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Feierabend! – mehr als antideutsch*

Voraus

Um den in der Ausgabe FA! #14 veröffentlichten Artikel „Zum antideutschen Kommunismus“ [1] hat es heftige Kontroversen (auch in der Redaktion) gegeben. Insbe­son­dere gewisse etablierte Positionen der Leip­ziger „Radikalen Linken“ haben dem Artikel, Autor und der ganzen Redaktion „Hard­core-Antisemitismus“ und „Entnazifizierung“ [2] vorgeworfen. Vor allen Dingen, nachdem die Redaktion einer „von Falko (aus dem conne island)“ erfolgten Aufforderung zur sofortigen Distan­zie­rung nicht Folge leistete und sich wei­ter­hin hinter die inhaltliche Stoßrich­tung des Artikels stellte [3]. Dabei hatten wir versucht, selbstkritisch mit dem Thema umzugehen, Fehler einzugestehen und im übrigen auf die redaktionelle Autonomie des Autor zu verweisen [4]. Umsonst: Das Conne Island hat unser solidarisches Verhältnis zueinan­der einseitig aufgekündigt. Schade, aber wohl in absehbarer Zeit nicht zu ändern. Ins­be­sondere deshalb schade, weil gerade in Hin­blick auf die Solidarität mit dem Conne Island erhebliche Differenzen zwischen Autor und Redaktion zu Tage traten – die Redaktion zwar auch den Einfluß diverser anti­deut­scher Ideologeme [5] im Umfeld des Conne Islands kritisiert, aber im Gegensatz zum Autor, an die kritische Beweglichkeit und rationale Einsicht (Vernunft-Fähigkeit) der im und im Umfeld des Conne Islands Ak­tiven glaubt. Den Farbbeutelwurf begreift die Redaktion eher als lächerlichen Ausdruck der Sprachlosigkeit [6] denn als anti-antideutschen, terroristischen Anschlag. Rech­net diesen aber nicht antideut­scher Agi­tation sondern lediglich einem individuellen Bedürfnis nach Widerstand zu.

Traurig ist, und das haben wir im letzten Heft auch eingeräumt, der Umstand, daß das Anliegen der Redaktion hinter diese Ne­benschauplätze zurücktrat. Während unserer zweijährigen politischen Zei­tungs­tä­tigkeit haben wir schließlich genügend Spu­ren unserer politischen Grund­ein­stel­­lung hinterlassen. Daß wir mit Kritik an an­ti­deutschen Positionen und Kritik an der na­tionalen Verfassung Israels antisemitische Res­sentiments befördern würden, die­ser Vor­wurf trifft insofern nicht, weil bei ei­ner/m derart irrational eingestellten Re­zi­pien­tin/en, der/die solche Ressentiments schon verinnerlicht hat, wohl noch jedes Ar­­gument seine/ihre Hirn­gespinste bestärkt. Insofern vertrauen wir unserem Le­ser­­­Innen­kreis und versuchen im übrigen in je­­­dem Heft einen breiten Kontext für even­tuel­le Rückbezü­ge aufzubauen. Wir teilen nicht die Analyse, Aufklärung wäre, insbe­son­dere in deutschen Landen, hoffnungslos.

Was die „Entnazifizierung“ von Eichmann und die Frage der Einschätzung des Han­delns von Kasztner während der Nazi-Diktatur betrifft, bleibt festzustellen, dass die Re­daktion den Argumenten der historischen Bewertung Falkos, wie sie in der aktuellen incipito dargelegt werden, durch­aus Beachtung schenkt und für beachtenswert hält. Der Argu­men­ta­tions­­zu­sammen­hang im Artikel „Zum antideut­schen Kommunismus“ ist aus der Perspektive der Redaktion hier mangelhaft, der Autor v.sc.d. selbst folgt aber weiterhin der Bewertung Lenni Brenners.

Einige haben sich sicher auch gefragt, wa­rum machen die das jetzt, zwei Jahre Ignoranz gegenüber diesem Thema waren doch ein gutes Ruhekissen? Da war zum einen das persönliche Anliegen des Autors, der Leipzig nun auf unabsehbare Zeit den Rücken kehrt: eine Abrechnung! Doch das allein hätte für einen Abdruck nicht gereicht. Das, was das Anliegen der Redaktion mit dem des Autors hauptsächlich ver­band und noch verbindet, ist eine sozialrevolutionäre, an­tinationale Perspektive für politisches Han­­­­deln in kritischer Differenz zu anti­deut­­schen Positionen und ihren vulgari­sier­ten Formen [7] aufzubauen, um auch und insbesondere in Leipzig eine breitere und wirk­­samere politische Handlungsfähigkeit zu erzeugen, den solidarischen Zusammenhalt zwischen den Gruppen und Projekten zu befördern, anstelle von Abgrenzungen und elitärer Dünkelei. Nicht zuletzt war die­­­ser Strategiewechsel auch eine notwendi­ge Folge des Annähe­rungs­prozesses an die „Szene“, wie er sich aus der redaktionellen und persönlichen Entwicklung einzelner Re­­­dakteure und Redakteurinnen ergab. Schließ­­lich stellte sich auch die Frage: Antideutsch und nicht mehr? dadurch selbst. Bei der Beantwortung dieser und anderer Fragen werden wir es uns auch in Zukunft nicht nehmen lassen, Kritik an politischem Han­­deln und dessen ideologischer Motivation zu üben, auf revisionistische Strömungen [8] und letztlich Tendenzen der Ver­bür­­gerlichung in befreundeten Projekten hinzuweisen.

Die Feierabend!-Redaktion

Wozu antideutsche Kritik?

Meines Erachtens wurde bei aller berechtigten Kritik an antideutschen Positionen, der kritische gegenüber dem politischen Ge­halt stets unterschätzt. Dabei hat die antideutsche Kritik radikal das bloßgestellt, was Anlaß zu einiger Selbstkritik gäbe: Den naiven Bezug auf eine paläs­tinensische Widerstandsbewegung, die längst zu einer faschistoiden degeneriert ist, den grassierenden Sexismus, Pa­triarchis­mus und die Heroi­sierung von Gewalt innerhalb der Antifa-Gruppen und -Struk­turen, die allgemeine Ge­schichts­ver­gessenheit (gerade in Be­zug auf Schoah und Holocaust), schließ­lich den nationalistischen Kern, der innerhalb der traditionellen und orthodoxen linken Theorie immer noch zu finden ist (bspw. Imperialismus-Theorie div. MLer/Stalinisten/K-Grüppler) und die unfun­dier­te Kritik an den USA. Alles in allem also eine Kritik an den allgemeinen bürgerlichen Tendenzen innerhalb der linksradikalen Bewegung, die unter dem Eindruck verstärkter Repression, mangelndem Zuwachs und Abwanderung zu leiden hatte.

Darüber hinaus kann an der antideut­schen Theorie auch ein erster echter Erfahrungsaustausch zwischen der west- und ostdeutschen Linken konstatiert werden. Wobei gerade die Erfahrungen aus dem Staatssozialismus auf der einen und der Ausfall eines wesentlichen ideologischen Bezugspunktes („Seht, die da drüben haben schon Sozialismus!“) auf der anderen Seite der Grenze eine Rolle spielten. Ich denke, gerade die distanzierte Rezeption der Tradition der westdeutschen Linken im Osten hat zu radikaleren Positionen geführt und diesem Austausch sein Gepräge gegeben.

Soweit so gut, wäre mensch auch hier dem großen Vorbild Adornos gefolgt und hätte den frisch verfassten Text am besten gleich zu Suhrkamp gebracht. Doch indem mensch sich der antideutschen Kritik politisch bediente, damit sein Handeln le­gi­timierte, geriet durcheinander, was Adorno noch säuberlich voneinander trennen wollte: Kritische Theorie und Politik. [9]

Adorno und Kritische Theorie

Freilich hat Adorno Kritik und Politik durchs Subjekt vermittelt gesehen, aller­dings immer auf dem philosophischen Geschäft der Kritik beharrt. Politisches Handeln blieb ihm zeitlebens suspekt und gefährlich, obwohl er oftmals politisch agier­te. Ein innerindividueller Widerspruch, den er deshalb sein Leben lang aushalten konnte, weil dieser seine Existenz nicht bedrohte. Ich will es mal drastisch ausdrücken: Im Grunde ist Adornos Philosophie die letzte große moderne Ro­mantisierung des liberalen Indivi­duums nach dem Motto: Im Geiste frei, im Handeln einerlei! Dieser politische Pessimismus, der zum guten Teil seinem kühnen Denken geschuldet ist, markiert auch eine erhebliche Differenz zu Marx und grün­det vor allen Dingen darauf, dass dessen Optimismus in die proletarische Bewegung des 19. Jahrhunderts durch die sich verstärkende Nationalisierung im frühen 20. Jahrhundert enttäuscht und durch die nationalen Faschismen letzt­lich gebrochen wurde. Indem die antideut­sche Theorie diesen Pessimismus in ihren Denk­figuren reproduziert, verab­schie­­det sie sich schon von jeder Praxis gesellschaftlicher Emanzipation. Wo Marx noch die ar­bei­tenden Massen gegen die bür­gerliche Verwaltung von Gesellschaft mobilisiert, Kri­tik und Politik im Klassensubjekt (Klassenbewusstsein) vermittelt sieht, ist sein Kom­munismus noch echte Uto­pie im Sinne geschichtlicher Entwicklung zum Besse­ren. Kritische Theorie à la Adorno nimmt hier­von Abstand: der Begriff von Kommu­nis­mus rückt folgerichtig in den Hintergrund und von gesellschaftlicher Emanzi­pa­tion ist nur insofern zu reden, als dem individuellen Bewusstsein der Anspruch nicht abgesprochen werden darf, hinter den Begriffen und ihren Ob­jek­­tivierungen (institutioneller Überbau) ihren wahren Ge­halt zu entdecken, auf den die Begriffe stets noch rückbezo­gen sind. [10] Der ethische Imperativ, der Adornos gesamtes Werk durch­zieht, ist zu­gleich das Erste und das Letzte seiner Philosophie: Die Hof­f­nung, durchs Denken noch zur Wahr­­­heit durchzudringen, gegen allen Schein bürgerlich verwalteter Welt.

Allerdings bleibt das Subjekt solcher möglichen Erkenntnis auf das vereinzelte moderne Individuum beschränkt, weil jede über­­individuelle Einsicht, des Falschen (als Schein) anrüchig, der Ideologie verdächtig, den konkreten Gedanken in seiner Realisa­tion (durch notwendig falsche Verwirklichung) entwürdigt. Schon eine Politik des Ge­sprächs zwischen Ich und Du kann diese Kritische Theorie nicht mehr rechtfertigen, ohne sich dabei selbst zu entlarven. [11] Ihr Geschäft, also die Rolle des bürger­lichen Intellektuellen in der spät­moder­nen, ver­walteten Welt, besteht darin, aus ihr selbst heraus die in sie eingeschriebene Ge­gen­these zu entfalten und sie als individuelle Erkenntnis gegen den objektiven Schein der modernen Gesellschaft zu mobi­li­sieren. Folgt mensch Adorno, ist der Intel­lek­tuelle dabei weder auf eigene Erfahrung oder auf eine revolutionäre Politik ge­schicht­licher Subjekte an­gewiesen. Jene ‚Ver­armung ist dem abstrakten Einerlei an­gemessen’, weil Kritische Theorie kein po­litis­ches Handeln an­leiten will (wie bspw. bei Marx); sondern die „Insuffizienz“ des Be­griffs gegen seine moderne „Hyposta­sierung“, d. h. die Unzulänglichkeit des Be­grif­­fenen gegen dessen Objektivierung (institutioneller Überbau) in Stellung bringen will.

Das, was Adorno zum Ende seines Le­bens­werks ent­­wirft, die negative Dia­lek­tik, ist der Form nach ein mächtiges Kampf­mit­tel ge­gen jeden begrifflichen Zu­sam­menhang, weil dieser durch die kritische Be­we­gung negativer Dialektik stets mit seinen Un­zulänglichkeiten und letztlich mit seinem ideologischen Kern konfrontiert wer­den kann. Klug eingesetzt, ist solche Kritik auch heute noch ein wirksames Mittel ge­­gen die Ideologie politischer Gegner oder ge­gen allerlei in der bürgerlichen Gesellschaft etablierte Konventionen. Nur taugt sol­che Kritik weder zur Anleitung oder gar Recht­fertigung politischen Handelns, noch zur Erklärung der Welt (der gesellschaftlichen Verhältnisse). Beides hat Adorno nie ge­wollt.

Kri­tische Theorie à la Adorno ist gerade der begriffliche Vollzug des indivi­duel­len Lei­dens an der falschen Einrichtung der Welt. Hier liegt ein Punkt, der in der Rezeption sei­nes Werkes im­mer wie­der gegen ihn in Anschlag gebracht wurde: sein Ästhetizismus. Und tat­säch­lich, Adorno ist ein von je­dem Ra­tio­nali­täts­anspruch be­freiter Be­griffsäs­thet. Seine Texte sind eher antithe­tische Kom­po­sitionen der kon­ventio­nel­len Ideenge­schich­te als plausible Argu­men­ta­­tions­zu­sam­­menhänge. Wer das übersieht, wird sich noch in aller Ewigkeit die Zähne an Tex­ten von Adorno ausbeißen. Das soll nicht heißen, er hätte damit jeden Wahr­heitsanspruch im be­griff­lichen Denken aufgegeben. Im Gegenteil: gegenüber den überkommenen Konventionen, gegenüber der falschen Objektivierung der Welt, will er den wahren Gehalt, den konkreten Bezug, den der Begriff stets noch mit sich führt, aufdecken. Anders ausgedrückt: Wo­ran sich der objektivierte, konventio­nel­le Begriff nicht mehr erinnert, an seinen Sach­bezug, seinen konkreten Aus­gangs­punkt, das Nichtidentische, was bei der Identifizie­rung mit seinem Begriff verloren ging, das will Adorno in seinen Texten zur Sprache bringen. Das Subjekt einer solchen Aufgabe sieht er freilich nur im einzelnen Individuum: bspw. in ihm selbst. Wahr­heit ist hier nur insofern zu finden, wie sich Adorno die­­ser Auf­gabe stellt und diese in seinem kritischen Denken auch vollzieht. Wer Adorno mal gelesen hat, wird um seine Sprach­gewalt wissen, seinen schillernden, facet­ten­rei­chen Be­griffshaushalt, um sei­nen Mut, gegen die traditionellen Lesarten an­zu­treten, und um seine Klug­heit, mit der er das mo­der­ne Denken seinen immanenten Unzu­läng­lichkeiten über­­führt. Der Wahr­­heits­an­spruch seiner Rede ist deshalb auch nicht an die Vermittlung bzw. Vermit­tel­bar­keit zwischen Ich und Du geknüpft, er ist lediglich in der Selbstrechtfertigung des nach Er­kennt­nis strebenden Individuums begründet. Diese Sel­bstgenügsamkeit ist m. E. das wesentliche Moment, welches Adorno immer wieder dem Vor­wurf der allgemeinen Unzugänglichkeit, der „unverständlichen“ Abstraktion aus­gesetzt hat. Und diese Schwach­stelle wird von diversen Apo­logeten seines Denkens wiederholt miß­braucht, um den eigenen Positionen mehr Gewicht und schließlich den Anspruch auf Meinungs­füh­rer­schaft zuzuweisen. Wüßte Adorno darum und könnte er noch handeln, er würde dererlei Um­trie­bigkeiten sicher den ganzen modernen Machtapparat auf den Hals hetzen.

Ich hoffe, aus dem soeben Ausgeführten ist er­sichtlich geworden, inwieweit die zeit­genössischen antideutschen Positionen mit einem Begriff von Kritik umgehen, dem zwei­felsfrei eine Überdehnung des Ver­ständnisses von Kritischer Theorie à la Adorno zugrunde liegt. Dieser allerdings war klug genug, den Wahrheitsanspruch sei­ner Rede nicht über sein individuelles Er­­kennt­nisvermögen hinaus, zu überhöhen – der Preis für diese Selbstbeschrän­kung da­ge­gen war die gewählte Einsamkeit im Den­ken und der Abschied von je­der über­in­di­viduellen Politik. Im An­schluß an Adorno haben deshalb viele ge­fragt, wie denn ein derart radikal linksliberales Projekt bürgerlicher Kritik sonst (also außer durch sich selbst) zu rechtfertigen wäre? Die Antworten allerdings haben keine Klarheit zu Tage gefördert. Nicht zu letzt weil Adornos Denkfigur als moderne so ziemlich am Ende einer allgemeinen Ver­fallsgeschichte steht, wie sie die Moderne selbst markiert. Das, was in den letzten Jah­ren unter dem Label „Postmoderne“ als fal­sche Einheit einer nicht mehr zu vereinenden Vielfalt lanciert wurde, ist oft nicht mehr als der gras­sieren­de subjektive Relativismus in den bürgerlichen Wissenschaften, Ausdruck der völligen Haltlosigkeit bloß idealer Begriffe. Hierin und in ihrer pes­simis­tischen Nostalgie liegt die Ablehnung an­ti­deutscher Theorie gegenüber post­modernen Ansätzen begründet. Dabei gibt es durchaus bemerkenswerte Projekte post­mo­derner Prägung: verwiesen sei hier nur auf Foucaults historische Wissen-Macht-Analysen [12], seinen Begriff von Bio­politik; Judith Butlers Strategie der Ent­un­ter­­werfung durch Selbststilisierung [13]; oder etwa Zygmunt Baumans „Post­mo­der­ne Ethik“ [14]. Das, was in diesem Umfeld als aktualisierter Begriff von Kritik vor­ge­stellt wird, bedarf der Beachtung und sicher auch der Vertiefung. Wer sich davon nur schulterzuckend zu distanzieren weiß und weiter auf modernem Denken beharrt, macht die eigene Position des Anachronistischen verdächtig. In der Kritik z. B. an Negri&Hardts Machwerk „Empire“ gibt sol­che Haltung sich der völligen Hilflosig- und letztlich Lä­cher­lich­keit preis, versucht sie in den Griff zu bekommen, was dort als moderne und vor­moderne Zeitbombe einfach falsch tickt!

Strategische Interferenzen

Nun hat, wie eingangs schon bemerkt, die antideutsche Kritik, wesentliche Unzulänglichkeiten innerhalb der überkommenen lin­ken Konvention (traditionelle und orthodoxe Theorie) aufgedeckt. Zu deren Überwindung hat sie allerdings auch nur sich selbst als einzig wahre Welterklärung angeboten. Dabei führte wohl in manchen Kreisen das aus der tendenziell richtigen Kritik gewonnene Selbstbewusstsein zu einem Über­legen­heitsgefühl gegen alles andere. Aus der antideutschen Kritik wurde zunehmend ein Kampfmittel, um die eige­nen politischen Positionen als mei­nungs­­führend und diese Führerschaft verteidigend durchzusetzen. Das, was meines Erachtens in Adornos Kritischer Theorie schon angelegt ist, der Generalver­dacht ge­genüber allem Außer- und Überindi­vi­duel­len als grundsätzlich Falschem und dem ent­gegen der vereinzelte Wahr­heits­anspruch des Individuums, der schlechter­dings nicht aufgegeben werden darf, dieser Generalverdacht treibt innerhalb der ant­ideutschen Theoriebildung wilde Blüten. Denn Adorno selbst hatte die Gefahr eines derart individualisierten Wahrheitsbe­griffs gesehen und dagegen eben sein Kon­zept ständiger Selbstkritik und der Ent­­fernung von jeder Politik gesetzt: „Dia­lektik kein Standpunkt“, Abstraktion um einer Ideologisierung zu entgehen, Kritik eben und keine Politik. Adorno wußte, dass seinem kritisierten „abstrakten Einerlei der verwalteten Welt“ kein Träger, kein subjektives Bewusstsein, keine politische Bewegung mehr zuzuordnen war – ob positiv oder negativ, weder in Richtung Bar­ba­rei noch in Richtung Emanzipation. Anti­­deutsche Theo­rie fällt hinter diese Kri­tik zurück, wenn sie nun wieder ein Subjekt mit den falschen Objektivierun­gen der verwalteten Welt identifiziert. Ihr überzogener Pessi­mis­mus gründet darauf, dass durch die Kri­tik an der traditionellen Linken plötz­­lich alle außer natürlich den Antideut­schen, die­se falschen Objek­ti­vie­rungen an­trei­ben, die Barbarei befördern würden. Plötz­lich gibt es wieder ein Ge­schichts­sub­jekt, welches die Welt gestaltet: die anti­ameri­ka­nische, antizionis­tische, antisemitische Welt­ver­schwö­­­rung. Sicher, antideutsche Kri­tik konn­­te zeigen, dass dererlei Ressentiments nicht nur in den deutschsprachigen Medien kol­por­tiert werden, son­dern ein guter Teil der traditionellen Lin­ken darin verhaftet ist. Doch an den de­ge­nerierten Formen poli­tischer Praxis der anti­deutschen Haltungen lässt sich leicht er­sehen, dass der anti­deut­schen Kritik gar keine politische The­o­rie (bspw. im Sinne der Aufklärung) an­­ge­glie­dert wurde. Mei­nungsunter­drüc­kung, Bil­der­verbote, Hass­tiraden gegen An­ders­den­kende, destruktive Mob-Action mit Israelfahnen und eine naive­, unkritische Legitimation von Kriegs­ver­­läufen, von israelischer und us-amerika­nischer Staatspolitik [15], letztlich eine Ent­solidari­sie­rung zwischen den verschiedenen Projekten und eine völlige Hilflosigkeit gegenüber der deutschen Staatspoli­tik und der aufstrebenden neuen Rech­ten – das sind die Schlagwörter im Register politischer Praxis anti­deutscher Prägung. Sie über­nimmt die ador­neske Selbstbeschrän­kung, sich mit dem Texteschreiben zu be­gnü­gen, ohne al­ler­­dings dessen politischer Ent­­haltsamkeit zu folgen – und setzt da­durch Kritik zurück in einen selbst­recht­fer­­ti­genden, ideo­lo­gischen Zusammenhang. Mit der Folge, dass jetzt jedes Ge­sprächs­­angebot unter das Mot­to fällt: „Friß oder stirb!“ bzw. „Antideutsch oder Anti­­semitisch!“. Deshalb war es immer dop­­­pelzüngig zu behaupten: Sagt doch was dagegen, ihr habt doch nichts zu sagen.

Antideutsche Theorie ist m. E. mit ih­ren Erkenntnissen immer viel zu fahrläs­sig um­gegangen: Anstatt auf die Aufklärung der nächstliegenden Kreise zu setzen, haben anti­deutsche Haltungen und ih­re Apologeten Spaß daran gefunden, den Leu­ten ihre „Dummheit“ unter die Nase zu reiben – ein eli­tärer Dünkel eben [16]. Für derart gutbürgerliche Selbstbeweihräucherung ist der Inhalt der antideut­schen Kritik aller­dings zu wichtig, insbe­son­­­­dere für die, die sich noch Rest der ra­di­kalen Linken schimp­fen lassen. Die Er­kennt­nis, dass eine kri­tische Reformu­lie­rung traditionell linker Positionen dringend notwendig ist, gerade unter dem As­pekt, daß mensch der neuen Rech­ten sonst lediglich das Feld räumt, dass lin­ke Grup­­pen und Projekte zu einer pro­gres­siven Politik zurückfinden müssen, um sich der eigenen Verbürgerlichung [17] selbst­kritisch zu stellen, dass sich letztlich im (wiederverein­ten) Groß­deutsch­­land erneut Gefährliches zu­sammenbraut – was zu­dem gerade in Be­­­griff ist, sich auf europäischer Ebene zu re­­produzieren – dies alles ist viel zu wichtig für eine emanzipatorische Perspektive, um in diskursiven Haar­spal­tereien und ge­genseitiger Provokation [18] zu verharren. Wer sich schließ­lich von der projizier­ten Ohnmacht der verwalteten Welt in ih­ren falschen Objek­tivierungen der­art täu­schen läßt, daß sie/er sich nicht einen Fun­ken Optimismus auf einen guten Ausgang der ganzen Geschichte bewahrt, kann schließ­lich seinen Begriff von Eman­­zi­­pation auch gleich mit in seinen Koffer packen.

Der Verdacht, daß antideutsche Positionen im Grunde einen Rückzug aus jeder links­radikalen Politik bedeuten, läßt sich an ihrem Umgang mit größeren außerpar­la­men­tarischen Protesten wie etwa den Pro­­testen gegen die Irakintervention der USA oder den Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010 erhärten. Dabei wurde an­hand einiger politischer Parolen, we­ni­gen unrepräsentativen Statements und einem guten Schuß eigenem Ressenti­ment auf das politische Bewusstsein von je­der/m einzelnen Teilnehmenden ge­schlos­­sen. Anstatt mit­zumischen und die größ­tenteils entpolitisierten und naiven Klein­­bürger­lichen und sich selbst der Her­aus­forderung zu stellen, über linksradikale Positionen ins Gespräch zu kommen, woll­­te mensch sich mit „so Etwas“ nicht auf der Straße sehen lassen – welch spieß­bür­gerliche Ziererei. Anstatt sich der an­schlie­ßenden organisierten Rechten entge­gen­zustellen und sie von der Straße zu fegen, wurde ihre Teilnahme frohlockend/selbs­tbestätigend konstatiert. Da­bei müsste doch zu­min­dest darüber Einvernehmen herr­schen, dass je­der linksradi­ka­le Kampf schließ­lich auf der Straße gewonnen werden wird und eben nicht im schlecht­be­heiz­­ten Studierstüb­chen. Wie ernst­gemeint kann ein Antifaschismus am Ende sein, der sich damit begnügt festzu­stel­len, daß mensch von FaschistInnen um­stellt ist? [19] Für diese „Einsicht“ braucht wirk­lich niemand eine politische Theo­rie oder auch nur einen Fetzen Papier zu verschwenden.

