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Diese Revolution ist geschlagen …

… niemals aber die Ideen.

Aus aktuellem Anlaß schieben wir dieses Mal die nackte Theorie(-geschichte) beiseite, um eine Veranstaltung zu vertiefen, die am 20. Juni in der Libelle (siehe S. 1) stattfand. Im Schatten von AC/DC und den auch nicht mehr ganz frischen Stones hatte Leipzig noch viel älteren Besuch. Zu Gast für einen spannenden Abend, eine kurze Nacht und einen langen Morgen war Abel Paz (81), der auf seiner Reise durch Europa auch Leipzig auf seine Route setzte. Die Gesprächsrunde, zu der zwar 1000mal weniger Menschen als auf der Festwiese kamen, die aber die Libelle aus allen Nähten platzen ließ, war durch das taffe Auftreten des Achzigjährigen geprägt, in dessen wachen Augen sich der glühende Verfechter sozialer und anarchistischer Ideen widerspiegelte. Es war eine Begegnung der vielen Fragen und einiger Antworten, ein Gespräch zwischen Jugend und Alter, eine gegenseitige Erfahrung. Am nächsten Morgen gab uns Abel die Chance, ihm noch einige Fragen zu seinem Leben, dem Spanischen Bürgerkrieg, zu seinem politischen Handeln, zu seinen Haltungen, zu seinen Ansichten über soziale Bewegungen zu stellen. Eine gekürzte Fassung der Transkription einer Tonaufnahme drucken wir hier ab.

Momentan bist Du auf Tour.Was bewegt Dich dazu, mit fast 82 Jahren solch’ eine Sache zu machen?

Ich denke man geht nie in Ruhestand. Wenn jemand etwas zu sagen hat, ist das Alter egal … Er geht dorthin, wo ihn die Leute hören wollen. Und wenn du glaubst, dass deine Ideen dazu beitragen können, die Welt zu verändern, ist es um so besser, je mehr Leute hinter dir stehen.

Wie sind Deine Eindrücke von der Reise?

Nun gut, viele Leute, viele junge Leute, die sich für libertäre Ideen zu interessieren scheinen. Mehr weiß ich noch nicht, die Reise hat ja gerade erst angefangen.

Was möchtest Du mit diesen Reisen erreichen?

Nichts, ich habe mir nichts vorgenommen. Ich mache keine Propaganda für eine Partei, ich habe mir lediglich vorgenommen, die Dinge so zu verändern, dass sich die Leute über die Probleme der Gesellschaft und die Probleme, die sie umgeben, bewußt werden.

Wenn die Leute von dir hören, was denkst du, interessiert sie am meisten? Die Bedingungen während des spanischen Bürgerkrieges oder anarchistische Ideen? Wie schätzt du das ein?

Ich hab keine genaue Vorstellung davon, was die Leute denken, weil sie keine persönlichen Fragen stellen. Es kommen Fragen über das, was die Leute gelesen haben. Aber generell fragen die Leute nicht einfach so, sondern in Bezug auf das, was sie gelesen haben und die Zweifel, die sie daran haben.

Was hat dich dazu bewegt, mit 14 Jahren in die CNT einzutreten? Wie bist du mit anarchistischen Ideen in Kontakt gekommen?

Meine Eltern waren Anarchisten. Die historischen Umstände haben mich dazu gebracht – wie tausend andere auch. Es war nicht nur der Kampf für den Anarchismus, sondern ein sozialer Kampf. Es waren ganz andere historische Umstände als heute. Wir Kinder haben nicht gespielt, mit acht Jahren waren wir schon erwachsen. Das ist das Gleiche wie heute in Südamerika, wo achtjährige Kinder in den Minen arbeiten.

Als Redakteure interessiert uns natürlich auch, welche Rolle die anarchistischen Zeitungen in der Bewegung gespielt haben. Wie wichtig war dieses Medium für dich und andere? Gibt es Unterschiede zu den heutigen Medien?

Nun, damals war das eine Bewegung, die die ganze Gesellschaft umfasste, und die Zeitungen und Zeitschriften haben eine wichtige Rolle gespielt. Sogar Diaz de Almoral hat erzählt, wie in den Betrieben einer die Zeitung vorlas, während die anderen zuhörten. Es gab viele Analphabeten, aber die Leute waren neugierig. Ohne Kultur wirst du nie eine Revolution machen, noch wirst du irgendjemanden darauf vorbereiten.

Man muss die Ungerechtigkeit zerstören, und man muss die Ungerechtigkeit verstehen, sonst ist es nur eine Revolte von Verzweifelten, und wir waren verzweifelt. Wir wollten die Revolution, um die sozialen Ungerechtigkeiten abzuschaffen, daher diskutierten die Leute über das, womit sie nicht einverstanden waren, wie alles anders funktionieren könnte, und es gab immer ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im und durch den sozialen Kampf.

Welche Medien nutzt du heute und was fehlt deiner Meinung nach?

Das, was es früher gab, fehlt heute: eine soziale Kultur. Nicht so eine Kultur “light” wie wir sie heute haben, sondern eine soziale Kultur, die sich vertiefend mit den Problemen beschäftigt. Die heutigen historischen Umstände sind nicht vergleichbar. Ich denke immer an die Vergangenheit, und die Vergangenheit ist ganz anders als das Jetzt

Es war zum Beispiel nicht komisch, dass man in das Haus eines Arbeiters kam, und dieser eine Bibliothek mit 100 oder 200 Bänden besaß. Er kaufte die Bücher für seine Enkel, für seine Kinder. Es gab ein Interesse, die Probleme zu verstehen, das heute nicht mehr da ist. Der Kapitalismus hat es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft, die Arbeiter- und Kulturbewegung zu zerstören. Daher ist die heutige Kultur ein „barniz”. Wisst ihr was ein „barniz” ist? Wie ein französischer Schriftsteller einmal gesagt hat: ‚Das ist wie ein „Barniz“ – ein Lack, den man auf einen dünnen Stock aufträgt, um ihn als Spazierstock durchgehen zu lassen.‘

Es gibt keine Kultur mehr. Was man heutzutage unter Kultur versteht, ist keine Kultur. Ich habe ein tieferes Verständnis von Kultur; heutzutage gibt es eine Menge Erkenntnisse, aber es handelt sich nicht um auf Vernunft gründendes Erkennen sondern … Wer von euch hungert? Niemand. Was für eine Revolution werdet ihr machen? Nicht dass man Revolutionen nur machen könnte, wenn man hungert, aber ich meine, wenn ungerechte soziale Bedingungen herrschen … aber heute leiden die Leute nicht unter sozialer Ungerechtigkeit und sind daher auch nicht unzufrieden mit der Gesellschaft, es handelt sich eher um einen “folkorischen” als um einen wirklichen Kampf.

Wenn wir heutzutage von Anarchie und Anarchismus reden, stoßen wir auf viele Vorurteile und Probleme. Das macht die politische Arbeit nicht leichter, nach innen und nach außen. Wie sah das Selbstbild der anarchistischen Bewegung aus, während der Kriegsjahre, einer Zeit, die hier oftmals als “kurzer Sommer der Anarchie” (Enzensberger) bezeichnet wird? Bzw. wie war das Verhältnis zur übrigen Bevölkerung? Wie gestalteten sich die Kontroversen innerhalb der Gruppen? Gab es große Differenzen bezüglich der Mittel und Perspektiven…? War nach außen viel Agitation und Propaganda nötig? Oder fanden die Menschen quasi von selbst zu anarchistischem Denken und Handeln?

Die Vergangenheit? Es ist absurd, über die Vergangenheit zu sprechen, weil die heutigen historischen Umstände nichts mit der Vergangenheit zu tun haben. Wenn ihr die deutsche anarchistische Bewegung ein bisschen kennen würdet, würdet ihr nicht solche Fragen stellen. Nun, Theater und Literatur spielten eine sehr wichtige Rolle. Alles drehte sich um die damaligen Bedürfnisse. Heute gibt es diese Bedürfnisse nicht mehr, gestern abend zum Beispiel waren diese Musiker da (die Rolling Stones). Hunderte von Leuten waren auf der Straße. Ich hab nichts gegen Musik oder gegen diese alten Herren, aber ich denke, dass viele dieser Leute nicht wegen der Musik da waren, sondern wegen der “ Folkore” (dem Event, A.d.Ü.) Sie haben achtzig Euro dafür bezahlt, einen netten Abend zu verbringen und das war es. Die Musik spielt heutzutage keine so wichtige Rolle wie damals.

Das Theater spielt auch keine so wichtige Rolle mehr wie damals, weil es den Leuten damals eben ein Bedürfnis war. Heutzutage werden Bedürfnisse vorgegeben, davon lebt der Kapitalismus. Die jetzige Gesellschaft ist nach kapitalistischem Maß geschneidert, nicht nach den Maßstäben der Gesellschaft. Den Männern und Frauen werden Bedürfnisse induziert, die sie gar nicht haben. Diese Bedürfnisse werden ihnen “gemacht” und sie passen sich an diese Bedürfnisse an. Dies ist eine sehr fiktive Gesellschaft, eine Konsumgesellschaft, man muss konsumieren, konsumieren, konsumieren……

Du hast die Revolution persönlich miterlebt. Wie hast du die Kollektivierung und den Unterhalt der Betriebe erlebt? Warum ist die Selbstverwaltung der Fabriken gescheitert? Geschah dies aufgrund der Repression des Franco-Regimes oder gab es auch andere Motive?

Sie ist nicht gescheitert. Sie war die einzige Revolution, die es jemals gab, bei der die Arbeiter die Wirtschaft in ihre eigenen Hände genommen haben, sie haben sie (die Wirtschaft) weiterentwickelt, nicht zum Nutzen der Bourgeosie sondern zum Nutzen aller. Aber sie ist nicht gescheitert! Während der 32 Monate, die die Revolution dauerte, haben die Arbeiter die Wirtschaft übernommen. Und sogar heute entwickelt sie sich, so dass die Menschen in Argentinien, in Buenos Aires, Fabriken besetzen und selber verwalten.

Revolutionen enden nicht, Revolutionen haben ihren Wert in den Ideen, die sie entwickeln. Diese Ideen können durch die Repression niedergedrückt werden, aber sie bleiben weiter bestehen. Revolutionen tragen ein Erbe mit sich, welches man “ historisches Gedächtnis “ nennt. Zum Beispiel die Ereignisse im Mai ‘68 in Frankreich, die die Ideen widerspiegeln, die sich in Europa entwickelt haben. Die Russische Revolution hat keine Ideen hervorgebracht, sondern die Bürokratie, deswegen hatte sie kein historisches Gewicht. Sie hat keine eigenen Ideen entwickelt, die Ideen wurden unterdrückt. Die sowjetischen Arbeiter haben anfangs versucht, die Probleme zu lösen und die Selbstverwaltung einzuführen, aber die Partei hat das nicht interessiert. Es war eine Revolution gegen die Arbeiterklasse. Wir dagegen waren die Arbeiterklasse, die Revolution machte. Es gab keine Bürokratie, die die Arbeiter daran hinderte, das zu machen, was sie machen wollten, daher entwickelten sich ökonomische Prinzipien, die auf Egalität, Brüderlichkeit und Solidarität basierten, und diese sind nicht gescheitert, weil wenn sie scheitern, scheitert der Mensch, und der Mensch kann in seinen Ambitionen nicht scheitern.

