verbunden. Allein die registrierten Rücküberweisungen von MigrantInnen, sog. Rimessen, an Familien und Freunde im Herkunftsland, übersteigen weltweit die Summe der offiziellen Entwicklungshilfe aller Staaten zusammen – und kommen meist direkter an. Zusätzlich besuchen die MigrantInnen, soweit es ihnen möglich ist, ihre Herkunftsgesellschaften, was dort eine touristische Infrastruktur und den Aufbau von Verkehrswesen begünstigt. Andererseits wollen Viele auch im Land, in dem sie sich gegenwärtig aufhalten, nicht auf traditionelle Lebensmittel und kulturelle Güter verzichten, was dazu führt, dass es in jeder großen Stadt mittlerweile Spezialläden für Produkte aus diesem und jenem Land gibt und dies den Export kultureller Güter (mit enormen Profiten) aus ärmeren Regionen fördert.

Diese „Entwicklungshilfe von Unten“ (2) funktioniert allerdings auch jenseits rein kapitalistischer Dynamiken. So schließen sich in größeren Städten die MigrantInnen aus denselben Gemeinden oder Regionen zusammen und organisieren beispielsweise Kulturveranstaltungen, deren Erlös sie für Infrastrukturprojekte in ihre Herkunftsgemeinden schicken (3). Diese Gelder können bspw. in Projekte wie eine kommunalen Krankenversicherung fließen, die sonst nicht denkbar wären. Vor allem Menschen, die vor Unterdrückung und Krieg geflohen sind, verfolgen hier meist weiter die Lage in ihrem Herkunftsland. Viele übersetzen Artikel und machen so auf die dortige Unterdrückung aufmerksam. Manche organisieren sich in Exil- oder Menschenrechtsgruppen und engagieren sich von hier aus für die Rechte ihrer GenossInnen im Ausland. Das ist die Voraussetzung für internationale Aufmerksamkeit und Solidarität und hat schon so manche Freilassung politischer Gefangener erwirkt, wie es Folter und Steinigungen verhindert hat. Auch weniger politisch engagierte MigrantInnen werden in ihrem Zielland mit anderen Werten konfrontiert sein, als sie es aus ihrer Kindheit und Jugend kennen. Sie werden von diesen das übernehmen, was ihnen sinnvoll erscheint und sie auch in ihre Herkunftsgesellschaften kommunizieren, wo sie dann erörtert, angenommen oder abgelehnt werden. Dies ist eher die Überzeugung beim Familienfest, als die aus dem Gewehrlauf. Wenn nicht nur Europäern zugestanden wird, dass Menschen ihre Werte auf der Grundlage von Vernunft aushandeln, dann müsste diese Form globaler Zivilgesellschaft langfristig zu einer vielfältigen, sich gegenseitig argumentativ herausfordernden Wertelandschaft führen.

MigrantInnen als Arbeitskräfte

Solche Entwicklungen sind jedoch nur Nebeneffekte einer kapitalistischen Dynamik, die seit der Entstehung der Nationalstaaten deren Drang nach Ab- und Ausgrenzung immer wieder aufbricht. Für den globalisierten Kapitalismus ist nicht nur die freie Zirkulation von Kapital und Waren, sondern auch von Dienstleistungen und Arbeitskräften notwendig. Der Nachkriegsboom in den 50er und 60er Jahren hing ebenso vom Zustrom von Arbeitskräften ab, wie zuvor der Aufstieg der USA zur Weltmacht nur durch beständigen Zuzug aus aller Welt möglich war. Auch heute beruht der Wohlstand der „entwickelten“ Staaten (auch der reichen Öl-Staaten) wesentlich darauf, dass Arbeitsprozesse, die nur bei enorm niedrigen Löhnen profitabel sind, sich aber nicht ins Ausland verlagern lassen – namentlich Dienstleistungen wie Gebäudereinigung, Billig-Gastronomie, zunehmend auch Alten- und Krankenversorgung – von migrantischen Arbeitskräften erledigt werden, die niedrigere Löhne in Kauf nehmen. Da vor allem die Macht europäisch geprägter Staaten vom Nationalismus abhängt, der dementsprechend andauernd geschürt werden muss, und es zu ihrem Verständnis von Souveränität gehört, die Grenzen aufrecht zu erhalten und zu kontrollieren, befinden sie sich hier in einem Interessenskonflikt mit ihrer mächtigsten Lobbygruppe, dem Kapital, das generell zur Öffnung der Grenzen, auch für Arbeitskräfte, drängt. Der Kompromiss, von dem beide profitieren, ist die weitgehende Öffnung der Grenzen bei gleichzeitiger rassistischer Diskriminierung der MigrantInnen. Dadurch entsteht ein für die Industrie sehr nützliches entrechtetes Subproletariat, das bei Belieben zu niedrigsten Löhnen angeheuert und wieder gefeuert bzw. deportiert werden kann und, spekulierend auch auf nationalistisch-rassistische Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft, diese spaltet, in die relativ privilegierten einheimischen Arbeiter und eben dieses Subproletariat.

Machtdemonstrationen

Genau dies geschah beispielsweise in Deutschland mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts, der Illegalisierung weiter Teile der MigrantInnen und durch die vielfältige rechtliche Diskriminierung von „Ausländern“: Essenspakete und Residenzpflicht bei Asylbewerbern, biometrische Erfassung, Rasterfahndung, Sicherheitsverwahrung und Gesinnungsprüfung und Kettenduldung, d.h. Die immer nur kurzfristige Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen, die die MigrantInnen dauerhaft in einem prekären Schwebezustand hält und langfristige Perspektiven verhindert. Dass die Grenzen gleichzeitig geöffnet würden, mag der alltäglichen Wahrnehmung widersprechen. Werden die Zäune in Melilla und Ceuta nicht eben verstärkt, nachdem dort auf Flüchtlinge geschossen wurde, die versuchten, sie zu überwinden? Finden nicht gegenwärtig völlig sinnlose Abschiebungen von hier geborenen Kindern und ihren Familien in (Bürger-)Kriegsgebiete wie den Kosovo und Afghanistan statt? Entstehen nicht überall in der EU und jenseits ihrer Grenzen Auffang- und Abschiebelager? Wird nicht gar in den Kriegsgebieten selbst Militär eingesetzt, um die Flüchtlinge an der Weiterreise Richtung EU und Deutschland zu hindern?

Doch! Aber zugleich werden die Möglichkeiten für Arbeitgeber beständig erweitert, Arbeitskräfte ins Land zu holen. Die Visabestimmungen für Mittel- und Osteuropäer werden gelockert, und in den Zäunen werden bewusst Löcher gelassen, abgefangene Boat people aus Nordafrika oder dem Mittleren Osten werden freigelassen, während die „Schwarzen“ aus Südafrika deportiert werden. Die Abschottung ist gar nicht möglich, zu vielfältig sind die Möglichkeiten und Wege, in die EU zu gelangen. Die repressive Grenzpolitik ist lediglich der Versuch, diese Migration biopolitisch zu steuern: Lieber Osteuropäer als Afrikaner, lieber Studenten als Flüchtlinge. Dieser offen von den Staaten ausgeübte Rassismus soll nach Innen das Privileg der Staatsbürgerschaft deutlich zum Vorschein bringen. Die offene und symbolkräftige Diskriminierung derer, die nicht zur Nation gehören soll diejenigen, die dazugehören, noch enger an den Staat binden, damit sie immer weitere Einschnitte akzeptieren. Abschiebungen lohnen sich finanziell überhaupt nicht, geben den Bürgen des Staates aber das Gefühl, dass es anderen noch dreckiger geht, dass ihnen das nicht passieren kann. Im übrigen ein Fehlschluss: Denn die Herrschaftstechniken, die zunächst gegenüber MigrantInnen angewandt werden, werden immer schneller auch auf unterprivilegierte Schichten der nationalen Bevölkerung angewandt, freilich bei gleichzeitiger Verschärfung der Schikanen gegenüber den MigrantInnen. So folgte die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung in Deutschland durch die Einführung neuer Pässe einer Art Probelauf, in dem alle Einreisenden und Asylbewerber erfasst werden sollten. Die Techniken, mit denen seit Hartz IV die Arbeitslosen durch die Bundesagentur verwaltet werden, erinnern stark an die Praktiken, mit denen zuvor Asylbewerber konfrontiert waren.