Antideutsch oder antinational?

Was ist ein „Deutscher“ anderes als ein Mann, dem der Nationalkult der bürgerlichen Gesellschaft einen Staatsbürgerstatus zuweist?

Jemand, der sich mit der deutschen Nationalgeschichte identifiziert?

Jemand der sich aus dem gemeinsamen Gebrauch einer ähnlichen Sprachfamilie eine Gemeinschaft halluziniert?

Oder jemand, der sich von der zwangsweisen Solidarität (Mechanismen der Arbeits-, Geld- und Güterverteilung) im deutschen Staate unterwerfen läßt?

Reproduziert sich im „Deutschtum“ ein Katalog kultureller und kultischer Praxis, kehren im „deutschen Geist“ dieselben Denkmuster immer wieder?

Das, was die antideutsche Theorie als „das Deutsche“ identifiziert, ist meist nebulöser als das fragwürdige Projekt einer Men­ta­litätsgeschichte oder deren Ableitungen von Klimalagen. Mir scheint, innerhalb der antideutschen Theorie werden all zu oft Anti­semitismus und „Deutsch-Sein“ (???) in eins gesetzt. Da­bei ist Antisemitismus doch beileibe kein Problem spezifisch deutscher Prägung – er wurde nur fatalerweise in den deutsch-verwalteten Territorien [20] zur Staatsdoktrin erhoben – sondern ein Prob­lem, das im christlich geprägten Eu­ro­pa schon mit der Offenbarungsfrage zu gras­sieren begann. Nun soll nicht bestritten werden, daß dem deutschen National­kul­tus der anti­semi­tische Reflex seit je her nahe lag, doch antideutsche Theorie reduziert den Be­griff von Antisemitismus in gefährlicher Wei­se, indem sie ihn auf sein spe­zi­fisch „Deutsches“ zu beschränken trachtet. Eine Na­tional­grenze zwischen Frankreich und Polen brächte das Problem nicht aus der Welt und schon gar nicht aus Euro­pa. Bei allem Be­­wußt­sein für die schier unerträgliche Leidensgeschichte so vieler Menschen, Fa­mi­lien und Gemeinschaften, die während und nach dem Krieg eine erste Zuflucht im Nationalstaat Israel fanden, bei allem Inhalt und historischen Verlauf, darf aber auch der formale Zu­sammenhang nicht vergessen werden, sonst setzt mensch Schoah und Holocaust ein­fach gleich. Und hier lässt sich an der deut­schen Geschichte zeigen, inwieweit in na­tionalöko­nomischen Krisen durch kapi­ta­­lis­tische Produktionsweise aufgeladene Frustration bei gleichzeitiger Entfaltung ei­nes nationalen Kultus und unter staat­licher An­leitung bis zur massenhaften, industriel­len Vernichtung von aus dem Nationalkol­lektiv ausgeschlossenen Men­schen führen kann. SemitInnen, Kommu­nis­­tInnen, An­archis­tInnen, Sinti, Roma, Transsexuelle, Behinderte, Staatsfeinde, „Sozialschmarot­zer“! Um eine derart menschen­un­wür­dige Katastrophe für immer zu vermeiden, lohnt es sich, kritisch und politisch zu Felde zu zie­hen, lohnt es sich, gegen die kapitalistischen Mißverhältnisse in der Produktion vorzu­gehen, lohnt es sich auch, den deutschen Staat als wesentlichen Agenten einer na­tionalen Kultur anzugreifen, wie im übri­gen jeden Nationalismus, weil er stets das vom Recht gesetzte Zwangsverhältnis zwischen Individuum und Staat zum solidarischen Miteinan­der gegen Andere verklärt.Antifaschistische als antikapitalis­tische, anti­nationale, eman­zi­pa­torische Praxis lohnt die Mühe um und den Glauben an das Bessere im Menschen. Antifaschismus ist schließlich die geschichtliche Verantwortung jedes Ein­zel­nen. Daß die antideutsche Haltung den ver­schiedenen Gruppen, Projekten und Per­so­nen, die diese Verantwortung auch tragen wollen, ihre antifaschistische Grund­ein­stellung abspricht anstatt ihnen zuzureden, grenzte an Sabotage. Das hat, denke ich, vie­le so erregt und die allgemeine Sprach- und Hilflosigkeit begründet.

Dass sich der antifaschistische Kampf hier­zulande auf die Nation namens „Deutschland“ und auf den deutschen Staat kon­zentrie­ren muß, liegt auf der Hand, dass den vielen Menschen unter israelischer Verwaltung zumindest am Ende irgendeiner Vor­ge­schichte eine bessere Verfassung als die na­tionale zu wünschen wäre, aber doch wohl auch. Das Rückgrat jeder antideut­schen Hal­tung sollte deshalb eine antina­tio­nale sein, zumal wenn mensch die nationalen Gren­zen übertritt. Oder hat er/sie schon mal ernsthaft versucht außerhalb der deutsch-verwalteten Territorien je­man­dem zu erklären, warum sich hierzu­lande linksradikale Kritik und Politik auf antideutsche Positionen beschränken soll? Wenn doch hat der/die Gegenüber sicher verständnisvoll genickt und dabei gedacht: „Die spinnen doch, die Deutschen!“

clov

*Gegen die Nebenwirkungen unkritischer Af­firmation, naiver Ontolo­gisierung bloß be­grifflicher Zusammenhänge oder gegen rei­ne Denkfaulheit empfiehlt sich auch wei­ter­hin die regelmäßige Rezeption alternativer Zeitschriften (CEE IEH, incipito etc.pp.)
[1] FA! #14, Sep.-Okt. 2004.
[2] z.B.: „Nichts ist unmöglich – Feierabend!“, in: incipito Heft Nr. 15, Jan. 2005, siehe unter: www.left-action.de/incipito/
[3] Die schriftliche Aufforderung, die Falko als „ganz lieben Brief“ bezeichnet, ist jetzt ebenfalls auf unserer Homepage www.feierabend.net.tc veröffentlicht.
[4] s. Vorbemerkungen zu „Tant de bruit pour une omelette!“, in: FA! #15, Nov.-Jan. 2004/05.
[5] Versatzstücke einer Ideologie
[6] Diese wurde ja auch in verschiedenen antideutschen Statements konstatiert, aber anstatt beidseitig Mittel und Strategien dagegen zu entwickeln, wurde beleidigt, beschimpft, verboten und ignoriert.
[7] Solche vereinfachenden, verkürzten Ansichten lassen sich vor allen Dingen in der zweiten und dritten Generation der antideutschen Bewe­gung finden (s. bspw. FN 15). Die kritische Grund­figur wird hier oft weder verstanden noch nach­vollzogen. Mit der absurden Folge, daß anti­deutsche Theorie so zum Ausdrucksmittel eines existentialistischen Weltschmerzes wird, einer all­ge­meinen Hilflosigkeit, die in der agitatorischen Unterstützung nationalstaat­licher Parolen gipfelt.
[8] Politische Strömungen, die die sozialrevolu­tionäre Perspektive aufgeben und eindeutiges Merkmal radikaler bürgerlicher Positionen.
[9] Ich, der ich als Teilnehmer des Lektürekurses „Negative Dialektik“ an der HGB der Sezierung dieser Textstelle beiwohnen durfte, erinnere an das, was Adorno zu den eisigen Höhen der Abstraktion bemerkt: „Die Verarmung der Erfahrung durch Dialektik jedoch, über welche sich die gesunden Ansichten entrüsten, erweist sich in der verwalteten Welt als deren abstraktem Einerlei angemessen. Ihr Schmerzhaftes ist der Schmerz über jene, zum Begriffe erhoben. Ihr muß Erkenntnis sich fügen, will sie nicht Konkretion nochmals zu der Ideologie entwürdigen, die sie real zu werden beginnt.“ Th.W. Adorno, „Negative Dialektik“, Suhrkamp, Frankfurt, 1997 (1975), S. 18
[10] Adorno ist und bleibt halt Idealist. Institutionelle Ausprägungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind für ihn, darin Hegel folgend, bloß die objektive Seite von Begriffen. Nur daß diese nicht mehr Ausdruck des Wahren, sondern Indikator des Falschen sind.
[11] Habermas hatte das erkannt, aber sein kommunikationstheoretischer Vorschlag einer Universalpragmatik des Gesprächs war reichlich degeneriert. *kreischend nach dem alten Jürgen wink*
[12] Unbedingt zu empfehlen sind die beiden berühmt gewordenen Aufsätze „Was ist Kritik?“ und „Was ist ein Autor?“, die in verschiedenen Versionen auch unter dem Titel „Was ist Aufklärung?“ abgedruckt wurden; u.a. in: Michel Foucault, „Was ist Kritik“, Merve-Verlag, Berlin, 1992 (1978) u. Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), Fischer Taschenbuchverlag.
[13] Wobei Judith Butler in Ihrem Aufsatz „No, it‘s not anitsemitic“, der in der aktuellen Januarausgabe der Zeitschrift Die Aktion abgedruckt ist und Mitte 2003 erstmals erschien, nur einen sehr eingeschränkten Begriff von Kritik gegen den Harvard-Präsidenten Lawrence Summers und sein „Denkverbot“ verteidigt: den der bürgerlichen Meinungfreiheit. Vgl. u.a.: „Ironischer Weise übernimmt Summers, wenn er Zionismus mit Judentum gleichsetzt, genau die bevorzugte Taktik der Antisemiten.“ in: Die Aktion, Heft 210 „Genozid, Antisemitismus, Israel-Palästina“, Januar 2005, Edition Nautilus, Hamburg, S. 50
[14] Für Leute, die sich ernsthaft mit Denkexperimenten auseinandersetzen und nach Wegen aus dem modernen Einheitsbrei suchen, fern eines minimalistischen Utilitarismus oder der ethischen Schwarz-Weiß-Malerei „Gut gegen Böse“, unbedingt zu empfehlen: Zygmunt Bauman, „Postmoderne Ethik“, Hamburger Edition, Hamburg, 1995 oder derselbe, „Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 1992
[15] U. a. s. „Wahl in den USA“, in: CEE IEH Nr. 116, Dez. 2004: „Wie zu Beginn des Artikels dargelegt, gibt es genug Gründe als Amerikaner gegen Bush zu sein. Aufgrund des allgegenwärtigen antiamerikanischen Ressentiments in Deutschland gibt es für Freundinnen und Freunde der Emanzipation jedoch nur eine Option: die Verteidigung George W. Bushs und die ideel­le und argumentative Unterstützung der amerikanischen Außenpolitik im Nahen Osten. – In diesem Sinne: Cowboys of the world unite.“ Hier wird sich ohne Wahrheitsanspruch und ohne sich die Frage nach einer richtigen Politik zu stellen, einfach positiv auf die US-Administration be­zo­gen, mit der Begründung, dass müsse mensch den grassierenden Ressentiments einzig entgegenhalten. Warum hier ein „Amerikaner“ mehr Recht auf Kritik haben sollte, als eine „Deutsche“ bleibt dabei völlig unklar. Schon Adorno wusste, dass Kritik einzig der Wahrheit ver­pflichtet sein muß. Schließlich müsste sich jede ernstgemeinte Position doch die Frage stellen lassen, welche Politik gegen solche Ressentiments entfaltbar ist. Gibt mensch sich hier einem absoluten Pessimismus hin bzw. gibt noch das letzte Ideal der Aufklärung auf, nach dem Motto: „Deutsche [wer ist das eigentlich?] raffen es einfach nicht!“, landet mensch schnell bei einer minimalistischen Politik, die nur noch von einem blinden Vernich­tungswillen getrieben wird.
[16] Der im Wildcat-Zirkular Nr. 63 im März 2002 erschienene Text „Linke zwischen Nebelkerzen“ (S. 20-29, [z63nebel.htm]) behandelt diesen Widerspruch zwischen Politik und Kritik innerhalb der Radikalen Linken noch ausführlicher unter dem Aspekt, wie intellektualisierte KritikerInnen sich ihrer eigenen Verbür­gerlichung nicht bewußt sind, weil sie eine selbstkritische Reflexion auf ihre soziale Wirklichkeit ausblenden.
[17] Entsolidarisierungsprozeße, die begleitet sind durch die Übernahme des bürgerlichen Ge­schichtsrelativismus, von Mainstream-Positionen, nationaler Logik und diversen Ressentiments.
[18] Es sei ausdrücklich angemerkt, dass Feinbildkonstruktionen á la „die bösen Antideut­schen“ hier genauso wenig hilfreich sind, wie etwa „antisemitischer Friedensmob“ oder „antiamerika­nische Anti-Globalisierungs­bewegung“.
[19] Insoweit wäre doch die taktische Frage wichtig, inwieweit mensch gegen die bürgerliche Ge­sell­schaft agieren soll und kann, um antifaschistisch zu wirken. Das Bgr (Bündnis gegen Realität) schließt eine Aktion gegen Staat und Kapital aus, oh­ne zu benennen, wo über­haupt sonst an­zu­set­zen wäre. Bei der Veranstaltung „Antifa hahaha“, (FA!#15, S. 3) waren ca. 200 Menschen da, aber außer den abgedroschenen Standpunkten hatte sich niemand wirklich etwas zu sagen. Na, immerhin gibt’s das Offene Antifa-Plenum wiederwieder.
[20] Der Begriff der deutschen Territorialverwaltung trägt der Entwicklung Rechnung, daß die Bedeutung klassischer (militärischer) Natio­nalgrenzen tendenziell abnimmt. Dennoch gibt es klare nationale Grenzen, die vor allen Dingen durch die Reichweite der jeweiligen Verwaltungsrechte bestimmt sind. Die „Amtssprache“, insbesondere innerhalb des Bürokratie-Apparats, und das von ihm kontrollierte Gebiet, sind untrügliche Indikatoren für die nationale Verfassung.

Zuletzt*

Die Beschuldigung einer Zensur im Feierabend! ist insofern zurückzuweisen, als sich die Redaktion immer Nichtveröffent­lichungen vorbehält. Zwar hat es vereinzelt innerredaktionellen Zwist gegeben, weil etwas nicht-so-aber-anders kommen sollte, oder unauto­risiert Details in der Hektik vorm Druck verändert wurden – aber niemand kann der Redaktion vorwerfen, sie hätte sich mit solchen Problemen nicht intensiv auseinandergesetzt, Einzellösungen und Taktiken entworfen, dererlei zu verhindern.

*Im Fall, den Falko in der aktuellen incipito erwähnt, ging es um einen Artikel zum dataspace-Projekt im Conne Island, dass die Redaktion gern vorgestellt hätte. Der eingereichte Text bezog sich hauptsächlich auf eine Preisverleihung und schien so der Redaktion trotz mehrmaliger Diskussion am Ende doch ungeeignet, zu attitüden­haft und nichtssagend. Und es ist leicht einzusehen, dass eine Redaktion nicht alles abdrucken kann, was eingereicht wird. Sorry, Falko, dass wir uns so lange nicht entscheiden konnten, was wir wollten.

Theorie & …

Schillers politisches Theater

Schiller lockt derzeit an allen Ecken. Ob nun als zweihundertjähriger Bühnenaufguss, als Logo auf Supermarkt-Rabatt-Marken oder als einfaches Abziehbild fürs Kinderzimmer. Hauptsache es schillert irgendwie. Schiller der große Literat, Schiller das ästhetische Genie! Ganz nebenbei schmückt man sich dabei die neu entfachten, nationalen Identifikationsbedürfnisse mit den welken Lorbeeren des Schillerschen Nationalismus aus, um noch im gleichen Atemzug zu behaupten, Kunst und Politik hätten nichts miteinander zu tun. Und doch! Gerade Schiller hatte entdeckt, wie sich Kunst als Theaterkultur mit seinen suggestiven Möglichkeiten für nationale Projektionen einspannen lassen könnte. Seine Forderungen nach einem „großen“ Nationaltheater blieben uneingelöst, sein Nationalismus abstrakt, der emanzipatorische Gehalt beschränkte sich auf den Affront gegen die herrschende Aristokratie. Die Geschichte des „deutschen“ Theaters ist seitdem zerrissen von Selbstbespiegelungen, kollektiven Psychosen, krampfhaften Deutungsversuchen und Nationalmeierei. Am Tropf der nationalen Kassen steuern die staatlichen und städtischen Subven-tionsbühnen gegenwärtig wieder einmal ihrem ästhetischen und politischen Ende entgegen, diesmal überholt von der Suggestionskraft der neueren Medien, wie Film und Funk. Doch anstatt sich um eine emanzipatorische Kunst und Politik zu bemühen, rechnet man Gevatter Staat die Zweckmäßigkeit der Theaterkunst für die ästhetische Bildung des Menschen vor.  Da schillerts wieder. Bleibt zu erwarten, daß Schatzwart Eichel demnächst die neuste Kunstdoktrin verkünden wird: Wir machen EINE Bühne, ein Theater für uns alle Deutschen! Nö, hab ich bei dem Gedanken zu mir selbst gesagt, da hört doch letztlich jede Emanzipation auf. Flugs griff ich Stift, Papier und Schillers Sammelwerk, das Ziel war klar: Der junge Friedrich gehört entlarvt!

Aufklärung…

Wenn in allen unsern Stücken ein Hauptzug herrschte, wenn unsre Dichter unter sich einige werden und einen festen Bund zu diesem Endzweck errichten wollten – wenn strenge Auswahl ihre Arbeiten leitete, ihr Pinsel nur Volksgegenständen sich weihte, – mit einem Wort, wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation.“(2)

Die Aufklärung, so wie sie in den Geisteswissenschaften epochal eingegrenzt wird, ist eine Zeit hoher und überhöhter Ideen gewesen. Sie markiert nicht nur das Ende der mittelalterlichen Dogmatik in Europa, von ihr aus nehmen auch die modernen Geistesströmungen des Humanismus, des Subjektivismus, des Individualismus bzw. Kollektivismus ihren Anfang. Universalistische, radikale bzw. rigorose Ideen empfangen von hier ihre Inspiration und Kraft. Und die Ansprüche der Aufklärer wirken fort: Gerade die postmoderne Kritik hat in den letzten drei Jahrzehnten die tief in die Moderne eingeschriebene Ambiguität (3) wieder mit ihren aufklärerischen Wurzeln identifiziert. Der Wahlspruch aufgeklärter Haltung: Sape audere! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist nach wie vor in Geltung, ebenso wie das Vermächtnis des auf­klärerischen Denkens, die Aufforderung, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen und Gesellschaft nach mensch­lichem Maß und Möglichkeit einzu­richten.

…und nationalistisches Theater

Wenn Friedrich Schiller um 1793 in einem Brief zur ästhetischen Erziehung des Menschen schreibt: „Das Zeitalter ist aufgeklärt…“ und dann fragt „… woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?“ (4), daran anknüpfend die Ausbildung des menschlichen Empfindungsvermögens als dringliches Bedürfnis der Zeit einschätzt – dann lässt sich der Gedanke dahinter nicht verstehen, trachtete man danach, ihn rein auf seinen ästhetischen Gehalt hin zu untersuchen. Sein Charakter ist durch und durch dem aufklärerischen Geist verschrieben, und d.h. er ist ordinär politisch. Denn das, was Schiller mit seinem Konzept der „Erziehung zur Empfindsamkeit“ verbindet, ist ja der emanzipative Anspruch, durch Gesellschaft und Geselligkeit die barbarische Natur des Menschen zu einer besseren heranzubilden, durch die Erziehung zur Empfindsamkeit eine humanere Vergesellschaftung einzusetzen. In gewisser Weise kann man in Schiller den Archetypus des bildungsbürgerlichen Intellektuellen sehen. Und darin hat er auch heute noch seine Anziehungskraft.

Hieraus wird auch ersichtlich, warum Schiller der Schaubühne, sprich dem Theater, eine wesentlich gesellschaftliche Funktion zuschrieb. Nicht um die Kunst vor dem Tagesgeschäft der Politik bloßzu­stellen, sondern gerade um durch die Förderung der Kultur, die ganz eigene Qualität des Kunstschönen gesellschaftlich nutzen zu können. Man kann die Schau­bühne mit Schillers Augen also so sehen: Als Ort, wo durch die Darstellung von Kunstschönem die Empfindsamkeit der rezipierenden Menschen gefördert, und für diese da­durch ein besserer Charakter erlangbar wird:

Unsere Natur, gleich unfähig, länger im Zustande des Tiers fortzudauern, als die feinern Arbeiten des Verstandes fortzusetzen, verlangte einen mittleren Zustand, der beide widersprechende Enden vereinigte, die harte Spannung zu sanfter Harmonie herabstimmte und den wechselsweisen Übergang eines Zustandes in den andern erleichterte. Diesen Nutzen leistet überhaupt nun der ästhetische Sinn oder das Gefühl für das Schöne.“ (5)

Aber Schiller will nicht nur auf die „Entspannung“ vom Tagewerk hinaus, er will diese in doppelte Zügel legen. Die ästhetische Genügsamkeit im (bloß) Schönen – hier als Kunstschönes – reichte seinem aufklärerischen Geiste lange nicht hin: „… weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden.“ (6), kann Kunst gleichsam nicht allein auf dem eigenen Potential des (nur) Schönen beruhen, sie soll auch im Sinne einer „verbesserten Einsicht“ des Verstandes wirken. Diese ermögliche ja erst den Einblick in die hohen aufklärerischen Ideale. Entspannung und gesteigerte Empfindsamkeit sind kein Sel­bstzweck sondern stehen im Dienst des ganzen Menschen als geselligen bzw. gesellschaftlichen, und das heißt für Schiller hier ganz konkret: Im Sinne eines national bewusst gebildeten Bürgers.

Indem Schiller also, als typischer Vertreter der zeitgenössischen Forderung nach einem deutschsprachigen Nationaltheater, Kunst und Kultur in ihrer eigenen Qualität begründet, verweist er auf ihre gesellschaftliche Brauchbarkeit, auf die Möglichkeiten ihrer politischen und politisierenden Wirkung. Die sind das Zentrum seines Interesses. Und nicht ohne Grund: In der deutschen Kleinstaaterei galt es ja Förderer aus dem aristokratischen Stand für das Projekt einer stehenden Bühne zu gewinnen, das lokale Bürgertum war kaum in der Lage, wie etwa in London oder Paris, Theater selbst zu finanzieren. Zumal mit der Nationaltheater-Idee auch der hohe Anspruch verbunden war, nicht nur einen repräsentativen Status einzunehmen sondern in internationale Konkurrenz zu anderen National-Bühnen zu treten. Die Forderung nach einer stehenden Bühne hatte so auch einen sehr technischen Aspekt: Die erforderliche Apparatur für große Inszenierungen, die Professionalisierung der Schauspieler, die Projektierung von Spielplan und Budget bedurften einer zentralen Infrastruktur – mit einem Wort, einer guten ökonomischen Grundlage.

Verbunden mit dem Repräsentationsanspruch dieser zu fördernden, stehenden Bühnen war aber auch eine Politik gegen die Wanderbühnen. Obwohl ihnen der Gehalt des Schönen (7) schlicht nicht abzusprechen war, konnten sich weder Adel noch die dünnen elitären Schichten des Bildungsbürgertums mit dem Theater der fahrenden Leute identifizieren. Staunend blickten sie nach England oder Frankreich, wo die Bühnen die Grundrisse des frühbürgerlichen Dramas durchexerzierten, mit satten Augen auf die banale Vergnüg­lichkeit der Schwänke, die hierzulande die Straßen belebten. Und gerade dieser Anspruch auf neue Repräsentation im Sinne einer Identität ist dieser Fluchtpunkt der bildungsbürgerlichen Theatervorstellung. Und hierin ist auch ihre politische Wirkung begrenzt. Der emanzipatorische Humanismus, insoweit er in den Texten zur Geltung kommt, hat gleichsam eine nationale Schranke. Schiller hat das, eingangs zitiert, glänzend markiert. Gerade die herausgehobene Einheit wird mit solcher Vehemenz vorgetragen, dass sie auffallen muß. Der Gebrauch bleibt dop­pelzüngig. Man kann ihn leicht als naiven Humanismus verstehen. Aber es sind mit den „Volksgegenständen“ und der Rede vom „wir“ nicht etwa ALLE Menschen angesprochen, auch nicht allein die Bildungsbürger deutscher Provenienz, sondern alle DEUTSCHEN, insoweit ist dem Schillerschen Humanismus schon zu trauen. Die Einheit, auf die Schiller dabei abzielt, ist letztlich die Identität im „Deutschen“. Die neue deutsche Nationalbühne soll ja nicht nur das französische oder das englische Nationaltheater nachahmen, sondern denen gegenüber einen ganz eigenen Wert zur Geltung bringen. Als Repräsenta­tionsmittel soll die Schaubühne identifizierend wirken, und zwar im Sinne eines deutschen Nationalismus, so der junge Schiller.

Dabei steht aber außer Frage, dass eine solche nationale Einheit (als politische und soziokulturelle) in den Zeiten dieser Forderungen innerhalb der deutschsprachig verwalteten Territorien gar nicht existierte. Damit bekommt aber das Theater auch eine eigentümliche gesellschaftliche Funktion zugewiesen. Es sollte nämlich zu­allererst eine Einheit suggerieren, die de facto illusionär war, und damit gleichzeitig diese Illusion befördern. Die Autoren sollten sich in Schillers Augen auf typisch „Deutsches“ einstellen, die Künstler ein deutsches Empfinden und Bewusstsein vor­spielen und die Nationalbühne DAS „Deutsche“ repräsentieren.