Heutzutage bewertet man die Sachen. Viele Leute glauben, dass die Revolution wegen der Repression gescheitert ist. Nein, sie ist nicht gescheitert, sondern sie wurde, da sie keinen Widerhall fand, von den ihr überlegenen Kräften niedergeschlagen, nicht aber die Ideen. Die mexikanische Revolution zum Beispiel: Mit Zapata starb nicht die mexikanischen Revolution. Der Beweis dafür ist, dass diese Ereignisse 1918 stattfanden und die Idee des Kollektivismus, die Zapata entwickelt hat, immer noch besteht. Es gab kein Scheitern. Das ist eine sehr bürgerliche Vorstellung, ein Geschäft kann vielleicht scheitern… (ich weiß nicht, ob ich mich verständlich genug ausdrücke)

Es gibt einen sehr bedeutenden Film. “El pan nuestra de cada dia” („Unser täglich Brot“) Er ist sehr wichtig, weil es um das Prinzip des Kollektivismus geht, er spielt in den USA, während der Krise von ‘29. […] Ich kann den Film nur weiterempfehlen, es lohnt sich ihn anzuhalten, um die Sachen zu erklären, er enthält viele didaktische Elemente, man kann ihm nicht in einem Rutsch sehen, man muss ihn anhalten und kommentieren. Ich kann euch nur empfehlen das zu tun.

Ein anderer sehr bedeutender Film ist “Espartaco” („Spartakus“). Er behandelt die ganzen Probleme der Revolution. […]

Ich empfehle euch auch “Tiempos Modernos” („Moderne Zeiten“) anzusehen und zu kommentieren – anzuhalten. Videokassetten haben den Vorteil, dass man sie anhalten kann.

In “Espartaco” ist es außerdem die Liebe, die die treibende Kraft der Revolution ist. Wenn es bei einer Revolution keine Liebe gibt, ist es keine Revolution. Die emotionale Kraft, die Spartakus bewegt, ist die Liebe. Als sie ihn zum Schluss kreuzigen, fragt ihn der Dichter, ein Junge, der mit ihm unterwegs ist, “War es das wert? “ und Spartakus antwortet ihm: “Natürlich war es das wert. Wir haben gezeigt, was soziale Ungerechtigkeiten sind und “Nein” dazu gesagt.” Es ist es wert, auch wenn du scheiterst, scheiterst du nicht, sie mögen dich zwar niederschlagen, aber das hat überhaupt nichts mit Scheitern zu tun. Die Niederschlagung ist eine Geschichte für sich.

Die zwei Protagonisten der spartakistischen Bewegung in Deutschland sind Rosa Luxemburg und Gustav Landauer. Landauer in München, die Republik der Arbeiterräte, war bedeutender als Berlin, weil Berlin früher niedergeschlagen wurde.Wenn die Leute nur mehr über diese Bewegungen wüssten, über das, was in Deutschland nach Ende des Krieges passiert ist. Es ist wichtig, da es in Deutschland stattgefunden hat, und ich würde euch gerne fragen, was ihr über die spartakistische Bewegung wisst.

Ich denke, es gab sehr wichtige Ereignisse hier in Deutschland, und bevor ihr euch mit dem beschäftigt, was wo anders passiert, solltet ihr erst einmal die Konsequenzen aus dem ziehen, was in eurem eigenen Land passiert. Die spanische Revolution ist sehr wichtig, aber die historischen Umstände sind andere. Genauso wie die historischen Umstände hier zu Zeiten des Spartakismus (weiß nicht genau, ob es da so gibt, eher spartakistische Bewegung? A.d.Ü.) andere waren. Wenn es zwischen Russland und Deutschland keinen Frieden gegeben hätte, wäre die Bewegung größer geworden und hätte in einer Revolution geendet, die sich auf ganz Europa ausgebreitet hätte, was wir Spanier versucht haben. Die Revolution im Frieden auf ganz Europa auszuweiten, genau da ist der Leninismus gescheitert, an der Revolution, die nur in einem einzigen Land stattfindet. Ich vermische verschiedene Sachen, aber was ich sagen will ist, dass ihr durch dass Diskutieren des Problems des Spartakismus ganz genau überprüfen könnt, welches die Fehler der Kommunistischen Partei waren. Es ist sehr wichtig, die Fehler der Kommunistischen Partei in Deutschland zu kennen, das ist für euch wichtiger als die spanische Revolution.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele deutsche Anarchisten in die sozialistische Partei eingetreten, um ein Erstarken des Faschismus in Deutschland zu verhindern. Welche Ähnlichkeiten gibt es da zu Spanien?

Im Grunde gibt es schon Ähnlichkeiten, aber nicht in der Art und Weise. Das was ich versucht habe zu erklären, ist, dass die Spartakisten eine sehr bedeutende Sichtweise haben (…………) allerdings war Rosa Luxemburg keine Trotzkistin, und Gustav Landauer wurde vergessen. Beides sind Personen, die man aufgrund dessen, was sie gemacht haben, und was sie zur sozialen Geschichte Deutschlands beigetragen haben, nicht vergessen sollte. Die Leute in Spanien interessieren sich für das, was im Ausland passiert, weil sie Angst haben, darüber zu sprechen, was in Spanien selbst passiert. Hier gibt es die gleiche Tendenz, weil die Leute Angst haben. Es sind die Ängste, aus denen Diktaturen geboren werden und sie befinden sich immer noch in den Köpfen der Leute. Wir haben uns zum Beispiel mit Pinochet angelegt, Franco allerdings haben wir vergessen, und Franco hat 250.000 Leute erschossen und keiner spricht darüber in Spanien, aber über Pinochet reden wir, weil das weiter weg ist.

Nach dem Sieg Francos gingst du in den Untergrund und wurdest mehrere Male verhaftet. War der Widerstand erfolgreich? Hat die Repression des Regimes euch von der Bevölkerung entfernt? Wie habt ihr den Widerstand erlebt?

Nun, bei dieser Frage sollte man über die Haltung des internationalen Proletariats reden. Warum blieb die spanische Revolution so isoliert und warum gewann Franco den Krieg?

Er hat die Revolution zerschlagen, Franco hat den Krieg nicht gewonnen, er hat die Revolution mit Hilfe des internationalen Kapitals zerschlagen. Er hat das Problem des internationalen Kapitalismus gelöst, deswegen ist er nach Ende des Zweiten Weltkrieges an der Macht geblieben. Andere Länder wurden befreit. In den anderen Ländern wurde die Demokratie eingeführt, Europa wurde geteilt. Aber in Spanien blieb Franco, da die Leute Angst vor dieser Revolution hatten, davor, dass sich die Geschehnisse wiederholen. Deswegen kann man in Spanien nicht von erfolgreich oder nicht erfolgreich sprechen, es gab immer noch Widerstand, nur blieb er isoliert. Die Leute versuchten irgendwie in den Bergen zu überleben, bis Franco mit Hilfe der Amerikaner, der Engländer, der Franzosen, der Deutschen, – mit allen – bis er es schaffte, der Situation Herr zu werden, indem er die Bewegung zerstörte. Spanien wurde zu einem riesigen Gefängnis, eine Million Arbeiter waren im Gefängnis, im Konzentrationslager. 250.000 Erschossene, eine halbe Million ging ins Exil, die Leute hatten Angst. Bedeutende Intellektuelle Spaniens mussten ins Exil gehen, andere wurden erschossen. All dies mündete in 40 Jahre Diktatur, wodurch sich die großen Ängste, die immer noch in Spanien existieren, erklären.

Die “Transicion” (“der Übergang zur Demokratie”, A.d.Ü.), wie man das in Spanien nennt, das waren alle politische Parteien zusammen mit dem Rest der Falange (faschistische Organisation), die dem Anarchismus gemeinsam die Stirn boten, damit er sich nicht wieder erheben konnte. Und sie schafften es, sie schafften es, die Angst zu säen, sie schafften es, die Polizei in libertäre Kreise einzuschleusen, sie schafften es zu provozieren. Zum Beispiel die 400.000 bei der Versammlung von Montjuic. Letzten Endes ist alles eine Reihe von Tatsachen. Sogar heute, wo die kommunistische Partei, Izquierda Unida („Vereinigte Linke“ – spanische Linksallianz, A.d.Ü.) und die sozialistische Partei zusammen arbeiten mit Aznar & Co. Der Kampf geht gegen die Anarchisten, die Ursache des Problems sind angeblich die Anarchisten. Es gab vor kurzem sogar den Fall, wo eine Bombe in Rom hochgegangen ist, und man dies den Anarchisten anhängen wollte. Es wird immer versucht, die Anarchisten in Verruf zu bringen, indem man ihnen gewaltvolle Aktionen, welche den Leuten Angst machen, zur Last legen will. Die Transicion in Spanien bedeute: “alle Zelte abzubrechen und neu anzufangen“ (auch eine Redensart, ging nicht besser zu übersetzen A.d.Ü.). Alle an einem Strang, damit der Anarchismus in Spanien nicht wieder erstarken konnte.

Nach der Transicion sind einige neue soziale Bewegungen entstanden, besonders die Antiglobalisierungsbewegung. Welche Verbindungen und Parallelen gibt es Deiner Meinung nach zu der anarchistischen Bewegung speziell in Spanien?

Wenige, in Spanien sind die Leute sehr enttäuscht von den politischen Parteien, besonders die Jugendlichen, und da die Jugendlichen nicht wirklich wissen, was sie wollen, springen sie auf alle Gegen-Bewegungen an, wie die Antiglobalisierungsbewegung. Aber sie haben auch keine genauen Vorstellungen über das alles. Leider ist der Anarchismus in Spanien, aus Gründen die ich eben genannt habe, nicht mehr so verbreitet, und wir befinden uns in einer ähnlichen Situation wie 1850 zum Beispiel. Die Leute reagieren allergisch auf politische Parteien, sie wählen nicht, oder sie wählen, ohne davon überzeugt zu sein. Aber die Jugendlichen gehen in Wirklichkeit nicht wählen, sie enthalten sich ihrer Stimme. Da muss der Anarchismus ansetzen, unter diesen schwierigen Voraussetzungen, weil die Jugendlichen kein Bewusstsein haben. Sie wissen, was sie nicht wollen, aber sie wissen nicht, was sie wollen. Was es für den Anarchismus sehr schwierig macht anzusetzen, dennoch denke ich, dass der Anarchismus in Spanien wie auch in der restlichen Welt am Leben ist, es handelt sich um einen tief verwurzelten Anarchismus, der sich sehr oft in direkten Aktionen zeigt, was nicht gerade die beste Methode ist, aber es ist die Methode der Verzweifelten. Ich denke, dass wir eine Stufe erreicht haben, wo die Leute so verzweifelt sind, weil es keinen Ausweg gibt, und da es keinen Ausweg gibt, greifen sie nach jedem Strohhalm, wie der Antiglobalisierungsbewegung. Attac ist eine liberale Bewegung, die sich für nichts anderes interessiert, als für das, was sie aus diesen Bewegungen herausziehen kann.

Attac ist eine von der liberalen Bourgeoisie geschaffene Bewegung derer, die diese Art von Protesten steuern, um etwas für sich zu erreichen. Aber eigentlich denke ich, dass Attac an Wichtigkeit verliert, […] weil die Jugend nach viel Reflexion und nach vielen Misserfolgen ihren Weg finden wird. Gehen wir zurück zur Situation 1850, in Spanien und dem Rest der Welt, in Europa, in den am meisten industrialisierten Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien – nun gut, Italien nicht, weil Italien befand sich gerade mal am Anfang – hat der Anarchismus viel nachhaltiger Fuß gefasst als die anderen Theorien. Der Marxismus ist tot, er ist eine Theorie des vergangenen Jahrhunderts. Der Kapitalismus hat sich in einer Art und Weise entwickelt, so dass er über den Marxismus hinausgegangen ist, weil das Ganze eine dogmatische Sache von Karl Marx blieb. Der Anarchismus ist anders. Er ist keine Theorie, er ist ein Projekt der Gesellschaft, welches der jetzigen Gesellschaft eine andere gegenüberstellt. Und diese Gesellschaft kann jeden Augenblick verwirklicht werden, mit besseren Bedingungen und auf den Prinzipien des Föderalismus basierend.