NO LAGER

Es gibt also keinen Interessengegensatz zwischen „einheimischen“ und migrantischen Lohnabhängigen, sondern gemeinsame Kämpfe. Was heute an Diskriminierung von „Ausländern“ verhindert werden kann, wird langfristig für die gesamte Gesellschaft abgewehrt. In diesem Zusammenhang ist die weltweite Ausdehnung von Lagern zu sehen, die von staatlichen Akteuren als Reaktion auf unkontrollierte Bewegung und nicht-verwertbares Leben vorangetrieben wird. In Krisen- und Kriegsgebieten leben Millionen von Menschen in Lagern, hunderttausende in den Lagern an den Rändern der EU und ebenso viele innerhalb der EU. Lager erlauben die ideale Kontrolle der Insassen und isolieren sie vom Rest der Gesellschaft so wie von den Insassen anderer Lager. Die Menschen werden hier am nackten Leben erhalten, von privaten oder staatlichen Sicherheitsagenturen kontrolliert und gepeinigt, bis sich eine kurz- oder langfristige Verwertungsmöglichkeit ergibt. Eine Vision mit Zukunft. Dass sich diese Herrschaftspraktik auf immer weitere Teile der Weltbevölkerung ausdehnen lässt, zeigt sich daran, wie leicht es den Nationalstaaten stets gefallen ist, per Gesetz Gesellschaften, die alle auf Migration beruhen, in Bürger und Entrechtete zu trennen.

maria

(1) Diese EU-Mission besteht darin, mit Geldern aus dem Europäischen Entwicklungs-Fond neue Polizeieinheiten in Kongo-Kinshasa aufzubauen, welche die „Regierung des Übergangs“ schützen sollen. Diese besteht ausnahmslos aus Warlords und Kriegsverbrechern und sollte im Juni 2005 durch erste freie Wahlen abgesetzt werden. Die Wahlen wurden verschoben, die Proteste niedergeschossen. Die EU dürfte davon nicht überrascht gewesen sein, denn die Mission begann Anfang 2005 und war für mindestens ein Jahr geplant…
(2) Siehe hierzu: APUZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 27/2005: Entwicklung durch Migration
(3) exemplarisch am Fall El Salvador: Helen Rupp: Migration als Wirtschaftsmodell: Die remittances in El Salvador, in Prokla (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft) Nr. 140

Migration

Campen gegen das Grenzregime

Wir hoffen, es liegt nicht in allzu ferner Zukunft, dass wir auf die Welt der Nationalstaaten und ihrer Grenzen zurückblicken werden, wie heute auf das finstere Mittelalter. Dass Freizügigkeit und die Möglichkeit zu leben, wo man leben will, ein selbstverständliches Recht eines jeden Menschen ist. Keine Menschen mehr, die beim Versuch eines Grenzübertritts in der Neisse oder im Mittelmeer ertrinken oder Angst haben müssen, an Grenzen festgenommen und abgeschoben zu werden. Keine Gefesselten, Geknebelten und Erstickten mehr, weil Menschen mit aller Gewalt außer Landes geschafft werden sollen. Keine Diskriminierungen und Schikanen mehr, weil an Bahnhöfen nach Hautfarbe kontrolliert wird und Flüchtlinge „ihren Landkreis“ nicht verlassen dürfen. Und nicht zuletzt: Keine Vorurteile und Abgrenzungen mehr, gerade in unseren Köpfen!“

JENAER (GRENZ-)CAMPZEITUNG 12.7.02

Grenzen töten!

Grenzen töten und zerstören Menschen. Nicht nur, dass Tausende an den Grenzen der Festung Europa ums Leben kommen oder bei Abschiebungen ermordet werden, auch die die es schaffen, müssen in ständiger Angst und unter menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegetieren. Sie bleiben oft über Jahre quasi eingesperrt in Heimen, bekommen mieses Essen und leben unter der Knute der Heimleitung. Menschen, die sich nicht für ihr Leben hier registrieren lassen (können), weil ihnen dann die Abschiebung droht, müssen sich unsichtbar und ohne Stimme durchs Leben schlagen, immer auf der Hut vor Polizeiwillkür und als billige Arbeitskraft ausgebeutet. In diesen Fällen zeigt sich die ganze Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft.

Dies ist natürlich kaum präsent in der Öffentlichkeit, in den Medien, an der „zivilgesellschaftlichen“ Fassade, die ein verzerrtes Abbild der Realität schafft. Umso wichtiger ist es, sich nicht blenden zu lassen, die bürgerliche Realität zu hinterfragen und andere Blickwinkel zu gewinnen. Erst dann kann mensch das wahre Ausmaß von Migration und die Unmenschlichkeit der Behandlung von MigrantInnen erkennen. So wie dieses Thema in dem Diskurs in Medien und Politik behandelt wird, verkommen menschliche Schicksale zu abstrakten Problemfällen. Flüchtlinge sind eigentlich keine Menschen mehr, sie sind Probleme für „uns“. Sie nehmen „uns“ die Arbeit weg, sind für Kriminalität verantwortlich, Parasiten, Schmarotzer, zerstören „unsere Leitkultur“ usw. usf.. Sie werden nicht als nützlich angesehen, zerstören die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und „unsere“ Chancen im PISA-Bildungs-Ranking-Wahn. Dieser Diskurs muss aufgebrochen werden!

Grenzen zercampen!

Und dafür gibt es jedes Jahr verschiedene Grenzcamps in ganz Europa, organisiert vom NoBorder-Netzwerk. Dieses Jahr fanden Grenzcamps in Woomera (Australien), Straßburg (Frankreich), Imatra (Finnland), Nordostpolen und in Jena statt. In Straßburg trafen sich zwischen 1000 und 2000 Menschen von Flüchtlingsgruppen, den Sans Papiers (Ohne Pass), antirassistischen Gruppen und viele andere AktivistInnen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Finnland und Großbritannien, um sich über das Grenzregime, Überwachung, Rassismus, das Schengen Information System (SIS), die Situation von MigrantInnen etc. auszutauschen und dagegen aktiv zu werden.

Das SIS ist eine europaweite Datenbank um die EU vor MigrantInnen abzuschotten und Menschen, die gegen die kapitalistischen und staatlichen Zumutungen agieren, Menschen, die anders leben wollen, zu registrieren und Repression gegen Oppositionelle zu effektivieren. Die Ausreiseverbote zum EU-Gipfel in Göteborg und dem G8-Gipfel in Genua auf Basis des „Hooligan“-Gesetzes sind da nur ein Vorgeschmack. (mehr zum SIS auf S.20)

Keine Grenzen selbst organisieren

Ein wichtiger Aspekt dieser Camps, bzw. spreche ich jetzt nur für das Camp in Straßburg, ist es Selbstorganisation zu leben, auch jetzt schon, und dabei verschiedene Prinzipien und Wege auszuprobieren.. Dies beinhaltet natürlich auch die Möglichkeit des Scheiterns, vor allem dann, wenn man vergisst, daß man in einer Woche keine befreite Gesellschaft aufbauen kann, solch eine Struktur nie Selbstzweck sein darf und auch nicht künstlich aufgesetzt werden kann.

In Straßburg wurde das so gehandhabt, daß das Camp in verschieden „Barrios“ (Viertel) aufgeteilt war, die sich jeden Tag trafen. Anschließend wurden die Entscheidungen und Diskussionen per Delegierte zum „Interbarrial“ getragen um sich dort mit den anderen Barrios auszutauschen und die Entscheidungen und Positionen der anderen Barrios am nächsten Tag wieder zurück in die eigene Barrio-Versammlung zu bringen.

Der Sinn eines Grenzcamps ist in erster Linie der Austausch von MigrantInnen, Papierlosen, AktivistInnen von antirassistischen und anderen gesellschaftskritischen Zusammenhängen über Situationen, Strategien, Konzepte, Analysen, die Vermittlung von Inhalten an die Bevölkerung, die Motivierung der Menschen mitzukämpfen, sie für das Thema zu sensibilisieren. Natürlich gehört zum Campen auch Entspannung und Relaxen, auch den Streß der eigenen Zwänge (Arbeit, Schule, Studium,…) hinter sich zu lassen und über den Tellerrand der eigenen Szene zu schauen. Dies lässt sich allerdings besser erreichen, wenn die Toiletten und die Basisinfrastruktur schon stehen, wenn das Camp beginnt, wenn man nicht stundenlang Themen diskutieren muß, die sowieso nicht für alle bzw. abgekoppelt von den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen entscheidbar sind. (Hunde, Alkohol,…) Dadurch kamen inhaltliche Diskussionen zu kurz!

Künstlich war die Entscheidungsstruktur dadurch, daß einfach die Selbstorganisierung in Argentinien in Nachbarschaftsversammlungen (zur Regelung allgemeiner Belange, aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krise; und weil PolitikerInnen und den Institutionen nicht mehr vertraut wird) übernommen wurde, ohne darauf zu achten, daß ein einwöchiges Camp einer ganz anderer selbstorganisierten Struktur bedarf als eine längerfristige und größere und auch AfterWork Struktur wie in Argentinien. Es ist schon ein Unterschied, ob einmal die Woche drei Stunden „Plenum“ stattfindet oder jeden Tag von 9 bis 12. In Straßburg erschien mir die Organisierung teilweise als Selbstzweck…

Alles toll – alles scheiße – oder was?

Es gab auch gravierendere Schattenseiten auf dem Camp: das versuchte Besprayen einer Synagoge während der Demonstration am Mittwoch, das von anderen DemonstrantInnen glücklicherweise verhindert werden konnte. (Ich war selbst nicht zugegen, kann also nur auf Basis von mündlichen und Indymedia-Berichten erzählen. Aber es lässt sich durchaus festhalten, daß auch die Linke vor Antisemitismus nicht gefeit ist, … und Straßburger Juden in Verbindung mit israelischer Politik zu bringen und diese dann als Nazis zu bezeichnen, ist bzw. wäre antisemitisch).