Schiller, der Nationalist

Derart eingespannt, wird die Schaubühne allerdings zum politischen Suggestions­theater – eine Apparatur zur Integration, Identifikation und Erzeugung von natio­nalem Bewusstsein unter Vortäuschung erreichter nationaler Einheit. Dieser Umstand wird noch dadurch verschärft, dass Schiller zwar das Ziel der intellek­tuellen Entwicklung des rezipierenden Publikums im Auge hat, aber immer wieder die Steigerung der (emotionalen) Empfindsamkeit als Wirkziel hervorhebt. Mit dieser Betonung der suggestiven Wirkung von Kunst hebt er aber zugleich auch ihre herrschaftstechnische Brauch­barkeit hervor und setzt sie dadurch doch wieder zurück in einen Zusammenhang, der droht, Kunst einseitig für politische Zwecke (hier nationale Integration) zu vereinnahmen. Dieser Anspruch der Vereinnahmung wird auf dem historischen Hintergrund verständlich. Schillers emanzipatorische Stoßrichtung zielte ja auf gesellschaftlichen Fortschritt, der für ihn die politische Installation einer deutschen Nation nach europäischem Vorbild bedeutete. Das bildungsbürger­liche Bewusstsein seiner selbst und seiner Zeitgenossen identifizierte dabei den eigenen Wunsch und das eigene Interesse nach „höherer“ Einheit mit einer diese Einheit repräsentierenden Bühne. (8)

Im Rahmen der Politik dieses frühen Bürgertums gegen die Dominanz und Vormachtstellung des Adels verlor die Forderung nach einem National­theater jedoch schon früh jeden emanzi­patorischen Gehalt. Die neue National­kultur wurde alsbald staatlich dirrigiert und durch­gesetzt. Der preussische Staatskultus verband identifikatorische Kulturpolitik und Repression, um die deutschverwalteten Splitterstaaten zu einer neuen Einheit zu verschweißen.

Aber anstatt diese neue „Größe“ und Einheit der Nation zu repräsentieren, degenerierte das deutsche Theater – auch als Folge der Politik gegen die Wanderbühnen – im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder zu einem Hof- und Burgtheater zur hauptsächlichen Vergnügung des deutschen Spätadels und verlor jede öffentliche Relevanz. Wie so oft, ein deutsches Trauerspiel.

Wer braucht Nationaltheater?

…wenn Menschen aus allen Kreisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder einzelne genießt die Entzückung aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“(9)

Der junge Schiller weiß seinen Humanis-mus klug auszuspielen, allerdings ist auch seine nationale Selbstbeschränkung klar ge­worden. Der Schluß liegt offen auf der Hand: Wer nach dem Nationaltheater ruft, schreit nach der Einheit und der Repräsen­tation im Staat, nach dessen Portemonnaie ganz nebenbei. Warum soll die Bühne aber nur EIN Theater bieten? Noch dazu die Politik des Theatertreibens sich nationa­listisch bestimmen? Die Frage klingt im ersten Moment nach einer einfachen Antwort, etwas anachronistisch gar. Freilich, ein deutsches Nationaltheater hat es ebenso wenig gegeben, wie eine deutsche Nation nach europäischem Vorbild. Dennoch steht diese Frage am Ausgangs­punkt der Überlegungen zu einem deutsch­sprachigen Theater mit nationaler Relevanz und repräsentativem Anspruch. Mit „ja!“ haben etwa Schiller, Gottsched oder Lessing darauf geantwortet, im Vorgriff auf eine noch zu integrierende Nation, und dem Theater dabei auch gleich eine solche integrierende gesell­schaftliche Funktion zugewiesen. Mit „ja!“ Antwortet ein spärlicher Chor Aufge­rüttelter derzeit, um einer finanziellen Aushöhlung der „großen“ Bühnen entge­genzutr­eten.

„Nein!“ halte ich der Tradition entgegen. Emanzipation weist heute weit über die nationale Grenzenzieherei hinaus. Poli­tisches Theater auf der großen Bühne ist zwar wünschenswert, doch nationales Phrasen­dreschen kann sich jeder sparen. Der Staatskultus deutscher Prägung hat sich seine große Arena bereits geschaffen: den Reichstag zu Berlin – im Dauerlicht der nimmersatten Fernsehaugen. Nicht Besitz­standswahrung und der Ruf nach vollen Kassen wird der Bühne in die politische Zukunft weisen, sondern die ernsthafte Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit, die sie umgibt. Die For­derung nach einem politischen Theater, nach politisierender Wirkung enthebt aber auch die Kunst- und Theaterschaffenden ihrer Leichtigkeit, ihrer asozialen Tendenz: l’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen, der Wahlspruch des isolierten Bürgers ist suspendiert. Zum Ideal des (bloß) Schönen tritt das des Nützlichen hinzu.

Emanzi­pa­tive Kunst kann deshalb für das gegenwärtige politische Theater doch nur bedeuten, sich eine neues Publikum aufzuschließen, aus der Kantine in die Stadt zu treten und einen progressiven Blick auf die Geschichte wieder zugewinnen. Da ist der Schiller nämlich nicht seit heute obsolet. Die Nation ist Wirklichkeit und hat sich ausgewachsen, so daß sie heute jede Freiheit zu ersticken droht, in Antragsflut und Ordnungswut. Dagegen kühn die Zukunft zu entwerfen, ist auch der Anspruch an die Kunst, den ich erhebe: Mehr Aufklärung statt Suggestion! Mehr Offenheit statt elitärem Dünkel! Konkreter und kontroverser, statt allgemeiner und platter, und letzlich wirklicher statt ewiggleiches „realistisch-mangelhaft“. Ob mit, ob ohne Schillerische Dichterei ist dann die Frage zweiter Wahl. Das Theater braucht konkrete Utopie.

clov

(1) Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 11
(2) Ebenda, S. 12
(3) Ambiguität – hier: widersprüchliche Mehrdeutigkeit
(4) Schiller, Friedrich, „Über die Grenzen der Vernunft“, in: „Was ist Aufklärung?“, Reclam, Ditzingen, 1998, S. 53
(5) Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 3
(6) Ebenda, S. 55
(7) Hier oftmals mit der positiv besetzten Kategorie der Volkstümlichkeit verbun­den.
(8) „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks …“ Schiller, Friedrich, „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Derselbe, „Vom Pathetischen und Erha­benen“, Reclam, Ditzingen, 1999, S. 10
(9) Ebenda, S. 13

Theorie & …

Der Wert als Wille und Vorstellung

Robert Kurz´ Kritik des Arbeitswahns

Der Hörsaal war gut gefüllt. Mehrere hundert, meist recht junge Leute hatten sich am 19. April eingefunden, um den Vortrag zur „Kritik des Arbeitswahns“ (1) zu hören – eine Veranstaltung im Rahmen der vom 1.-Mai-Bündnis organisierten Kampagne The Future Is Unwritten. Auf dem Podium: Robert Kurz, der sich u.a. als Mitverfasser des 1999 erschienenen Manifest gegen die Arbeit (2) und Autor bei krisis bzw. EXIT! einen Namen gemacht hat. Vor allem aber ist Kurz der bekannteste Theoretiker der sog. Wertkritik, einer post-marxistischen Theorieströmung, die für die bundesre­pu­bli­ka­nische „radikale“ Linke der letzten 20 Jahre prägend war (und nach wie vor ist) wie kaum eine zweite. Es fragt sich nur, was das über den Zustand der hiesigen Linken aussagt.

„Capitalism is a virus from outer space“

Man könnte schon beim ersten Satz stutzig werden, mit dem Kurz in seinen Vortrag einsteigt: „Also zunächst mal von den Grundlagen her: Arbeit ist ganz einfach ein abstrakter Begriff“, also ein Denkvorgang, bei dem „ganz Ungleichartiges unter einen Begriff subsummiert“ wird. Eine interessante Definition… Die meisten Erwerbstätigen dürften ziemlich überrascht sein, dass es nur ein Denkvorgang ist, weswegen ihnen zum Feierabend der Rücken wehtut.

Um zu erläutern, was er meint, zählt Kurz nun auf, was landläufig alles als „Arbeit“ bezeichnet wird: Produktion von Maschi­nenteilen, Anbau von Salat, Krankenpflege, Bomben abwerfen… Tatsächlich ganz verschiedene Tätigkeiten also. So einen allgemeinen Oberbegriff habe es in früheren Epochen nicht gegeben. Drum wendet Kurz sich nun den etymologischen Wurzeln des Wortes „Arbeit“ zu. Der Begriff sei ursprünglich sehr negativ konnotiert gewesen, die indogermanische Wortwurzel bezeichne „das, was der Sklave tut“, beinhaltet also eine eindeutig abwertende soziale Zuordnung. Das lateinische „labor“ hätte ursprünglich „Leiden“ bedeutet.

Davon ausgehend versucht Kurz die geschichtliche Genese der Arbeitskategorie zu skizzieren. So sei es im Christentum zu einer positiven Besetzung des Begriffs gekommen. Das „Leiden“ in der Nachfolge Christi wurde idealisiert und im abgetrennten Raum des Klosters auch praktisch umgesetzt. Dass sich der Tagesablauf in den Klöstern nach der Uhrzeit richtete, veranlasst Kurz gar zu dem Ausruf: „Man könnte fast sagen: Das ist das Urbild der Fabrik!“. In der frühen Neuzeit habe sich dann in der „protestantischen Arbeitsethik“ die Leidensmetaphysik verweltlicht und sei vom abgetrennten Raum des Klosters in den Alltag eingedrungen.

Das wäre als ideengeschichtliche Abhandlung schon okay, wenn nicht mit jedem Satz deutlicher würde, dass Kurz eben tatsächlich die Ideen für die Ursache des Problems hält. Das sagt er auch selbst, wenn er erklärt, die „Arbeit“ sei nicht bloß eine „gedankliche Abstraktion“, sondern eine „Realabstraktion“ (3), also ein „abstrakter Gedanke, der sich in der Wirklichkeit geltend macht“. Der Kapitalismus wäre also eine Art fixe Idee, die sich irgendwie in den Köpfen festgesetzt und sich die Menschen unterworfen hat.

Das Problem ist nur: Wenn man jede Veränderung aus den Ideen ableitet, lässt sich eben nicht erklären, warum sich die Ideen verändern – warum es also überhaupt irgendeine Entwicklung gibt. Halten wir uns versuchsweise lieber mal ans marxistische Dogma: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Nicht weil´s ein Dogma ist, sondern weil dann auch die Ideengeschichte irgendwie mehr Sinn ergibt: Dass der Begriff „Arbeit“ irgendwann aufhörte das zu bezeichnen „was der Sklave tut“, könnte etwa damit zu tun haben, dass die entsprechenden Tätigkeiten tatsächlich nicht mehr von Sklaven verrichtet wurden (4). Und wenn die protestantische Arbeitsethik das Anhäufen von Reichtum als Zeichen besonderer Nähe zu Gott interpretierte, dann ließe sich diese Denkweise daraus erklären, dass manche Christen eben tatsächlich enormen Reichtum angehäuft hatten und weiter anhäufen wollten. Um dies mit ihrem Glauben (vor allem mit dem christlichen Armutsideal: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt“ usw.) vereinbaren zu können, musste der Glauben eben modifiziert werden.

Was heißt das für unser Hauptthema, die Arbeit? Kurz stellt richtig fest, dass es die „Arbeit“ als einen Oberbegriff für alle möglichen Tätigkeiten früher nicht gegeben hat, dieser Arbeitsbegriff also das Ergebnis einer historischen Entwicklung ist. Mit seinem idealistischen Ansatz kann er diese Entwicklung aber nur feststellen, nicht erklären.

Unterstellen wir also mal, dass der Begriff eine Veränderung der realen Arbeitsverhältnisse widerspiegelt, und dass der Kapitalismus an allem schuld ist. Denn kapitalistische Produktion ist vor allem industrielle Produktion – und die Arbeit eines Industriearbeiters sieht tatsächlich ganz anders aus als die eines Handwerkers oder Bauern. So ist es egal, ob ein Fabrikarbeiter nun diese drei Handgriffe ausführt oder jene drei Handgriffe. Es ist egal, wer diese Handgriffe ausführt, ebenso wie es egal ist, was für ein Gegenstand am Ende dieser langen Reihe von Handgriffen herauskommt. Die Abstraktion muss dieser Art von Arbeit nicht erst nachträglich übergestülpt werden, indem „ganz verschiedene“ Tätigkeiten zwangsweise unter einen Begriff gebracht werden. Industrielle Arbeit ist schon als solche „abstrakt“, aller besonderen Qualitäten entledigt. Sie lässt sich also auch problemlos rein quantitativ bestimmen, anhand der für die Herstellung eines Produkts notwendigen Arbeitszeit (5).

Aus dieser realen Abstraktheit der Arbeit ergibt sich die Abstraktion des Arbeitsbegriffs ganz zwanglos, und dieser wird dann schrittweise auf alle möglichen Tätigkeiten ausgedehnt – so weit, dass Leute z.B. von „Beziehungsarbeit“ sprechen, wenn sie mit einer geliebten Person mal ernsthaft reden müssen.

Kanonen & abstrakte Arbeit

Diese Industrie ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Aber von den technischen und sozialen Umwälzungen, um die es hier geht, nennt Kurz nur eine: die „militärische Revolution“ durch die Feuerwaffen. Die Produktion von Kanonen hätte eine gewaltige logistische Herausforderung dargestellt und die „frühmodernen Fürsten“ zu enormen Investitionen genötigt. Diese hätten darum den modernen Staat errichtet – laut Kurz eine sich stetig bürokratisierende „gesellschaftliche Maschine“, eine „Instanz, die anfängt, die Gesellschaft diesem Zweck zu unterwerfen, und dafür ein Mittel mobilisiert, das bis dahin randständig war, nämlich das Geld.“ Die staatlich forcierte „Entfesselung des Geldes“ zog dann wiederum eine drastische Änderung der Produktionsgrundlagen nach sich: Der Kapitalismus entstand.

Fragt sich nur, wie die bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in England bzw. Frankreich in dieses Bild passen. Wieso wurden dort Könige geköpft, wenn doch der ganze Prozess unter strikter Kontrolle des absolutistischen Staates ablief? Und was ist mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, die ja erst die nötigen Arbeitskräfte für die entstehende Industrie freisetzte? Vor lauter Geldgier scheinen die Fürsten nicht bemerkt zu haben, dass sie sich mit solchen Maßnahmen selbst den Boden unter den Füßen wegzogen…

Der Fehler steckt vermutlich an der Stelle, wo Kurz die Entwicklung der Produktionsverhältnisse aus der Entfesselung des Geldes ableitet. Immerhin bezeichnet Kurz seine Theorie als „Wertkritik“. Der „Wert“, wie er sich im Geld ausdrückt, scheint also ziemlich wichtig für ihn zu sein.

Und Geld ist in unserer Wirtschaftsordnung ja auch wirklich ziemlich wichtig. Jeder nützliche Gegenstand kostet Geld, ist also nicht einfach ein nützliches Ding, sondern eine Ware – er hat nicht nur einen Gebrauchs-, sondern vor allem einen Tauschwert. Und der muss bezahlt werden. Das Geld ist in dem Sinne eine Ware, deren besonderer Gebrauchswert darin besteht, dass sie den Tauschwert schlechthin repräsentiert: Für Geld lassen sich alle anderen Waren eintauschen, also kaufen.

Diesen Wert nun rückt Kurz ins Zentrum der Kritik. Denn in der kapitalistischen Produktion ist allein der (vom Geld repräsentierte) Tauschwert der Ware von Bedeutung. Der Tauschwert trennt sich ge­wissermaßen vom Gebrauchswert, er unterwirft sich diesen. So wie der Begriff der „Arbeit“ die verschiedensten Tätigkeiten gleichmacht, so macht der Tauschwert die unterschiedlichen Gebrauchsgegenstände gleich: Soweit sie Waren sind, erscheinen diese nun als austauschbar, soweit sie gleichwertig sind, sind sie letztlich auch gleichgültig – vom Tauschwert her ist es z.B. egal, ob man Medikamente oder Giftgas verkauft. Für sich betrachtet erscheint der „Wert“ also wirklich als ziemlich verrückte Idee.

Von dieser Warte her kritisiert Kurz auch die Arbeit: Die Arbeit ist abstrakt, weil sie Lohnarbeit ist, weil sie nur eines abstrakten Zwecks, des Geldes wegen getan wird. Im von Kurz mitverfassten Manifest gegen die Arbeit (Abschnitt 5) wird das so gesagt: „In der Sphäre der Arbeit zählt nicht, was getan wird, sondern dass das Tun als solches getan wird, denn die Arbeit ist gerade insofern ein Selbstzweck, als sie die Vermehrung des Geldkapitals trägt – die unendliche Vermehrung von Geld um seiner selbst willen. Arbeit ist die Tätigkeitsform dieses absurden Selbstzwecks.“

Kurz leitet also die „abstrakte Arbeit“ aus dem Wert ab. Dieses Verfahren führt allerdings zum alten Problem: Wenn der Wert als Erklärung für alles andere (die Arbeit, die Industrie, den Kapitalismus) herhalten muss – wie lässt sich dann der Wert erklären? Daraus ergibt sich auch der idealistische Ansatz von Kurz: Weil er auf diese Frage keine Antwort weiß, kann er sich den Wert nur noch als fixe Idee denken, deren Ursprung irgendwo in grauer Vorzeit verschwindet. Gucken wir also mal, was herauskommt, wenn wir die Gleichung umdrehen – vielleicht lässt sich dann erklären, wo diese Wahnvorstellung herkommt. Damit uns aber im wüsten Niemandsland des reinen Geistes nicht plötzlich eine fixe Idee anfällt, sollten wir uns zunächst mal ideologische Rückendeckung besorgen: Schauen wir mal, was der alte Marx zum Thema sagt.

Auf den ersten Blick scheint dieser voll mit Robert Kurz überein zu stimmen. Auch Marx geht schließlich von der Analyse der Ware aus. So schreibt er z.B. in Zur Kritik der Politischen Ökonomie gleich im ersten Satz: „Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein“ (MEW Bd. 13, S. 15). Genaues Lesen lohnt sich aber: Die Ware erscheint als die elementare Grundlage des Kapitals, aber eben nur auf den ersten Blick. Marx geht von der Ware aus – aber wo geht er hin?

Schon ein paar Seiten später stellt Marx die Sache nämlich schon ganz anders dar. Der Tauschwert, die Ware ist nicht das Primäre, sondern die Arbeit muss selbst schon in besonderer Weise organisiert sein, damit ein Tauschwert herauskommt: Die Warenproduktion setzt „unterschiedslose Einfachheit der Arbeit“, eine „tatsächliche Reduktion aller Arten auf gleichartige Arbeit“ voraus (S. 19). Es ist hier also ähnlich wie beim Arbeitsbegriff: Die Arbeit muss erst einmal selbst abstrakt und gleichförmig werden, damit sich die abstrakte Gleichförmigkeit des Tauschwerts daraus ergibt.

In den vorbürgerlichen Agrargesellschaften diente die Produktion vor allem der Subsistenz, dem eigenen Bedarf. Geld spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Mit der industriellen Produktion ändert sich das: Die Arbeit dient nicht mehr vorrangig der Selbstversorgung, sondern wird zur Arbeit für andere – d.h. in erster Linie für den Unternehmer, in zweiter Linie für den Markt.

Der erste Schritt in diese Richtung ist die um 1700 in England einsetzende ´agrarische Revolution´: Durch neue Methoden können die Ernteerträge beträchtlich gesteigert werden. Zugleich wird der Boden immer mehr in den Händen weniger Grundbesitzer konzentriert. Dadurch wird ein großer Teil der Landbevölkerung ´freigesetzt´. Der ´freie Lohnarbeiter´ entsteht, der nur über sich selbst als Eigentum verfügt und darum zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen ist. Dem folgt als zweite Phase die ´industrielle Revolution´, die Verdrängung des Handwerks durch die industrielle Arbeit (wozu die Erfindung der Dampfmaschine entscheidend beitrug).

Die Produzent_innen wurden dabei von ihren Produktionsmitteln getrennt und der entstehenden Industrie eingegliedert. Der Kapitalismus konstituiert sich so als Klassenverhältnis zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Zur Steigerung der Produktivität wird die Arbeit in Einzelschritte zerlegt, jede_r Arbeiter_in wird auf eine Tätigkeit, ein Produkt, einen Teilbereich im Prozess festgelegt. Eben diese Zerteilung der Arbeit, die „Vielseitigkeit der Bedürfnisse des Einzelnen in umgekehrten Verhältnis zur Einseitigkeit seines Produkts“ (Marx, S.74) liefert die Voraussetzung, damit wirklich Waren produziert werden: Wer den ganzen Tag Schrauben in eine Autokarosserie dreht, kann eben kein Gemüse mehr anbauen, braucht aber trotzdem was zu essen. Die einzelnen Arbeiten müssen also wechselseitig auf­einander bezogen werden – in der Warenzirkulation. Erst dadurch, als Arbeit für den Markt, erhalten die drei Handgriffe, die eine einzelne Arbeiterin ausführt, einen gesellschaftlichen Charakter.

Das „Gesetz des Wertes“, so Marx, setzt also „zu seiner völligen Entwicklung die Gesellschaft der großen industriellen Produktion und der freien Konkurrenz, d.h. die moderne bürgerliche Gesellschaft“ voraus (S. 46). Die Landwirtschaft muss z.B. die nötigen Lebensmittel für die Leute liefern, die in der Industrie mit dem Zusammenschrauben von Autos beschäftigt sind. Umgekehrt produziert die Industrie z.B. Traktoren oder Dünger, damit die Erträge der Landwirtschaft gesteigert werden können. Erst in dieser verallgemeinerten Warenproduktion und -zirkulation erhält das Geld die zentrale Rolle, die es heute spielt.

Der „Wert“ stellt sich dabei nicht als Gegenstand, sondern wesentlich als Prozess der Verwertung dar. Einerseits als Produktion von Mehrwert, d.h. der Marktwert der Waren, die eine Arbeiterin an einem Arbeitstag produziert, ist höher als der Lohn, den sie braucht, um weiterarbeiten zu können. Andererseits wird ein Großteil des so erwirtschafteten Gewinns wieder in die Produktion investiert und dient so der weiteren Akkumulation.

Der klassenlose Kapitalismus

Kurz wirft also Wirkung und Ursache durcheinander, indem er das Geld an den Anfang setzt und dann versucht, die „abstrakte Arbeit“ daraus abzuleiten. Damit geraten ihm nicht nur die geschichtlichen Abläufe ein wenig durcheinander (bzw. muss er sehr weit zurückgehen, um den vermeintlichen Punkt zu finden, von dem das Übel seinen Anfang nahm). Letztlich verflüchtigen sich ihm auch die realen Verhältnisse zu Ideen und Begriffen. Nach seinem ungelenken Schwenk zu den Kanonen bzw. zur realen Ökonomie muss Kurz folglich erst mal weiter „Realabstraktionen“ kritisieren, genauer gesagt die Aufklärungsphilosophie. Denn auch die hätte sich positiv auf die Arbeit bezogen, und damit wiederum die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts angesteckt.

Die Arbeiterbewegung sei nämlich keines­wegs und niemals irgendwie revolutionär gewesen. Nein: „Die Arbeiterbewegung hat sich (…) auf dem Boden dieser Arbeitsabstraktion, des Geldes, der Geldvermehrung einrichten wollen, die wollte hier anerkannt werden!“ Mit ihrer Forderung nach „gerechtem Lohn für gerechte Arbeit“ sei sie ein „Kampf um Anerkennung auf dem Boden dieser Verhältnisse und nicht gegen sie“ gewesen.

Kurz macht es hier ähnlich wie die „Arbeitsabstraktion“: Er subsummiert ganz Ungleichartiges unter einen Begriff – was sich so nicht fassen lässt, existiert für ihn schlichtweg nicht. Zum Beispiel revolutionäre Bewegungen jenseits von Sozialdemokratie und Staatssozialismus (den Anarcho­syndikalist_innen der 30er Jahre ging es in der spanischen Revolution also nur um „Anerkennung“?). Oder ein Unterschied zwischen Funktionären und Basis: Wenn etwa die SPD-Regierung 1919 die revoltierenden Arbeiter_innen von der Reichswehr zusammenschießen ließ, könnte man darin schon einen gewissen Gegensatz von Führung und Basis sehen… Und wieso musste denn zu so drastischen Mitteln gegriffen werden, wenn die Leute doch nur „gerechten Lohn“ wollten?

Widerstand gegen die Arbeit erwähnt Kurz nur an einer Stelle: So habe es im 18. Jahrhundert noch Menschen gegeben „die alles wollten, bloß nicht sich diesem neuartigen, monströsen Zwangsverhältnis abstrakter Arbeit zu unterwerfen“. Nachdem auch die unters Joch gezwungen waren, gab keine Kämpfe gegen die Arbeit mehr, sondern nur noch „Arbeiterbewegung“.

Das hat durchaus seine Logik: Nur indem Kurz alle Bewegungen abseits von Sozialdemokratie und Staatssozialismus ignoriert, kann er seine eigene Theorie als radikalst­mögliche Kritik darstellen. Die Alternative ist allerdings falsch, denn Kurz teilt mit der von ihm geschmähten „Arbeiterbewegung“ die Ignoranz gegenüber den Produktionsverhältnissen. Während der sozialdemokratische und leninistische Umverteilungssozialismus die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft beibehalten und nur das Endprodukt ´gerecht´ verteilen will, beschränkt sich die Kurzsche Wertkritik auf ein letztlich hilf- und begriffsloses Anprangern der Verhältnisse: Kapitalismus ist schlecht, weil er alles kaputt macht und den Menschen ihre Menschlichkeit raubt.