Der Kapitalismus und die Bourgeoisie sind daran interessiert, den aggressiven Charakter dieser Bewegungen, zum Beispiel der Antiglobalisierungsbewegung, hervorzuheben, und es scheint, als ob die Anarchisten in die Falle der Aggressivität tappen. Der Beweis dafür ist, dass die Antiglobalisierungsbewegung in Friedliche und Aggressive – wozu die Anarchisten zählen – unterteilt wird. Es ist eine Art die Leute zu erschrecken. Die Anarchisten dürfen nicht in diese Falle tappen. Vielmehr sollten sie sich von diesen Einflüssen lösen und sich nicht an gewaltvollen Aktionen beteiligen. Das ist nicht gut für den Anarchismus – es ist eher die Polizei, die wie eine Vogelscheuche diese Zwischenfälle provoziert. Autonomie, Solidarität, Menschen, Dezentralisierung sind für den Kapitalismus uninteressant. Dies sind Kräfte, die er einfach zerschlägt, er zerschlägt die Bewegungen. Heutzutage ist alles zentralisiert, jedoch ist der Zentralismus etwas, was sogar den Kapitalismus ermüdet. Den Beweis habt ihr in den USA. Warum senken sie die Zinsen? Um Waren zu exportieren. Es gibt einen Krieg zwischen dem Euro und dem Dollar, früher oder später werden wir von bewaffneten Zusammenstößen, von Krieg und Faustschlägen reden. Es ist eine sehr konfuse Situation, bis zu dem Punkt, an dem wir, die Anarchisten, die Einzigen sind, die diesen Kampf zu unserem eigenen machen können, wenn wir unsere Ideen gut zu erklären wissen, die ja nicht sehr kompliziert sind. Man sollte einfach nicht zu viel theoretisieren, man muss praktisch an die Sache herangehen. Föderalismus, Autonomie, Dezentralisierung, das sind die Pfeiler des Anarchismus, der Veränderung der Gesellschaft. Wir haben keine Theorie. Die Genossen, die alles theoretisieren, verlieren nur Zeit. Wir wollen eine Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Solidarität, der Gleichheit, weniger sozialer Ungerechtigkeit und freier Liebe basiert, Prinzipien die es schon gibt und die sich die Leute wünschen.

!pasaremos! Und danke für das Gespräch, bis bald…

Besonderer Dank gilt Elena als Tapferste des tapferen fünfköpfigen Übersetzungsteams der Veranstaltung, Miguel und S. für Interviewübersetzung und Transkription und Dieter, Anthie und Werner, die mit Gelassenheit, Interesse und ihrem Französisch die Nacht zu einer des Erzählens, Diskutierens und Verstehens machten.

Theorie & Praxis

PIERRE-JOSEPH PROUDHON

Ein Blick zurück in die Geschichte eröffnet zuweilen mehr Möglichkeiten des Weiterdenkens, Zuwiderhandelns oder Neuerfindens als der einfache Blick nach vorn. Denn wer nicht erinnert, der vergißt! Deshalb wollen wir in loser Folge auch Exkurse in die Geschichte anarchistischer Ideen eröffnen. Nicht so sehr, um über Denker wie Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder Landauer und ihre Gedanken zu urteilen, als vielmehr zur Beschäftigung mit dererlei Überlegungen anzuregen.

Betritt man in heutiger Zeit den Politzirkus der polemischen Meinungen, ist man im ersten Moment von den gebotenen Attraktionen fasziniert. Hartz-Komissionen, Riester-Rente, Vermögenssteuer, Kindergeld oder Studiengebühren, das bunte Chaos hat demokratischen Anschein. Doch blickt man länger in die Manege, fällt es schwer, nicht in Zweifel über den Wert und Sinn der sich darbietenden Veranstaltung zu verfallen, angesichts der Böllermänner, Spätzünder und Stimmenfischer, die eher als hölzern-statische Artisten denn als virtuose erscheinen. Dererlei Zweifel an den ‚guten alten‘ demokratischen Traditionen hegend, sieht man sich seit je her schon mit einem Bilderverbot belegt. Dabei geht gerade heute vielen Menschen die Geschichte der guten Idee der Demokratie verloren. Der kritisch-kluge Mensch hat es aber ebenso seit je her verstanden, diese Idee gegen ihre institutionelle Erstarrung, gegen die Machtübernahme Einiger zu wenden. Kritik am Staat, welcher sich selbst als demokratisch verfaßt bezeichnete, war sie nicht reaktionär, ging so einher mit einem radikaleren Demokratieverständnis bzw. mit einem radikaleren Verständnis des Begriffs von ihr. Die Debatten um die außerparlamentarische Opposition (APO) der 68er Bewegung, die kritischen Strömungen der Weimarer Republik, die politischen Unruhen des 19. Jahrhunderts zeugen davon.

Hier, sage ich Ihnen, unter dem Säbel Bonapartes, unter der Zuchtrute der Jesuiten und dem Kneiper der Polizei, ist es, wo wir an der Emanzipation des Menschengeschlechts zu arbeiten haben. Es gibt für uns keinen günstigeren Himmel, keine fruchtbarere Erde.“

Es gibt keinen Platz für mich in der Welt, ich betrachte mich als im Zustand ständigen Aufstands gegen die Ordnung der Dinge befindlich.“

(P.-J. Proudhon, 1852)

Hier, am Wurzelwerk der modernen Staatsbildung, ist das Leben und Wirken Pierre-Joseph Proudhons situiert. Mit seinem politischen, intellektuellen und sozialen Engagement, seinem regen Interesse für die Vorgänge seiner Gegenwart ist er über sie hinausgewachsen und hat sich in die Geschichte der französischen Kultur eingeschrieben. Seine Staatskritik auf Grundlage eines radikalen Demokratieverständnisses gehört auch heute noch zu den Eckpfeilern anarchistischer Skepsis gegenüber Regierung und Regierenden. Der Durchgang durch die Herrschaft Aller mittels unlauterer Vertreter sollte zur Herrschaft jedes Einzelnen führen, zur Herrschaftslosigkeit der Gesellschaft, zum Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. „Die Politiker endlich […] sträuben sich unüberwindlich gegen die An-archie, welche sie mit dem Chaos für identisch halten, als wenn die Demokratie sich anders als durch Machtverteilung verwirklichen ließe und der wahre Sinn des Wortes Demokratie nicht Abschaffung der Regierung wäre.“ (1a) Aufgrund des umfangreichen Schriftenmaterials, von dem noch immer nicht alles übersetzt zu sein scheint (2), wäre es illusorisch anzunehmen, ein solcher Artikel könnte alle Facetten des Proudhonschen Denkens aufzeigen und letztlich eine weiterführende Lektüre ersparen. Ich will demzufolge nur einige Lesezeichen setzen.

Sozialismus vs. Liberalismus

Ohne Zweifel schließt Proudhon an die sozialistischen Traditionen seiner Zeit an. In dem politisch unruhigen Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts groß geworden, kennt er die Gefahren der absolutistischen oder konservativen Reaktion und verteidigt gegen sie die Ideen und Errungenschaften des sozialen Fortschritts (z.B. Stimmrecht. Organisierung o. Redefreiheit). Aufklärerischer Idealismus und soziale Ideen verbinden sich in seinem Werk organisch. „Geboren und auferzogen im Schoß der arbeitenden Klasse …“ (1a, S.93) schenkt er den liberalen Mythen von der Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nur wenig Glauben. Ob als Druckereiarbeiter, gewählter Vertreter, Häftling oder Barrikadenbauer – überall erscheint ihm Gesellschaft als von Menschen gemachter und beeinflußbarer Zusammenhang, als Sozietät zwischen Menschen, aus deren Spielräumen der Stoff sozialer Fragen entspringt. Aus dem Studium der sozialistischen Traditionen des 17. Jahrhunderts heraus richtete er seine Kritik gegen die liberalen Theorien mit ihrer Projektion von allem Bösen, Schlechten und Noch-Nicht-Gewordenen in den Naturzustand, vor jeder Gesellschaft, vor jeder Vergesellschaftung. Dererlei Überlegungen spalteten den Menschen von vornherein mitten entzwei, in einen zur liberalen Gesellschaft fähigen und einen dazu unfähigen Teil. (2) Auch schienen die liberalen Vorstellungen zur Zeit Proudhons zunehmend an Erklärungskraft zu verlieren. Industrialisierung und politische Revolte hatten ungeheure gesellschaftliche Dynamiken entfesselt. Phänomenen wie dem im 19. Jh. grassierenden Pauperismus stand die liberale Theorie ratlos gegenüber. Für Proudhon war so früh klar, daß die liberale Vorstellung der Demokratie zu kurz fassen mußte. Für sein Freiheitsverständnis wird diese Einsicht fruchtbar…

Mutualismus und Freiheitsbegriff

„Es gibt zwei Arten von Freiheit; eine einfache: dies ist die Freiheit des Barbaren, auch des zivilisierten Menschen, sobald er kein anderes Gesetz anerkennt als das des ‚jeder in seinen vier Pfählen und jeder für sich‘; – eine zusammengesetzte*, wenn sie für ihr Dasein die Mitwirkung von zwei oder mehreren Freiheiten voraussetzt.“ (1a)

Die liberale Idee der individuellen Freiheit des Einzelnen erscheint im Proudhonschen Denken radikal gewendet, nicht als Ziel und Zweck gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Menschen, sondern als deren Voraussetzung. Durch die individuelle Freiheit hindurch wird eine Freiheit höherer Qualität möglich, die durch Gegenseitigkeit. Der Andere ist nicht mehr nur die Grenze der eigenen Freiheit, er wird zur Bedingung der Möglichkeit größerer Freiheit. Das Prinzip der Gegenseitigkeit bildet den Kern der Lehre vom Mutualismus, so wie Proudhon ihn vertrat. Der freieste Liberale ist letztlich allein auf der Welt, die freieste Mutualistin dagegen pflegt die meisten Beziehungen zu anderen Menschen. Während Proudhon die mutualistische Idee der Gegenseitigkeit noch im Kopf herumschwirrt, betreibt er ökonomische Studien … ja auch er sah das Elend schon heraufsteigen.