Dabei sollte man aber doch vermeiden, das ganze Camp inklusive der unterschiedlichsten Menschen und Zusammenhänge in einen Topf zu werfen und abzuqualifizieren (wie z.B. in manchen Indymedia oder Jungle-World-Artikeln)! Ein solches Verhalten ist unerträglich, unterschlägt einfach den Prozesscharakter und ergötzt sich am scheinbaren Scheitern der Anderen, ohne Differenzierungen und Chancen denken zu können. Aber das trifft auch auf die andere Variante zu, wenn die Schattenseiten ignoriert werden. Natürlich ist es (in beiden Fällen) einfacher, ein weiteres Brett vor dem Kopf zu installieren.

Wer eine Veränderung der Verhältnisse in einem selbstbestimmten, emanzipatorischen Sinn bewirken will, Texte schreibt, Demos, Camps oder Veranstaltungen organisiert, kulturell aktiv ist, versucht hierarchiefreier zu leben, etc., sollte sich in einer beständigen Weiterentwicklung befinden. Das bedeutet auch positive und negative Seiten dieses Camps nicht gegeneinander auszupielen, sondern einen Lerneffekt hervorzubringen, damit nicht immer die gleichen Fehler wiederholt werden.

Für mich hat sich die Anwesenheit auf dem Camp durchaus gelohnt, für interessante Diskussionen und Informationen zu Migration und Staat, Arbeit und Migration, People’s Global Action, die Europäische Consulta. Auch Pink & Silver, die Sambagruppe, und die Radical Cheerleaders, die es am Samstag schafften die Bevölkerung der Straßburger Innenstadt für sich zu gewinnen, haben einen positiven Eindruck hinterlassen. Die Flyer wurden von der Bevölkerung im Übrigen überraschend positiv aufgenommen.

kater murr

Infos:
NoBorder-Netzwerk: www.noborder.or
Erklärung der No-Border-Gruppe Freiburg zu den Vorfällen auf dem Camp: www.de.indymedia.org/2002/08/27717.shtml
People’s Global Action: www.agp.org
Europäische Consulta: www.europäische-consulta.de
Argentinien: u.a. www.wildcat-www.de

Grenzenlos

The European Nightmare

Schengen Information System, repressive Asylpolitik und Kontrollstaat

Mit dem Abbau von Grenzkontrollen und freiem Reiseverkehr innerhalb der EU ist keineswegs ein neues liberales Zeitalter angebrochen. Im Gegenteil! Der Nationalstaat musste den Souveränitatsverlust über sein Territorium wieder ausgleichen. Er brauchte einen Ersatz für die stationären Grenzkontrollen. So wurden auf einem 30km-Grenzstreifen „Schleierfahndung“ und damit verdachtsunabhängige Kontrollen möglich. Des weiteren wurde engere polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit beschlossen und mit der Zunahme der technischen Möglichkeiten des Staates nahm und nimmt auch die Überwachung und Erfassung von Personendaten zu.

Dabei kommt dem Schengen Information System eine besondere Rolle zu. Bestehend aus der zentralen Komponente in Straßburg, von dem aus die Daten mit den nationalen Komponenten abgeglichen werden, ging das SIS am 1995 mit den Benelux, Frankreich, BRD, Spanien und Portugal ans Netz. 1997 kamen dann Österreich, Italien und Griechenland hinzu, 2001 Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island. Großbritannien und Irland wollen sich partiell beteiligen.

1998/89 erreichte das SIS ein Volumen von 8,6 Millionen Datensätzen, davon die meisten zu Eigentum (Autos, Banknoten, Waffen etc.) und 795.000 personenspezifische Daten übrig. Und hier zeigt sich das SIS als Instrument einer repressiven Migrations- und Asylpolitik: 88 % aller ausgeschriebenen Personen waren „DrittausländerInnen“, die abgeschoben oder an der Grenze zurückgewiesen werden sollen (Art.96 SDÜ). Dabei tut sich vor allem Deutschland hervor, das mit 350.000 nicht nur die größte Anzahl von Personendatensätzen, sondern auch mit 98% auch den höchsten Anzahl „Drittausländer“ speichern ließ. Daneben sind im SIS 8.600 Daten zur „Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung“ (Art.95 SDÜ), 37.000 zur Aufenthaltsermittlung von (nicht beschuldigten) Zeugen und Personen, die wegen geringerer Straftaten gesucht werden (Art.98 SDÜ), und 12.000 Personen, die polizeilich beobachtet werden sollen (Art.99 SDÜ). Die oben erwähnte Grenzpraxis wurde damit auf das ganze Inland ausgeweitet, denn es reicht nun das Vorhandensein eines Abfrageterminals und entsprechendes äußeres Aussehen (der rassistische Charakter fällt im Falle von MigrantInnen sofort ins Auge) um kontrolliert zu werden. Ein konkreter Verdacht ist nicht nötig.

Da das SIS ursprünglich nur für acht Länder ausgelegt war, wurde eine zweite Generation beschlossen. Und die soll nicht nur quantitativ, sondern auch inhaltlich anders werden. Die Speicherdauer von Daten nach Art. 96 (Zurückweisung/Abschiebung von Nicht-EU-Staatsangehörigen) und Art.99 SDÜ (polizeiliche Beobachtung) soll verlängert werden. Bisher waren das drei bzw. ein Jahr. Bei letzterem muss im übrigen kein Beweis für kriminelle Tätigkeiten vorliegen, es reicht der Verdacht auf zukünftiges Verhalten.

Des weiteren sollen Datensätze verknüpft werden z.B Personen mit Autos, oder ganze Personengruppen, so daß der Computer gleich eine ganze Fülle von Daten ausspuckt und Beziehungen zwischen Personen nachvollzogen werden können – eine Rasterfahndung auf europäischer Ebene. Bisher waren die Datensätze auf Fahndungszweck, ausschreibende Stelle und allenfalls Merkmale wie „bewaffnet“ beschränkt. Auch das soll anders werden. „Identifikationsmaterial“ über die betreffende Person kommen hinzu: Fotos, Fingerabdrücke, DNA-Profile, biometrischeDaten. (Da passt es doch daß die Mitgliedstaaten 1997 aufgefordert wurden kompatible DNA-Datenbanken aufzubauen und ein EU-weites Fingerabdrucksystem im Aufbau ist.)

Doch auch der 11.September ist nicht spurlos am SIS vorbeigegangen: Die EU plant den Ausbau des Informationssystems um neue Funktionen. Es soll eine Art europaweiter „Hooligan“-Datenbank angelegt werden. „Gewalttätige Unruhestifter“ sollen gegebenenfalls von Reisen in bestimmte Gegenden abgehalten werden. Eine „Demonstranten-Datenbank“ soll ausgegebene und verweigerte Visa führen. Des weiteren soll das SIS eine Terroristen-Datenbank (auf die auch der Inlandsgeheimdienst zugreifen können soll) führen und eine neue Kategorie für „Leute, die daran gehindert werden, den Schengen-Raum zu verlassen“

Neben Europol (EU-Polizei) und Eurojust (EU-Justiz) sollen „auch Behörden, die für Asylbewerber […], sowie Einwohnermeldeämter, die für die Ausgabe von Identitätsausweisen zuständig sind, […] auf SIS II zugreifen können, genauso wie auch Kraftfahrzeugämter und Kreditanstalten im Zuge der grenzüberschreitenden Betrugsbekämpfung.“ (www.heise.de)

kater murr

SDÜ = Schengener Durchführungsübereinkommen
Quellen: www.cilip.de, www.heise.de, www.noborder.org

Grenzenlos

Auftakt der „Freedom of Movement…“:

Aufruf zur Tour gegen Abschiebung und Ausgrenzung

Intro:

Jedes Jahr werden in Deutschland annähernd 50.000 Menschen durch den BGS abgeschoben. Die regressive Asylpolitik wird europaweit angeglichen. Europa ist schon jetzt eine Festung, deren Außengrenzen für Flüchtlinge immer schwerer zu überwinden sind. Menschen sterben beim Versuch, diese Grenzen zu überwinden und schaffen sie es doch, so droht ihnen in den Staaten der Europäischen Union und somit auch in der BRD, ein langjähriger Aufenthalt in Ungewissheit um die Zukunft, immer häufiger werden Flüchtlinge dazu in Abschiebelagern interniert.

Ursachen:

Die Wurzel dieses staatlichen Rassismus liegt in der kapitalistischen Verwertungslogik. Menschen werden in erster Linie nach ihrem kapitalistischen Nutzen beurteilt. Während z.B. hochqualifizierte IT-Spezia­list­Innen willkommen sind, sind nicht so gut ausgebildete Menschen in der Regel unerwünscht. Eine wesentliche Ursache für das Elend in den Heimatländern vieler Flüchtlinge stellen die Machenschaften der Industrienationen dar. Die Wirtschaftspolitik der führenden Wirtschaftsmächte ist es, welche Armut forciert. Und Armut ist es, welche als Krisenpotential Nummer Eins einen ganzen Rattenschwanz negativer Folgewirkungen hinter sich herzieht (Hunger, militärische Konflikte, mangelnde Bildung, Krankheiten, Vertreibung, etc.).