Die Pointe der Marxschen Kritik liegt freilich nicht in der bloßen Feststellung, dass die Verhältnisse schlecht sind, sondern vielmehr in dem Nachweis, dass wir selbst es sind, die diese Verhältnisse produzieren. Für Marx versteckt sich unter der „dinglichen Hülle“ der Ware keine fixe Idee, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis. Der auf rätselhafte Weise in der Ware steckende „Wert“ ist tatsächlich nur der Ausdruck der dafür aufgewandten Arbeitskraft – was uns im Kapital entgegentritt und uns unterwirft, ist das verdinglichte, enteignete Produkt unserer Tätigkeit. Und weil die kapitalistische Produktion auf der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft beruht, steckt schon im System selbst der Konflikt, der es potentiell sprengen könnte.

Dies entgeht Kurz bei seinem angestrengten Starren auf die Ware, den „Wert“. Statt die Ware als vergegenständlichten Ausdruck menschlicher Tätigkeit zu entziffern, gerät sie ihm zur transzendentalen Zwangsgewalt. Indem er den Wert als „Götzen“ attackiert, erhebt er ihn tatsächlich zur finsteren Gottheit, der alle dienen müssen: Ob Putzfrau oder Vorstandsvorsitzender, irgendwie sind alle nur Opfer. Einen Interessensgegensatz von Aus­beuter_innen und Ausgebeuteten gibt es für Kurz nicht, alle handeln nur als „Charaktermasken“, als bloße „Personifikationen ökonomischer Verhältnisse“.

Das ist insofern nicht falsch, als die Arbeiter_innen ja wirklich nicht zum Spaß arbeiten, sondern weil sie Geld brauchen. Da Kurz das reale Zwangsverhältnis aber nur als Zwangsvorstellung begreifen kann, ist der bloße Fakt, dass die Arbeiter_innen arbeiten, für ihn schon der Beweis, dass sie auch arbeiten wollen – dass auch sie dem „Arbeitswahn“ verfallen sind.

Die Krise & die kritische Kritik

Eine Selbstbefreiung der Menschen ist für Kurz damit kategorisch ausgeschlossen. Die Leute sind eben einfach viel zu blöd dafür, so gibt er mit sublimer Arroganz zu bedenken: „Jetzt kann man natürlich sagen: Ja, wenn der Alltagsverstand, die Milliarden von Normalos, die sich nicht mit den Hintergründen (…) des Ganzen befassen, sondern einfach da drin existieren, wenn die nichts anderes wollen als Kapitalismus, das heißt Arbeit haben, Geld verdienen, Waren kaufen… dann müsste es doch ewig so weitergehen können!“

Aber zum Glück gibt es noch einen Ausweg: Die Krise, den endgültigen, unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems. Denn gerade jetzt stößt der Kapitalismus an seine „objektive historische Schranke“. Um diese These zu begründen, beruft Kurz sich auf den „tendenziellen Fall der Profitrate“ – ein Marxscher Begriff, der ungefähr dies meint: Im Laufe der Entwicklung ändert sich die organische Zusammensetzung des Kapitals. Das heißt, der Anteil des konstanten Kapitals (der Maschinerie) wächst im Verhältnis zum Anteil des variablen (der menschlichen Arbeitskraft). Kurz erklärt diesen Vorgang aus der Konkurrenz: Um sich durchzusetzen, müssen die Unternehmer_innen ihre Waren billiger anbieten, also die Produk­tions­kosten senken. Das tun sie, indem sie Maschinen einsetzen. Und da nur die menschliche Arbeitskraft Mehrwert produziert, sinkt darum langfristig der Gesamtprofit – die Eigendynamik der Verwertung führt zur Ver­wertungskrise.

Das passt scheinbar ziemlich gut mit den Tatsachen zusammen. Denn seit dem Ende die Boomphase nach Ende des Zweiten Weltkriegs stolpert die Weltwirtschaft seit nunmehr 40 Jahren von einer Krise in die nächste. Von der Ölkrise der 70er bis zur immer noch fröhlich wütenden „Finanzkrise“ – das Kapital schafft es einfach nicht, eine ausreichend stabile Profitrate zu erwirtschaften. Der „tendenzielle Fall der Profitrate“ ist allerdings nur eine Tendenz, der sich mit diversen Mitteln entgegensteuern lässt, etwa durch Lohnsenkungen oder durch Verlagerung der Produktion in „Entwicklungsländer“. Als letzter Ausweg lässt sich immer noch ein ordentlicher Krieg anzetteln. Alles kaputtschlagen und anschließend wieder aufbauen – die Methode hat sich schon bewährt.

Für Kurz dagegen ist der Fall der Profitrate so was wie ein eingebauter Selbst­zer­störungs­me­cha­­­nismus der Ka­pital­ma­schine: „Das ist ein Prozess, der nicht aufzuhalten ist – er wird ja von der Konkurrenz erzwungen.“ Zusätzlich zur Krise des Geldes, das immer weniger reale Arbeitssubstanz repräsentiert, komme es zu einer Energiekrise durch das Schwinden der fossilen Brennstoffe. „Das alles löst sich natürlich nicht in Wohlgefallen auf“: Vielmehr führe das „Diktat des automatischen Subjekts, des Zwangs der Konkurrenz“ unweigerlich zu Zerstörung und zur Barbarei.

Zumindest, wenn nicht eine Gegenbewegung entsteht, die es wage „die kategoriale Kritik zu formulieren (…) gegen den Alltagsverstand, der mit und Zähnen und Klauen an seiner abstrakten Arbeit festhalten will“. Kurz fordert also nichts Geringeres als eine „Neuerfindung des Kommunismus“. Eines hochgestecktes Ziel, das sich aber sofort in heiße Luft auflöst. So erklärt Kurz nun mit großem Ernst, dass es zur kategorialen Kritik keineswegs genüge, den Begriff der Arbeit nur durch den der „Tätigkeit“ zu ersetzen. Vielmehr brauche es eine „Kritik der Realabstrak­tion“. Es gelte, die Differenz zwischen den verschie­denen Tätigkeiten ernst zu nehmen, denn diese „kann man nicht unter einen Funktionsbegriff, unter einen Tätigkeitsbegriff fassen. Das ist diese destruktive Realabstraktion, die abstrakte Arbeit!“

Da schließt sich der Zirkel: Wenn Arbeit, wie Kurz eingangs meinte, „von den Grundlagen her“ nur ein „abstrakter Begriff“ ist, dann müssen wir eben aufhören zu abstrahieren. Wenn wir nicht mehr ganz verschiedene Tätigkeiten unter einen Begriff bringen, ist der Bann der Realabstraktion gebrochen. „Das ist eigentlich ziemlich einfach, ist auch oft gesagt worden: Der Kommunismus ist das Einfache, das schwer zu machen ist.“

In der Tat. Man muss auch erst mal drauf kommen, dass es dermaßen einfach ist… Mit ein wenig Bosheit könnte man hier das unverarbeitete Trauma eines ehemaligen K-Gruppen-Mitglieds am Werk sehen, das nach endlosen Schulungen in ML-Ideologie den Begriff „Arbeit“ einfach nicht mehr hören kann, aber auch das gute Gefühl, einer Avantgarde anzugehören, nicht missen möchte – und darum flugs den Nicht-Gebrauch des Wortes „Arbeit“ zum neuen revolutionären Programm erhebt.

Diese Strategie ist freilich nur dann erfolgversprechend, wenn tatsächlich der „Arbeitswahn“ das Problem wäre und nicht die Arbeit selbst – in diesem Fall wäre die Kurzsche „kategoriale Kritik“ genauso nutzlos wie die Forderung, die Unter­nehmer_innen sollten doch bitte nicht so gierig sein. So wie diese, wenn sie Unter­nehmer_innen bleiben wollen, Gewinn machen müssen, egal ob sie dabei „gierig“ denken oder nicht, so verschwindet der reale Zwang zur Arbeit nicht einfach, sobald man aufhört, sich positiv darauf zu beziehen. Im Gegensatz zum „Arbeitswahn“ lässt sich die reale Arbeit nicht wegtherapieren, sondern nur abschaffen. Und dies kann nur das Ergebnis praktischer Kämpfe gegen die Arbeit sein, auf dem Boden der Verhältnisse, schon deshalb, weil ein anderer Boden leider nicht zur Verfügung steht. Der Kapitalismus wird uns nicht den Gefallen tun, von allein zusammenzubrechen.

justus

(1) Ein Mitschnitt des Vortrags ist unter mayday2011.blog­sport.eu/media/ verlinkt.
(2) Zu finden unter www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit. Eine gute Kritik am Manifest findet ihr unter www.wildcat-www.de/zirkular/54/z54kritk.htm.
(3) Der Begriff stammt von dem Ökonomen Alfred Sohn-Rethel, der das Verhältnis von Realem und Abstraktion aber anders als Kurz so bestimmt: „Das Wesen der Warenabstraktion aber ist, dass sie (…) ihren Ursprung nicht im Denken der Menschen hat, sondern in ihrem Tun“, d.h. die Idee des Tauschwerts folgt aus der realen Praxis des Tausches.
(4) Das ist gar nicht so banal wie´s klingt. So lange ein Großteil der Arbeit von Sklav_innen, und nicht von formal Freien und Gleichen verrichtet wurde, musste auch die Arbeitsleistung als nicht vergleichbar erscheinen. Ein vom Ge­brauchs­wert abgetrennter Tauschwert war damit im antiken Rom undenkbar.
(5) Darum hinkt auch der von Kurz angestellte Vergleich von Kloster und Fabrik ganz gewaltig: Arbeit als Nachvollzug der Leiden Christi ist eben was anderes als Arbeit für die Warenproduktion. So hat auch die ´Arbeit nach der Uhr´, in der Fabrik eine ganz andere Funktion: Die Arbeitszeit wird gemessen, weil sie der Maßstab für den Wert der Waren ist.

Theorie & Praxis

Hand in Hand

Überlegungen zum Begriff der Selbstorganisierung

Selbstorganisation ist nicht nur ein gegenwärtig wie­der häufig ge­brauch­tes Schlagwort. Im Kontext des Innovations­bedürfnisses staatlicher Verwal­tung, wie sie ja selbst die hohlen Phrasen von „Entbüro­kratisierung“ und „Bürgeren­ga­ge­ment“ allenorts einfordern, ist der Ruf nach Selbstorganisation aktueller denn je (1). Leider dominiert im gegenwärtigen Verständnis jedoch immer wieder der liberal-triviale den emanzipativen Gehalt. Und das nicht zuletzt deshalb, weil das staatsbürgerliche Verständnis in beiden ehemaligen deutschen Satellitenstaaten den Begriff verkürzt mit dem von Selbständig­keit identifiziert hatte und in dem Sinne immer noch unter gesamtdeutschem Banner identifiziert.

Diese Dominanz der liberalen Weltan­schauung, die die Gegenwart nicht abzu­schütteln vermag, weist die moderne, gesellschaftliche Entwicklung als bürger­staatliche aus.

Als politische Parole, die auf gesellschaft­liche Veränderung und Emanzipation jedes Einzelnen zielt, meint Selbstorgansation aber gerade nicht ein bloßes Allein-Stehen-Können, wie es etwa Eltern von ihren Kindern in der Pubertät, oder staatliche Behörden aktuell von Erwerbslosen einfor­dern. Im Gegenteil, allein am Wortlaut wird schon deutlich, daß der Begriff der Selbstorganisation in seinem Gebrauch von je her in Konkurrenz zu jenem Komm-alleine-klar gestanden hat. Die Rede von der Selbständigkeit bezieht sich nämlich eher auf eine gedachte ursprungs-natürliche Fähigkeit des Men­schen (2), den aufrech­ten Gang, und sie begnügt sich damit auch. Der Begriff der Selbstorganisierung dagegen hebt darauf ab, anstatt „nur“ alleine dazustehen, sich eben auch und gerade zu organisieren, um die Geselligkeit und soziale Kultur gegen die Anfechtung von Staat und Kapital zu verteidigen. Und nicht umsonst ist das Wort von der Scheinselbständigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht gern gesehen. Alltag zwar, eingeschossen in die staatliche Verwaltung und nur für die obersten Schichten überhaupt erreichbar, kratzt es doch am Selbstbewußtsein des Bürgers, der partout nicht wahrhaben will, was ihm da schwant. Während Selbstän­digkeit allein also gar nicht über den Status isolierter Indivi­dualität hinausweist, und somit weder einen historischen noch einen praktischen bzw. technischen Aspekt aufweist, ist Selbstorganisation eng an Fragen der Organisierung gebunden, wie sie im Laufe der Entwicklungsgeschichte der Arbeiterbe­wegung aufgeworfen wur­den. Darin bestehen ihre Stärken und Schwä­chen zugleich.

Wenn Selbstorganisation also den Kampf um die Köpfe aufnehmen soll, gegen den Nationalismus im Bürgerstaat, um letzt­lich auch über diesen hinauszuweisen, ist eine Reflektion auf das, was mensch denn da meint, wen er/sie von Selbst­organi­sierung redet, unerläßlich. Einige mögliche Ansatz­punk­te will ich deshalb im Folgen­den skizzieren:

Selbstorganisierte Arbeiterklasse?

Auch wenn viele der Organisierungsfrage auf den ersten Blick und eben wegen ihrer ideologischen Verortung ablehnend gegen­überstehen, zählt sie m. E. zu den frucht­barsten, die im Kontext des auf­kläre­rischen Politikverständnisses aufge­wor­fen wurden. Die Infragestellung der korpora­tions­theoretischen Verbindungs- und Ver­bands­lehren des Mittelalters und damit auch der ständischen Festschreibung unter­schied­licher gesellschaftlicher (noch als natür­lich angesehener) Ausgangslagen, wie sie im Zuge der Industrialisierung und dem Einsetzen der Kritik an deren Auswir­kun­gen gegeben ist, erreichte mit dem Gleich­heits­­postulat des frühen Sozialismus eine enorme gesellschaftliche Breitenwir­kung. Die Frage nach der richtigen Organi­sierung hat das politische Leben des 19. Jahrhun­derts geprägt, wie kaum eine an­dere Frage, inspiriert von Humanismus und einem grund­­­sätzlichen Optimismus in die eman­zi­pa­tiven Potenziale mensch­licher Verge­sell­schaftung. Mit ihrem Aufkom­men und in ihr zeigt sich erstmals das Selbst­bewußt­sein gesellschaftlicher Kräfte jen­seits der bürgerlichen Groß­spurigkeit, der moderne National­staat wäre die ultima ratio der Weltge­schichte. Die Frage nach der rechten Art und Weise der Organisation hat nicht nur die patriarchische Herr­schafts­­struktur in der Großfamilie aufge­deckt, sondern auch die Projektion dersel­ben auf die ver­schie­denen hierar­chischen Dis­posi­tionen (3) in der bürger­lichen Ge­sellschaft. In der Phrase „Prole­tarier aller Länder, vereinigt euch“ war letztlich mit der Or­ganisierung der Armen und Ausgebeute­ten dieser Welt die größte Anfechtung der bür­gerlich kapita­listischen Vergesellschaf­tungs­form bereits gegeben. Nicht zuletzt deshalb wurde der Begriff der Selbstorgani­sie­rung seit seiner poli­tischen Taufe vehe­ment ideologisch und von staats­wegen bekämpft. Und noch darüber hinaus: Es ließe sich ohne große Umschwei­fe die Durchset­zungs­ge­schichte des moder­nen Staates im und als Kampf gegen alter­native Organi­sierungsmodelle schrei­ben. Mit der Ver­schär­fung der sozialen Span­nun­gen, wie sie die krisen­hafte Entfaltung der bürger­lichen Gesell­schaft hervorbrach­te, setzte auch eine politische Verfolgung völlig neuer Qualität ein. Verwaltungs­macht und Ge­walt­­mono­pol sind seitdem stets ange­wach­sen. Histo­risch betrachtet, ist deshalb die Fra­ge der Selbstorganisation auch nicht ab­zu­­lösen von einer Gegenmacht wider die staat­liche Verwaltung des gesellschaft­lichen Lebens.

Freilich wurden in der Euphorie der Bewe­gungen auch und insbesondere viele Fehler gemacht, es gab nur wenig Wissen und Er­fah­run­gen, einen überhöhten, idea­lis­tischen Kollektivismus und viele Adap­­tionen aus dem bürgerlichen Ver­bands- und Ver­waltungswesen. Viele Organisations­ideen waren wesentlich dem Zweck unter­wor­fen, mit der Machtergrei­fung und dem Gewalt­monopol die staat­liche Verwaltung zu kon­trol­lieren. Interne Hierarchien, Büro­­kra­ti­sierung, Kontrolle, Partizipa­tions­verluste wur­den in Kauf genommen oder gar nicht reflektiert. Darin wurden die Or­ganisationen der „Arbeiter­klasse“ den bürgerlichen immer ähnlicher, und damit dem Vorschein Marxens von der Assoziation freier Menschen immer unähn­licher. Aus dem „Arbeitskampf“ insti­tu­tio­na­li­sierte sich in der Nachkriegszeit recht schnell die „Tarifrunde“. Schließlich zei­tig­­te die Ineinssetzung von Selbstorganisa­tion und staatlicher Verwaltung fatale gesell­schaft­­liche Folgen, wie die national- und auch staatssozialistischen Regime im 20. Jahrhundert die bittere Beweisführung an­tre­ten. War das Subjekt selbstorga­nisierter Prozeße am Anfang noch durch konkrete In­di­viduen bestimmt, wurde daraus in der Folge der Verwirklichung selbiger inner­halb der Arbeiterbewegung ein immer abstrak­teres Subjekt, welches mit dem Selbst, das sich da organisiert, identifiziert wurde, ohne dessen Partizi­pations- und Gestaltungs­spiel­räume genügend zu beach­ten. Der Eindruck, den die Rechts­staatlich­keit (4) der bürger­lichen Gesellschaft auf solche „selbstorgani­sier­ten Projekte“ mach­te, wäre eine eigene Untersuchung wert.

Feststellen läßt sich, daß die Organisie­rung der „Arbeiterklasse“, so wie sie sich historisch vollzog, weit hinter den Erwar­tungen zurückblieb, die man zuförderst in sie gesetzt hatte. Da, wo sie als Institu­tio­nszusam­men­hang heute noch existiert, Verwaltungs­mas­se eini­ger weniger, hat sie jede Hoff­nung der Überwindung bürgerlicher Ver­ge­sellschaf­tungs­formen aufgegeben und damit jeden emanzipa­torischen Gehalt. Durch revisionis­tische Strö­mungen (5), unaus­gereifte Orga­ni­sationsmodelle und mangeln­de herr­schafts­kritische Reflek­tion auf die eigenen Strukturen, durch eben jene Identi­fizierung von Organisation mit Staat, ist aus einer progressiven Bewe­gung umhegte Institution geworden. In einem gewissen Sinne sind viele Versuche der Selbstorgani­sation innerhalb der Arbei­ter­bewegung in der bloßen Selb­ständigkeit geendet, und damit zu stumpfen Waffen im Kampf um bessere gesellschaft­liche Verhältnisse geworden.

Wer? Wo? Wie? – Hauptsache organisiert?

Ich habe versucht zu zeigen, daß mensch in gewissem Sinne auch anhand der histo­rischen Entwicklung der Arbeiterbe­wegung von Selbstorganisation sprechen kann. Und zwar genau dann, wenn man das Subjekt einer solchen Organisierung unter der Kate­gorie „Arbeiterklasse“ faßt und diese bspw. auf die Mitgliedslisten der sozialistischen Bewegung bezieht. Daran konnte zum einen der historischen Hinter­grund ausgeleuch­tet werden, auf dem über­haupt von einer gesellschaftlich-progressi­ven Organi­sie­rung geredet wurde, und zum anderen zeigte sich, daß gerade das Verhält­nis von Subjekt der Selbstor­ganisation und Art und Weise der Organi­sation von zen­tra­ler Be­deu­­tung ist. Eine nähere Bestim­mung so­wohl jenes Subjek­tes, das sich da organi­siert, scheint notwendig, ebenso wie die Prüfung der Mittel, Techniken und Prak­tiken von selbstorganistierten Projek­ten. Denn deutlich ist: heute bspw. Mit­glied in einer der klassischen Gewerk­schaf­ten zu sein, hat weder emanzipatives Poten­tial, noch hebt sich diese Organisierungs­form wesentlich von staatlicher Verwal­tung ab. Interne Hierarchien und Kontroll­sys­teme, Legiti­mations- anstelle von Parti­zipations­pro­zeßen, zentrale Bürokra­tie und Verwal­tung prägen das Bild.

Dabei haben sich die Mittel von Kommu­ni­kation und Assoziation im letzten Jahr­hundert enorm ausgewachsen. Über­haupt scheint mit der fortschreitenden Entwick­lung der Mittel und Techniken, die An­wen­dung immer weiter degeneriert zu sein. Dem Anspruch und der Not­wendigkeit, sich den Problemen der bürgerlichen Ver­ge­sellschaftung gemein­sam und solidarisch zu stellen, steht die individuelle Isolation in der modernen Gesellschaft gegenüber. Und von hier ist auszugehen. Denn diese gesellschaftliche Isolation, die dem Indivi­duum so unüber­windlich scheint und durch allerlei Mecha­nismen der bürger­lichen Gesellschaft reproduziert wird, ist eben nicht Folge der je eigenen Indivi­dua­tion, sondern Ausdruck der gesell­schaft­lichen Verhält­nisse. Und genau hier findet eine wie auch immer stilisierte Individua­lität ihre Grenze in dem Sinne, daß dahin­ter ein breites Feld von Mög­lich­keits­spiel­räumen da­rauf war­tet, von Men­­schen ge­mein­sam und so­li­darisch ge­stal­tet zu wer­den. Es ist genau das Feld, in dem das Indivi­du­um seine/ihre je ein­zel­nen Be­dürf­nis­sen als mit an­deren ge­mein­­same ent­deckt. Diese Ge­stal­tungs­macht ist der (rechts)staat­lichen not­wendig entgegenzu­stel­len. Des­halb soll und muß Selbst­organi­sierung das Indivi­duum nicht etwa ein­gren­zen oder unterdrücken, sondern soll und muß sich neben der ge­mein­samen Lö­sung kollek­tiver Not­wen­dig­­keiten auch gerade da­­durch aus­weisen, daß sie die konkret in­di­viduellen Hand­lung­spiel­räu­me erwei­tert. In dem Sin­ne, wie da­durch Emanzi­pation von staat­licher Bevor­mun­dung mög­lich und wirk­lich wird, ist Selbst­organisierung auch ak­tuell, progres­siv und emanzipativ, auf eine bessere Gesel­lig­keit der Menschen ge­rich­tet. Und eben das un­ter­scheidet Selbst­or­gani­sie­rung auf ihrem historischen Hin­tergrund von kor­pora­tistischen und hierar­chischen Organi­sa­tionsformen, die immer auf die Beschnei­dung individueller Entfal­tung jedes Einzel­nen und aller zielen. Ver­ant­­wor­­tung statt Loyalität, Vertrauen statt Kont­­rolle, Solida­rität statt Kon­kur­renz, Gemeinsam­keit statt Isolation, Gesel­lig­keit statt Verwal­tung – so könnte mensch die Signatur der richtigen, weil bedürfnis­be­frie­­di­­genden und emanzipativen Orga­ni­sie­­rung be­schrei­ben. Es ist dies die Ideal­form der Selbstorganisierung, die auch nur dann eine Chance auf Verwirklichung hat, wenn sie die gestalten, die auch betrof­fen sind. Über die Mittel und Art und Wei­se dage­gen kann und muß viel gestrit­ten werden. Sowohl ein monatlicher Lek­türe­­kreis als auch eine wöchentliche Nach­bar­­schafts­runde können entwickelte For­men der Selbst­organisation sein, genauso wie dem Namen und Anspruch nach „selbst­or­gani­sierte Projekte“ in der Pflicht sind, ihre ei­ge­ne Organisatiosnform selbst­kri­tisch auf korporatistische Elemente, Kont­rollmecha­nismen, interne Hierar­chien und Parti­zipa­tionsver­luste zu prü­fen, wollen sie ihrem eige­nen Anspruch gegenüber gerecht bleiben. Nie­mand ist vor der Fehlbarkeit der eigenen Vor­stel­lungen sicher, aber das ist kein Grund, es nicht zu ver­suchen. Schließlich ist Organi­sation kein Muß, wie die linke Orthodoxie nicht müde wird zu predigen, die Welt muß nicht besser werden, aber sie kann, das allein ist den Gedanken und den Versuch wert. Selbstor­ganisation ist deshalb für mich in dem oben beschrie­benen Sinne der Vor­schein eines besseren Lebens, das über meine bloße Selb­stän­digkeit hinausweist, eben auch eine Kulturfrage.

Denn das wäre doch von der zukünftigen Entwicklung von Geselligkeit zu erwarten, daß sie Zufriedenheit, Glück und ein schönes Leben ermöglicht, unabhängig von den denkbarsten individuellen Un­wäg­bar­kei­ten. Dazu ist meines Erachtens und im Blick auf die historische Ent­wicklung das Zurück­drängen der staat­lichen Verwal­tung nur die Kehrseite derselben poli­tischen Aufgabe, die da heißt: Laßt Euch nicht organisieren, organisiert Euch selbst!

clov

(1) Der sächsische „Landesvater“ Milbradt sprach sogar jüngst im Landesparlament von der notwendigen Selbstorganisation der Bürger. Im Alter kann mensch schon einmal durchein­anderkommen, oder weiß Herr Milbradt letztlich gar nicht, wie Selbst­organisation und Selb­ständigkeit zu unter­scheiden wären. Ein Hoch auf die Weisheit der politischen Führer.
(2) Der Begriff zielt hier auf die liberalen Versuche ab, den Menschen mit einem quasi unveränderlichen Kern, seiner Natur, über die er nicht hinaus kann, zu identi­fizieren. Freilich sind diese Versuche alle ohne wesentliche Ergebnisse geblie­ben, da der Mensch sich gerade durch seine Varianz, Offenheit und Geselligkeit aus­zeich­net, die eben nur im Kontext sozialer Beziehungs­gefüge erklärbar wird.
(3) Hier ist vor allen Dingen gemeint, daß bestimmte, eng umschriebene Rollener­war­­tungen an das Individuum herantreten, innerhalb derer die Entfaltungsspielräume extrem begrenzt bleiben. In diesen Rollen­bildern werden so Hierarchien bspw. als selbstverständlich geltende Konvention reproduziert und psychologisch durchge­setzt.
(4) die nur abstrakte Subjekte, die Rhetorik der Kommentare und die Willkür der Richter kennt.
(5) Eduard Bernstein (s. auch Feierabend! #16: „Zum Revisionismus in der deutschen Sozial­demokratie“) bspw. identifizierte staatliche Verwaltung eindeutig mit sozia­listischen Organisationen und trieb damit die Degene­ration der Sozial­demokratie voran.