Proudhons Ökonomie und der große Bruder Marx

Das Urteil, welches des kalt rationale Karl Marx über seinen älteren Zeitgenossen fällt, ist vernichtend. „Vulgärökonomie“, Proudhon sei der „lebende Widerspruch“, das „Elend der Philosophie“. Der autoritäre Charakter des ‚absoluten Geists‘ seines Meisters Hegel kehrt im jungen Marx zurück. Ein weites Feld. Doch auch wenn die ökonomischen Überlegungen Proudhons in Konsequenz, Reichweite und Tiefe denen Marxens nicht im mindesten das Wasser reichen können, so fehlt ihnen auch der Dogmatismus der Methode, nach dem Proudhon vielleicht sein Leben lang vergeblich trachtete. Der Inhalt scheint durch die organische Form des Proudhonschen Denkens. Zwei gute Ideen…

Eigentumskritik und Volksbank

„Während ich so, als der einzige meiner Schule, gegen die Bollwerke der alten politischen Ökonomie die Laufgraben eröffnete…“ (1a) Was ist Eigentum, fragte Proudhon 1840 und gab auch gleich die Anwort: Eigentum ist Diebstahl! So oder so ähnlich ist es in die „gängige“ Geschichte eingegangen. Und auch heute noch wird diese These, so verkürzt dargestellt, gegen anarchistische Eigentumskritik ins Feld geführt. Doch auch wenn Proudhon nicht zu den großen Dialektikern zählt, sieht er doch den doppelten Charakter des Eigentums, als wohlstandsschaffendes und wohlstandsverhinderndes Moment. Proudhons Denken kennt nicht die Tiefe einer „Akkumulation durchs Kapital“, aber als guter Beobachter sieht er sehr wohl die Schieflage in der Verteilung der gesellschaftlichen Güter, seiner Zeit, die politische (durch Reaktionen im Frankreich des frühen 19. Jh.’s immer wieder gefährdet) aber nicht ökonomische Entmachtung der alten Feudalherren. Sein Idealismus treibt ihn dazu, den Eigentumsbegriff unkritisch in seine ökonomischen Überlegungen einzubetten. Das Zauberwort heißt hier: Zirkulation. Den Schlüssel hingegen bietet seine mutualistische Grundidee. Die „Zirkulation der Werte“ ist für Proudhon letztlich ein Zusammenhang menschlicher Verhältnisse, je mehr Zirkulation um so besser. Im Prinzip der Gegenseitigkeit sieht er den fairen (gerechten) Betrieb der Zirkulation gesichert. Privateigentum (relevanter Menge) wirkt sich, so gedacht, immer hemmend auf Zirkulation und Freiheit der ökonomisch Betroffenen aus.

Von hier versteht sich, warum Proudhon für eine soziale Ökonomie des Staates, gegen eine private Ökonomie desselben argumentiert (gerade eben gegen heutige Vorstellungen des Staates als privatisiertes Unternehmen, sprich gegen die „Deutschland-AG“). Der Proudhonsche Gedanke der „Volksbank“ beruht auf der fixen Idee des unentgeltlichen Kredits (3), der freie Zirkulation innerhalb der Mitglieder sichern sollte. Er glaubte daran, dass durch diesen (organisiert) freien Zugriff aller auf die gemeinsam zirkulierenden Werte, eine egalitäre Gesellschaft möglich wäre; in der schließlich an die Stelle der Diktatur der Mehrheit die freie, demokratische (weil auf Gegenseitigkeit beruhende) Regierung (mächtige Verantwortlichkeit) jedes Einzelnen tritt. Die Idee der Volksbank wird so zum Fallbeispiel der programmatischen Verortung Proudhons zwischen sozialistischen und anarchistischen Gedanken. Sie ist die Vorstellung vom Staat ohne Regierung, „nur“ zentralisierte Institution. Und dabei ohne Macht? Die tiefe Skepsis gegenüber den korrupten politischen Verhältnissen, die man aus seinen polemischen Beschreibungen immer wieder entnehmen kann, treiben Proudhon dazu, seine Hoffnungen in die Veränderbarkeit und Veränderung der Gesellschaft auf ein radikaleres Demokratieverständnis zu gründen. Es war mehr als Sozialismus … Der Anarchismus begann zu laufen …

Aber ist das nicht alles aus der Luft gegriffen?

Betrachtet man das Proudhonsche Schriftwerk im Ganzen, lässt sich ein systematische Philosophie nur schwer erschließen. Teils im Gefängnis, teils „zwischen der Schicht“ geschrieben, ist die Funktion seiner theoretischen Arbeiten oft praktisch angelegt, ob als Programm, Stellungnahme oder Bericht. So gewinnt sein Werk organischen Charakter. Wie der gesamte unkritische Idealismus verwechselt er jedoch seine eigene Logik (Sprache) mit der Logik der Welt (Geschichte). Sein System der Widersprüche, seine Serien widersprechender Pole, seine empirischen Datenreihen – nach deren Notwendigkeiten sich die Welt bewegen soll – es sind die Trugbilder der eigenen, subjektiven Erfahrung; die Täuschung über die eigene Sprache. Daß Proudhon aber an die Harmonisierung, an das Gleichgewicht sich gegenseitig haltender Pole glauben konnte, an die Versöhnung der Widersprüche, an ein Bild sich gegenseitig zur Hilfe fähiger Menschen … ist die positive Seite des Idealismus …

Und?

Ein Schuß Idealismus könnte den heutigen pragmatischen Zeiten nicht schaden. Schließlich ist es der Glaube an die Kraft zur Veränderung, die Menschen handeln lässt.

Ein Beispiel: Angenommen der Rawl’sche Schleier des Nichtwissens liegt über uns. Keiner hat eine Ahnung, in welcher sozialen Position er sich befindet. Oder etwas aufgeweicht: Angenommen die zunehmende Flexibilisierung führt zu größerer Unsicherheit bei der Bestimmung derselben (heute noch Büro, morgen Umschulung, Drittstudium, Straße, dann wieder im Restaurant etc. pp.). Wo liegen meine Interessen während des Arbeitskampfes, der sich gerade in Europa zusammenbraut. Profitiere ich, wenn die Gewerkschaften schlecht abschließen oder nicht? (Höhere Löhne und mehr private Vorsorge vs. Niedrigere Löhne und staatliche Umverteilung?) Vom Klassenstandpunkt scheint die Frage nur ungenügend beantwortet. Schließlich könnte auch die sozialistische Regierung das Klasseninteresse vertreten (Ich verteile, soviel ich kann nach unten, kann aber gerade nicht.).

Zwei Tipps von Proudhon:

– Stell Dich auf den Standpunkt des Schwächsten, also des prekär abhängigen (soziale statt individuelle Vernunft), betrachte von dort die Verhältnisse der Gesellschaft (heute z.B. die gesamtwirtschaftliche Krise), und habe die Kraft daran zu glauben, mit den Schwächsten die Verhältnisse zum Besseren wenden zu können (soziale Utopie).

– Hoffe auf keine Regierung! In Friedenszeiten würde sie jeden Einzelnen fürs Gemeinwohl verraten und in Krisenzeiten das Gemeinwohl gegen jeden Einzelnen wenden.

Zumindest gegen die Schwächsten! Pah! Solche Macht begehre ich nicht! Laßt andere Wege uns finden!

clov

Zur Lektüre einiger ausgewählter Schriften:
(1a) „Bekenntnisse eines Revolutionärs …“ (1849), Rowohlt, Hamburg, 1969
(2a) „Was ist Eigentum?“ (1840); teilw. in: Proudhon, „Ausgewählte Werke“, hrsg. v. Thilo Ramm, Stuttgart, 1963
(3a) „Philosophie d. Staatsökonomie o. Notwendigkeit des Elends“, Darmstadt, 1847
(4a) „Das Recht auf Arbeit, das Eigentumsrecht und …“, Leipzig, 1849
(5a) „Die Volksbank“ (1849), übers. v. Ludwig Bamberger, Frankfurt (M.),1849
(6a) „Ein Wahlmanifest Proudhons (8.6.1864). … zur Vorgeschichte d. Kommune.“; in: „Die neue Gesellschaft“, Mntstft. f. Sozialws (1.Jh.), Zürich, 1877/78
Fußnoten:
(2) der unfähige Teil ist dann auch das Schlachtfeld auf dem die zahllosen Hüter der Ordnung (Erzieher, Offiziere, Therapeuten, Richter oder Polizisten etc. pp.) um die „liberalen Seelen“ ihrer Mitmenschen ringen.
(3) Anfang 1849 gab es tatsächlich für drei Monate eine Volksbank, mit bis zu 60000 Mitgliedern. Nach der Verhaftung Proudhons (Direktor) mußte die Bank jedoch Konkurs anmelden.
* „Vis unita major.“ – Größere Kraft durch Einheit, mensch denke an Solidarität.

Theorie & Praxis

Gewerkschaft 2010 (Teil 2)

Zur Lage und Funktionsweise der Gewerkschaften in der BRD heute

Es folgt die Fortsetzung des Artikels aus dem letzten Heft. Die vorhergehende Lektüre des ersten Teils wird dringlich empfohlen.

Große und starke Gewerkschaften sind für das relevante Kapital, also die Großindustrie, extrem wichtig. Wobei die Stärke, die sie an der Gewerkschaft bevorzugen, die gegenüber den Arbeitern ist. Die Gewerkschaft als staatlich reglementierter und alimentierter Gesprächspartner ist damit ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Die wilden Streiks sind nicht nur verboten, sondern ihnen wird durch die Gewerkschaft selbst die Spitze genommen, indem man eine Art Mediation betreibt. Die Gewerkschaften geben nicht nur vor, sondern vertreten bei kostenneutralen Forderungen oder dem Aufschwunggefasel die gesellschaftlichen Gesamtinteressen, wie auch der Staat. Das vollzieht sich immer in Rücksicht auf die angeblich schwierige Lage der Unternehmen. Sei es, dass der Aufschwung gerade nicht gefährdet werden dürfte, oder man gerade in der Krise keine überzogenen Forderungen stellen dürfe. Da ist viel „Verantwortungsbewußtsein“für die Lage der Nation gefragt.

Wenn man also weder beim Aufschwung, noch in der Krise ohne die Unternehmen zu gefährden seine Forderungen stellen darf, dann darf man sie überhaupt nicht stellen. In diesem Dilemma zwischen müssen und nicht dürfen, findet das Aufweichen und Reduzieren der Forderungen bis zur Unkenntlichkeit statt. Wieder ein Widerspruch der Gewerkschaften, den sie nicht lösen können, ohne sich wirklich positionieren zu müssen. Man kann nicht die weltwirtschaftliche Lage und die der Nation im besonderen betrachten und die Interessen der Arbeiter vertreten wollen, da die Lage der Nation, die der hier erwirtschafteten Profite ist.

Dies ist eigentlich Aufgabe des Staates und nicht der Gewerkschaft. Aber besonders in der BRD finden sich die Gewerkschaften, gerade auch in der Geschichte zu sehen, darin wieder, als Interessenvermittler zwischen Unternehmern und Arbeitern Staatsfunktionen ausüben zu wollen. Je größer das Kapital, um so besser sind Gewerkschaften für sie, da sie relativ einfach die moderaten Lohnforderungen bedienen können und auch sonst ein anderes Interessengewicht bei Verhandlungen haben als ein Mittelständler. Sie profitieren von Flächentarifverträgen, die die Gleichheit der Verhältnisse oder gerade die Ungleichheit (z.B. Ost/West) zementiert. Tarifverträge werden auf mehrere Jahre geschlossen und garantieren so lange Planungssicherheit. Einmal solch einen Vertrag geschlossen, kann man schlecht nächsten Monat mehr Lohn fordern. Hier greifen wieder gewisse gesetzliche Stillhaltefristen u.ä.. Man sollte in diesem Zusammenhang auch das bundesdeutsche Tarifrecht ansehen, welches geradezu eine Knebelung der Aktionsformen und Forderungen der Gewerkschaften ist, im Sinne der Stabilität, also letztendlich der Profite. Die Tarifverhandlungen müssen (!) zum Beispiel mit einem Ergebnis enden. Im Zweifelsfalle wird ein staatlicher (!) Vermittler eingeschaltet. Und das, obwohl der Staat dem Bürger als neutrale Vermittlungsinstanz gilt und nicht als Vertreter des nationalen Kapitalgesamtinteresses.