Globale Wirtschaftspolitik verläuft nach einseitigem Interesse. In Europa z.B. werden Agrarmärkte milliardenschwer subventioniert, damit diesbezügliche Produkte auf dem Weltmarkt einen Vorteil gegenüber Waren aus der „3. Welt“ haben. Gegenüber bestimmten Gütern (z.B. Textilien) werden von den Industrienationen so horrende Zölle erhoben, dass eine Einfuhr aus den „3. Welt-Ländern“ kaum möglich ist. Im Gegenzug jedoch werden Trikont­ländern­ harte Strafen und Kreditkürzungen angedroht, öffnen sie ihre Grenzen nicht für Waren bzw. Konzerne aus den Industrienationen.

Wenn Menschen unter diesen Zuständen leiden und ihr natürliches Recht in Anspruch nehmen und der Misere entfliehen wollen, sind die Außengrenzen Europas dicht. Ausbeutung ja, Einreise nein, lautet das Motto, und es ist Teil der ungerechten Weltwirtschaftsordnung. Stattdessen müssen globale Lebensbedingungen entwickelt werden, die einen gerecht verteilten Wohlstand überall auf der Welt schaffen. Nur dann wird es keine Grenzen mehr geben, die den reichen Teil der Welt gegen den armen Teil abschotten.

Es gibt keine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen

Dass Menschen aus Gründen politischer oder religiöser Verfolgung bzw. aufgrund militärischer Konflikte fliehen, ist auf den ersten Blick auch nach deutschem Asylrecht selbstverständlich. Aber auch jede Flucht, die wegen fehlender Lebensperspektive aufgrund von Armut und Hunger geschieht, ist aus den vorgenannten Gründen politisch. Armut offenbart keine Perspektiven, Armut tötet, und doch werden diese Menschen abgewiesen, es wird das Scheinargument der Flucht aus „wirtschaftlichen Gründen“ geschaffen, mit dem die Flüchtlinge in Europa und somit auch in der BRD kein Recht auf Asyl erlangen.

Die Schwächsten der Schwachen werden als „Schmarotzer“ tituliert, welche unsere Gesellschaft ausnutzen wollen. Vor dem Hintergrund des tagtäglichen Gejammers über die Zukunfts- und Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland erscheint es vielen Menschen als ganz normal, ja sogar als positiv, wenn restriktive Regelungen für Menschen nicht-deutscher Herkunft verabschiedet werden. Diese Politik ist in hohem Maße rassistisch, sie entsolidarisiert die Menschen verschiedener Nationen. Sie führt dazu, dass Menschen ausländischer Herkunft als „gesellschaftsschädlich“ bezeichnet werden können, als Menschen, die den eigenen Wohlstand gefährden.

Situation

Nur die wenigsten Flüchtlinge erreichen überhaupt die Außengrenzen Europas. Die meisten Flüchtlinge weltweit bewegen sich in den armen Ländern der Welt. Es sind die ärmsten Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Vor allem Frauen mit Kindern haben kaum eine Chance, die reichen Länder zu erreichen. Niemand begibt sich freiwillig auf die Flucht. Jedem Menschen fällt es schwer, die angestammte Heimat, die Familien, die eigene Kultur zu verlassen. Aber auch die wenigen, die es tatsächlich schaffen, die Außengrenzen Europas zu überwinden, haben es nicht leicht. Sie leiden unter staatlich unterstützter gesellschaftlicher Frem­den­feindlichkeit und haben, solange über ihren Asylantrag beschieden wird (was schon mal einige Jahre bis Jahrzehnte dauern kann), kein Recht auf Arbeit oder auf Bewegungsfreiheit. Durch die sogenannte Residenz­pflicht der BRD, welche einzigartig in Europa ist, müssen Flüchtlinge, deren Asylantrag läuft, eine Genehmigung beantragen, wenn sie ihren Landkreis verlassen wollen. Diese Genehmigung wird oftmals nicht erteilt. Wird gegen diese Residenzpflicht verstoßen, drohen Geld- oder Gefängnisstrafen, bis hin zur Ausweisung. Die Flüchtlinge hierzulande sehen sich rassistischen Verfolgungen der Behörden ausgesetzt. Die BRD wurde bereits mehrere Male vom Europarat und den Vereinten Nationen wegen Polizeibrutalität kritisiert. Rassistische Polizeigewalt ist hierzulande alles andere als eine Ausnahme. Die bekannten Übergriffe haben zu unterschiedlich schweren Verletzungen bis hin zu Todesfällen geführt. Am bekanntesten ist in der Öffentlichkeit der Fall von Aamir Ageeb, der bei seiner Abschiebung durch BGS-Beamte zu Tode kam.

Die materiellen Möglichkeiten der Flüchtlinge in der BRD sind minimal. Das den Flüchtlingen zur Verfügung stehende Geld liegt weit unter dem Sozialhilfesatz. Oftmals erfolgt eine Auszahlung sogar nur in Form von Gutscheinen oder Naturalien (bis auf ein sehr geringes „Taschengeld“), was den Flüchtlingen sogar die Autonomie nimmt, ihre Lebensmittel selber auszusuchen.

Sich einen Anwalt zu nehmen, ist aus Kostengründen für AsylbewerberInnen auf herkömmlichem Wege unmöglich, der dringend benötigte Rechtsbeistand kann somit in der Regel nicht erfolgen.

Die Unterkunftsmöglichkeiten in den Flüchtlingslagern sind katastrophal, nicht selten teilen sich sechs oder mehr Leute über Jahre ein Zimmer. Noch wird von der Möglichkeit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen in den Städten und Gemeinden Gebrauch gemacht, allerdings immer weniger, obwohl diese Art der Unterbringung kostengünstiger ist, als der Betrieb von Lagern. In Niedersachsen z.B. ist angestrebt, Flüchtlinge nur noch in Lager unterzubringen. Und das hat einen politischen Hintergrund: Die Lager werden bewusst weit von der einheimischen Bevölkerung eingerichtet, ein Kontakt soll nicht stattfinden, Flüchtlinge sollen am Leben hier nicht teilhaben können. Und zu oft haben solche Kontakte zu Bleiberechtskampagnen geführt, denn auch hier gibt es immer noch genug Menschen, die, wenn sie erst mal die Geschichte der Flucht gehört haben, nicht einsehen können, warum ihre Nachbarn in Hunger, Folter oder Tod abgeschoben werden sollen.

Ja … und wenn dann, wie in den meisten Fällen üblich, negativ über den Asylantrag beschieden wird, droht die sofortige Zwangsausreise oder bis zu deren Vollstreckung die Haftunterbringung in einem Abschiebeknast. Diese „Sicherungshaft“ kann sich über ein halbes Jahr hinziehen. Der psychische Druck, welcher auf den Flüchtlingen lastet, ist enorm, drohen doch in ihren Heimatländern oftmals Folter, Tod oder Krieg, mit Sicherheit aber Perspektivlosigkeit. Die katastrophale menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge führt immer wieder zu Suizidversuchen.

Aber nicht alle Flüchtlinge können trotz nicht gewährtem Asyl abgeschoben werden und müssen aus den verschiedensten Gründen „geduldet“ werden. Gerade diese Menschen sollen mehr und mehr in Deutschland und in ganz Europa in Abschiebelagern interniert werden. Damit schließt sich die Lücke im System von nicht gewährter Einreise und Abschiebung. In Deutschland erhalten diese Lager ihre gesetzliche Grundlage als sog. „Ausreiseeinrichtungen“ im neuen „Zuwanderungsgesetz“. Anders als in den Abschiebeknästen kann die Aufenthaltsdauer in den Lagern unbegrenzt sein. Die Flüchtlinge werden massiv unter Druck gesetzt, aktiv bei ihrer Deportation mitzuhelfen (z.B. durch Beschaffung von Ausreiseunterlagen). Tun sie das nicht, werden ihnen auch noch die letzten Rechte verweigert, sie haben nur noch die Wahl zwischen einem unbegrenzten Aufenthalt im Lager mit nur drei Mahlzeiten am Tag oder der Ausreise. Immer mehr Flüchtlinge begegnen dem, indem sie in die Illegalität untertauchen, was durchaus auch politisch gewollt ist.

Situation im Abschiebelager Bramsche-Hesepe

Das Abschiebelager in Bramsche-Hesepe ist, im westlichen Niedersachsen liegend, nicht nur ein Eckpfeiler dieser Politik, es hat darüber hinaus Modellcharakter für das, was an menschunwürdiger Unterbringung möglich ist. Die Situation in Bramsche-Hesepe ist, wie in vielen anderen Lagern auch, miserabel. Das Lager befindet sich gänzlich abgelegen von der einheimischen Bevölkerung, zu der ein Kontakt kaum möglich und nicht erwünscht ist. Auch die ca. 50 Kinder, die in dem Lager untergebracht sind, sollen das Lager noch nicht einmal für den Schulbesuch verlassen, dafür wurde nun eine Lagerschule eingerichtet. Die medizinische Versorgung der MigrantInnen ist mangelhaft. Die oftmals durch Folter und Krieg stark traumatisierten Flüchtlinge erhalten in der Regel keine psychologische Betreuung, und auch andere Facharztbesuche sind erst nach langen Auseinandersetzungen möglich.