Theorie & Praxis

KARL POLANYI (1886-1964)

Sozialismus als staatlicher Interventionismus am Markt?

 

Wenn gegenwärtig in Deutschland das Rheinische Modell der national sozialen Marktwirtschaft auf dem Wahlbanner einer an ihren asozialen Reformen gescheiterten SPD-Regierung steht und gleichzeitig der Ruf nach dem starken Staat den Os­ten des neuen Großdeutschlands politisch mobilisiert, dann wird dabei nur selten ein Blick in die Geschichte gewagt. Die Fra­ge nach Regulierung und Deregu­lie­rung der Märkte jedoch, nach starker Hand und staatlicher Intervention sind ja kei­nes­­­wegs neu, sondern im Gegenteil so alt wie der Revisionismus in der deutschen Sozial­demokratie. Deshalb will ich im Fol­gen­­den einige Schlaglichter auf die Arbeiten eines in der Nachkriegszeit im sozialde­mo­kratischen Lager hofierten Ökonomen und Histori­kers werfen, dessen Thesen, An­schlüße an Marx und letztlich auch dessen Leerstellen viele Sozialdemokraten in­spirierten und damit nicht unerheblich zur Installation eines stark regulierten (Arbeits-)­Marktes u.a. in Deutschland beitrugen. Die Abhandlung ist nicht umfassend und versteht sich als Lektüreeinstieg.

Karl Polanyi schließt 1944 mit seiner Mo­no­graphie „The Great Transformation. Poli­tische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschafts­systemen“ (1) in bemerkens­wer­ter Weise an den Ge­schichts­materialismus Marxens an. Die Methodik ähnelt dabei aber eher an Max Webers vereinfachendes Modell „idealtypischer Geschichtsschreibung“ als an das komplizierte Verhältnis von Theorie und Praxis, idealer Begriffe und materialistischer Geschichte bei Marx. Tatsächlich stellt Polanyis Denkfigur den objektivistischen Kern der materialistischen Ge­schichts­auffassung noch einmal deutlich heraus. Insoweit die Geltungsfrage hierbei nicht gestellt wird, insoweit die Vorzüge und Details seines internationalistischen Vergleichs betont sind, selbst bei aller Gleichzeitigkeit im Ganzen, insoweit kann Polanyi die Stärke und Reichweite der materialistischen Weltanschauung in erstaunlich bündiger Weise am historischen Material konstatieren und auch aktualisieren. Dagegen zeigt sich in seiner Bewertung politischer Bewegungen, in seinen vagen und bloß idealtypischen Begrifflich­kei­ten von Sozialismus, Liberalismus und Faschismus, in seiner Vorstellung von Staat und Gesellschaft, die ganze Problematik dessen, worum bspw. Michel Foucault in seinen Wissen/Macht-Analysen kreist. Indem nämlich Wahrheit im Objektiven behauptet wird, wird auch das einzelne (Erkenntnis-)subjekt von Wahrheit sus­pen­diert. Die politische Folge einer sol­chen Haltung ist letztlich eine Biopolitik „von oben“, die sich unter dem Banner des Wahren, Guten und Gerechten gegen die einzelnen Körper richtet, durch die di­ver­sen Mittel der Unterwerfung, Kontrolle und Strafe.

Polanyis Vorschlag des staatlichen Inter­ventionismus als Konzept zur (gesamt-)gesellschaftlichen Kontrolle für das Wohl aller wiederholt so noch einmal den optimistischen Geschichtsidealismus der sozialistischen Bewegung und vor allen Dingen deren parlamentarischer Akteure in seiner ganzen Virulenz, ohne allerdings viel Wert darauf zu legen, welche politischen Bewegungen denn diese „neue“ Politik durchsetzen und verwirklichen sollten. Polanyi gibt nicht viele Hinweise, aber sein Konzept einer Interventions-Politik zielt auf einen ganz bestimmten sozialpolitischen Akteur ab, auf den nationalen Mehrparteien-Staat, der ähnlich den Bernsteinschen Ansichten (2), durch sozialökonomische Kontrolle von „Arbeit, Boden und Geld“ den liberalen Kapitalismus zu einem sozialen machen, eben jene „Anpassungsmittel“ entwickeln soll, die in den Augen Luxemburgs nur zum Betäubungsmittel der sozialrevolutionären Bewegung taugten.

Die Große Transformation

Die angeborene Schwäche der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war nicht, dass sie eine Industriegesellschaft, sondern dass sie eine Marktgesellschaft war.“ (3)

Der historischen Analyse Polanyis kommt schon insoweit Bedeutung zu, wie er das Ganze der kapitalistischen Vergesellschaftung, nicht mehr der Tendenz nach betrachtet, nach dem Grad der Expansion kapitalistischer Produktionsweisen, wie klassischer Weise noch Marx, sondern ein echtes Kriterium für die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse (als sozialökonomischen) anzugeben weiß: Den rechtspolitisch inthronisierten Markt. Das dem Kapitalismus inhärente, positive Moment, welches die Marxistische Theorie wahlweise mit der Organisierung der arbeitenden Massen oder dem Grad der sozialen Arbeitsteilung identifizierte und gerade zu dessen Optimismus Anlaß gab, zum Sozialismus (als Kommunismus) sei der Weg nur kurz, ist bei Polanyi jetzt der Arbeitsmarkt. Er verdeutlicht dies an der Ablösung des Speenhamland-Systems (4) im England des frühen 19. Jahrhunderts durch ein nationales Armenrechtsgesetz. Erst dadurch, so meint er, würde der moder­ne Industrie-Kapitalismus voll wirksam. Entscheidend für die Über­legungen Pola­nyis ist dabei nicht nur eine Revision der marxschen Perspektive sondern vor allen Dingen auch seine Kritik an der klassischen, liberalen Nationalökonomie und deren Utopie eines selbstregulierenden Markts. Aus Polanyis Perspektive besteht nämlich die Transformation der frühin­dus­triellen Vergesellschaftung zur modernen gerade darin, auf Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise und der Ausprä­gung universalis­tischer Staatsideen zu ei­nem regulierten Markt um Arbeit, Boden und Geld überzugehen. Daß sind die bei­den Wur­zeln, die ökonomische und die poli­tische, die seiner Ansicht zu den „Spannungen“ führen. Polanyi meint die krisenhafte Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft durch Ar­beit im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, vermeidet es aber tunlichst von Krise zu reden. Ein taktischer Zug, um nicht in die Verfänglich­kei­ten des Diskurses um die marxistische Krisen­theorie zu geraten? Eine Distanz zu Marx ganz sicher. Er ist viel zu sehr Öko­nom, um noch an das Gesetz vom Fall der Profitrate oder an das Lohngesetz zu glauben. Polanyi sieht den Konstruktionscharakter der ökonomischen Verhältnisse durch rechtliche Normierung. In diesem Sinne vollzieht er auch zum Teil eine histo­rische Kritik politischer Ökonomie. Aller­dings nicht auf dem Hintergrund der Annahme, die Gesellschaft als sozialöko­no­mischer Zusammenhang wäre eine durch Klassen geprägte, eine bürgerlich dominierte also, sondern von dem Gesichtspunkt einer falschen, weil liberalistischen Interventionspolitik am Markt aus. Seiner Meinung nach war es eine ökonomische Notwendigkeit, den aufsteigenden Natio­nal­staat in eine Marktgesell­schaft zu transformieren, nur dass den liberalen Köpfen dabei das Ideal einer selbstregulieren­den Ordnung und eigene politische Engstirnigkeit entgegenstand, um die sich daraus ergebenden Chancen sinnvoll zu nutzen. Polanyi pocht darauf, dass dieser Markt als Ordnung über­haupt erst durch politische Intervention entstanden ist, wenn auch mit all den grässlichen Folgen für den Großteil der arbeitenden Massen: „Die grausame Perver­sion bestand ja gerade darin, dass die Arbeiter zugegebener­maßen zu dem Zweck emanzipiert wurden, damit die Drohung mit dem Hunger wirksam werden könnte.“ (5)

Durch die Entfaltung einer rechtlich normierten Regelung von Angebot und Nachfrage, gerade in Bezug auf die Arbeitskraft, mit der Armengesetzgebung, stürzten die liberalen Staatsadepten und das hinter ihnen stehende, nach billiger Arbeitskraft hungernde Industriekapital weite Teile der arbeitenden Massen in die bürgerliche Gesellschaft und die Abhängigkeit von kapitalistischen Produktionsweisen erst hinein. Dies hält Polanyi aber nur deswegen für fatal, weil die liberalen Staats- und Markt­lenker sich dabei selbst diese poli­tische Macht der Ordnung des Mark­tes verleug­neten, anstelle mit klugen Interventionen im Sinne des Allgemeinwohls zu agieren. Den liberalen Vorwurf in England bspw., die staatliche Intervention durch das Speen­hamland-System hätte die ursprüngliche, selbstregulierende Ordnung des Marktes zerstört, begegnet Polanyi lapidar damit, dass „in Wahrheit“ vorher gar keine Ordnung des Marktes existierte. Seine The­se ist ja auch nicht, dass der Markt kei­ne eigenständigen Dyna­miken hätte, sondern dass die Liberalen keineswegs vor politischen Interventionen (wie bspw. in der Frage des Goldstandards) in den Markt scheuten, dies sich aber nicht eingestehen woll­ten und weiter an einer Selbstregulation trotz Intervention festhielten. Gleich­zeitig, und das hält Polanyi, hier klassisch marxistisch, für den Hauptgrund der falschen Politik, war aber auch, durch die liberale Hegemonie – oder in marxistischer Terminologie durch die Herrschaft der Bourgeoisie – ein großer Teil der Menschen, in dessen Interessen ja solche Interventionen liegen würden (und sollten), von jeglicher politischen Einflußnahme abgeschnitten, schlimmer noch, es galt die Doktrin vom Klassenstaat: „In England wurde es zum ungeschriebenen Gesetz der Verfassung, dass der Arbeiterklasse das Stimmrecht verweigert bleiben müsse.“ (6)

Polanyi greift hier wesentlich die (nicht nur) liberale These an, die Arbeitskraft wäre eine Ware, deren Preis (Lohn) sich aus Angebot und Nachfrage bestimme. Mit der Folge, dass in den Lohnstreiks eben das (wenn auch illegitime) Mittel der Arbeiterschaft zur Preisfestsetzung ihrer Arbeit gesehen wurde und aus der liberalen Perspektive schon mehr als genügend politische Partizipation bedeutete.

Demokratiedefizite und ökonomische Unzulänglichkeiten/Krisen durch den Irrglauben einer falschen liberalen Politik im Übergang zu einer modernen Marktgesell­schaft, so könnte man die kritische Signatur Polanyis zusammenfassen. Die Folgen solcher selbsttäuschenden, ideologisch durchdrungenen und letztlich eben auch interessegeleiteten Politik zeigt er sehr ausführlich in den verschiedenen Entwicklungen der einzelnen Nationalstaaten auf: an der Währungsfrage, der Frage der Budgetierung, am sich nach dem Krieg international entfaltenden Kreditsystem, am Hin und Her der wechselnden Regierungen. Die große Weltwirt­schafts­krise von 1929 führt Polanyi nicht unerheblich auf diese liberalistische Unentschiedenheit zurück:

Die Hartnäckigkeit, mit der die Anhänger des Wirtschaftliberalismus in einem kritischen Jahrzehnt autoritäre Interventionen im Dienst einer Deflationspolitik unterstützt hatten, führte bloß zu einer entscheidenden Schwächung der demokratischen Kräfte, die an­sonsten vielleicht die faschistische Katastrophe hätten abwenden können.“ (7)

Bei aller Schockerfahrung, die er mit seiner ganzen Generation teilte, im Angesicht des grausigen Schlachtens, welches die faschistischen Bewegun­gen Europas entfalteten – vom deut­schen Reichadler getragen – bedeutet die Absage an die politischen Bewe­gungen, der sein Konzept des staat­lichen Interventionismus beschreibt, auch die Abkehr von jedem Partizi­pationsgedanken, von jeder ech­ten Emanzipation, jedem aufklärerischen Ideal schließlich. Das Bewusstsein der Einzelnen bleibt ausgeschlossen von der Theorie, von den „objektiven“ Dingen, die „da oben“ vor sich gehen, von den wichtigen Inter­ven­tionen des Staaten in den richtigen „objektiven Situationen“, von dem was Parteifunktionäre eben so den ganzen Tag machen: „Die echte Antwort auf die drohende Bürokratie als Quelle des Machtmissbrauchs besteht darin, Bereiche unumschränkter Freiheit zu schaffen, die durch eiserne Regeln geschützt sind.“ (8)

Es zeigt sich letztlich, dass Polanyis Frei­heits­begriff kaum trägt. „Eiseren Regeln“ die „Bereiche unumschränkter Freiheit“ schaffen? Erst alles durchgehen lassen und dann aber richtig drauf!? Seine offensichtliche Ideologiekritik am Liberalismus, die ja im politischen Sinne auch herr­schafts­kritisch ist, hat ihn nicht so weit ge­führt, diese auf die eigene politische Perspektive zu verlängern und sich zu fragen, wer eigentlich das Subjekt dieser „neu­en“ Interventionspolitik sein soll und wie denn die tatsächlichen Bedürfnisse der ar­beitenden Menschen in markttech­nischen Interventionen zur Geltung kommen. Von Polanyis Optimismus bleibt des­halb mehr nicht als Funktionärslogik zurück. Die Un­zu­länglichkeiten einer solchen Betrachtungsweise, werden offensichtlich, wenn er versucht, das Phänomen des Faschismus begrifflich zu fassen: „Wenn es je eine politische Bewegung gab, die den Erfordernissen einer objektiven Situation entsprach und nicht das Ergebnis zufälliger Ursachen darstellte, dann war es der Faschismus.“ (9)

Doch was sind die „objektiven Situationen“, wie unterscheiden sie sich von den Ergebnissen „zufälliger Ursachen“ und wer agiert? Polanyi ist schnell dabei, die Schuld am Faschismus verfehlter liberaler Marktpolitik und antidemokratischen Tendenzen im Bürgertum zuzurechnen. Als Putsch (Scheinrebellion) einer kleinen Elite, die ohne echte politische Bewegung die Macht quasi geschenkt bekam. Er bekommt dabei einfach nicht in den Griff, worin die Qualität des Faschismus, zumal nationalsozialistischer Prägung, bestand: in der plötzlichen Entfaltung einer politischen Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem Herzen der Nation. Sie kam plötzlich, weil sie gar keine eigenen Organisa­tions­formen benötigte, sie zielte ja auf die vorhandenen nationalen. Wie Polanyi den Kern des Faschismus mit einer autoritären Machtclique verwechselt, so irrt er sich auch in Bezug auf den Revisionismus, Nationalismus. Sie sind schließlich als die politischen Schlüsselmomente anzusehen, die der Rechten den parlamentarischen Weg zur Macht (zur zentralen Kontrolle des Staats), durch die liberale Verteidigung hindurch, überhaupt erst ermöglichten.

Letztlich, und das zeigt sich gerade an der Vorstellung von „Bewegung“, fällt Polanyis Konzeption bei aller gewollten Nähe zu Marx hinter diesen zurück. Daß der aufstrebende Staat im 19. Jahrhundert im Dienst der Bourgeoisie und nicht in dem der arbeitenden Massen stand, war für Marx offensichtlich. Seine Kritik und letztlich die darin intendierte poli­tische Intervention richtete sich ge­gen die Art und Weise, wie die kapi­ta­lis­tische Produktion organisiert war, sie appellierte an das Bewusst­sein der dort Arbeitenden, sich gegen ihre Zurichtung und Ausbeutung zu wehren. Für Polanyis Überlegungen spielen politische Bewegungen, das Bewusstsein der einzelnen Indi­vi­du­en, ihre Organisierungsformen, ihre Ideale und Ziele gar keine Rolle mehr. Mit den demo­kratischen Spielregeln (Stich­wort: An­alpha­beten-Wahl) des national­parla­­men­­tarischen Mehrparteiensystems, mit der Macht der sozialis­tischen Parteien über politische Interventionen am (Arbeits-)markt, mit der Macht auch mal in den kapitalistischen Alltag eingreifen zu können, hat sich der sozialistische Traum für Polanyi erfüllt: „Sozialismus ist dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innenwohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewusst einer demokratischen Gesellschaft unterordnet.“ (10)

(clov)

(1) Karl Polanyi, „The Great Transformation“, Suhrkamp, Frankfurt (Main), 1990 (1944)

(2) zum Revisionismus Eduard Bernsteins siehe u.a. Feierabend! #16, „Zum Revisionismus i. d. dt. Sozialdemokratie“, S. 12ff

(3) Ebenda, S. 331

(4) Das einzige aus der Geschichte bekannte System einer prinzipalischen Einkommensgarantie, das im Jahre 1795 von den Friedensrichtern von Berkshire in einer Zeit großer Not der von ihrem Land vertriebenen Armen beschlossen wurde. Diese Grundunterstützung wurde hierbei an den Brot-Preis gekoppelt.

(5) Ebenda, S. 299 – Das ist im übrigen auch die Kehrseite dessen, was bspw. Liberale wie T.H. Marshall noch als Errungenschaft des bürgerlichen Rechtstaats feiern, diese angebliche Freiheit, seine Arbeitskraft zu Markte tragen zu können.

(6) Ebenda, S. 300

(7) Ebenda, S. 311

(8) Ebenda, S. 338

(9) Ebenda, S. 314

(10) Ebenda, S. 311

Das Private ist das Politische

AnarchaFeminismus gestern und heute

Ich glaube, Männer müssen zumeist erst lernen, Anarchisten zu sein. Frauen brauchen das nicht zu lernen.“ (Ursula K. LeGuin, feministische Science-Fiction-Autorin, 1981.)

Im deutschsprachigen Raum wurde der Be­­­griff AnarchaFeminismus Ende der 70er Jahre durch Übersetzungen der ra­di­­kal­femi­nis­ti­schen US- Amerikaner­innen Peggy Korneg­ger und Carol Ehrlich be­kannt (1). Für Ra­di­kal­feministinnen liegt im Patriarchat die Wur­zel aller Zwangs­ver­hältnisse. Kornegger und Ehrlich um­rahmten ihren Ansatz mit der Theorie des kommunistischen Anarchis­mus im Sinne Alexan­der Kropotkins. Diese liefert eine um­fassende Kritik der gesell­schaft­lichen Herr­schaftsverhältnisse und ein klares Ver­ständ­nis von Hierarchie und Au­to­rität. Der radikale Feminismus seiner­seits hat den Zusammenhang aller Arten von Un­ter­­drückung erkannt und zwingt die männ­lichen Teile der Bewegung zu einer kri­tischen Reflektion ihres Rollen­ver­­ständ­­nisses. Der von Emma Goldman ge­präg­te Grund­satz „das Private ist das Po­li­­tische“ (2), sowie die Bevorzugung von nicht hierar­chischen Beziehungen und dem Arbeiten in Kleinstgruppen, sind bei­de Ansätze ver­pflich­tet. Stellenweise ent­sprechen bzw. ergänzen sich also Anar­chis­mus und radikaler Femi­nis­mus. Für viele Fe­mi­nistinnen galt aber aus­schließlich der Sexismus als Wurzel der Unter­drückung und so sind und waren die Hand­lungs­kon­sequenzen alles andere als anar­chis­tisch, wie mensch zum Beispiel an der weit ver­breiteten Matriarchatstheorie inner­halb der feministischen Bewegung sehen kann. Für den AnarchaFeminismus kann die Beendigung des Patriarchats nur ein Ziel im Kampf um Herrschaftsfreiheit sein.

Frühe Wurzeln

Mit der Entstehung der anarchistischen Be­wegung in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahr­hunderts wendeten sich auch viele Frauen den neuen Ideen und Idealen zu. Die Mehr­zahl der anarchistischen Männer waren Antifeministen und standen der tradi­tio­nellen Rollenver­teilung völlig unkritisch gegen­über. Die anar­chistischen Frauen machten da­her auf die Bedeutung des Feminismus inner­halb der anarchistischen Theorie auf­merk­sam. Be­sonders hervor­zu­heben ist dabei Louise Michel, die führende Femi­nistin und Sozial-Revolutionärin zur Zeit der Pariser Kommune (3) und die damals wohl po­pu­lärste Wortführerin des anar­chis­­tischen So­zialismus. Im bewaffneten Kampf um die Kommune zeigte sich ihr deut­lich, dass die Frauen in Sachen Mut, Ent­­schlossen­heit und Fähigkeiten ihren männ­lichen Mit­streitern in nichts nach­stan­den. Dies be­stätigte sie in ihrer An­sicht, dass die Frau nicht von Natur aus dem Manne unter­wor­fen ist, sondern bereits in der Kindheit zur Unter­würfig­keit erzogen wird. Des­halb gründete sie auch mehrere auto­nome selbst­verwaltete Schulen. Trotz­dem blieb der Kampf der Frauen innerhalb der anar­chistischen Be­wegung von unter­ge­ord­ne­ter Priorität, da er sich mit der Ablösung des bürgerlich-ka­pitalistischen Systems, nach ihrer Über­zeugung, von selbst erledigen würde.

Emma Goldman

Emma Goldman (1869-1940) versuchte in ihrem Leben ihren Grundsatz „Das Pri­vate ist das Politische“ konsequent um­zu­setzen. So verzichtete sie aus Protest gegen die herrschenden Rollenvorstellungen auf die Mög­lichkeit Kinder zu bekommen, in­dem sie eine notwendige medizinische Be­hand­­lung unterließ. Diese Konsequenz, die ihre politischen Positionen begleitete, stieß bei fast allen männlichen Mit­streitern und sogar in der feministischen Bewegung auf Be­frem­dung. In ihrem Werk entwickelte sie revo­lu­tionäre Vorstellungen zur Ge­schlechts­rollen­zu­weisung und freier Liebe. Leider war es ihr unmöglich, die alternativen Rollen­muster zu leben, die sie in ihrer Utopie ent­wickelte, da diese sogar von den anarchis­tischen Männern in ihrem direk­ten Umfeld abgelehnt wurden. In ihrer Schrift „Das Tragische an der Emanzi­pa­tion der Frau“ (1911) kritisiert Goldman die damalige Emanzipationsbewegung. Für diese Be­wegung war der Kampf um Gleich­­be­rech­tigung, ein Kampf um eine Gleich­machung von Frau und Mann. Dessen Ziel war es, die Frau dem Mann po­litisch und ökonomisch anzugleichen; der Mann wurde dabei vor allem als ein Konkurrent gesehen. (4)

Doch am Wesen der Politik und dem Kampf um Macht änderte sich schon da­mals auch mit Beteiligung der Frauen nichts. Im ökonomischen Bereich waren die Frauen ihren männlichen Kollegen oft kör­per­lich unterlegen und mussten sich phy­sisch verausgaben, um gleiche Leis­tungen zu erreichen. Auch das Vertrauen in die Fähigkeiten der Frauen und ihre Be­zahlung lagen weit unter denen der Männer. Außerdem musste sich die Frau oft auch zusätzlich mit den Pflichten im Haus­halt und der Kindererziehung aus­ein­andersetzen. So war es für viele ar­bei­tende Mädchen sogar angenehm, in die Ehe zu flüchten und sich ausschließlich der Heimarbeit zu widmen. Die Frauen, die sich ausschließlich auf einen Beruf kon­zentrierten und sogar eine hohe Stellung erreicht hatten, opferten dafür ihr Ge­fühls- und Liebesleben. Die Medien ihrer Zeit entwarfen von der emanzi­pier­ten Frau ein moralisch anrüchiges Bild: „…Eman­zi­pa­tion war ein Synonym für leicht­sinniges Leben voller Lust und Sünde, ohne Rücksicht auf Gesellschaft, Religion und Moral.“(5) Die Frauenrechtlerinnen taten da­rum alles, um diesem Bild nicht zu ent­sprechen und legten sich selbst neue Fesseln an. Der Mann wurde generell ab­ge­lehnt und nur not­wendiger­weise als Vater ihrer Kinder akzeptiert.

Nach Goldman unterdrückten sie damit ihr Innerstes, das sich nach Liebe sehne, an­statt gegen diese spießbürgerlichen Moral­­vorstellungen zu kämpfen. Der Kampf für eine freie Gesellschaft könne nur zusammen mit den Männern geführt werden und sei ohne das Ziel der Be­frei­ung beider Ge­schlech­ter nicht möglich.