Um es noch einmal zu bemerken, die Betrachtungen sind auf Mitteleuropa und insbesondere auf die BRD bezogen . Bei einer weltweiten Betrachtung, z.B. China, würde dies total andere Ergebnisse hervorbringen. Dort gibt es die halbstaatlichen Gewerkschaften, welche die der Unternehmer genannt werden und die der Arbeiter, Untergrundorganisationen mit ihren eigenen Publikationen und Strukturen. Also allgemein betrachtet, finden wir hier nicht nur eine Interessenvertretung der Arbeiter, sondern eine Gemengelage verschiedenster Teilinteressen. Vom Resultat her aber ist zu sehen, dass die Interessengegensätze in rechtliche und formale Verlaufsformen gegossen sind. Wie die bürgerlichen Globalisiserungsgegner eine Verrechtlichung auf internationaler Ebene verlangen, so haben wir eine Verrechtlichung kontradiktorischer [logisch widersprüchlicher, Anm. d. R.] Interessen: Arbeiter und Unternehmer. Die Gewerkschaft als rechtlich alimentierte Vertreterin der Interessen ihrer Arbeiter ist Teil dieses Systems. Wie der einzelne Arbeiter als Bürger Teil des bürgerlichen Systems ist, so bewegt sich die Gewerkschaft auch streng innerhalb der rechtlichen Grenzen. Sie ist ein wichtiges und unverzichtbares Instrument zur Sicherung des sozialen Friedens. Das ist ihre Existenz und ihre Aufgabe, diese muß sie sichern. Was z.B. gerade in Italien geschah, der Protest der Gewerkschaften gegen ein, sie nicht selbst betreffendes Gesetz – was dem Präsidenten der Republik eine bestimmte erweiterte Immunität bzgl. juristischer Strafverfolgung sichert – ist hier in der BRD nicht denkbar. Weder darf sich eine Partei im Unternehmen betätigen, noch darf sich eine Gewerkschaft politisch betätigen. Das letzteres in diesem Land doch passiert, ist nur Ausdruck dafür, dass sich Ökonomie und Politik überhaupt nicht trennen lassen. Diese Trennung aber ist im bürgerlichen Bewußtsein angelegt. Der Staat, als das Politische, hat die Interessen aller, des Allgemeinen, zu vertreten und neutral zu sein. Das Ökonomische, als die Unternehmen, findet im Politischen nur seine Rahmenbedingungen. Das Ökonomische ist das Private, da hat der Staat nicht reinzureden.

Das ist nicht nur die Ansicht neoliberaler Ökonomen, sondern reicht über den liberalen Flügel bis weit in die Arbeiterschaft hinein. So ist Generalstreik auch klar ein politisches Instrument, reicht er doch in die Sphäre des Allgemeinen hinein und beeinträchtigt das Gemeinwohl, die Nation. Er macht, als Praxis, darauf aufmerksam, dass es gemeinsame Interessen und viel Verbindendes unter den Arbeitern gibt. Diese Streikform macht nur Sinn, wenn ein Mindestmaß an Verständigung gegeben ist und solidarisches Verhalten, also das praktische Bewußtsein gemeinsamer Interessen. Das kann vom Staate und den Unternehmen nicht gewünscht sein, ist doch sonnenklar. Darum ist er hierzulande, auch wegen den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, verboten. Nun ist auf keinen Fall gesagt, das Generalstreik alleine schon die Verhältnisse verändern würde, Italien sähe sonst schon anders aus, aber er wäre ein Anfang. Es hängt auch direkt von seiner Länge ab, was in ihm als Bewußtseinsprozeß in den Köpfen der Arbeiter passieren wird.

1.4. Gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang

Wir haben also gesehen, dass die Gewerkschaften als allgemeine Institution der gesellschaftlichen Stabilität die Interessen sowohl von Unternehmen, Arbeitern und Staat vertreten. Dies natürlich in unterschiedlichem Maße und abhängig von den jeweiligen Bedingungen und Kräfteverhältnissen. Was aber (gleich) bleibt, ist, dass hier bürgerliche Interessen aller Seiten geschützt und vertreten sind. Wie der Staat im Allgemeinen, sichert die Gewerkschaft bezüglich der Interessengegensätze Arbeiter und Unternehmer die Stabilität im Besonderen. So werden aber nicht nur die Bürgerrechte, wie das persönliche Eigentum der Arbeiter, erhalten, sondern das private Eigentum überhaupt. Mit diesem wird ebenso das Privateigentum an Produktionsmitteln gesichert. Sofern sich also die Tätigkeit der Gewerkschaft auf den oben skizzierten Möglichkeitsraum beschränkt, ist sie Vertreterin der bürgerlichen Interessen des Arbeiters, also seiner Interessen als Bürger des Staates.

Hier steckt ein wichtiger Ansatz zum Verstehen. An dieser Stelle decken sich die Interessen des Bürgers mit dem Staat: Rechtssicherheit, Ruhe, Ordnung und privates Eigentum. Das ist das Bett des Prokrustes (3), in das sich unser Arbeiter nun gebettet hat. Es ist sehr wichtig, hier etwas festzuhalten, insbesondere gegen die traditionslinken Vertreter des hehren Arbeiterbildes: Als Bürger hat der Arbeiter die gleichen Interessen wie der Staat. Es gibt keine ‚wirklichen‘ oder ‚wahren‘ Interessen (4) der Arbeiter, sondern nur die, die sie halt haben. Es sind Menschen in der Realität, die diese als menschliche Realität produzieren, und sei sie auch unmenschlich. Der soziale Frieden garantiert den geregelten Ablauf, mit mehr oder minder asymmetrischen, aber doch Vorteilen für alle. Als Arbeiter hat der Mensch ‚an sich‘ aber durchaus sich widersprechende Interessen. Auf der einen Seite will er sein bisschen Hab und Gut nicht verlieren. Er möchte einen wie auch immer gerecht gerechneten Lohn haben, um dies zu erhalten. Dafür schimpft man ihn schon einmal als Besitzstandswahrer und unsolidarisch mit denen, die keine Arbeit haben. Diese Beschimpfungen gelten zwar offiziell der Gewerkschaft, treffen aber den Arbeiter, deren Interessen sie vertritt. Kommt „seine“ Firma in Schwierigkeiten, so verzichtet er schon mal gerne auf Lohn und hofft, dass dies helfen wird. Sein Sinnen und Trachten ist auf den Erhalt seines Arbeitsplatzes gerichtet, damit auf den Erhalt seines Einkommens, damit auf seine Existenz als Bürger. Das wird jeder verstehen.

Aber eigentlich widerspricht er seinen eigenen Interessen, da er selbst und „freiwillig“ seinen Lohn senkt. Aber die Angst der Menschen, ihre Unsicherheit, ist ein wirkmächtiger sozialer Faktor. Auf der anderen Seite sieht er auch Fernsehen und weiss um die enormen Profitsteigerungen. Die Inflation-Deflation und die schleichend steigenden Preise fressen den Lohn auf über kurz oder lang. Es ist ganz klar, wenn er sein bisheriges Niveau zumindest halten will, dann muß er mehr Lohn verlangen. Im schlimmsten Falle wird er arbeitslos und nach einer Schonfrist schließlich als Sozialhilfeempfänger Freiwild für jeden noch so schlecht bezahlten Job. Selbst dann erhält er sich noch ein Mindestmaß an Würde und Einkommen als Bürger. Er sieht die gigantischen Profite, den Reichtum, die überquellende Masse an Waren um sich herum. Er weiß, welche große Rolle der Vertrieb in seiner Firma spielt, wie in allen Unternehmen, die versuchen ihre Waren loszuwerden. Aber er wird sich tendenziell immer weniger davon legal aneignen können, obwohl er schon jetzt verzichtet und mehr arbeitet. Dies endlich ist die Sollbruchstelle zwischen Arbeiter und Bürger.

Hier bekommt die ganze, durch Werbung und Ideologie aufgeladene Scheinwelt ihre ersten ernsten Kratzer. Die Bedingungen, auf die er als Bürger eingeschworen ist, die er als seine eigenen verteidigt. Diese Bedingungen drücken ihn selbst immer tiefer und werfen ihn tendenziell aus seiner Bürgerrolle heraus. Diese Bürgerrolle spielt er auf einer immer kürzer werdenden Klaviatur, wenn sein Budget schmilzt. Genau das, an was er sich klammert und aus dem er sein Selbstbewußtsein zieht, sein kleines bisschen Privateigentum. Genau jenes ist es, was ihn als gesellschaftliche Macht, als Kapital knechtet. Aber das zu sehen, ist ein langer schmerzhafter Prozeß, indem man sich selbst in Frage stellen muß, seine Scheinbürgerlichkeit. Das Geheimnis der Ideologie ist, dass jeder formal ein reicher Mensch sein könnte, aber real es nie werden kann. Das Perfide daran ist, dass wir alle das wissen und trotzdem die Hoffnung nicht verlieren, zumindest das, was wir haben, zu retten.

Aber weiter. Wir spüren, in einer Zeit der Rezession im globalen industriellen Zyklus wird der Kampf härter um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Eigentlich hat der Bürger, der Arbeiter ist, sowieso schon verloren. Aber die Menschen klammern sich an die noch so kleine Hoffnung, dass es sie nicht trifft, bzw. dass es nicht so schlimm werden wird, in Konkurrenz zu allen anderen. Die ökonomische Realität, die auch bald in den Zentren der Produktion wie hier in der BRD wieder eine soziale Realität wird, ist folgende: Dass nun mal der Arbeiter zwar ein formal gleicher Vertragspartner zum Unternehmer ist, sich aber real in einer sozial und ökonomisch absolut unterlegenen Position befindet. Diese grundsätzliche Asymmetrie ist Ausdruck des grundsätzlichen Widerspruchs der unterliegenden Produktionsweise, der jeden Tag auf‘s Neue reproduziert wird. Und dies drückt sich entsprechend in seiner Lohntüte und der Gewerkschaft aus.

1.5. Das Verhältnis der Gewerkschaft zum Arbeitskampf

Wir haben es also mit einer notwendigen Schieflage der Beziehung der Gewerkschaften zu den Arbeitern zu tun. Dem einzelnen Arbeiter steht dieser komplizierte Apparat gegenüber, der rechtskräftig seine Interessen vertritt. Das ist das eine. Das andere ist auch das Kräfteverhältnis, was auf die Gewerkschaften wirkt und sie unabweisbar in die Defensive drängt. Kommen wir nun dazu, die Funktionen der Gewerkschaft hierauf zu durchleuchten. Die Rolle der Gewerkschaft ist jetzt eine konservativ erhaltende. Sie schützt den sozialen Frieden und erhält damit natürlich auch die allgemeinen Bedingungen für die Kapitalproduktion. Dabei wird aber immanent der Arbeiter als Arbeiter erhalten! Er wird weiter jeden Morgen zur Arbeit gehen müssen, wie seine Kinder es in Zukunft tun müssen. Sie sind schon seit ihrer Geburt potentiell kleine Arbeiter. Gleichzeitig erhält die Gewerkschaft sich als die Organisation des institutionalisierten Lohnarbeiterinteresses. Die Realbewegung heute zeigt aber, dass sich ihre Lage selbst weiter verschärft. Die Rolle und der Einfluß der Gewerkschaften nehmen tendenziell ab. Dies sieht man am fallenden Organisierungsgrad der Arbeiter sowie am schwindenden Einfluß auf die klassischen Verbündeteten in der Politik. Die Gewerkschaften mit ihrem schwerfälligen und etablierten Apparat, der auch noch sein Eigeninteresse wahrt, sind grundsätzlich nicht aktionsfreudig. Sie hindern die Arbeiter eher daran, spontan ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Diese von gegen Aktion bis Gegenaktion reichende Qualität hat man früher mal reaktionär genannt.