Bei der Verpflegung wird kaum Rücksicht auf kulturelle Vorlieben bzw. Abneigungen genommen. Die Unterbringung ist katastrophal, ein 16 qm Zimmer müssen sich bis zu vier Personen oder ganze Familien teilen, eine Privatsphäre ist somit nicht möglich.

Eine Rechtsberatung sieht das Konzept des Lagers nicht vor. Stattdessen gibt es die sog. „Rückkehrberatung“. Entscheidend dabei ist, daß es sich bei den in Bramsche-Hesepe untergebrachten Flüchtlingen keineswegs um abgelehnte AsylbewerberInnen handelt, die „ausreisepflichtig“ sind. Fast alle Flüchtlinge haben erst kurz vor der Einweisung in das Lager ihren Asylantrag gestellt. Die Einweisung findet ausschließlich aufgrund der „Prognoseaussage des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ statt, die allein aufgrund der Herkunftsländer „keine Perspektive für einen dauerhaften Aufenthalt“ erkennt. Mit dieser Praxis wird selbst der letzte Rest des deutschen Asylrechts ausgehebelt, das immerhin nach seinem Text eine individuelle Prüfung der Asylgründe vorsieht.

Mit 550 Insassen als größtes Abschiebelager Europas ist dieses Lager ein zentraler Baustein in der rassistischen und repressiven Ausländerpolitik der BRD. Deshalb ist es besonders wichtig auch in der Abgelegenheit des ländlichen Raumes gegen diese Politik vorzugehen und sich zahlreich an der Auftaktdemonstration und den Camps – besonders auch in Bramsche-Hesepe – der „Anti-Lager-Action– Tour“ zu beteiligen.

Wir wenden uns entschieden gegen das Universum der Lager und Knäste in der BRD und in Europa, das Ausdruck einer Politik sozialer Ausgrenzung ist.

Abschaffung der rassistischen Sondergesetze, wie z.B. der Residenzpflicht!

Schließung der Lager und Abschiebeknäste und selbstbestimmte, menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge!

Uneingeschränktes Recht auf Asyl und Teilnahme am Leben in Deutschland, dazu gehört neben dem Recht auf Arbeit auch das Recht auf Bildung!

(…)

Für Freizügigkeit und Selbstbestimmung überall!

Hoch die internationale Solidarität!

Avanti! e.V. Osnabrück, Karawanegruppe Osnabrück, LiVe (Linkes Vechta) im Juni 2004

Daten: Widerstandscamp bei Bramsche-Hesepe im Rahmen der Anti-Lager-Action-Tour Bundesweite Auftaktdemo: 21.8.2004, 12.00 Uhr , Bahnhof Bramsche-Hesepe

Internet: www.camp-bramsche.de.vu

Bewegung

Von Sündenböcken in Jägerkasernen

Die Geschichte eines Gerüchtes

Als die EU am 19. Dezember 2009 den Visumzwang für Mazedonien, Serbien und Montenegro aufhob, war dort die Freude groß: Bis zu 90 Tage sollten sich Angehörige dieser Staaten nun legal innerhalb der EU-Schengengrenzen aufhalten dürfen. Was dann geschah, war vorherzusehen. Tausende von Menschen wechselten aus rechtlicher Perspektive von einem legalen Status in den anderen und beantragten vor Ablauf ihres Touristenvisums Asyl. Denn zu Hause war ein hartnäckiges Gerücht im Umlauf: Wer im Besitz eines biometrischen Passes sei, hieß es, könne nach Westeuropa auswandern. In Belgien oder in den skandinavischen Staaten erhalte man sogar Asyl. Für Angehörige von Minderheiten wie mazedonischen Roma oder Albanern, die unter struktureller Arbeits- und Perspektivlosigkeit leiden, ein verlockendes Angebot.

545 Menschen sollen es laut dem Medienservice allein in Sachsen gewesen sein, die in den ersten neun Monaten nach Abschaffung des Visumzwangs Anträge auf Asyl gestellt haben, im Vergleich zu insgesamt 45 im Jahr 2009. Der Spiegel schrieb von einer „Asylbewerberwelle“, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) von einem „offenkundigen Missbrauch“ des Asylrechts. Sachsens damaliger Innen- und amtierender Staatsminister Markus Ulbig (CDU) wetterte: „Wer missbräuchlich Asyl beantragt, schadet denen, die unseren Schutz brauchen. Hier muss der Staat reagieren.“ Der Staat reagierte wie ein autoritärer Vater, der nicht weiß wie er seine undisziplinierten Kinder, bestrafen soll, indem er bereits im vergangenen Oktober die finanziellen Rückkehrhilfen strich – 400 Euro pro erwachsenen Asylsuchenden aus Serbien und Mazedonien, der „freiwillig“ das Land verlässt. Schließ­lich sei nicht auszuschließen, verlautete in sächsischen Regierungskreisen, dass die Asyl­be­werberInnen nur gekommen wären, um das Geld abzugreifen.

Das Argument hatte schon jemand anderes salonfähig gemacht: Sarkozy, während der massiven Abschiebungen von Roma aus Frankreich. Für den Staat ist die freiwillige Rückkehr billiger als Abschiebungen. Und sie werfen in den Statistiken für die EU und die Internationale Organisation für Migration (IOM) ein wärmeres Licht auf die im internationalen Kontext als repressiv bekannte Ausländerpolitik in Deutschland.

In einer Pressemitteilung vom September 2009, beklagte die Landesdirektion Sachsen eine „punktuelle Belastung“ speziell durch Asylbewerbern aus Mazedonien, deren Unterbringung sich immer schwerer gestalte. Man arbeite an Lösungen, hieß es weiter. Trotz des überproportionalen Gebäude-Leerstandes in Sachsen, sind es oft ehemals militärische Gebäude, die dann zur Unterbringung der Flüchtlinge umfunktioniert werden. Wie in Schneeberg im Erzgebirge, wo die mazedonischen Flüchtlinge im Zuge der „Migrationswelle“ in einer Jägerkaserne untergebracht wurden. Noch vor ihrer Einquartierung heizte Bürgermeister Frieder Stimpel (CDU) die Stimmung in der Regionalpresse an. Ein Anstieg von Diebstählen im Ort sei nicht auszuschließen. Zudem sei eine Erstaufnahmeeinrichtung in Schneeberg „nicht gerade förderlich, wenn ich dort Gewerbe ansiedeln will“. Die Gefahr in Verzug durch die eingereisten „Nichtdeutschen“, wie „Ausländer“ im Kriminalistik-Slang genannt werden, sieht auch der neue Eigentümer der Jägerkaserne Gustav Struck, Bruder des ehemaligen deutschen Ver­tei­di­gungs­ministers Peter Struck (SPD). Auch er könne nicht ausschließen, dass die Vermarktung des Geländes durch die Unterbringung von Asylbewerbern erschwert werde.

Die Landesdirektion Chemnitz bemühte sich, die mazedonischen Familien zur „Zurücknahme der Asylanträge und zur freiwilligen Ausreise“ zu bewegen. Im November fuhren schließlich zwei mit Flüchtlingen gefüllte Reisebusse von Sachsen nach Mazedonien.

Auch in Leipzig ist die Überredung zur freiwilligen Ausreise bereits übliche Praxis geworden. Im Flücht­lings­heim in Grünau, werden speziell mazedonische Roma-Familien, die das Einver­ständ­­nis ihrer freiwilligen Ausreise unterschreiben sollen, von Behörden-Ver­tre­ter­Innen aufgesucht. Für Lunchpakete werde gesorgt.

Auch auf europäischer Ebene wurden Maßnahmen getroffen. Brüssel ermahnte die mazedonischen Behörden. Das zeigte bereits Wirkung, denn diese schlossen im März mehrere Reiseagenturen, die Ausreisewillige nach Westeuropa transportiert haben sollen. Eines der betroffenen Busunternehmen in der Hauptstadt Skopje gehörte der Familie eines Abgeordneten, der die Roma im mazedonischen Parlament vertritt. Währenddessen wird in Skopje ein architektonisches Prestige-Projekt geplant: bis 2014 sollen Denkmäler und repräsentative Bauten im Zentrum von Skopje für 80 Millionen Euro saniert werden. Gelder für ökonomisch rückständige Gebiete wie die, in denen Roma leben, werden indes nicht locker gemacht. Derlei Unsinnigkeit und vermeintliche Widersprüchlichkeit erlebt man aber auch in Leipzig. Denn die MigrantInnen sind nicht willkommen, obgleich es doch laut dem Amt für Statistik und Wahlen der Stadt, „überdurchschnittlich Migran­ten­familien unterschiedlichster Herkunft [sind], die durch Kinderreichtum dafür sorgen, dass die Geburtenraten in Leipzig in den letzten Jahren beständig über bundesdeutschem Durchschnitt lagen.“

Fortsetzung zu den Leipziger Verhältnissen folgt.