Neuere Theorien

Auf der Suche nach einer anarchistischen Theorie, die den Rahmen für eine Analyse der gesellschaftlichen Be­ding­ungen und deren Ver­änderung dar­stellt, stieß die anfangs erwähnte Carol Ehrlich auf den Si­tua­tionis­mus. Für die Si­tua­tio­nis­ten leben wir alle in ei­nem „Welt­theater“, in dem wir als passive Zu­schauer teil­neh­men.(6) Hier­bei in­ter­essierte sie sich vor allem für die auch auf zwischen­mensch­liche Beziehungen aus­ge­dehnten Begriffe Ware und Schauspiel, die sich be­sonders treffend auf das Leben der Frauen beziehen ließen: In der Waren­­wirtschaft treten Frauen sowohl in der Rolle der Konsumen­tinnen als auch in der Rolle der Kon­sumier­ten auf. Sie wer­den zu sexuellen Objekten, die von Männern konsumiert werden können oder zu „Super­müttern“, die sich selbstlos und auf­opferungsvoll von ihren Kindern kon­­sumieren lassen. Ehrlich meint, dass wir in ein Leben hineingeboren werden, in dem wir nur passive Zuschauer sind. Re­bellisches Verhalten gegen das Schau­spiel der Ge­sellschaft könne als eine Art Sicher­ungs­ventil angesehen werden und stelle meistens nur das Gegenteil des er­war­teten Verhaltens dar. Eine Frau, die viele Affären hat und sich so der vor­herr­schen­den Moral widersetzt, kann sicher­lich bei den Konservativen für Aufruhr sor­gen, wird aber nicht eine Veränderung der Gesellschaft ermög­lichen. Das Schaus­piel ist nur zu zerstören, indem mensch es durchschaut und greifbar macht.

Der soziale Ökofeminismus von Janet Biehl (1991) stellt wohl den umfassendsten An­satz des AnarchaFeminismus dar und be­zieht sich u.a. auf Ynestra King. Diese ging davon aus, dass die Frauen aufgrund ihrer weiblichen Werte und feinfühligen Moral be­sonders geeignet sind, das bedrohte Le­ben auf der Erde zu retten. Für Biehl lenkt je­doch die Gleichsetzung von Natur und Frau davon ab, dass die „typischen“ Eigen­schaften der Geschlechter kulturell produziert sind, und somit auf einem pa­triarchalen Konstrukt basieren. Sie pro­pagiert eine „Ethik des Sorgens“ als Ver­ant­wortung gegenüber der Natur und die “Ethik des Rechts“, also eine Besinnung auf Gerechtigkeit und Menschen­rechte. Auch sie fordert die Aufhebung der Trennung vom Privaten und Poli­tischen, so­dass beide Geschlechter die Möglichkeit zur freien Entfaltung haben. (7) Dies solle mit Hilfe des libertären Kommunalismus Murray Bookchins ge­schehen: „Der soziale Öko­feminismus strebt nichts anderes an, als die Ab­schaffung von Kapit­alismus und Na­tio­nal­staat und die Re­struk­tur­ier­ung der Ge­sell­schaft auf eine de­zen­trali­sierte, ge­mein­schaf­tliche Wei­­se, so dass für alle ein aus­ge­füll­tes öffentliches und pri­vates Le­ben möglich wird.“(8) Bookchin führt aus, dass die urbanen Gebiete an die spezifischen Öko­systeme angepasst werden müssen um die Voraussetzung für Öko­ge­mein­schaften zu bieten. Moderne Tech­nik, sogenannte Ökotechnologie, muss eingesetzt werden, um in einem gehaltvollen Maß mit und von der natürlichen Umwelt zu leben. Damit bereichert der soziale Öko­femi­nis­mus den Anarcha­Feminismus um eine ökologische Komponente und bietet durch den ökologischen Anarchismus Bookchins eine konkrete Alter­native.

Gender-trouble

Sex meint das biologische Ge­schlecht, gender das soziale oder kulturelle Geschlecht, also die in einer Kultur mit dem biologischen Geschlecht verknüpften Er­wartungen und Hand­lungs­mög­lichkeiten.“ (9) Hierbei soll deutlich werden, dass Ge­schlechterrollen nicht auf biologischen Ursachen basieren, sondern das sie soziale Konstrukte sind. Wenn dies erkannt ist, kann mensch diese Konstrukte auch de­kons­truieren und sich und sein/ihr Leben je nach Bedürfnissen und Fähigkeiten individuell gestalten.

Für Jürgen Mümken kommt dabei die De­batte um die Dekonstruktion von Geschlecht und die Zwei­ge­schlecht­lich­keit der Gesellschaft zu kurz. Er versteht seinen Text „Gender trouble im Anar­chis­mus und Anarchafeminismus?“ (10) als Er­gänzung zum allgemeinen anar­chis­tischen gender- Diskurs. Für Mümken sind dabei die Gleichheits- und die Differenztheorie zentral: Gleich­heits­theoretikerInnen be­halten die binäre Ord­nung Mann und Frau bei, jedoch keines­wegs die unterschiedlichen Rollen­er­war­tungen. Die Differenz­theore­tiker­Innen gehen hingegen davon aus, dass auch das so­ziale Geschlecht biologischen Ursprungs ist. Für sie gibt es ein typisches Frau-Sein, dass vom Patriarchat unterdrückt wird. Für Mümken wird in beiden Theorien der Dua­lismus Kultur-Natur und das Konzept einer natürlichen sexuellen Dif­ferenz über­nommen, wodurch „die naturali­sierende, biologische Konzeption von der Kate­gorie Geschlecht nicht aufgehoben son­dern lediglich in sex verlagert wird.“ (11) His­to­rische Forschungen haben aber be­wiesen, dass die gegenwärtigen Ge­schlechts­körper und die binäre Ordnung der Geschlechter das Ergebnis historischer Pro­­zesse sind. So wurde der bürger­liche Mann erst durch die Entwicklung einer weib­lichen Sonder­anthropologie im 18. Jh. konstruiert.

Für Judith Butler ist der Körper eine „kulturelle Situa­tion“ und als „Ort kul­tureller Interpretation ist der Körper eine materielle Realität.“ Der Mensch kann aus bestimmten Geschlechts­normen und Kör­perstilen wählen, auf welche Art er/sie seinen/ihren Körper annimmt und “trägt“. Die Normenspielräume werden dabei von regulativen Diskursen festgelegt, die gegebene Macht­ver­hältnisse innerhalb der Gesellschaft widerspiegeln. Jede „Rede von Natur dient vor allem dazu, jene Zwänge, Dis­zi­plinierungs­techniken und Dis­­kurs­strategien unkenntlich zu machen, die die alternativlose Unterwerfung unter das Zwei­geschlechtermodell in jeder kon­kreten Subjekt­werdung neu erzwingt.“ (12)

Schön und gut…

Durch die Dekonstruktion von sex als natürlich gegebener Tatsache würde auch die Einteilung in homo- oder hetero­sexuell ihre Basis verlieren und somit Raum für weitere Formen von zwischen­menschlichem Sich-aufeinander-beziehen geschaffen werden.

Anhand der oben beschriebenen Ansätze und Ausführungen wird klar, dass – im Gegensatz zu den älteren anarcha­femi­nis­tischen Theorien – mit dem Festhalten an einem natürlich gegebenen Geschlecht gebrochen werden muss. Es kann jedoch nicht reichen, nur die patriarchal fest­ge­leg­ten Zuschreibungen zu kritisieren, um Patriar­chat und Zwangsheterosexualität zu über­winden. Carol Ehrlich plädiert z.B. für eine Praxis der direkten Aktion; in subversiven Aktionen soll der Alltag neu erfunden, für Aufsehen gesorgt und provoziert werden: „Die AkteurInnen müssen sich der ent­fremdenden Wirkung des kapitalistischen Medienmarktes bewusst sein, der sie zu ZuschauerInnen ihrer selbst werden lässt.“ (13) Frauen könnten dies am Besten, in dem sie entgegen ihrer Rollenerwar­tungen und Geschlechterzuweisungen handeln und so die gängigen Klischees brechen. Wichtige Ziele, wie die Zer­störung von Macht­verhältnissen und Unterdrückungs­mecha­nis­men, die Kon­trolle über den eigenen Körper, die Entwicklung von Alternativen zur Klein­familie und Heterosexualität, eine gleich­berechtigte Kinderbetreuung, öko­no­mische Unabhängigkeit, die Abschaffung re­­­pressiver Ge­setze, ge­schlechts­­­­­ab­hängige Rollen­­­zuweisungen in der Familie, den Me­dien und am Ar­beits­platz und die Über­windung von Beziehungen mit emo­tio­naler Zwangs­abhängigkeit werden nur erreicht, wenn Menschen bereit sind, sich ihr anerzogenes bzw. ansozialisiertes Ver­halten bewusst zu machen und die Mög­lichkeit und Not­wendigkeit dieser Hand­lungs­mög­lich­keiten erkennen. Dies ist ein, wie ich denke, langwieriger, überwiegend indivi­dueller und oft schwieriger Weg, der häufig an seine praktischen Grenzen stößt und innere und äußere Konflikte provo­ziert, da Rollen­vorstellungen und Macht­ver­­hält­nisse tief verwurzelte gesamt­ge­sell­schaft­liche Kon­strukte darstellen. Die Hinter­fragung und Auflösung eigener und ge­sellschaftlicher Kategorien kann sehr be­freiend aber auch sehr verunsichernd auf den/die EinzelneN wirken, da Ge­schlecht und Sexualität stark auf die Identitäts­bil­dung einwirken . Deshalb sehe ich es für den/die EinzelneN als hilfreich, sich inner­halb des vertrauten privaten Um­feldes auszutauschen und über die inneren Kon­flikte und Widersprüche bezüglich Rollenerwartungen, Rollen­vor­stellungen, eigenen Rollenbildern, sexuellen Inter­essen, Machtverhältnissen oder Domi­nanzen zu diskutieren und zu reflektieren. Dies könnte zumindest ein praktischer Weg sein, um sich des täglichen Schaus­piels bewusst zu werden und so vom/von der passiven ZuschauerIn seiner/ihrer fest­ge­legten Rollen, zur aktiven Selbst­be­stimmung und Ausgestaltung ebendieser zu gelangen. Meiner Meinung nach wird die komplette Auflösung von Geschlecht und den dazu­ge­hörenden Zuweisungen und Rollen­er­wartungen erst in einer, gegenwärtig als Utopie zu bezeichnenden, befreiten Gesell­schaft möglich sein. Nichtsdestotrotz halte ich es für sinnvoll, durch zum Beispiel Carol Ehrlichs Vorschlag der subversiven Aktion, am vorherrschenden Bewusstsein zu rütteln und es so öffentlich kritisch zu hinter­fragen und gleichzeitig noch ein bisschen Spaß zu haben…!

Qkuck

(1) Kornegger, Peggy; Ehrlich, Carol: „Anarcha-Feminismus“. Berlin 1979
(2) Goldman, Emma: „Gelebtes Leben“. Karin Kramer Verlag, Berlin 1978-1980
(3) Anm.: Als Pariser Kommune wird der Pariser Stadtrat von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871 bezeichnet, der gegen den Willen der Regierung versuchte, Paris nach sozia­lis­tischen Vorstellungen zu verwalten. Die Pariser Kommune gilt als Vorbild für die Rätedemokratie.
(4) Goldman, Emma: „Frauen in der Revolution“. Bd. 2, Berlin 1977
(5) Emma Goldman: „Das tragische an der Emanzipation der Frau“, 1911, Seite 19
(6) Guy Debord: „Die Gesellschaft des Spektakels“, Edition Tiamat, Berlin 1996
(7) Biehl, Janet: „Der Soziale Ökofeminismus und andere Aufsätze“. Grafenau 1991
(8) Bookchin, Murray: „Natur und Bewusstsein“. Winddruck Verlag 1982
(9) Lohschelder, Silke u.a.: „AnarchaFeminismus“. Unrast Verlag, Münster 2000, S. 151
(10) Mümken, Jürgen: „Gender trouble in Anarchismus und Anarchafeminismus?“
www.postanarchismus.net/texte/gender_trouble.htm
(11) Mümken, Seite 2
(12) Hauskeller, Christine: „Das paradoxe Geschlecht. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault“. Tübingen 2000, Seite 59
(13) Kornegger/Ehrlich (Berlin 1979), Seite 98

Theorie & Praxis

Kein Frieden zwischen den Klassen …

Überlegungen zum Anarchosyndikalismus

Um dem Kapital – und in der weiteren Entwicklung des Kapitalismus auch dem Staat – Zugeständnisse abzutrotzen, hat für die ArbeiterInnen – also diejenigen Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen – immer die Notwendigkeit bestanden, sich zu organisieren und dadurch dem Kartell der Fabrikbesitzer ein eigenes Kartell entgegenzusetzen. Diese Notwendigkeit ergibt sich schlicht und einfach aus der Existenz des Kapital- und damit des Lohnverhältnisses – das ist zunächst einmal weder spektakulär noch vordergründig revolutionär. Im Gegenteil, die Bereitschaft sich auf einen Kampf um konkrete Verbesserungen einzulassen, setzt in der Regel schon voraus, dass aktuell keine Möglichkeiten bestehen, den ganzen Laden einfach umzuschmeißen und anders zu organisieren.

In diesem Artikel möchten wir zur Auseinandersetzung um gewerkschaftliche Organi­sa­tions­formen im Allgemeinen und die Zukunft des Syndikalismus im Besonderen anregen. Nicht zuletzt wollen wir Anregungen für die eigene Vorgehensweise finden, die libertäre Positionen im aktuellen Kontext wieder praktikabel und attraktiver machen.

Tageskämpfe

Wie einleitend ausgeführt, ist die syndi­kalistische Organisierung in gewerkschaftlichen Tageskämpfen nicht Ergebnis der Suche nach irgendeinem „revolutionären Stein der Weisen“, sondern erst einmal eine schlichte Notwendigkeit.

Als ArbeiterInnen im Kapitalverhältnis haben wir zwangsläufig ein Interesse daran, unsere Haut möglichst kurz, für möglichst viel Kohle, zu möglichst erträglichen Arbeitsbedingun­gen zu verkaufen. Inwieweit uns das gelingt, hängt allein davon ab, wie wir uns organisieren und kollektiv Macht entfalten können. Vor diesem Hintergrund forderte der Hamburger Anarchosyndikalist Karl Roche in den 20er Jahren für die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) eine „proletarische Lohnpolitik“, die sich nicht „um die Entlastung oder Belastung des Unternehmers“ kümmert, sondern „deren Ziel (…) immer die möglichst schnelle Beseitigung des Unternehmers unter Aufhebung der Lohnarbeit sein (müsse)“. In gewisser Weise nimmt Roche damit eine Entwicklung vorweg, die Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern den kapitalistischen Verwer­tungs­zusammenhang ziemlich in Bedrängnis gebracht hat: Ursache war eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen den Ansprüchen der Klasse und den von ihr durchgesetzten Einkommen einerseits und ande­rer­seits der aus der Verwertung der Lohnarbeit zu erzielenden Profite. Diese „Inflation der Ansprüche“ wurde binnen weniger Jahre zu einer handfesten Bedrohung des Systems. Die Nachbeben der Umstruk­tu­rierungen und Krisenangriffe, mit denen das Kapital dieser Entwicklung zu begegnen suchte, halten z.T. bis heute an. Es gibt also gute Gründe, sich in gewerkschaftlichen Kämpfen für unmittelbare Verbesserungen zu engagieren.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Libertäre die Augen vor den Gefahren verschließen dürfen, die solche Kämpfe mit sich bringen können. Wer sich die Geschichte und Aktua­lität anarcho-syndikalistischer Bewegungen ansieht, wird solche Gefahren aber auch Versuche, ihnen zu entgehen, immer wieder ausmachen können. Zu nennen wäre z.B. eine Tendenz zum Possibi­lismus, zur Selbstbeschränkung auf das Mögliche, besonders in Zeiten „ohne große Bewegung“. Im Klassenkampf an aktuelle Grenzen zu stoßen, ist nichts Verwerfliches. Gefährlich wird es allerdings, wenn diese ideolog­isiert und zur Basis des eigenen Handelns werden.

Eine offene Frage ist weiterhin, wie Anarcho-SyndikalistInnen sich der Problematik von Tarifvertrag und Kontrolle stellen. Wenn als Ergebnis betrieblicher Kämpfe ein vertraglicher Status Quo mit der Kapitalseite erzielt wird, stellt sich in aller Regel das Problem, dass die Gewerkschaft in irgendeiner Weise dazu verpflichtet wird, die vereinbarte Regelung während der Laufzeit einzuhalten – und gegen die ArbeiterInnen durchzusetzen. Dieser Mechanismus hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf, dass die traditionellen Gewerkschaften zu dem Kontrollorgan über die Arbei­terIn­nen geworden sind, als das wir sie kennen und kritisieren. Es stellt sich zwangsläufig die Frage, was eine libertäre Gewerkschaft, das Syndikat anders machen (kann), um dieser Falle zu entgehen.

Zudem waren und sind die Syndikate in aller Regel mit dem Problem konfrontiert, dass sie nur eine Minderheit der ArbeiterIn­nen im Betrieb ausmachen. Während Organisie­rung auf der einen Seite Solidarität und Kampfkraft erhöht, droht sie auf der anderen Seite die Belegschaft zu spalten und zu schwächen. Aus diesem Grunde legen bspw. spanische Anarcho-SyndikalistInnen großen Wert darauf, dass in betrieblichen Kämpfen Vollversammlungen aller ArbeiterInnen eines Betriebs einberufen werden und die Kontrolle über die Kämpfe übernehmen. Sie tun das sogar um den Preis, dass die im Syndikat entwickelten Taktiken und Forderungen hinter diejenigen der Vollversammlung zurückgestellt werden.

Man kann sich hier jetzt selbstverständlich die Frage stellen, wozu es denn für den Kampf um unmittelbare Verbesserungen eigentlich einer eigenständigen Organisierung bedarf. Warum nicht solche Kämpfe in einer der existierenden „Gewerkschaften“ führen? Die Antwort liegt darin begründet, dass es für Anarcho-SyndikalistInnen zwar eine Selbstverständlichkeit ist, sich für unmittelbare Verbesserungen einzusetzen, dass dies allerdings nur ein Aspekt der Syndikate ist. Der Tageskampf allein macht eine gewerkschaftliche Organi­sie­rung noch nicht zu einer emanzipatorischen. Die Syndikate sollen nach unserem Verständnis weitere Aufgaben übernehmen und somit einen Doppelcharakter tragen.

Kern kommunistischer Wirtschaft

Wir ArbeiterInnen sind es, die jeden Tag aufs Neue den gesellschaftlichen Reichtum produzieren. Wir bedienen die komplizierte Maschi­nerie der arbeitsteiligen Erzeugung aller materiellen und immateriellen Güter. Im Kapitalverhältnis tritt uns unsere eigene produktive Fähigkeit als etwas Fremdes, uns Äußerliches entgegen.

Basis einer freien Gesellschaft ist eine völlig andere Form gesellschaftlicher Güterpro­duktion, in der das Lohnverhältnis und die Entfremdung aufgehoben sind. Die Frage danach, wie die Güterproduktion in einer postkapitalistischen Gesellschaft aussehen und wer sie organisieren soll, war zu jedem Zeitpunkt die Gretchenfrage, an der sich die verschiedenen sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Richtungen entwic­kelt und auseinanderdividiert haben. Während Sozialdemokraten und Leninisten in der Partei das maßgebliche organisatorische Element sahen, hat der Syndikalismus eine Antwort auf diese Frage entwic­kelt, die ebenso einfach wie naheliegend ist: In den Syndikaten haben wir uns als ArbeiterInnen vereint, um unsere Tageskämpfe zu führen. Was liegt da näher, als die Syndikate auch dazu zu nutzen, um gemeinsam unsere Fähigkeiten zu entwickeln und letztlich die Produktion selbst in die Hand zu nehmen?

Es handelt sich hierbei nicht um irgendeine belanglose Frage mehr theoretischer Natur für den Tag nach dem „Hammerschlag der Revolution“ (Luxemburg), mit dem das Kapitalverhältnis scheinbar auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet ist. Eine politische ist noch keine soziale Revolution: Der wesentliche Grund für den Niedergang nahezu aller bisherigen Revolutionen war, dass sie stets so sehr mit dem politischen Umsturz beschäftigt waren, dass sie an die viel zentraleren Fragen in der Regel nie viele Gedanken verschwendeten. Kapital- und Lohnverhältnis bestanden fort, die Revolution endete als staatskapita­listische Ent­wicklungs­diktatur.

Für Anarcho-SyndikalistInnen ist die Frage nach der (libertär-)kommunistischen Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Als anti-politische oder zumindest a-politische Arbei­ter­­bewegung (im Sinne von „Politik“ als Bezugnahme auf den modernen Staat) haben sich Anarcho-SyndikalistInnen schon sehr früh Vorstellungen davon gemacht, wie die gesellschaftliche Transformation aussehen könnte: Sie betrachteten dabei die Syndikate als Keimzelle der künftigen Gesellschaft. Unsere Produzentenrolle ist es, die die gesamte gesellschaftliche Struktur aufrecht erhält und damit die Existenz aller garantiert. Die Syndikate sollten „Schulen des Sozialismus“ sein, in denen sich die ArbeiterInnen kollektiv aus der Atomi­sierung und Zurichtung befreien, die ihnen durch Lohnarbeit und Entfremdung täglich auferlegt werden. Der Umsturz der Verhältnisse, etwa in Form eines Generalstreiks würde so nicht „vom Himmel fallen“, sondern könnte sich auf kampfgeübte und emanzipierte Syndikate stützen – und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Kreativität würde sich im Verlauf des revolutionären Prozesses aus den Eierschalen der alten Gesellschaft befreien und eine neue prägen.

Anarcho-syndikalistische Anstrengungen würden ad absurdum geführt, wenn daraus ein Gewerkschaftsregime entstehen würde. Die Syndikate sollen zwar die Kerne sein, in denen die Fähigkeiten entwickelt, transportiert und entfaltet werden. Aber bereits Rudolf Rocker (1) hatte die Vorstellung, dass die „Organi­sation der gesamten Produktion (…) durch Arbeiterräte, die von den Arbeitern selbst gewählt werden“ erfolgen sollte.

Direkte Aktion

Die heutzutage gängige Art der „Konfliktaustragung“, nämlich sich mit der Bitte um Stellvertretung an Dritte (Gewerkschaftsfunktionäre, Betriebsrat, Arbeitsgericht) zu wenden – so ein Verfahren lehnen Anarcho-SyndikalistInnen prinzipiell ab: weil es zum einen die Entscheidung von den Betroffenen wegnimmt, zum anderen weil es den Blick auf unsere tatsächliche Macht als ArbeiterIn­nen verschleiert und Konflikte kanalisiert.

Die bürgerliche Herrschaft versucht ständig, die „Marktsubjekte“ voneinan­der zu isolieren und sie dazu zu zwingen, Konflikte individuell und in einem hochgradig verrechtlichten Rahmen auszutragen. Der langwierige Gang zum Gericht ersetzt die soziale­ Ausein­andersetzung. Er soll verhindern, dass sich Menschen zusammentun und gemeinsam kämpfen. Denn damit besteht immer die Gefahr, dass sie kollektive Erfahrungen machen und über den Tellerrand der bestehenden Ordnung hinauslangen.

Genau darauf zielt die direkte Aktion. Oftmals wird mit diesem Begriff ein beson­ders gewaltsames, oder auch spektakuläres Vorgehen verbunden. Das ist aber falsch. Eine direkte Aktion zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie gewaltsam ist. Sondern sie ist Ausdruck von Solidarität (z.B. in der Belegschaft), und bestärkt zudem die Voraussetzung für Solidarität: nichthierarchische menschliche Kommunikation. Die direkte Aktion berührt damit den Kern des anarchistischen, sozialrevolutionären Projekts, der sich in der etwas angestaubten Formel „die Befreiung der ArbeiterInnen kann nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein“ ausdrückt. Darin spiegelt sich nicht nur eine Interessenslage, sondern auch der logische Anspruch, dass die Mittel von den Zielen bestimmt sein müssen und sie gewissermaßen verkörpern.

Direkte Aktion ist allerdings nicht wie tot sein: man ist es oder nicht. Elemente von direkter Aktion können auch in anderen Aktionsformen enthalten sein. Ein Teil unserer Aufgabe als Anarcho-SyndikalistInnen besteht darin, die Elemente der Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe so dominant wie möglich zu machen, wann immer das geht. Direkte Aktion zu Ende gedacht, ist die libertäre soziale Revolution: die Übernahme, Neuorganisation und ggf. Zerstörung der Produktionsmittel (die die materiellen Werkzeuge der Freiheit sind) durch die Arbeiterklasse. Wenn wir Anarcho-SyndikalistInnen von einer sozialen Revolution sprechen, dann meinen wir einen Prozess, der den Staat und die Klassengesellschaft aufhebt und uns alle zu BewohnerInnen einer von uns selbst geschaffenen Welt macht.

Einige versuchen jede außerparlamentarische Aktion als direkte Aktion zu definieren, z.B. eine Demonstration. Aber eine Stellungnahme dazu abzugeben, dass wir irgend etwas wollen oder nicht wollen, wird keinen Berg bewegen. Es ist übrigens auch nicht eben wahrscheinlich, dass zersplitternde Fensterscheiben einen solchen Effekt hätten. Der Umstand, dass symbolische Aktionen mehr und mehr als direkte Aktionen (oder: direct actions) bezeichnet werden, spiegelt einen allgemeinen Mangel an Vertrauen in unsere kollektive Kraft als entlohnte und nicht­entlohnte ArbeiterInnen wieder.

Während viele dem Trugschluss erliegen, dass wir durch direkte Aktionen der Notwendigkeit zur Organisierung entfliehen könnten, ist genau das Gegenteil der Fall: je größer die Aufgabe ist, desto kollektiver muss die Aktion sein. Der Grad unserer eigenen Desorganisation ist der Grad, in dem unser Leben durch andere bestimmt wird. Unsere Möglichkeiten zur Durchführung direkter Aktionen sind also allein dadurch beschränkt, dass sie noch kein verallgemeinertes Mittel ist. Wir werden sie manchmal anwenden können, aber nicht immer, wenn wir nicht durch die Mächte gegen die wir aufgestanden sind, zerschmettert werden wollen. Wenn du rausgeschmissen wirst, kann ein Sitzstreik deinen Job retten. Wenn du aber der einzige bist, der sich hinsetzt, kann es u.U. eine gute Idee sein, zu einem Anwalt oder Gewerkschaftsbürokraten zu gehen.