Dies wird am Verhältnis der Gewerkschaft zum Streik als zwiespältiges deutlich. Streik ist nun eines der wenigen starken Mittel, welche die Gewerkschaft überhaupt besitzt, neben z.B. Demonstrationen oder anderem. Es ist also notwendig und von der Basis auch gefordert, dieses Mittel einzusetzen. Aber die Gewerkschaft muß als alimentierter Verhandlungspartner mit Rechtsfähigkeiten seine eigene Verläßlichkeit unter Beweis stellen. Und zwar gegenüber den Arbeitern, damit sie sehen, dass sich für sie mal etwas bewegt. Aber auch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, z.B. in Form des Staates, dass ein vermittelnder und moderater Abschluß gefunden wird, der die Verwertungsbedingungen des Kapitals nicht stört. Dies ist der unentrinnbare Widerspruch der Gewerkschaft in der bürgerlichen Gesellschaft, der mit Interessenvermittlung nur unzureichend beschrieben ist. Sie sind auch in der widersprüchlichen Position, mit einem Streik die eigene Macht zu demonstrieren, gegenüber den Unternehmern und den eigenen Arbeitern, und doch im Rahmen der Spielregeln bleiben zu müssen. Außerdem ist dem Streik immer die Gefahr der Unruhe virulent, die die Gewerkschaft unter allen Umständen und mit allen Mitteln unterbinden muß. Das sieht man sehr schön in der Geschichte. Aber auch heute sind die sogenannten ‚Operettenstreiks‘ ‚ohne Fernwirkung‘ schlagkräftiger Beweis aus der gesellschaftlichen Realität. Die Arbeiter werden hierbei als Tariermasse benutzt und dürfen mal ein Werkstor blockieren, während die Gewerkschaftsspitze laut eigenen Aussagen die Automobilhersteller schon zwei Wochen vorher gewarnt hat, damit diese sich Lagerbestände für den weiteren reibungslosen Fortgang ihrer Produktion anlegen können. Die Arbeiter hingegen benutzen die Gewerkschaft als Dienstleister – nicht mehr die Löhne zu erhalten, sondern nun schon die Arbeitsplätze einfach zu sichern. Koste es was es wolle, die Arbeiter werden es zahlen, wenn sie noch können.

2. Ausblick – 2.1. Das Fanal

Wie um die allgemeinen Aussagen konkret zu belegen, ist das passiert, was schon lange erwartet wurde. Unter dem Druck der von Medienberichten flankierten konzertierten Aktion von Politik und Industrieverbänden hat die IG-Metall die Segel gestrichen. Besonders betrüblich ist dies, da diese zweitgrößte Einzelgewerkschaft der BRD als eine der kämpferischsten galt. Also nicht mehr nur ein Operettenstreik für eine Zahl ‚vor dem Komma‘, sondern die Aufgabe des Arbeitskampfes selbst. Angetreten, die sozialen Kahlschläge zu mildern und den Verfall des Sozialstaatsskelettes abzubremsen, war die konkrete Forderung die 35h-Woche nach über 10 Jahren auch endlich im Osten. Von Lohnangleichung war schon gar nicht die Rede. Nun aber das katastrophale Desaster, nach rund 50 Jahren einen Arbeitskampf um auch noch so rudimentäre Forderungen aufzugeben. Die Metaller, die sich zum Kampf gestellt haben, werden es ihren Bossen in Betrieb und Gewerkschaft zu danken wissen. Vielleicht dämmert nun dem einen oder anderen, das die bestehenden Gewerkschaften hierzulande nicht das richtige Mittel sind, um ihre legitimen und bürgerlichen Interessen durchzusetzen. Sie sind enttäuscht worden, generationenweise, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg und das zu recht. Dies ist der Beginn des Verfalls der institutionalisierten Interessen und er kommt zur rechten Zeit. Die Gewerkschaft schafft sich selber ab, so sie in dieser Zeit versucht sich zu erhalten. Sie offenbart ihren augenblicklichen wirklichen Charakter, für die Arbeiter keine Wirkung mehr zu haben. Diese Widersprüche können den Arbeitern immer schwerer vermittelt werden. Soll er immer für Gemeinwohl, Aufschwung und Stabilität draufzahlen. Schlechte Zähne für die bessere Weltwirtschaftslage?

2.2. Rahmenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns

Wie aufgezeigt, sind die Möglichkeiten der Wirkungsweise der Gewerkschaft immer eingeschränkter, je knapper die Ressourcen werden, die die Gesellschaft an die Lohnabhängigen zu verteilen hat. In Zeiten der Niedergangsphase des industriellen Krisenzyklus ist auch der Hebel über die Politik, hierzulande mit Namen SPD immer kürzer geworden und macht eher seinerseits Druck, dass die Gewerkschaften von Arbeits- und Lohnkämpfen absehen sollen. Was sie ja offensichtlich auch tun. Die Rahmenbedingungen der Politik für die Arbeiter schmilzt mit sinkenden Profitmassen selbst dahin. Der Staat besitzt eben nur den Gestaltungsspielraum, der durch Weltmarkt und Profitrate gegeben ist. Ganz im Gegenteil muß der Staat die gesetzlichen sozialen und ökonomischen Sicherheiten für die Lohnarbeiter abbauen, da diese ein Hindernis für das Halten der Profitraten sind. Die Rahmenbedingungen des Handelns der Gewerkschaft ist nun mal der bürgerliche Staat und damit direkt die Verwertungsbedingungen des Kapitals. Der Verteilungskampf scheint notwendiger und gleichzeitig unmöglicher! Dies ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Er ist schon so absurd, wie der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Reichtum und sinkenden Löhnen, trotz der gewaltigen Profitmassen. Wir sehen heute den ganz normalen Generalangriff auf das soziale System, welches die Profitrate noch zusätzlich nach unten zieht.

Was kann hier also die Gewerkschaft tun? Es ist klar, alles wird so weiterlaufen, wie bisher. Die Gewerkschaft kann nur bremsen nicht anhalten oder umkehren, denn dafür ist sie gemacht. Im Gegenteil, sie wird den schwachen und seinerseits unorganisierten Widerstand in ihre organisatorischen Strukturen lenken und kanalisieren. Damit gerät die Gewerkschaft aber sowohl in Widerspruch zu ihrer eigenen Klientel, als auch zu ihrer Funktion, sie hat schlicht keinen Spielraum mehr! Wie gesagt, Arbeitskampf wird nötiger, aber unter den schmelzenden Bedingungen unmöglicher. Man kann nicht die Forderungen der Arbeiter gegen die Unternehmen vertreten und gleichzeitig Kostenneutralität wahren, Streiks veranstalten und den sozialen Frieden nicht stören. Sie hat es auch in „guten“ Zeiten vernachlässigt, z.B. die gesetzlichen Arbeitszeiten von 56h pro Woche zu verändern. Die 35h Woche ist nur Tarifvertrag, kein Gesetz! Hier hätte selbst in ihrer Beschränkung angesetzt werden müssen. Dass die Arbeitslosen auf Grund der Borniertheit der Gewerkschaften nicht vernünftig eingebunden wurden, wird sich noch als schwerer Fehler erweisen. Selbst 1918, waren die Arbeitslosenkomitees stärker organisiert als in den heute so gut ausgerüsteten Gewerkschaftsapparaten.

2.3. Bürgerbewußtsein muß finanzierbar bleiben

Der Arbeiter kann nur ein Bürger sein, wenn er die entsprechenden Möglichkeiten der Anteilnahme an dem gesellschaftlichen Reichtum hat. Das wäre der Zusammenhang und der Grund jeder Sozialpolitik, zumindest den Schein dieser Möglichkeit aufrecht zu erhalten, auch wenn er ständig mit der Realität kollidiert. Hart formuliert ist die Bürgerlichkeit auf der rein ökonomischen Ebene also ein angemessener Warenkorb. Mit genügend in der Tasche folgt der ganze Sozialklimbim wie Haus, Auto, Kleidung und das soziale Prestige als Bürgerschablone. Die politische Ebene der Bürgerlichkeit, das bürgerliche Gesetz, Rechtsnormen, Staat, Gewaltenteilung sind in den Industriestaaten schon Realität. Das verrückte an der Geschichte ist nun, dass die bürgerliche Gesellschaft gegenüber der Willkürherrschaft im feudalistischen Ständestaat einen Fortschritt darstellt. Heute aber schlägt dies auf der Höhe der Entwicklung um und ist, wo dies vollständig entwickelt ist, ein Hemmnis, reaktionär. Einerseits wird das Bewußtsein des Arbeiters als Bürger gebraucht, um die Gesellschaftsordnung stabil zu halten, andererseits unterminiert die Produktion ständig diesen „Bürger“ mit fallenden Löhnen und Rückbau der sozialen Sicherheiten.

Warum kann der Schein einer bürgerlichen Existenz des Arbeiters entstehen? Bei globaler Betrachtung des Proletariats sind die besseren, also besserbezahlten und damit höherqualifizierten Arbeiter in den sogenannten Industriestaaten konzentriert. Hier wird großes BIP (5) erwirtschaftet, so ist auch mit gesunkenem Anteil noch mehr Brosamen an die Arbeiterschaft zu verteilen als z.B. in Kenia. Dieser zwar geringe Anteil an relativ hohem BIP aber ermöglicht erst das bürgerliche Sein (Häuschen, Auto, Hund) und so das bürgerliche Bewußtsein der Arbeiter, sein Selbstbewußtsein. Damit ist’s jetzt aber so langsam Essig. Zumindest solange, wie die Rezessionsphase des aktuellen Krisenzyklus anhält, um es ganz vorsichtig zu formulieren.

2.4. Gleichheit als Verlierer

So verschieden ihre Lebenssituation auch ist, sie sind alle gleich. Sie sind gleich als Verlierer ihres Lohnes, ihrer Renten, ihrer Gesundheitsversorgung und die der zukünftigen Arbeiter, ihrer Kinder. Nun, die momentane Entwicklung deutet auf die Zuspitzung dieser Widersprüche hin. Die Frage ist, ist dies auf lange Sicht den Arbeitern vermittelbar. Ist vermittelbar, dass sie sich einschränken müssen, stillhalten und die Verluste hinnehmen, obwohl kein Ende des Tales der Tränen in Sicht kommt?

1. Werden sie sich dessen bewußt werden, oder

2. Wer wird Ziel ihrer Frustration und ihrer Angst?

Der Spagat der Gewerkschaft zwischen den unterschiedlichen Interessen wird schon jetzt schwieriger. Die Journaille schreit und die Kollegen sind sauer. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit dringt über die Geldbörse zurück in die Köpfe der Menschen, der Lohnabhängigen. Das zu Verteilende unter gegebener Profitrate in Zeiten einer Weltrezession wird selbst in arbeitsproduktivitätshohen Volkswirtschaften wie der BRD weniger. Dass jetzt das Ifo-Institut behauptet, dass das Abschaffen von Feiertagen so viele Milliarden Euro bringt – das ist so dermaßen lächerlich, was die wohlbezahlten „Wissenschaftler“ da der Politik als Argumentationsgrundlage geben – wenn es nicht notwendig wäre im Industriezeitalter lesen zu können, würde es glatt verboten werden müssen.