Clara Fall

Lokales

Marokko: Menschenrechtsverletzungen im Namen des EU-Grenzregimes

Wenig mehr als ein Jahr nach dem Sturm von TransitmigrantInnen auf die spa­nischen Enklaven Ceuta und Melilla im Oktober 2005, als mindestens 11 Men­schen zu Tode kamen und Massen­ab­schiebungen in die Wüste stattfanden, sowie sechs Monate nach der Euro-afrikanischen Regierungskonferenz „Mi­gra­tion und Entwicklung“ in Rabat bewies die marokkanische Regierung erneut, wie sie ihre Rolle als Grenzwächter Europas wahrnimmt und dabei selbst die von ihr unterzeichneten Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen sowie marok­kanische Gesetze mit Füßen tritt. Über 500 Menschen schwarzer Hautfarbe wurden seit dem 23.12.06 bei Razzien festgenommen und an der algerischen Grenze ausgesetzt. Die marokkanische Regierung erhofft sich von der EU Visaerleichterungen für einige ihrer BürgerInnen, wenn sie sich als Hilfs­polizist der EU betätigt und die Transit­migrantInnen abschiebt, statt sie in die EU einreisen zu lassen. Aber es gibt auch Widerstand gegen diese Politik, der unsere Unterstützung braucht.

Hintergründe der Versuche erneuter Massenabschiebungen aus Marokko

Auch nach den Massenabschiebungen im Herbst 2005 befinden sich noch mindes­tens 10.000 Flüchtlinge und Migrant­Innen aus Subsahara-Afrika in Marokko, die meisten von ihnen ohne einen recht­lich anerkannten Status. Einige, vor allem Flücht­linge aus der De­mo­kra­tischen Republik Kongo und der Elfen­bein­küste, ha­­ben beim UNHCR Asyl be­an­tragt und z.T. auch eine Anerkennung durch ihn be­kommen, nicht jedoch Auf­ent­halts­papiere von den marok­kanischen Behörden. Sie leben ohne juristische Ab­sicherung, politische Rechte und soziale Versorgung vor allem in den Ar­beiter­vierteln der großen Städte und in den Wäldern rund um Ceuta und Melilla. Die provisorischen Lager dort wurden allerdings von den Sicherheits­kräf­ten weitgehend zerstört. Nach inter­na­tionalen Protesten gegen die Aus­setzungen in der Wüste und aufgrund der Schwierig­kei­ten, Her­kunfts­länder zur Rück­über­nahme zu bewegen, fanden eine Zeitlang keine Massen­ab­schiebungen aus Marokko mehr statt.

Dies änderte sich im Dezember 2006, und über die (Hinter-)Gründe kann nur spe­ku­liert werden: Ein Grund ist wahr­schein­lich der Druck, von der EU bis zum Jahresende für Abschiebungen zur Ver­fügung gestelltes Geld noch auszugeben. Die Wahl des Zeitpunkts um das christ­liche Weihnachts­fest herum hatte sicher da­mit zu tun, dass dann die meisten Büros so­­wohl des UNHCR als auch inter­na­tio­naler Menschenrechts­organisationen und Me­­dien geschlossen haben und so Proteste aus­­bleiben würden. Evtl. ging es aber auch um eine gezielte Beleidigung und Schi­kane der überwiegend christlichen Flücht­linge aus Subsahara-Afrika, als Ausdruck einer re­aktionären islamistisch-rassis­tischen Kam­pagne, die in Marokko gegen be­stimmte MigrantInnen geführt wird. An­dererseits fielen die Tage um Silvester in diesem Jahr mit einem mos­lemischen Fest zu­sammen, so dass auch Mitglieder marokkanischer Organisationen in Urlaub wa­ren. Ein weiterer Grund für die Re­gierung, noch vor Jahresbeginn 2007 mit spektakulären Aktionen gegen so­ge­nannte „illegale Migration“ ihre Kooperations­bereitschaft zu zeigen, waren anstehende Verhandlungen mit der EU über Ein­wanderungskontingente für Marok­kaner­Innen als benötigte Billigarbeitskräfte, z.B. in Spanien.

Die Ereignisse seit Weihnachten 2008

Seit dem 23. Dezember 2006 wurden in Marokko über 500 Personen, die aus Ländern südlich der Sahara stammen, bei Razzien durch Sicherheitskräfte fest­genommen, zunächst in Rabat, dann in Nador (bei Melilla), Lâayoune (West­sahara) und Ende Januar in Casablanca. Dabei wurde nicht beachtet, ob sie eine Auf­ent­halts­erlaubnis oder Flücht­lings­papiere vom UNHCR besitzen, ob sie schwanger, krank oder behindert sind. Ihr einziges „Vergehen“: ihre schwarze Hautfarbe. Alle wurden am frühen Morgen aus den Betten gerissen, in Busse gesetzt und nach kurzem Aufenthalt im Polizeikommissariat in Oujda in ein Wüstengebiet an der algerischen Grenze (die offiziell geschlossen ist) gefahren, mitten in der Nacht bei Tempera­turen um die 0 Grad dort ausgesetzt und mit Schüssen ge­zwungen, Marokko zu ver­lassen. Algerien vertrieb die MigrantInnen seinerseits mit Schüssen.

Vierzehn Tage nach Beginn dieser Ver­haftungen war es ca. 200 Personen gelungen, nach Oujda zurückzukehren, wo Menschen­rechts- und Flüchtlings­organisationen ein provisorisches Camp errichtet haben, das inzwischen aber mehrfach von der Polizei zerstört wurde. Nach Zeugenaussagen der an der Grenze abgesetzten MigrantInnen wurden den meisten von ihnen ihre Wertsachen abgenommen (Handys, Geld) und vielen ebenso ihre Pässe (Personal­aus­weise und Bescheinigungen des UNHCR). Einige von ihnen wurden gewaltsam angegriffen und Frauen Opfer von Ver­gewaltigungen. Viele sind körperlich sehr schwach, eine Frau aus der Republik Kongo, im fünften Monat schwanger, verlor ihr Baby. Busunternehmen und Taxifahrer weiger­ten sich, Schwarze mitzunehmen, so dass sie sich nur zu Fuß fortbewegen konnten.

Die zwiespältige Rolle des UNHCR

Erst durch (späte) Intervention des UNHCR schafften es einige als Flücht­linge oder AsylbewerberInnen re­gis­trierten Personen, wieder in ihre Wohn­orte zurück zu gelangen. Mehrere von ihnen sind jedoch erneut von Razzien betroffen. Die Regierung behauptet, es seien keine AsylbewerberInnen und anerkannten Flüchtlinge unter den Ver­hafteten. Die von der Polizei eingezogenen bzw. zerrissenen UNHCR-Papiere seien gefälscht. Der UNHCR ist nicht in der Lage, die bei ihm registrierten Flüchtlinge zu schützen. Er wird von der EU unter Druck gesetzt, die Politik der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitzutragen und dient mehr und mehr als Alibi für diese Politik. Von der marokkanischen Re­gierung, die seinen Status nicht voll anerkannt hat, wurde dem UNHCR-Repräsentanten vorgeworfen, im Herbst 2005 eine Presseerklärung herausgegeben zu haben, dass er keinen Zugang habe zu den am Zaun von Ceuta und Melilla festgenommenen registrierten Flücht­lingen (die es nach Behauptungen der Regierung auch dort nicht gab), und auf Druck aus der UNHCR-Zentrale in Genf musste er sich dafür entschuldigen. Anfang Januar gab es Gespräche des UNHCR-Vertreters mit der marok­kanischen Re­gierung, in denen vom UNHCR u.a. zugesichert wurde, fäl­schungs­sichere Flüchtlingsausweise her­aus­zugeben, Ab­kommen mit der Re­gierung über die Registrierung der Flüchtlinge zu treffen und Proteste nicht mehr öffentlich zu äußern.

Regierungspositionen und Rechtlosigkeit der Migranten

Die marokkanischen Behörden stellten die Razzien als Maßnahmen auf Grundlage der Beschlüsse der Regierungskonferenz zum Thema Migration dar, die am 10. und 11. Juli 2006 in Rabat stattfand. Da sie keinerlei Interesse haben, trotz Un­ter­zeichnung der Genfer Flüchtlings­konven­tion und der Konvention über den Schutz der Wander­arbeiter und ihrer Familien durch die marokkanische Re­gierung sowie Ve­r­abschiedung eines entsprechenden na­tio­nalen Gesetzes (02/03), menschen­würdige Aufnahme- und Lebensbe­ding­ungen für Flüchtlinge und MigrantInnen zu schaffen, wird einfach geleugnet, dass es schutz­bedürftige Personen gibt. Men­schen­rechts- und Flüchtlings­organisa­tionen sollten bei der Sortierung in „gute“ und „schlechte“ MigrantInnen mitwirken, weigerten sich aber, dies zu tun und forderten stattdessen eine menschen­wür­dige Behandlung aller MigrantInnen, was z.B. das Recht auf Wohnung, Arbeitssuche und gesundheit­liche Versorgung ein­schließt. All diese Rechte werden Migrant­Innen aus dem sub­saha­rischen Afrika in Marokko ver­weigert. Sie sind gezwungen, in Ab­bruch­häusern oder auf der Straße zu schlafen, zu betteln, im Müll nach Nahrungsmitteln zu suchen und/oder sich zu prostituieren, um zu überleben.