Auch Kämpfe, die mit dem Mittel der direkten Aktion geführt werden, müssen nicht unbedingt erfolgreich sein. Sie sind jedoch unmittelbarer Ausdruck der Hoffnungen und der Wut der Betroffenen – deshalb werden sie in aller Regel mit einer viel größeren Entschlossenheit geführt, die bisweilen den Ausschlag gibt.

R&L&Æ

1) Wichtiger Theoretiker und Redner der Bewegung in Deutschland, v.a. in der Weimarer Republik (seit 1892 im Exil). Von Rocker (1873-1958) auch „Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus“ (1919).
Allgem.: weitere geschichtliche und theoretische Hintergründe in der Rubrik ‚Archiv‘ auf www.fau.org oder in zahlreichen Büchern & Broschüren bei FAU-MAT bzw. Syndikat A (beide Webshops über www.fau.org). Bei Syndikat A wird in den kommenden Monaten die ausführlichere Version des Textes (hier gekürzt) als Broschüre erscheinen.

Ihre Papiere bitte!

Schon mal Gedanken um den Pass gemacht? Nein, oder nur kurz vor einer geplanten Urlaubsreise? Glückwunsch, dann zählst Du zu dem privilegierten Drittel der Menschheit, das relativ frei über seinen Aufenthaltsort bestimmen kann.

Immer wieder liest und hört mensch in den Nachrichten von Menschen, die alles daran setzen, um aus anderen Teilen der Welt in die Europäische Union oder auch in die USA zu gelangen. Ebenso von jenen, die abgeschoben oder im Rahmen von Le­galisierungs­kampagnen Papiere erhalten. (1) Allerdings sind deren Zahlen gegenüber den Abschiebungen verschwindend gering: So sollen 2006 in Frankreich 6.000 undokumentierte Einwanderer Papiere erhalten und 25.000 abgeschoben werden.

So verschieden wie diese Menschen sind auch ihre Ziele und Beweggründe dafür, ihr zukünftiges Leben an das Gelingen dieser oftmals gefährlichen Reise zu knüpfen. Jährlich ertrinken mehrere Hundert Menschen bei dem Versuch, auf dem Seeweg von Nordafrika nach Europa zu kommen und allein 2004 wurden in der Wüste von Arizona über 200 Menschen tot aufgefunden. Was sie alle teilen, sind ungewisse politische, ökonomische und soziale Zukunftsaussichten und dass sie keine Papiere vorweisen können, die ihnen eine amtlich registrierte und komfortablere Einreise erlauben würden.

Jedoch ist nicht jeder Pass auch gleichzeitig ein „Türöffner”: Wurde er vom „falschen” Staat ausgestellt, kann es nützlicher sein, ihn bei der Einreise in die Europäische Union offiziell nicht zu besitzen, um so zumindest einen vorläufigen Aufenthaltstitel zu erhalten. Woran es den meisten MigranntInnen mangelt, ist also weniger ein Pass an sich, sondern ein Papier, das z.B. die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU erlaubt.

Wenn die Söhne, Töchter, Väter und Mütter in ihrer Heimat aufbrechen, hat oft die ganze Familie zusammengelegt, um die Reisenden mit finanziellen Mitteln für den Neuanfang auszustatten. Im Gegenzug hoffen die Zurückbleibenden, dass es ihren Verwandten gelingt, das Ziel der Reise zu erreichen und dort eine Existenz aufzubauen, um ihre Familie zu unterstützen. Doch nicht nur diese sichern so ihr Überleben, sondern auch die Staaten, in die diese privaten Finanzströme fließen, machen Kasse. (2) Im Zielland angekommen, gelten diese Menschen dann als „Illegale”, Asylbewerber oder auch „Wirtschafts­flücht­linge”. In der BRD leben derzeit unter 85,5 Millionen Menschen circa 500.000-1,5 Millionen ohne Aufenthaltspapiere, in den USA gibt es bei einer Bevölkerung von 300 Millionen circa 20 Millionen „un­do­­ku­mentierte Einwanderer”. (3)

Was ist eigentlich ein Pass?

Allgemein gesprochen, ist er ein von einem Staat ausgestelltes Dokument, welches dem Träger beim Verlassen eines bestimmten Herrschaftsgebietes zu sicherer Passage und Aufenthalt verhelfen soll. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte entwickelte er sich zunehmend auch zum Identitätsdokument, welches die Authentizität des Trägers gegenüber anderen Regierungen bestätigt. (4)

Im Unterschied zum Personalausweis, der vorrangig der Identifikation innerhalb eines Staates dient, erfüllte der Reisepass außerdem immer auch die Funktion der Bewegungskontrolle. Im Zuge der Ents­tehung von staatlichen Zusammenschlüssen wie der EU, kam dem Personalausweis innerhalb dieses Territoriums auch noch die Funktion als Reisedokument zu.

Seine Bedeutung erhält der Pass dadurch, dass der Staat, genauer dessen Verwaltungsapparat – schon aus Selbsterhaltungsgründen – auf die Zuteilung von “dokumentarischen Identitäten” und damit auf die Erfassung „seiner” Bevölkerung angewiesen ist. Nur mittels eines Instrumentes der Bevölkerungs- und Bewegungskontrolle, wie dem der Passausstellung. kann einigermaßen nachvollzogen werden, wer wo Staatsbürger ist und sich entsprechend bewegen darf oder eben auch nicht.

Über dieses Dokument wird jedem Individuum – seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten – eine bestimmte Nationalität und Identität zugeteilt. Außerdem bescheinigt der ausstellende Staat somit, einen Staatsbürger bei dessen Ausweisung aus einem anderen Staat wieder aufzunehmen. Weiter gefasst, geht es um den gesteuerten Ausschluss und die Überwachung von (un)erwünschten Personen, sowie die Registrierung und Nutz­bar­machung von menschlichen „Ressourcen“.

Der Reisepass ist als Instrument der Identitäts- und Bewegungskontrolle ein Mittel staatlicher Politik, welches an der Schnittstelle zwischen dem National­staatskonzept, internationaler Politik (Passunionen wie das Schengener Abkommen) und ökonomischen Interessen (Zollunionen und transnationale Bewegung von Arbeitskräften) operiert.

Die Geschichte dieses Papiers ist auch die Geschichte seiner Transformation und Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen derer, die über die Art und Weise seiner Anwendung bestimm(t)en. Zu diesen zählen neben staatlichen Stellen auch Passfälscher, Schleuser sowie Arbeitgeber, die “Illegale” zu Hungerlöhnen schuften lassen.

Dies war nicht immer so: Im Mittelalter gliederten sich die europäischen Gesellschaften nach Ständen, Räumen und Aufgabengebieten. Bedeutender als die geographische Zugehörigkeit war der Stand, dem man angehörte. Der Staat war nur einer von mehreren Akteuren, die das Leben strukturierten.

Die vormoderne Geschichte des Passes lässt sich in groben Strichen von vermuteten Registrierungssystemen im Alten Ägypten über Kontrollsysteme im Römischen Reich bis zum englischen König William I., der im 11. Jahrhundert alle Ein- und Ausreisen seiner Untertanen mittels eines Festungssystems an der Küste kontrollierte, nachzeichnen.

Im Kontrast dazu beansprucht der moderne Staat die Loyalität der Bevölkerung auf seinem Territorium vor allen anderen Akteuren (bspw. Kirchen, gewerkschaftlichen Vereinigungen, usw.). Im Gegenzug bietet er den BewohnerInnen des Territoriums seinen Schutz an. Dieses Versprechen findet sich schon in der älteren Form des Passes als Passierschein, dessen Träger bereits das staatliche Gewaltmonopol zu akzeptieren hatten. Seit der Französischen Revolution 1798 und der Entstehung der modernen Nationalstaaten schließlich, wird er außer als Reiseerlaubnis auch als Identitäts- und vor allem National­itäts­nachweis genutzt.

Der moderne Pass, wie er im Zuge der Nationalstaatsentwicklung entstand, ist für den Staat und die Regierung Voraussetzung für die Bewegungs- und Bevölkerungskontrolle

Die Geschichte des Passes veranschaulicht damit eine doppelte Kontinuität: Gemeint ist zum einen die Entwicklung des Passes vom Passierschein zum Identitäts- und Bewegungskontrollinstrument. Ebenso aber auch die Kontinuität des Passes als Steuerungsinstrument, welches den jeweiligen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen angepasst wird, dessen grundlegende Prinzipien jedoch konstant bleiben.

Worum es sich beim Pass – wie bei anderen staatlichen Kontrollmechanismen auch – schließlich handelt, ist das Zusammenspiel von staatlicher Logik und der gegenwärtigen Form des Kapitalismus, der auf globalen Austausch ausgerichtet ist.

Die Rede ist hier nicht von einem prinzipell neuen Phänomen innerhalb der menschlichen Bewegung und Wanderung, sondern von einer Verschiebung und Umordnung der Faktoren und Umstände, die Politik und Wirtschaft dazu veranlassen, die legitime Bewegung der Menschen einzuschränken oder offiziell zuzulassen.

Im Ersten, als auch während des Zweiten Weltkrieges, gewann der Besitz oder Nichtbesitz einer nationalen Zugehörigkeitsbescheinigung auf die Lebenschancen eines Individuums massiv an Einfluss. Reisende, ob sie nun freiwillig unterwegs waren oder auf der Flucht, waren von staatlich ausgestellten Dokumenten abhängig, die ihnen eine nationale Identität zuschrieben.

Spätestens am Ende des 20. Jahrhunderts wurde angesichts der sogenannten „Asyl-oder Einwanderungsproblematik” klar, dass in einer sich globalisierenden Welt Migration anders als durch das Beschneiden der legalen Einwanderungsmög­lichkeiten reguliert werden muss, da dies lediglich zu einem Anstieg der illegalen Einreise führt. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Motivation zur Emigration aus den ärmeren Weltgegenden in die industrialisierten Staaten in den letzten Dekaden beständig zugenommen hat, während die Immigrationsanreize in den in­dustrialisierten und „entwickelteren Staaten” konjunkturellen Schwankungen unterliegen. Trotz des Wissens um diesen Umstand haben in den letzten Jahren faktische Einwanderungsländer wie Frankreich, die USA oder die BRD ihre Einwanderungsrestriktionen verschärft. (5)

Und trotz aller Versuche, Menschen zu identifizieren und bestimmten Kategorien zuzuordnen, ist dieses Projekt im Sinne der Nationalstaaten bisher zwar vorangeschritten, hat aber – aus Sicht der Regierungen – zu keinem befriedigendem Abschluss gefunden. Schlußendlich erfüllt der Pass seine Funktion nur, wenn sowohl die Bediensteten der staatlichen Verwaltungs- und Kontrollapparate als auch die zu registrierenden Subjekte, die vorgeschriebenen Prozeduren und Verhaltensweisen akzeptieren und umsetzen.

Man kann also die Politik der Passvergabe oder Passverweigerung und damit die gegenwärtige Einwanderungspolitik der Industriestaaten als eine “beschränkte Glo­balisierung” beschreiben. Auf der einen Seite werden der Warenverkehr und die Finanzströme internationalisiert während die Bewegung von Menschen über Staatsgrenzen hinweg immer schärferen Restriktionen unterworfen wird.

Der Pass bewegt sich damit im Spannungsfeld von wirtschaftlicher bzw. staatlicher Migrationspolitik und dem menschlichen Einfallsreichtum, die aufgestellten – und durchaus realen – Hindernisse zu umgehen oder zu überwinden.

hannah

Zum Weiterlesen:
www.clandestino-illegal.de, www.picum.org (Internationales Netzwerk für “illegale Migranten), Atlas der Globalisierung 2006.
(1) So legalisierte Italien 1999 150.000 Statuslose und im Jahr darauf weitere 40.000, unter der Bedingung, dass diese eine dauerhafte Beschäftigung und Unterkunft vorweisen konnten. Ähnliche Amnestien gab es auch in Spanien, Frankreich und Belgien.
(2) Zwischen 1999 und 2005 stieg der Wert der Überweisungen von Migranten in ihre Heimatländer von 70 auf 230 Milliarden Dollar. In Bangladesch beträgt der von Migranten bestrittene Anteil am staatlichen Devisenaufkommen 30 Prozent. und in Mexiko sind diese Einnahmen nach den Ölexporten die zweitwichtigste Devisenquelle. Atlas der Globalisierung.
(3) www.auslaender-statistik.de/illegal.htm, www.illegalaliens.us
(4) “Pass: von der zuständigen Behörde für jemand, der eine Reise zu unternehmen beabsichtigt, ausgefertigte, die Persönlichkeit des Reisenden feststellende, zu diesem Ende mit dessen Personalbeschreibung und seiner Namensunterschrift versehene, gewöhnlich auch Ziel und Zweck der Reise angebende Urkunde, durch welche der Reisende sich über seine Person sowie die Unbedenklichkeit seines Reisens auszuweisen vermag und auf Grund derer er eintretendenfalls auch den Schutz derjenigen Behörden, durch deren Gebiete er reist, in Anspruch nehmen kann.” Brockhaus Konversationslexikon, 14. vollst. neubearb. Auflage, 12. Bd., Leipzig, Brockhaus 1908.
(5) Z.B. in der BRD durch die Verfassungsänderung 1993 und damit der Streichung des allgemeinen Asylanspruchs (ehem. Artikel 16 GG), in Frankreich mit dem Loi Pasqua und dem Loi Debré.

Ein Mensch, ein Schwein, ein Tofu sein…

Der vorliegende Text der „Life is Life“-Veranstalter hat in der Redaktion zweifelsohne starke Kontroversen hervorgerufen. Er ist in Reaktion auf eine in der incipito 19 veröffentlichten Kritik an der im November 2005 gelaufenen Vortragsreihe mit dem Namen Life is Life entstanden und seitdem mehrmals überarbeitet worden. Die von den Initiatoren der Veranstaltungsreihe angestoßene Debatte um die Frage, inwieweit man Tieren überhaupt moralische begründete Rechte zugestehen könne, führte schon damals prompt zu heftigen Gegenreaktionen, die u.a. von der speziell gegründeten Gruppe Ivri Lider statt Peter Singer vorgetragen wurden. Kritisiert wurde von dieser Seite vor allen Dingen: a) der moralisierende Impetus der vorgetragenen Theoretisierung, b) die Vereinnahmung Kritischer Theorie für die Konstruktion eines sogenannten Anti­speziezismus, c) diverse Biologismen und letztlich d) die Nähe zu den Theorien Peter Singers … was schließlich in dem Vorwurf gipfelte, in den Vorträgen und Diskussionen der Veranstaltungsreihe würde einem Euthanasie-Projekt das Wasser geredet. Auch wenn der geäußerten Kritik in einzelnen Punkten durchaus Recht zu geben ist, verfehlte sie jedoch den Zweck, über die Sache wirklich aufzuklären, und blieb also in den eigenen Vorurteilen stecken. Die Stellungnahme der Veran­­stalterInnen zu diesen und anderen Vorwürfen drucken wir ab, weil ihnen bisher keine Möglichkeit von Seiten der incipito eingeräumt wurde, hierauf öffentlich zu antworten. Wir empfehlen aber dem/der Leser/in unbedingt die parallele Lektüre des in der incipito #19 abgedruckten Artikels „Auf den Hund gekommen“ sowie weiterer Referenzquellen.

Auch wenn die Feierabend!-Redaktion in inhaltlichen Punkten stark von den vorgetragenen Meinungen der Veranstal­terInnen differiert, sind wir trotzdem der Auffassung, dass die Frage: Wie gehen wir mit Tieren um? in der Frage: Was sind wir Menschen? von Bedeutung ist. Gerade im Kontext einer neu aufgebrochenen Debatte um bioethische Fragen der pränatalen Diagnostik, der experimentellen Genetik und Biomechanik ist auch die Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier aktuell, akut und von daher dis­kussions­würdig. Klar ist: Für die Feierabend!-Redaktion steht die Beseitigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen an erster Stelle. Wir sehen in kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Unterdrückung einfach einen qualitativen Unterschied zur Massentierhaltung oder zur Malträtierung seiner eigenen Hauskatze.

In spezifischem Sinne hat der Fundamental-Humanismus des 18. Jh. und 19 Jh. aus unserer Perspektive sogar eine gewisse Emanzipation der menschlichen Verhältnisse bewirkt – auf dem Gebiet der Religion, der Politik und über diverse biologistische Menschenbilder hinaus, für die die Rassentheorie nur stellvertretend steht. Die lebensphilosophischen Strömungen des beginnenden 20. Jahrhunderts haben diesen Biologismus teilweise transportiert, das muss man ganz kritisch sehen. Gerade auch, wenn man die Relevanz für den Prozess der „Entmenschlichung“, wie er heute mit Holocaust und Shoa chiffriert wird, bedenkt. Dagegen sind freilich auch für uns die massenhafte Tötung und Verwertung der Tiere, ihre willkürliche Mal­trätierung und systematische Unterwerfung zweitrangig. Dennoch sind diese Praktiken in ihrer penetranten Kontinuität, in ihrer systematischen Ausuferung und in ihrer Analogie zu Herr­schaftstechniken zwischen den Menschen moralisch­ äußerst fragwürdig. Für eine wirksame Ethik, die das Verhältnis zwischen Mensch und Tier neu bestimmen will, kann die Neudeutung unserer menschlichen Begriffe von Leiden ein erster Schlüssel sein.

Wer allerdings glaubt, hier gäbe es schnelle Antworten, wie Eis vom fahrenden Kaufmann, will letztlich gar nicht zuhören und nur seine eigenen Vorurteile pflegen. Das Primat liegt beim Menschen, weil er/sie eben Verantwortung übernehmen kann! Aber wie weit reicht diese Kampfzone? Die Wahrheit wird erstritten!

Feierabend!-Redaktion

Stellungnahme der Initiatoren zur Kritik an der Veranstaltungsreihe „Life is Life?“

Debatte um „Life is Life?“

Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch an die Veranstaltungsreihe „Life is Life?“, die im November vergangenen Jahres die Frage nach den Tieren auf den Leipziger Tisch brachte. Das Leipziger Vorbereitungsteam wollte mit dieser Reihe einen Anstoß für die theoretische Beschäftigung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis geben. Wir meinen, dass dies ein – gerade auch von der politischen Linken – zu wenig reflektiertes Thema ist. Diese Leerstelle im linken Diskurs wollten wir füllen. Schließlich ist unser heutiges Verhältnis zu „den Tieren“ massiv von Gewalt und Herrschaft geprägt. Wir verstehen uns also ausdrücklich als Teil einer großen emanzipativen Bewegung, die das Ziel verfolgt, alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu überwinden. Umso überraschter waren wir, dass gerade aus der linken Ecke Kritik und Anfeindungen gegenüber dem Thema „Tierrechte“ und unserer Veranstaltungsreihe kamen. Diese wurden insbesondere von einer „Initiative Ivri Lider statt Peter Singer“ in Form eines Flugblattes („Auf den Hund gekommen“), das auch in der Zeitschrift incipito abgedruckt wurde, vorgebracht. Kritik vom bürgerlichen Wohlstandsmenschen waren wir gewöhnt – der lässt sich bekannt­lich ungern den Appetit durch zu viel Nachdenken verderben. Dass nun offensichtlich auch Teile der Linken dieser Ignoranz und Arroganz der Macht verfallen, befremdet uns. Das Problematischste daran erscheint uns, dass diese „Initiative Ivri Lider statt Peter Singer“ zu keinem echten Diskurs bereit war. Die Chance der Veranstaltungsreihe „Life is Life?“ wurde vertan. Während der Vorträge fiel die Initiative mehr durch unqualifizierte Störungen denn durch gezielte, am Thema des Referates orientierte Sach­beiträge auf.

Im Folgenden geht es nun um eine Nachbereitung dieser Kritik. Es wird der Versuch unternommen, eine sachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten der „Initiative Ivri Lider statt Peter Singer“ zu führen. Auf Polemik, Denunziation, Diffamierung und Hetze wurde dabei verzichtet. Damit unterscheidet sich diese Stellungnahme deutlich von dem Flugblatt, das im Wesentlichen aus unfairen, unsachlichen und unwahren Behauptungen besteht. Es ist noch anzumerken, dass viele Kritikpunkte der Initiative von vornherein ins Leere laufen, da keiner der Veranstalter und Referenten von „Life is Life?“ die kritisierten Inhalte vertritt. Besonders gilt das für den unterstellten Peter-Singer-Bezug. Wir lehnen sowohl den Präferenz-Utilitarismus wie auch das Personenverständnis Singers ab und verwerfen auch Singers Ansichten zur Euthanasie. Tierrechtler brauchen Peter Singer nicht für die theoretische Begründung ihres Engagements. Es gab vor, neben und nach ihm genug Denker und Theoretiker, die wesentlich konsistenter Rechte für Tiere begründet haben. Weil wir die Positionen Singers nicht vertreten, können wir dafür auch nicht verantwortlich gemacht werden. Dasselbe gilt für die Aussagen der Tierrechtsorganisation Peta. Diese verfolgt eine bestimmte Strategie: sie will die Öffentlichkeit mit provokativen Kampagnen aufrütteln. Dabei arbeitet sie mit der fragwürdigen Konstruktion der Prominenten und beweist wenig Tiefe im Denken und Sensibilität. Allzu oft steht wohl die Werbung für die eigene Organisation im Vordergrund. Ihren traurigen Höhepunkt fand dieser Ansatz von Peta in der Kampagne „Der Holocaust auf deinem Teller“, bei der vor allem durch Bilder Parallelen zwischen heutiger Massentierhaltung und Massenschlachtung und dem Holocaust der Nazis hergestellt wurden. Wir lehnen diese Kampagne aus vielfältigen Gründen ab. Vor allem aber verurteilen wir die Instrumentalisierung und Enthistori­sierung des nationalsozialistischen Holocaust. Die Tierausbeutung ist ein Überphänomen unserer Zivilisationsgeschichte, das uns seit Jahrtausenden im Gepäck sitzt. Der Holocaust der Nazis ist ein Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes, das sich in Bezug auf Ideologie, Planung, Durchführung usw. vielfältig unterscheidet von der Massentierhaltung oder auch von heutigen kriegerischen Auseinandersetzungen. Eine Benutzung des Holocaust zur Verdeutlichung einer anderen Grausamkeit ist unseres Erachtens eine gefährliche Enthistorisierung und Relativierung. Aber hier gilt dasselbe wie bei Singer: Wir haben nichts mit Peta und deren Kampagnen zu tun, also können wir dafür auch nicht verantwortlich gemacht werden. Schließlich wurde uns auch unterstellt, wir würden durch einen Vergleich von Frauen- und Tierrechtsbewegung die Frauen herabwürdigen. Die krude Argumentation zu diesem Vorwurf ist im Flugblatt nachzulesen. Die ursprünglich für dieses Thema vorgesehene Referentin Mieke Roscher ist leider kurz vor der Veranstaltungsreihe schwer erkrankt und konnte nicht anreisen. Von ihr liegen aber Veröffentlichungen vor, die den Vorwurf der Herabsetzung von Frauen stichhaltig entkräften. Für sie ist Melanie Bujok aus Bochum eingesprungen, die zu einem ähnlichen Thema referiert hat. Auch hier gab es keine Bereitschaft der KritikerInnen, sich auf das Thema und Anliegen der Feministin und Tierrechtlerin einzulassen. Dies geschah vielleicht aus Gründen der gefühlsmäßigen Aufwallung und Verstrickung in das selbstgemachte Missverständnis. Melanie Bujok, Mieke Roscher, Birgit Mütherich, Carol J. Adams sind die wichtigsten Vertreterinnen der These, dass zwischen der Frauenentrechtung und der Tierentrechtung ein tiefer Zusammenhang besteht. Beide funktionieren durch die soziale Konstruktion des Anderen: die Frau und auch das Tier wurden und werden zur dumpfen und triebhaften Sphäre der Natur gezählt, die prinzipiell minderwertiger ist als die moralische und vernünftige Sphäre der Kultur, zu der sich viele Jahrhunderte lang einzig der (weiße) Mann gezählt hat. So wurde jedenfalls in der Geschichte die Verweigerung des Wahlrechts für Frauen begründet. Und so begründen viele Menschen heute die Tieraus­beutung: „Tiere sind doch für uns da.“; oder: „Es sind ja nur Tiere…“ Es geht um das Erkennen eines strukturellen Zusammenhangs von Sexismus, Rassismus und Speziesismus (die Diskriminierung von Tieren aufgrund ihrer anderen Spezieszugehörigkeit). All das kann hier nur angerissen werden. Es liegen viele soziologische, historische und philosophische Publikationen vor (z.B.: Carol J. Adams: The sexual politics of meat). Nun legen wir aber eine gebündelte Argumenta­tions­sammlung vor, die auf das Flugblatt der Initiative antwortet und es entkräftet.