 

Peter Heilbronn

(3) Unhold der griechischen Sage, der Wanderer gestreckt hat, oder ihnen die Beine abschlug, damit die Besucher in sein Bett paßten. Er wurde vom Helden Theseus getötet. So wird der Arbeiter in die Verhältnisse gezwungen und gedrückt oder gedehnt, bis er in die Maschinerie passt.
(4) Ute Osterkamp ‘Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt oder: Sind die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen?’ aus: Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung 20
(5) BIP oder Bruttoinlandsprodukt ist Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen + Abschreibungen, ist also wesentlich die Preissumme aller im Land produzierten Waren.
* Zum Thema Gewerkschaften von Seiten linker Gewerkschaftler ‘www.labournet.de’.

Theorie & Praxis

Multiplikatoren der Arbeit

Arbeit / Faulheit und Sozialisation in einer entmenschlichten Gesellschaft. Beobachtungen und Schlüsse aus dem Alltag

Kreislauf der Zurichtung

In Jahrhunderten kapitalistischer Produktionsweise hat sich der um seiner Arbeitskraft willen Ausgebeutete an den Zustand des Ausgebeutetseins gewöhnt. Früher mußte der kapitalistische Unternehmer noch Druck und Zwang ausüben, damit der Arbeiter respektive die Arbeiterin auch begreife, daß mensch pünktlich zur Arbeit zu kommen hat und Kranksein eine Sünde ist.

Inzwischen hat sich dieser direkte Zwang in eine alles durchdringende Arbeitsideologie transformiert, d.h. ein Großteil der Ausgebeuteten hat den Arbeitszwang integriert und scheinbar zu ihrem eigenen Anliegen gemacht. Die Folge davon ist, daß die meisten denken, sich für das Kranksein, den Müßiggang und das Ausschlafen, also für einen nicht normgerechten Lebensrhythmus, rechtfertigen zu müssen. Und daß nicht zuerst vor Behörden und Arbeitgebern, der letzten Kontrollinstanz, sondern vorher noch vor Nachbarn, Mitbewohnern, Verwandten und Bekannten. So tiefgreifend hat sich das Unterwerfungsverhältnis in uns sozialisiert, daß jemand der lange schläft mit Faulpelzwitzen traktiert und kranken Kollegen Simulantentum und Drückebergermentalität unterstellt wird. Diese Kontrolle zeichnet sich durch Subtilität aus, oft scheint sie nicht ernst gemeint. Hinter dem Witz verbirgt sich allerdings nicht selten ein (auch unbewußter) Neid, daß Andere etwas tun können, was einem selbst verwehrt bleibt: Wenn mensch selbst sich früh um halb sieben zur Arbeit, Schule oder Uni aus dem Bett quälen muß, soll das der Nachbar, der gemütlich (oder auch ungemütlich, wer weiß es?) bis um elf oder auch um drei pennt, gefälligst auch tun. Dabei ist die Unschuld des Anderen am eigenen Zwang egal. Man bestraft ihn für das eigene Leben, dafür, sich selbst freiwillig (wie sich gerne eingeredet wird) unter fremdes Diktat werfen zu müssen. Weil der Andere nichts weiter als die Projektionsfläche des Hasses auf Grund eigener unterdrückter Träume und Sehnsüchte darstellt, ist das sonstige Tun und Lassen der für faul Befundenen irrelevant. Um den Neid im Zaum zu halten, wird oft zum Hilfsmittel des Witzes oder der gespielten Empörung gegriffen.

Aus der Perspektive der Anderen ist das ganze nicht so witzig, vor allem (aber nicht nur dort) wenn es sich um willkürlich zusammengeworfene Arbeitsplatzkollektive handelt, die mittels Verleumdungen ihre Rang- und Hackordnung aushandeln (auch ein Ventil den Frust der institutionalisierten Unterordnung abzubauen). Ihnen wird ein schlechte Gewissen eingeredet: Es sei falsch länger oder zu anderen Zeiten als der Norm entsprechend zu schlafen, oder gar krank zu sein. Der Druck durch die dritte (Zwang in Arbeit, Uni und Schule, durch Staats- und Unternehmensstrukturen) und zweite Kontrollinstanz (soziales Umfeld) führt zur primären Instanz der Selbstzurichtung. Dem subtilen ideologischen Wirken des eigenen sozialen Umfeldes, ohne das der Mensch als soziales Wesen nicht leben kann, lässt sich viel weniger entgegensetzen als Staat und Unternehmen, da es nicht als fremd sondern als zu einem zugehörig empfunden wird. Kollegen, Bekannte und Verwandte werden so zu Multiplikatoren der eigenen Zurichtung. Bei diesem Prozess, der sich permanent und überall wiederholt, findet menschliche Sozialisation statt. Man fühlt sich dann schuldig, weil man zu lange schläft oder einen Tag länger krank ist als geplant. Man übernimmt die Zwänge und gibt sie als eigenen freien Willen aus. Hier schließt sich der Kreis.

Wie können wir ausbrechen?

Das Mindeste ist es sich die Muße beim Kranksein nicht nehmen zu lassen. Erstaunt denkt man, daß man erst krank werden muß, um die Gedanken frei zu bekommen von Zwängen, Forderungen und Selbstverpflichtungen. Alles wird abgesagt, alles wird gut? Wenn man nicht krank wäre! Denn sobald man wieder gesund ist, geht es zurück in die Tretmühle, bis man wieder krank wird. Absurd! Genauso sollte man sich das längere Schlafen nicht madig machen lassen. Witzemacher und Neidhammel sind entschieden in die Schranken zu weisen,die subtile Arbeitsideologie ist im Alltag zu bekämpfen. Wir haben ein Recht, das wir uns selbst geben, auf ein Leben ohne Fremd- und Selbstzurichtung zum Arbeitszwang. Und für dieses Recht können wir jeden Tag in unserem persönlichen Umfeld kämpfen, ohne dabei in Gruppen, Projekten oder Basisgewerkschaften organisiert zu sein. Eine Organisierung macht es allerdings weit einfacher, weil mensch dann einen positiven Rückhalt erfährt. Greifen wir aktiv in die Sozialisation unserer Mitmenschen ein, zugunsten von Muße und einem schönen Leben! Genau wie rechte Parolen bei Bekannten bekämpft werden müssen, müssen Versatzstücke der Arbeitsideologie problematisiert werden. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum wir uns an einen unreflektierten Arbeits- und Leistungsethos und ein schlechtes Leben gewöhnen sollten.

Der geschilderte ideologische Kreislauf am Beispiel von Arbeit und Faulheit ist das Haupthindernis einer Entwicklung hin zu einer selbstorganisierten, emanzipatorischen Gesellschaft. Eine Möglichkeit der Intervention wäre, emanzipatorische Inhalte zu anderen Menschen zu tragen und die überlieferten Gewißheiten in Frage stellen, d.h. aktiver Teil der Sozialisation werden. Es geht hier um nicht mehr und nicht weniger, als die selbstorganisierte Alternative denkbar zu machen. Dafür braucht es wiederum eine Kultur, keine vorgesetzte sondern selbstgestaltete. Mit Kultur ist nicht gemeint jeden Tag zwei Punkbands spielen zu lassen, Theaterstücke aufzuführen oder klassische Konzerte zu veranstalten, sondern vielmehr eine Kultur des Lebens, in dem es nicht als faul gilt, länger zu schlafen und in der lieber die eigenen Zwänge angegriffen werden als die Nachbarn. Eine Kultur, die sich offensichtlich und resolut von den Zwangsideologien der kapitalistischen Gesellschaft absetzt, soweit wie es möglich ist und die bestrebt ist, den Bereich dieser Möglichkeit auszuweiten.

Die janusköpfigen Besen

Den verselbständigten Arbeitsethos anzugreifen, wird auf längere Sicht natürlich nur dann erfolgreich sein, wenn die realen Zwangsverhältnisse genauso angegriffen werden. Sonst wird das Individuum permanent auf diese zurückgeworfen und der Arbeitsethos reproduziert sich von neuem. Dazu ein Beispiel um die Absurdität von Arbeit haben oder nicht haben deutlich zu machen. Stell Dir vor, Du fegst das Streikcafé an der Uni nach dessen Abbau. Das tust Du nicht nur für Dich, sondern auch für andere. Und ihr wechselt euch ab, also Du mußt nicht jedes Mal fegen. Am Anfang habt ihr nur einen Besen und Du brauchst dafür eine halbe Stunde. Nun bekommt ihr von den Leuten, die die Besen herstellen einen Größeren mit stabileren Borsten und braucht nur noch eine Viertelstunde. Was hältst Du davon? Ist es nicht toll jetzt eine Viertelstunde mehr Zeit zu haben für die schönen Dinge im Leben? Der gesunde Menschenverstand sagt uns also, daß es gut ist, die Arbeitszeit so kurz wie möglich zu halten. Nun bist Du gezwungen Deine Arbeitskraft an ein Unternehmen oder an den Staat zu verkaufen und beispielsweise eine Schule zu fegen. Nehmen wir an mit dem kleinen Besen braucht ihr 80 Stunden dafür, das heißt zehn Leute arbeiten daran die Schule sauber zu machen. Nun bekommt ihr die großen Besen und es wird nur noch 40 Stunden Arbeitszeit benötigt. Jede und jeder müßte nur noch vier Stunden arbeiten. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch anstatt sich zu freuen, jammern die Medien über den Arbeitsplatzabbau und die Regierung verspricht Sofortmaßnahmen zur Schaffung von Arbeit. Wo wir doch vorhin festgestellt haben, daß eher die Abschaffung von Arbeit anzustreben ist. Absurd!

Doch dem nicht genug – was passiert? Sechs Leute werden entlassen und die anderen vier müssen weiter acht Stunden arbeiten und zwar schneller! Anstatt für alle das Leben zu erleichtern werden die einen in Existenzangst gestürzt und die anderen müssen in der gleichen Zeit mehr arbeiten. Nur weil die Unternehmen die Gunst der Stunde nutzen, um mit der Umstellung auf neue Besen die Ausbeutungsrate der Verbliebenen zu erhöhen. Warum? Das Unternehmen handelt nicht nach dem Prinzip der Menschlichkeit und Bedürfnisbefriedigung, sondern danach, den eigenen Gewinn zu maximieren und zu expandieren. Die hauptsächliche Gewinnquelle ist die Ausbeutung der Arbeitskraft derer, die zum Verkauf derselben gezwungen sind, um überleben zu können. Nun können wir auch die Aufregung der Massenmedien verstehen. Da die Masse der Leute zur Existenzsicherung darauf angewiesen ist, mindestens acht Stunden zu arbeiten, erleben sie den Abbau der benötigten Arbeit als persönliche Bedrohung und reagieren darauf mit dem Ruf nach mehr Arbeit! Um überleben zu können, rufen die Ausgebeuteten nach ihrer Ausbeutung und beten die eigene Ausbeutung an. Nicht weil sie ausgebeutet werden wollen, sondern weil sie überleben wollen und keine Alternative kennen. Die Massenmedien übernehmen diesen Ruf, weil sie von den Massen gekauft werden, und bestätigen damit die, die noch unsicher waren. (1)

Dabei ist es doch schön, mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens zur Verfügung zu haben! Je weniger Arbeit, desto besser! Die beiden Szenarien – Fegen für sich und das soziale Umfeld vs. Fegen zum Geldverdienen bei einem Unternehmen – machen deutlich, daß die Abschaffung von Arbeit zu begrüßen und der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu bekämpfen ist. LASST DIE SOZIALISATION DER ZURICHTUNG ZUR SOZIALISATION DER EMANZIPATION WERDEN!

kater francis murr

(1) Die BILD-Zeitung als Prototyp des Massenmediums ist nicht umsonst Vorreiter beim Ruf nach mehr Arbeit.
Was heißt janusköpfig? Bild eines zweigesichtigen Mannes, Sinnbild des Zwiespalts, des Ja und Nein

Theorie & Praxis

Auf der Jagd nach dem Glück

Die amerikanische Verfassung garantiert jedem Bürger der USA das Recht, nach seinem individuellen Lebensglück zu streben. Kaum ein anderer Satz wie der vom «pursuit of hapiness» kennzeichnet das amerikanische Lebens-, Rechts- und Staatsverständnis treffender. Er weist dem Staat die Verpflichtung zu, seinen Bürgern die Freiheit zu gewähren, innerhalb derer sie ihr eigenes Glück schmieden können. Und zugleich räumt die Verfassung klipp und klar jeden Verdacht aus, irgendjemand anderes als der Einzelne selbst – am Ende gar der Staat – könne dafür in Haftung genommen werden, wie schön oder nicht man es sich im Rahmen seiner Möglichkeiten einrichtet.“

So beginnt ein Kommentar von Stephan Detjen im Deutschlandfunk am 22.6.03 um 19:05. Im Weiteren wird er sich dem Propagandafeldzug anschließen, der derzeit bundesweit aus dem bürgerlichen Lager gegen den Streik der IG-Metall um die 35-Stunden-Woche geführt wird.