Widerstand

Auf der euro-afrikanischen NGO-Kon­ferenz „Mi­grationen, Grundrechte und Be­­­we­gungs­­freiheit“, zu der sich am 30.6./1.7.06 mehr als 150 VertreterInnen von Flüchtlings- und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen aus Europa, Subsahara- und Nord­afrika bei Rabat trafen, stellten Flüchtlinge und MigrantInnen ihre Si­tua­tion dar, es wurde über die EU-Mi­gra­tionspolitik diskutiert und ein Manifest mit gemeinsamen For­­derungen ver­ab­schie­det (siehe Bericht auf www.fluecht­lingsrat-hamburg.de unter dem Kon­ferenzdatum). Be­wegungs­­frei­heit wurde als Grundrecht und Vor­aussetzung zur Wahr­neh­mung anderer Grund­rech­te de­fi­niert. Eine Kund­ge­bung vor dem Par­la­ments­ge­bäude, in dem eine Woche spä­ter die Re­gierungs­kon­ferenz statt­fand, wurde or­ga­ni­siert. Ein „Nachfolge-Ko­mi­tee“ (co­mi­té de suivi) und eine E-Mail­liste wurden ein­ge­richtet, über die seitdem ein Infor­ma­tions­aus­tausch und die Ko­ordi­nierung von Aktivitäten, u.a. zum trans­nationalen Aktionstag am 7.10.06 und zum Weltsozialforum Ende Januar 2007 in Nairobi, laufen. Auch die Unter­stützung der von den Razzien und Abschiebungen be­troffenen Migrant­Innen und die Herstellung internationaler Öffentlichkeit darüber wurden erst durch diese Vernetzung möglich.

Am 22.1.07 fand im Unterausschuss für Menschenrechte des EU-Parlaments ein Hearing zu den Vorgängen in Marokko statt. Der ausführliche Bericht dafür ist auf terra.rezo.net/IMG/doc/VALLUY060107.doc nachzulesen (leider nur auf Französisch). Weitere Berichte und Dokumente, auch auf Deutsch, sind auf der oben angegebenen Website des Flücht­lingsrats Hamburg (unter dem Datum 23.12.06) zu finden.

Die aktiven Menschenrechts- und Flücht­lingsorganisationen in Marokko, die durch die dortige Regierung ständig über­wacht und von Festnahmen und Ent­führungen bedroht sind und kaum über finanzielle Mittel verfügen, benötigen dringend unsere Unterstützung und haben dafür auf einer Versammlung am 4.1.07 in Rabat einen Offenen Brief ver­ab­schiedet, der ebenfalls auf unserer Home­page steht und verbreitet werden sollte.

Conni Gunßer

Flüchtlingsrat Hamburg

(Der Artikel basiert auf Berichten von AktivistInnen aus Marokko)

Migration

Lager schließen, Abschiebungen stoppen!

Vom 17. bis 19. November 2010 fand in Hamburg wieder die alljährliche Innenministerkonferenz (IMK) statt. Auf der Tagesordnung standen u.a. auch flüchtlings- und migrationspolitische Themen, wie „Aufent­halts­recht für integrierte Kinder und Jugendliche“ und „Maßnahmen zur Förderung der Integration“, aber auch „Sanktionierung integra­tionswidrigen Verhaltens“.

Seit dem 13. November gab es dagegen Demonstrationen und vielfältige Proteste, die sich gegen den Ausbau der Polizei, gegen Sicher­heits­wahn, Repression, Ausgrenzung und eine zunehmend autoritär formierte Gesellschaft richten, aber auch gegen die rassistische Migra­tions- und Flüchtlingspolitik Deutschlands.

Zeitgleich zur IMK veranstalteten bspw. die Jugendlichen ohne Grenzen (JOG)* wie jedes Jahr eine eigene Konferenz zum Thema „Abschiebung“ und initiierten zum Auftakt am 17.11. eine Demonstration unter dem Motto „I love Bleiberecht“, mit der Forderung nach einem bedingungslosen Bleiberecht. Obwohl überwiegend Kinder, Jugendliche und Familien daran teilnahmen, wurde die Demonstration diesmal von massiver Polizeipräsenz begleitet. Demonstrations­teil­­nehmer_innen konnten dadurch kaum mit der Öffentlichkeit Kontakt aufnehmen, um wie sonst Fragen zum Thema zu beantworten.

Am 18. November kürten die Jugendlichen ohne Grenzen dann im Rahmen einer Gala den Bundesinnenmini­ster Lothar de Maizière zum Abschiebeminister 2010. Diesen Preis als inhumanster Innenminister, den die JOG seit 2006 verleiht, erhielt de Maizière für seine Politik der Abschiebungen ins Drittland Griechenland trotz der katastrophalen Lage von Flücht­lingen dort. Mit 98 Stimmen setzte er sich deutlich gegen den Innenminister von Niedersachsen Uwe Schünemann (58 Stimmen) und den bayrischen Innenminister Joachim Hermann (42 Stimmen) durch. Als Preis erhielt er einen Abschiebekoffer mit Utensilien, die er für eine Abschiebung braucht, einen Forderungskatalog der JOG und Geschichten, die Schicksale von Abgeschobenen schildern. Den Preis nahm der Abschiebeminister jedoch nicht selber ent­gegen, sondern schickte einen Mitarbeiter vor. Nicht zu schämen brauchten sich dagegen die Gewinner der drei Initiativpreise, die jedes Jahr an Schulen, Initiativen und Menschen verliehen werden, welche sich gegen Abschiebungen einsetzen.

Zu den Verleihungen fand wie in den vergan­genen Jahren auch eine Aufführung des GRIPS-Theaters aus Berlin statt. Das neue Stück, das den gleichen Titel wie die neu gestartete Kampagne der JOG „SOS for human rights“ trug, handelt von drei Menschen, die sich auf den langen Weg nach Europa machen. Dabei wird die Situation in den Heimatländern gezeigt und die Gefahren, die sie auf dem Weg nach Europa z. B. mit Frontex durchzustehen haben.

Abschiebelager in Möhlau

In Sachsen-Anhalt jedenfalls scheint sich der verantwortliche Innenminister Holger Hövelmann für den Preis als Abschiebeminister 2011 zu bewerben. Seit Jahren erklärt das Innenministerium, dass Flücht­lingsfamilien in „normalen“ Wohnungen untergebracht werden sollen. Ob sich die Ausländerbehörden daran halten oder nicht, spielt jedoch keine Rolle. Vor über zehn Jahren (1998) erklärte das Innenministerium, die großen Lager sollen geschlossen werden. Hier wurde auch explizit auf Möhlau verwiesen. Passiert ist nichts.

Die Lebensbedingungen im Lager Möhlau sind unverändert unzumutbar: Isoliert, zwei Kilometer außerhalb des Provinzdörfchens ohne nennenswerte öffentliche Verkehrsanbindung gelegen, sind die Menschen dort in einer ehemaligen, maroden sowjetischen Plattenbaukaserne Perspek­tiv­losig­keit, Armut und institutioneller Willkür ausgeliefert. Einige leben bereits seit 16 Jahren in dieser Ausweglosigkeit. Die meisten von ihnen bekommen keine Arbeitserlaubnis oder Geburtsurkunden für ihre in der BRD geborenen Kinder. Immer noch können einige nur an zwei Tagen im Monat mit Gutscheinen einkaufen und verfügen kaum über Bargeld. Unhygienisch, baufällig und karg – das sind die auffälligsten Eigenschaften ihrer Unterbringung, an deren Unterhaltung das private Unternehmen KVW Beherbergungs­betriebe (siehe unten) horrende Summen verdient. Die vom Landkreis dafür bereitgestellten Gelder stehen in keinem Verhältnis zu den erbrachten Leistungen; hier wird ein großes Geschäft auf Kosten der Flüchtlinge gemacht! Das gravierendste Problem stellt jedoch nicht die unwürdige Unterbringung dar, sondern die stetige Schikane durch die Ausländerbehörde Wittenberg, welche die ohnehin schon flüchtlingsfeindliche und rassistische Ge­setzes­lage auch noch äußerst rücksichtslos anwendet.

Diese unzumutbare Situation führte bereits zu mehreren Selbstmorden und viele Flüchtlinge sind daran erkrankt. Die Initiative no lager halle engagiert sich deshalb seit Februar 2009 u.a. an einem Runden Tisch zusammen mit den Flüchtlingen aus Möhlau für die Schließung des Lagers. Doch trotz vieler Aktionen konnte in den letzten zwei Jahren außer direkte Hilfe für die Betroffenen wenig erreicht werden gegen die sture Verwaltung und die Absurditäten der deutschen Abschiebepolitk.