Stichwort Gleichheit

Im Flugblatt wird das vermeintliche Gleichmachen von Menschen und Tieren durch die Veranstalter von „Life is Life?“ kritisiert. Dazu zunächst etwas Grundsätzliches: Wir reden gewöhnlich unreflektiert von „den Menschen“ und „den Tieren“ und grenzen uns Menschen damit sprachlich von den anderen Tieren ab. Mit der Rede von „den Menschen“ und „den Tieren“ wird ein entschiedener und absoluter Trennungsstrich gezogen. Sind Menschen etwa keine Tiere? Zum einen ist an der Redeweise von „den Menschen“ und „den Tieren“ zu kritisieren, dass damit die Unterschiede zwischen Mäusen und Elefanten, Elefanten und Kühen usw. eingeebnet und andererseits die Menschen allein als einzigartig dargestellt werden. „Der Mensch“ wird als Norm gesetzt und alle nichtmenschlichen Tiere gelten als gleich anders als diese menschliche Norm. Zum anderen werden mit dieser Redeweise „Mensch“ und „Tier“ als gegensätzliche, dualistische Kategorien konstruiert und eine Wertehierarchie gesetzt. Angemessener ist unseres Erachtens die Rede von Menschen und nichtmensch­lichen Tieren. Damit wird dem ideologisch abgesicherten und sprachlich institutionalisierten Denken in „Wir“ und „die Anderen“ etwas entgegengesetzt: Ein Denken, das nicht trennend, sondern verbindend ist. Die Differenz zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren wird damit nicht geleugnet (Ich bin anders als eine Kuh. Aber ich bin auch anders als Du.).

Wir fragen: Welche Bedeutung haben diese Unterschiede für die Frage nach unserem Umgang mit nichtmenschlichen Tieren? Bedeutet Andersartigkeit etwa Minderwertigkeit? Wer bestimmt, wer mehr wert ist? Es muß folgende Tatsache wahrgenommen werden: Wir Menschen gleichen den nichtmenschlichen Tieren in der fundamentalen Tatsache, dass wir an unserem Leben hängen, dass wir das Leben in Freude, Leid, Glück, Schmerz, Wohlergehen und sozialen Bezügen erleben. Wir alle sind – und zwar ungeachtet der Spezies – Individuen: „Jemand“ nicht „Etwas“. „Wir können wissen, dass es für sie (sc. die nichtmenschlichen Tiere) von Bedeutung ist, dass wir aufhören, sie zu definieren und zu benutzen (Carol J. Adams).“

Die Andersartigkeit oder Minderbefähigung eines Individuums rechtfertigt nicht seine Unterdrückung und Ausbeutung!

Stichwort Speziesismus

Die Initiative kritisiert weiter: Antispeziesismus sei „eine doppelte Moral, weil Menschen auf die Milchkuh verzichten, der Löwe aber weiter ungestraft am Schenkel der Antilope nagen darf.“ Dazu folgendes: Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Löwen ist der, dass sich der Mensch frei für eine von mehreren Handlungsoptionen entscheiden kann. Er unterliegt nicht in demselben Maße dem Naturzwang wie nichtmenschliche Tiere. Deshalb ist das Essen der Antilope durch den Löwen etwas anderes als die Ausbeutung der Milchkuh: Das eine ist eine nicht beeinflußbare Notwendigkeit, das andere eine vermeidbare Diskriminierung. Die Ausnutzung der Milchkuh ist weder überlebensnotwendig noch überhaupt nötig. Sie geht aber einher mit massiven Eingriffen in das Leben und Ergehen der Kuh und ihres Kalbes. Das Essen von tierlichen Individuen und/oder ihrer Produkte von uns Menschen bedeutet unnötige Anwendung von Gewalt, Entrechtung und Herrschaft. Der Speziesismus ist eine Ideologie, die nichtmenschliche Tiere instrumentalisiert und zu Opfern menschlicher Nutzungsinteressen macht. Der Speziesismus ist pure Herrschaft des Menschen über nichtmenschliche Tiere.

Stichwort Tierrechte

Die Initiative unterstellt Tierrechtlern einen juristischen Rechtsbegriff. Doch Tier­rechtler fordern keine bürgerlichen Rechte für Tiere (Schutz des Privateigentums etc.), sondern elementare Grundrechte wie Integrität der Würde des Tieres, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Tierrechte sind eine Analogie zu Menschenrechten. Diese sind universal und allgemein gültig, auch wenn sie viele Staaten und juristische Systeme missachten. Kampf für Tierrechte ist ein Stellvertreterkampf. Es braucht aber auch in vielen Fällen von Menschen­rechts­verletzungen „Stellvertreter“, die als Lobby der Entrechteten für die Einhaltung der universalen Menschenrechte kämpfen. Auch wenn es die Speziesisten gerne so hätten: Nichtmenschliche Tiere sind nicht stumm, sondern stumm gemacht worden. Tierrechtler nehmen die Lebens- und Leidensrealität der unterdrückten tierlichen Individuen wahr und wirken dahingehend, dass ihre Stimmen nicht länger ignoriert werden.

Stichwort Kritische Theorie

Schließlich will die Initiative nicht glauben, dass die Kritische Theorie der Frankfurter Schule etwas für die Befreiung der Tiere beitragen kann. Hierüber kann man streiten. Susann Witt-Stahl, Moshe Zuckermann, Birgit Mütherich und andere ausgewiesene Kenner der Frankfurter Schule sehen aber Elemente in der Kritischen Theorie bereit liegen, die auch anwendbar sind auf den Prozess der Befreiung der Tiere. Ein solches Element ist das „Wolkenkratzergleichnis“ Horkheimers. In diesem bezieht er als einer der ersten Intellektuellen die nichtmenschlichen Tiere als unterdrückte und versklavte Entrechtete in die Herrschaftskritik mit ein. Horkheimer stellt die moderne Gesellschaft als ein Gebäude dar, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist. Die „Herren der Welt“ genießen „aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.“ Darunter wohnen komfortabel die politischen Handlanger, die Militärs, die Bildungseliten. Je tiefer der Blick sich aber senkt hinab zum Fundament, desto deutlicher wird, dass der Wolkenkratzer tatsächlich ein Haus der Folter und des Massenelends ist, für dessen obere Stockwerke „millionenweise die Kulis der Erde krepieren“. Ganz unten steht die „Tierhölle“, in der den Individuen nichts anderes bleibt als „der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung“.

Das Verhältnis von Mensch und Tier ist ein despotisches Herrschaftsverhältnis. Hier wird am gründlichsten Aufspaltung, Verding­lichung und Hierarchisierung praktiziert. Außerdem macht Witt-Stahl darauf aufmerksam, dass die Frankfurter Schule in der Leidensfähigkeit die Schnittstelle zwischen Subjekt und Objekt sieht: Das Leiden übergreift die Speziesgrenze und verbindet Mensch und nichtmenschliches Tier.

Eine weitere Ausblendung der Tiere aus der Herrschaftskritik würde heißen, an der Aufrechterhaltung von Herrschaftsmecha­nismen aktiv weiter beteiligt zu sein.

Stichwort Leiden

Die Initiative schreibt zum Schluss: „Dass Lebewesen, die ‚Freude und Glück empfinden’ kein Leid widerfahren solle, ist nichts weiter als ein moralisches Postulat.“ Doch fragen wir: Was ist am Leid der nichtmenschlichen Tiere anders als am Leid der Menschen? Leiden ist Leiden und Gewalt ist Gewalt. Tierrechtlern geht es nicht um irgendeine Ethik, sondern um Ideologiekritik. Es ist der Speziesismus, der uns glauben macht, dass nichtmenschliche Tiere etwas ganz anderes und minderwertiges seien. Es ist der Speziesismus, der tierliche Individuen in die Sklavenrolle zwingt, ihren Willen auslöscht und sie benutzt.

Das ganze Flugblatt der Initiative atmet diesen Geist des Speziesismus – die Degradierung der Tiere und ihr Opferstatus gilt als selbstverständlich und legitim. Tierrechtler erinnern dagegen an die nichtmenschlichen Tiere als Subjekte, sind solidarisch mit ihnen und bekämpfen die institutionalisierte speziesistische Gewalt gegen sie. Und diese beginnt wie so vieles im Denken.

Um das speziesistische Denken zu verändern, initiierten wir die Veranstaltungsreihe „Life is Life?“. Leider trägt die Verbannung der Schlachthöfe und Mastfabriken aus unserem Sichtfeld dazu bei, dass wir auch die Frage nach den Rechten der Tiere aus unseren Diskursen verbannen. Vielleicht befördert diese Debatte um „Life is Life?“ ein weitergehendes Nachdenken mit dieser Frage. Wir versuchen jedenfalls weiter, solidarisch mit nichtmenschlichen Tieren zu sein und an dem eingefleischten Denken zu rütteln, das Tiere zu restlos rechtlosen Nutzungsobjekten verurteilt.

Wer über den persönlichen Ausstieg aus der Tieraus­beu­tung aktiv für Tierrechte werden möchte, schaue unter www.aa-o.de

Macht Gemeinsam Freiheit

Michail Bakunins Begriff von Freiheit

Im Folgenden soll anhand der politischen Philosophie des Anarchisten Michael Bakunin (1814-1876) eine andere Sichtweise auf Freiheit untersucht werden. Dabei soll es nicht primär darum gehen, Bakunins Freiheitsbegriff auf seine systematische Wasserdichte zu untersuchen um dessen theoretischen Gehalt zu prüfen, sondern dieser Text soll nur einige Punkte seines politischen Denkens betrachten, auf der Suche nach dem Brauchbaren. Es soll auch nicht auf die vielen Widersprüchlichkeiten in Theorie und Praxis des politischen Daseins Michail Bakunins eingegangen werden, als vielmehr anhand seines Hauptwerkes „Gott und der Staat“ seine Vorstellung von Freiheit im Mittelpunkt stehen. Bakunin selber verbrachte fast sein ganzes Leben als „Berufsrevolutionär“ auf den Barrikaden der zahlreichen Revolten Europas im 19. Jahrhundert. Gab es gerade keinen Aufstand, widmete er sich dem Schreiben politischer Schriften, die oft auch Erfahrungsberichte seiner politischen Praxis waren. Die ersten Manuskripte zu „Gott und der Stadt“ erschienen 1871. Freiheit galt für Bakunin durch alle Widersprüchlichkeiten seines politischen Schaffens hindurch als zentrale Kategorie seiner Überzeugung.

Freiheit ist der wohl bewegendste po­li­tische Be­griff der Moderne. Wenn heute aber auf der politischen Bühne über mehr Freiheit für den Bürger la­mentiert wird, heißt das in der ge­sellschaftlichen Praxis für viele Men­schen in erster Linie Abbau von (so­zialer) Sicherheit, Stagnation, Rückschritt oder Ohn­macht. Mit­unter zu Recht wird geklagt, dass diese prophetisch versprochene Frei­heit nur ein paar wenigen Menschen zu­gute kommt. Denn diese propa­gierte Freiheit kann nicht verhüllen, was sie ist: Einschränkung der ei­genen Möglichkeiten, ein Mehr von Macht für eine Minderheit. Sicher­heit steht der Freiheit für alle dia­metral ge­genüber. Das Eine scheint nur unter Ver­zicht des Anderen greif­bar. Wenn die Ei­n­en laut zur öko­­­nomischen Libe­­ral­i­sierung auf­rufen, um end­lich Freiheit zu er­­rei­chen, schreien die anderen nach Vater Staat, der einen Garant ihrer Frei­heit dar­stel­len soll. Und umgekehrt. Gan­ze Par­teien repräsentieren die eine oder die andere Seite, oder be­haupten es zumindest, und schwim­men damit hin und her zwischen Frei­heit und Macht.

Was aber kann mensch unter Freiheit verstehen und wodurch ist sie bedingt. Heißt Frei­heit nur Freiheit der Wahl, dann ist sie be­grenzt durch die Anzahl ihrer Wahlmög­lichkeiten. Geht Freiheit aber nicht über die Grenze schlichter Wahlmöglichkeit hinaus und be­deutet sie nicht auch Selbst­ver­wirklichung?

Gott als Produkt der Einbildung

Der Mensch folgt in der Theorie von Bakunin einem Entwicklungsgang hin zur Freiheit. Freiheit versteht er dabei als die Höchste Seinsstufe menschlichen Strebens. Stück für Stück emanzipiert sich der Mensch von seiner tierischen Herkunft – von seiner „Animalität“. Zwei wesentliche Eigenschaften bilden den Motor dieser Bewegung hin zur Freiheit: Das Denken und die Empörung. Jede Art von mensch­­­licher Ent­wick­lung – somit auch und vor allem die Geschichte der Men­schheit – ist Resultat dieses Antriebs, denn der Men­sch „begann seine eigene Geschichte mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und des Denkens.“* Insoweit er sich zur Freiheit bewegt, kann der Mensch die Individualität leben, zu der er neigt. Indi­vidualität ist also Grundbestandteil men­schlicher Freiheit, denn „kol­lekt­ive Freiheit“ existiert nur „wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohl­befindens der Individuen“ (S. 62) darstellt. Der gestärkte Einzelne ist Bestandteil einer humanistischen Gemeinschaft.

Bakunin verortet sich selbst überzeugt als Vertreter des Material­is­mus. Das ideologische Feinbild sieht er wie selbstverständlich auf der Gegenseite: dem Idealismus. Seine ganze Theorie neigt zu dieser dichotomen Weltsicht, die sich stark vereinfacht auf die Formel bringen lässt: Materialismus gleich Freiheit, Idealismus gleich Unterdrückung. Besonders in seiner Herrschafts- und Ideolo­giekritik führt er seine materialistische Denk­weise als Mittel ins Feld, um gegen „falsche Einbildung“ vorzugehen. Unter den Be­griff Materialismus versteht er die Philosophie, die das Sein von der Materie ableitet, das heißt allein die Stofflichkeit bildet und formt die Wirklichkeit. Er lässt nur das materiell Erfahrbare als Grundlage aller Erkenntnis gelten. Die Abwert­ung des Stofflichen im philo­so­phischen Denken der Idealisten und das Hervorheben abstrakter Ideen als Ursache des Ganzen, führe, Bakunin zufolge, unweigerlich zur Einbild­ung von Gott. Indem aber nur die (Gottes-)Idee als wahr gelten darf, wird das, was wirklich empirisch sachlich nachweisbar ist, zur bloßen Einbildung und das Eingebildetete zum einzig Wahren.

Gott ist nicht empirisch nachweisbar und so nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht existent. Glaube entsteht als solcher für Bakunin aus ideo­logischer Indoktrinierung zum Zwecke der Herrschaftssicherung, sowie aus Flucht aus der wirklich wahrnehmbaren, kalten sozialen Umwelt. Die Verabsolutierung der Idee stellt diese über die Wirklichkeit und beginnt das Humanum nur zu verwalten, nicht die Inhalte an den konkreten Verhältnissen zu mes­sen.

Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewig höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, dann ist der Mensch der Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich“. (S. 125)

Bakunin zufolge produziert das Prinzip der idea­­listischen Logik, egal in welcher spezifischen Ausprägung es sich zeigt, automatisch eine Herr­schaftskonstellation. Die ab­strakte Idealisierung steht aus­nahmslos im Widerspruch zur Freiheit. Die Bedingung der Mög­lichkeit von Freiheit ist demnach die Einsicht in die Abschaffung aller abstrakten Prinzipien. Damit kann Freiheit nur vom material­istischen Standpunkt her Wirk­lichkeit werden. Freiheit aus ideal­istischer Sicht, versteht Bakunin als pure Metaphysik, fernab jeglicher realistischen Verwirklichung. Der idealistische Standpunkt muss abstrakt bleiben, weil ihm die Ein­sicht in die materiellen Geg­ebenheiten des Menschen fehlt, deswegen kann er die Voraussetzung der wirklichen Freiheit gar nicht entdecken. Bakunin versucht, Freiheit als etwas rein Konkretes zu fassen, was sich verwirklichen kann, dabei aber keine bloß abstrakte Idee ist. Die Idee Gott verklärt die Wirk­lichkeit, so könnte man mit Ba­kunin theoretisch sagen. Oder historisch:

Auch im Zuge der bürgerlichen Revolution und der damit ein­hergehenden Säkularisierung wurde sich nur von der Institution Kirche emanzipiert, nicht von deren ideal­is­tischen Selbstverständnis. Herr­schaft überdauerte so die Frei­heitsstürme in der Konstruktion des bürgerlichen säkularen Staates. Als Verwalter der idealistisch ver­stande­nen Freiheit wird der Staat in der Moderne zur religiös tradierten Instanz gottähnlicher Herrschaft – das erklärt zu­mindest seine Aus­uferung.

Bürgerliche Staatsideologie

Herrschaft, resultierend aus dem göttlichen Prinzip, reproduziert sich auch im liberalen Staatsmodell. Zwar auf andere Weise, diesmal unter dem Banner der Freiheit, aber nur als verabsolutierte Idee, die verwaltet wird. Liberalismus ist im bakuninschen Verständnis eine Art politisierter Idealismus. Er kritisiert, dass liberalistisch ver­standene Freiheit nur im In­dividuum möglich ist und selbiges stellt auch die Grenze dieser Freiheit dar. Eigentum und die Reduzierung menschlicher Assoziation auf die Kleinfamilie sind Grundpfeiler dieses Verständ­nisses. Der Staat soll die liberale Freiheit schützen und wird dadurch zum Tyrann.

Sie nennen sich Liberale, weil sie die persönliche Freiheit als Grund­lage und Ausgangspunkt ihrer Theorie nehmen, und gerade weil sie diesen Ausgangspunkt oder diese Grundlage haben, müssen sie infolge einer verhängnisvollen Konsequenz, bei der Anerkennung des absoluten Rechts des Staates ankommen“. (S. 126)

Der Ausgangspunkt, Freiheit als angeborene Idee zu betrachten, bleibt für Bakunin in idealistischen Mauern gefangen und kann sich nicht verwirklichen. Freiheit klebt durch ihren göttlichen Ursprung so fest am Individuum, dass dieses nicht Grundlage ihrer Verwirk­lichung, sondern ihr Gefängnis darstellt. Das macht die liberale Freiheit nur außerhalb einer Ge­sellschaft möglich; die einzelnen Ideale stoßen sich nur gegenseitig ab. Daher die Trennung von Freizeit und Arbeit, Öffentlichem und Privatem. Das freie Individuum ist sich Selbst das Nächste. Die Ver­einzelung gerinnt zur Tugend. Gesellschaft muss staatlich verwaltet werden. Solche Freiheit führt zum Staat und nicht andersherum.

Jedes [Individuum] mit einer unsterblichen Seele und einer Freiheit oder einem freien Willen, die ihnen nicht genommen werden kann, absolute und als solche in sich und durch sich selbst vollkommene Wesen, die sich selbst genügen und niemanden nötig haben.“ (S. 129)

Freiheit wird als höchstes Ideal postuliert, zerbricht aber an der materiellen Wirklichkeit und wird zur ab­soluten Herrschaft. Bakunin liest die Entwicklung des modernen Staates als zynische Folge eines idealistischen bzw. idealisierten Freiheitsver­ständnisses.

Deswegen versucht er Freiheit ma­terialistisch zu fassen. Als Produkt einer mat­eriellen Welt und nicht als unabhängige Größe. In dieser Lesart beginnt der liberal-bürgerliche Grundfehler schon in dem Ver­ständnis, Freiheit außerhalb ge­sellschaftlicher Organisation zu verorten und nur im Individuum zuzulassen. Freiheit ende dort, wo die Freiheit des anderen beginne – so das Credo. Solche Freiheit versteht das andere Individuum per se als Einschränkung der eigenen Möglichkeiten. Bakunins Verständ­nis von Freiheit fängt jedoch dort erst an, wo die Bürgerlichkeit aufgibt – beim Anderen. Er hält dem Bürger entgegen, dass Freiheit nur durch den anderen wirklich ge­schaffen werden kann, sich also durch Gesellschaft konstituiert und nicht durch sie beschnitten wird.

Da er die Menschwerdung als materielle Entwicklung zur Freiheit begreift, schließen sich für ihn ewige Ideen als Voraussetzung aus. Der Mensch wird also nicht frei geboren, sondern gelangt erst zur Freiheit vermittelt durch die Ge­sellschaft. Der Mensch hat seine Freiheit nicht von oder durch Geburt und nur für sich, sondern gerade durch und in Geselligkeit mit Anderen, das ist Bakunins Punkt.

Durch Gesellschaft zur Freiheit

Zunächst kann er weder dieses Bewusstsein noch diese Freiheit haben; er kommt in die Welt als wildes Tier und als Sklave, und nur im Schoße der Gesellschaft, die notwendig vor der Entstehung seines Denkens, seiner Sprache und seines Willens da ist, wird er fortschreitend Mensch und frei.“ (S. 131)

Der ideale Mensch genügt sich selbst und hat als logische Folge die Vereinzelung, er ist a-sozial. Als Miteinander kennt er nur den Kampf Aller gegen Aller, die der Staat zentral organisiert. Kollektivität ist dagegen gar nicht als Beschneidung des Individuums zu verstehen, wie so oft naiv oder diffamierend über sie geurteilt wird. Im Gegenteil ist sie die notwendige Voraussetzung, um überhaupt frei sein zu können. Individuelle Frei­heit und Indi­viduum werden durch gesell­schaft­liche Kollektivität erst gesetzt. „Der isolierte Mensch kann kein Bewußt­sein seiner Freiheit haben“. (S. 131)

Das Bewusstsein zur Freiheit des Men­schen entsteht aus einer frei­heit­lichen gesellschaftlichen Ausgangs­lage, denn wenn sich Freiheit durch den anderen konstituiert, muss der Einzelne „von allen ihn umgebenen Men­­­­schen als frei anerkannt wer­den“ (S. 132). Das gilt auch im Gegenzug, für das Individuum. Auch das Individuum vermittelt Freiheit, denn „nur solange ich die Freiheit, und das Menschentum aller Men­schen, die mich umgeben, an­erkenne, bin ich selbst Mensch und frei“ (S. 132). Seine Freiheit behauptet sich im Zusammenspiel zwischen Indivi­duum und Kollektivität. Freiheit hat sozialen Charakter.

Das Primat der Gesellschaft als Mittler der Individuation des Einzelnen beinhaltet gleichzeitig seine negative Komponente: Da Gesellschaft für das Individuum eine Art zweite Natur darstellt, kann sich der Einzelne der falsch eingericht­eten Gesellschaft, d.h. gegen eine Gesellschaft basierend auf dem Herrschaftsprinzip, kaum entziehen. Die Empörung gegen die Ge­ssellschaft ähnelt damit dem Aufbegehren gegen die Naturgesetze. Damit wäre jedoch jede Hoffnung auf Emanzipation hin zur Freiheit aus der unfreien Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Frustration und Pessimismus wären die Folge. Und gerade dieser Punkt macht den Gang zur Freiheit für Bakunin auch so schwierig und markiert auch die Grenzen seiner naiv optimistischen Position des sicheren Ganges zur Freiheit. Deshalb versucht er, das Ganze dynamisch zu denken, als Rebellion. Freiheit be­zeichnet Bakunin auch als „ne­ga­tiv“, als Empörung des men­schlichen Individuums gegen „jede göttliche und menschliche, gegen jede kollektive und individuelle Autorität“. (S. 133)

Empörung gegen die subtile Macht einer falsch ein­gerichteten Gesellschaft, bleibt jedoch schwierig, denn Bewusstsein zur Freiheit entsteht nach Bakunins strenger materialistischer Sichtweise nur aus den richtigen materiellen Gegebenheiten heraus. Der Mensch wäre determiniert durch die Ge­sellschaft.

Es zeigt sich die Grenze Bakunins naiv materialistischer Theorie. Auch Empörung als Trieb­feder des Men­schen zur Freiheit zu bescheinigen und Bakunins Glauben in ein positiven Entwicklung­sgang des Menschen, bleiben am Ende eben auch nur ein Glaube, dessen Begründung an vielen Stellen nicht befriedigt. Er führt zwar an, dass die Ver­ding­lichung der falschen Ge­sellschaft als staatliche Macht auftritt und dadurch ihre Gewalt deutlich zu spüren sei. Damit gehe ein Auf­begehren gegen den Staat mit dem Aufbe­gehren gegen die Macht der falsch eingerichteten Gesellschaft einher. Doch den Staat als Voraussetzung seiner Abschaffung zu bezeichnen, reicht nicht aus.

Darin liegt zwar eine große Schwäche, aber immerhin begeht Bakunin nicht den Fehler, Gesellschaft und Staat in eins zu setzen. Gerade dies wurde im 20. Jahrhunder immer wieder getan. Nicht dass man Gesellschaftliches mit Staatlichem verwechselt hätte, sondern gerade umgekehrt wurden staatliche Maßnahmen zunehmend als ge­sell­schaftliches Tun verklärt. Aber mit Bakunin und über ihn hinaus kann der Staat stets bestenfalls Mittel selbstverwirklichter Freiheit sein, nicht ihr Zweck. Die freie Ge­sellschaft weist dementsprechend immer über Staat hinaus.

Und hier hat auch Bakunins Kon­zeption von Freiheit ihr Ge­wicht: Eine Freiheit, die sich erst in und durch kollektive Praxis verwirklicht. Eine Freiheit, die über das In­dividuum hinausgeht, um es zu retten. Erst durch eine kollek­tive Praxis ist es möglich Räume der Freiheit zu schaffen, selbst wenn sie erst einmal nur marginal entwickelt werden können. Freiheit muss als Prozess verstanden wer­den, der nicht passiv vorhanden ist, oder wie ein Rechts­titel an uns klebt, son­dern aus einer Tä­tig­­keit entspringt, aus dem In- und Durch­einander men­schlichen Handelns. Und das nicht allein, sondern zu­sammen. Eine Frei­­heit, die durch das Kollektiv das Individuum stark und frei macht, ist auch in der Lage, gegen eine gesellschaftliche Übermacht hand­lungsfähig zu bleiben. Nie­mand ist alleine in der Lage, seine individuelle Freiheit gegen ge­sellschaftliche Repression zu erhalten, gerade wenn diese systematisch und totalitär auftritt. Erst als Kollektiv können Räume erschlossen und vernetzt werden. Macht, die Freiheit unterdrückt, ist nur Gemeinsam zu bewältigen; das vereinzelte Indi­viduum bleibt immer ohnmächtig.

karotte