Neue Lösungen, aber keine Auswege

Anfang des Jahres gründete der Landkreis Witten­berg zwar endlich eine AG Möhlau, die aus Vertretern der Parteien und der Verwaltung besteht. Diese erarbeitete ihre „In­formationsvorlage zur künftigen Unterbringung von Asylbewerbern und geduldeten Zuwanderern im Landkreis Witten­berg“ aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit und den Betroffenen, jegliches Gespräch mit dem Runden Tisch wurde verweigert. So traf die AG am 28. April auch einmalig im Lager zusammen. Die Lagerleitung zeigte ihnen ausgewählte Wohnungen, ohne die dort wohnenden Flüchtlinge vorher zu fragen. Bei der Sitzung durften fünf Flüchtlingsver­tre­terInnen sich je­weils fünf Minuten zum Leben im Lager äußern. Der Lagerbetreiber Wiesemann war die gesamte Sitzung anwesend. Diese fünf-minütige „Redezeit“ blieb jedoch der einzige Kontakt der AG Möhlau mit den Flüchtlingen.

Im Juni 2010 sollte dann ursprünglich entschieden werden, ob das Lager Möhlau geschlossen wird. Doch die Grünen zogen ihren Antrag zur Schließung des Lagers zurück, da sie davon ausgingen, dass es dafür keine Mehrheit im Wittenberger Kreistag geben werde, der Landrat Jürgen Dannenberg (Die Linke) aber signalisierte, auch ohne Abstimmung die Schließung des Lagers durchzusetzen. Verändert wurde aber nur die Kündigungsfrist des Vertrages, der bisher einmal jährlich mit einer halbjährigen Kündigungsfrist beendet werden konnte; nun kann dieser vierteljährlich gekündigt werden.

Während sich der Landkreis Wittenberg mit einem neuen Unterbringungskonzept beschäftigte, bemühte sich die Ausländerbehörde um möglichst viele Botschaftsanhörungen (siehe Kasten) und Abschiebungen. Bereits im Januar 2010 konnte eine Ashkali-Familie nur durch die Härtefallkommission des Landes Sachsen-Anhalt vor der Abschiebung in den Kosovo bewahrt werden. Sämtliche syrische Flüchtlinge wurden der syrischen Botschaft vorgeführt, „Einladungen“ zu Bot­schafts­vorführungen bei den chinesischen, ghanaischen und der be­ninschen folgten, nur die Sammel­vorführung von 20 Flüchtlingen vor der Beninschen Botschaft am Ende August 2010 konnte verhindert werden. 17 Roma und Ashkali aus dem Lager Möhlau waren 2010 insgesamt von der Abschiebung in den Kosovo bedroht, nur die Härtefallkommission konnte sie davor schützen.

Zum 24. September veröffentlichte der Landkreis Wittenberg schließlich die Ausschreibung für die „Unterbringung und Betreuung von Asylbewerbern in einer zentralen Unterkunft sowie in Wohnungen im Landkreis Wittenberg“. Mitte Oktober fand dazu in Wittenberg der monatliche „Talk am Turm“ der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V. statt. 20 Flüchtlinge beteiligten sich. Als Vertreterin des Landrates Dannen­berg war zum wiederholten Male Frau Tiemann aus der Verwaltung anwesend. Frau Tiemann war gebeten worden, das neue Unterbringungskonzept vorzustellen. Da kein wirkliches Unter­bringungs­konzept erarbeitet, sondern nur Gesetzes- bzw. Verordnungsauszüge zusam­menkopiert wurden und somit nur die Einhaltung der gesetzlichen Minimalstandards, wie z.B. mindestens 5 m² pro Person, vom zukünftigen Betreiber erwartet wird, blieben ihre Ausführungen recht karg.

So kann der neue Betreiber die Unterbringung nach eigenem Ermessen gestalten, solange er ein günstiges Angebot vorlegt. Die Entscheidungskriterien sind: 80% Preis, 5% Betreiberkonzept, 15% Infrastruktur. Gleich­­falls ergibt sich für Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg keine andere Perspektive, als in den zu Verfügung gestellten Gebäuden ab März oder Juni 2011 zu leben. Für Alleinreisende, also Flüchtlinge ohne Familie, im neuen Lager und für Familien in einem extra Block mit Wohnungen. Nach dem Willen des Landkreises sollen sie so für mindestens fünf Jahre wohnen, so lange soll der Vertrag gültig sein. Ohne Kündigung verlängert sich der Vertrag mit dem Betreiber automatisch, genau wie der alte. Aus dem Lager kommen die Flüchtlinge nach wie vor nur durch Tod, Heirat einer deutschen MitbürgerIn, Abschiebung oder Illegalität.

(no lager halle)

 

* Jugendliche ohne Grenzen ist seit 2002 eine Initiative von jungen Flüchtlingen und Migran­ten, die sich aus dem Berliner Beratungszentrum junger Flüchtlinge, dem GRIPS-Theater-Jugendclub (Banda Agita) und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg zusammensetzt.

 

Wiesemanns „Beherbergungsbetriebe“

Marcel Wiesemann betreibt mit seiner KVW Beherbergungsbetriebe drei Lager: Eins in Brandenburg und zwei in Sachsen-Anhalt. Diese Lager sind dafür bekannt, dass sich Mühe gegeben wird, viel Geld einzusparen und möglichst wenig für die Unterbringung der Flüchtlinge auszugeben. Dies bestreiten die Landkreisverwaltungen nicht.

Zur aktuellen Lage: Neuruppin (Landkreis Ostprignitz-Ruppin): Die Ausschreibung des Landkreises scheiterte jüngst wegen rechtlicher Fehler. Der Vertrag mit der KVW Beherbergungsbetriebe musste verlängert werden. +++ Zeitz (Burgenlandkreis): ganz im Süden Sachsen-Anhalts liegen zwei Lager, ein Containerlager in Weißenfels in Stadtnähe und ein weiteres bei Zeitz. Im Augenblick ist nicht klar, ob das Lager Weißenfels geschlossen wird und alle Flüchtlinge des Landkreises in noch größerer Isolation bei Zeitz leben müssen. +++ Möhlau (Landkreis Wittenberg): Die Bewerbungsfrist für die Bewirtschaftung der zukünftigen Unterbringung für die etwa 180 Flüchtlinge ist am 01. Dezember 2010 abgelaufen. Die alleinstehenden Flüchtlinge werden in einem neuen Lager untergebracht, die Familien sollen in Wohnungen ziehen. Die Ausschreibung macht es möglich, dass alle Familien in einem Wohnblock untergebracht werden und somit in Zukunft zwei getrennte Lager bestehen. Wiesemann hat bei der Bewerbung einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, da er seit Juni von den Plänen zur Schließung des Lagers Möhlau weiß. Am 07. Februar 2011 wird darüber entschieden.

Botschaftsanhörungen

Sog. Botschaftsdelegationen von Ländern wie z.B. Guinea, Nigeria, Sierra Leone halten sich in der BRD auf und „begutachten“ Flüchtlinge aus „ihrem“ Land. Merkmale sind Sprache/Dialekt, Gesichtsform (dies geht bis hin zu „Kopfvermessungen“ [siehe hierzu auch S. 14ff in diesem Heft]), Narben etc., die die Botschaftsdelegation als vermeintliche Anhaltspunkte für Staatszugehörigkeiten nimmt bzw. behauptet zu nehmen.

Entscheidender dürfte aber sein, dass die BRD Interesse daran hat, Flüchtlinge, die staatenlos sind, abzuschieben. Für eine Abschiebung brauchen die Ausländerbehörden Reisepapiere, Pass- oder Passersatzdokumente. Diese sollen die Botschaftsdelegationen ausstellen. Die BRD zahlt deshalb der Botschaftsdelegation pro vorgeführtem Menschen Geld und pro ausgestelltem Reisepapier, also Dokument zur Abschiebung, nochmals Geld.

Genötigt werden Flüchtlinge aus dem ganzen Bundesgebiet. Teilweise werden sie ohne Ankündigung von der Polizei aus dem Bett geholt und unter Polizeibegleitung vorgeführt. Dann spielt sich die „Botschaftsanhörung“ wie eine tatsächliche Abschiebung ab, die unsanft aus dem Bett Geholten erfahren später, dass sie „nur“ einer Botschaftsdelegation vorgeführt werden und nicht zum Flughafen gebracht werden.

Besonders gefährlich macht diese Abschiebeanhörungen, dass viele Flüchtlinge vorgeführt werden und damit die kommende Abschiebung – mit den durch die Botschaftsdelegation ausgestellten Papieren – mit einer Chartermaschine direkt vorbereitet wird. Es ist dann weder mit eigenem Widerstand (durch den Flüchtling) noch durch Protest von Unter­stützerInnen möglich, den Flug zu verhindern. Von einer Teilnahme an einer Botschaftsanhörung ist deshalb dringend abzuraten!