Vorspiel

Einer der Hauptbestandteile jener bürgerlichen Freiheit ist das Recht auf Eigentum, das Recht zu kaufen und zu verkaufen und die Preise frei auszuhandeln. Das steht jedem Bürger eines Staates zu, das macht sie gleich. Doch wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, ist Eigentum nicht gleich Eigentum und Bürger nicht gleich Bürger. Eine besondere Art des Eigentums ist die des Kapitals. Kapital zu besitzen bedeutet in anderen Worten, ein Anrecht darauf zu haben, sich Produkte fremder Arbeit anzueignen. Wer kein Kapital besitzt, besitzt im Grunde gar nichts. Nun ja, fast nichts. Außer der Fähigkeit zu arbeiten. Diese Fähigkeit hat jeder Mensch, insofern er/sie überhaupt Mensch ist. Diese Fähigkeit läßt sich verkaufen.

Hier ist der Zeitpunkt auf eine Sache besonders hinzuweisen. Es gibt eine Reihe von Formulierungen wie „Arbeit muß her!“, „für Arbeit bezahlt werden“, „Arbeitsmarkt“ oder auch „tote Arbeit beherrscht lebendige Arbeit“. Manche dieser Formulierungen mögen für die eine Sache geeignet sein und für die andere nicht. Doch eines haben sie alle gemeinsam. Sie verdecken einen kleinen, aber feinen Unterschied, der letztlich für das Verständnis von dem was Kapital ist, unerläßlich ist. Und zwar den von der Ware Arbeitskraft und der von ihr produzierten Ware. Die Fähigkeit, einen Kuchen zu backen, ist natürlich etwas anderes als ein Kuchen. Die Arbeit selbst ist keine Ware und nicht handelbar. Die menschliche Arbeit schafft Waren.

Die Kapitalbesitzer kaufen die Fähigkeit zu arbeiten, lassen arbeiten und behalten das Produkt dieser Arbeit. Selbstverständlich. Es ist Produkt der von ihnen gekauften Arbeitskraft, die natürlich dadurch Eigentum der Kapitalbesitzer ist, produziert mit Maschinen und aus Rohstoffen die den Kapitalbesitzern gehören. Die Kapitalbesitzer kaufen die Arbeitskraft, um sie ausbeuten zu können. Daran ist nichts unrechtes. Ausbeuten darf hier keinesfalls moralisch verstanden werden. Der Vergleich mit der Ausbeutung einer Erzader ist sachlich durchaus gerechtfertigt. Der Verkauf und Kauf der Ware Arbeitskraft ist ein freier Handel zwischen freien Bürgern. Hoch lebe das Recht! Trotz aller Abweichungen, die vielleicht auch nicht immer konsequent geahndet werden, ist der Kapitalismus vom Prinzip her eine gerechte Gesellschaft. Wer etwas anderes behauptet, irrt sich oder ist ein übler Propagandist. Und: der Kapitalismus ist eine auf Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beruhende Gesellschaft. Für die Kapitalbesitzer (!) ist die Ware Arbeitskraft selbst Kapital. Nicht jedoch für diejenigen, die Träger dieser Ware sind und sie verkaufen müssen. Die Maschinerie, die Gebäude, die Rohstoffe etc. sind nur Hilfsmittel, ohne die sich die Ausbeutung der Arbeitskraft nicht realisieren ließe. Sie tragen nichts zum Gewinn bei, sondern gehen in Gänze oder scheibchenweise auf die produzierte Ware über. Diese Form des Kapitals heißt in der Kritik der politischen Ökonomie deshalb auch konstantes Kapital. Die Quelle des Reichtums liegt in der Ausbeutung der Arbeitskraft. Diese Form des Kapitals heißt deshalb in der Kritik der politischen Ökonomie variables Kapital. Hin und wieder wird es auch Humankapital genannt. Dies geschieht in zwar sachlich richtiger Weise, doch werden die Menschen und ihre Verhältnisse dabei nur noch als bloße Sache, als Ding betrachtet. In politischen, philosophischen oder ideologischen Betrachtungen, in denen eher die Menschen im Vordergrund stehen, wird das variable Kapital als Arbeiterklasse oder Proletariat bezeichnet. Doch diese Formulierungen sind dem freien Bürger von Welt eher peinlich, wirken überkommen und hausbacken.

Natürlich sagt kein Mensch „die Kapitalbesitzer kaufen Arbeitskraft“, daß heißt vielmehr: „Unternehmer oder Arbeitgeber schaffen Arbeitsplätze“; der Markt für Arbeitskräfte heißt „Arbeitsmarkt“ und diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen und sich ihres Produktes enteignen lassen, heißen „Arbeitnehmer“. Und Ausbeutung erfolgt nicht durch die Kapitalbesitzer sondern durch die Gewerkschaften (!), wie Stephan Detjen weiß:

Die Rhetorik der Funktionäre entlarvt den Arbeitskampf als verantwortungslosen Ausbeutungsfeldzug, in dem allein die Gewerkschaften selbst auf Beute hoffen dürfen. Ausgebeutet werden die antikapitalistischen und antiwestlichen Ressentiments in den Köpfen ostdeutscher Arbeitnehmer. Ausgebeutet werden die verbliebenen Überreste der antiindividualistischen Lebenseinstellung, die Rolf Henrich in den letzten Jahren der DDR als mentales Merkmal des von ihm so genannten «vormundschaftlichen Staates» ausmachte.“

Doch bevor ich einige Worte drüber verliere, wer hier welche „verquast-kollektivistische“ Rhetorik an den Tag legt, ein Blick zurück in die Vergangenheit.

Etwas Geschichte

Als ich eines schönes Tages spazieren ging, kam ich an einem DGB-Stand vorbei, der neben Werbung für die aktuelle DGB-Politik auch kostenlose Erfrischungsgetränke bot. Auf mein trockenes „Kapitalismus läßt sich nicht reformieren“ erhielt ich die Antwort: „Es geht nicht um Kapitalismus, sondern um die Sozialreform“. Wenn die „Arbeitergeber“ auf ein Streik mit Aussperrung reagieren wollen, klagt die Gewerkschaft, es sei ein Rückfall in den Klassenkampf. Ist heute tatsächlich alles anders als gestern? Sind die Gewerkschaften heute so anders als vor hundert Jahren? Lassen wir doch mal einen Arbeiter zu Wort kommen, der die Rolle der Gewerkschaften vor dem ersten Weltkrieg beurteilt. Richard Müller schreibt 1925 in seinem Buch „Vom Kaiserreich zur Republik“:

Die Entwicklung der Gewerkschaften zur Zeit des kapitalistischen Aufstieges hatte jede revolutionäre Regung erstickt. Ihr Streben war darauf gerichtet, den Arbeitern innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft eine erträgliche Existenz zu schaffen. …

Der Charakter der Gewerkschaften wurde weiter beeinflußt durch das immer weiter ausgebaute Unterstützungswesen. Die Gewerkschaften halfen den Mitgliedern bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, in besonderen Notfällen usw. Durch diese Unterstützungen sollte die Fluktuation eingedämmt, die Mitglieder bei der Organisation gehalten werden. Zahlenmäßig war der Erfolg gut. Die Fluktuation ließ nach und die Kassen wurden gestärkt, aber der Kampfcharakter der Organisation trat in den Hintergrund. Für viele Mitglieder waren die Gewerkschaften Versicherungsanstalten, bestenfalls Organe zur Befriedigung bloßer Augenblicksinteressen.

Die Gewerkschaftsführer lehnten es ab, den Kapitalismus als solchen zu bekämpfen. Sie fürchteten, damit auf das politische Gebiet zu treten, auf dem sie sich als Personen und Gewerkschaftsführer tummelten, aber das nach ihrer Meinung für eine Betätigung der Gewerkschaftsmitglieder nicht geeignet war. Politische Fragen durften in den Gewerkschaften nicht diskutiert werden. Die kaiserliche Polizei brauchte den politischen Generalstreik nicht zu verbieten. Das besorgten die Führer der Gewerkschaften. Eine Revolution stand für sie außerhalb des Bereiches der Möglichkeiten. Reformen innerhalb der kapitalistischen Welt waren ihr Programm. Wurde nach einem hartnäckigen Kampf das Unternehmertum an den Verhandlungstisch gezwungen, dann quoll das Herz des tapferen Gewerkschaftsführers über, wenn er seine Füße mit denen des Gegners unter einen Tisch setzen durfte. Karl Marx hatte zwar vor vielen Jahren einmal gesagt: die Gewerkschaften verfehlen ihren Zweck, wenn sie die Spitze ihres Kampfes nicht gegen die Lohnarbeit überhaupt richten. Aber das lag weit zurück und war durch die bewährte Praxis der Gewerkschaften widerlegt worden. …

Die innere und äußere Politik der Gewerkschaftsführer, das Ziel wie die Methoden ihres Kampfes mußten den Mitgliedern jedes revolutionäre Denken und Empfinden nehmen und den Willen zu entscheidenden Kämpfen brechen. Wo sich unter dem Einfluß politischer Propaganda ein radikaler Geist bemerkbar machte, wurde er niedergedrückt und wenn gar in dem ungeheuer großen Verwaltungsapparat ein Angestellter als räudiges Schaf entdeckt wurde, der die von oben gegebene politische Weisheit nicht widerspruchslos schlucken wollte, traf ihn der Bannstrahl des heiligen Stuhls. Es war eine ganz natürliche Entwicklung, wenn schließlich die Führer den Massen keinen revolutionären Willen zutrauten, weil sie selbst keinen besaßen. Die Führer betrachteten sich als das Hirn der Masse, mit dem Geldschrank und dem Verwaltungsapparat in der Hand.“

Holla, der Mann scheint nicht nur von Gestern zu sein, er ist es auch. Oder doch nicht? Wie um alles in der Welt konnte er meinen kleinen Dialog am DGB-Erfrischungsstand im Jahre 2003 vorhersehen? Hat er gar nicht. Nur die Gewerkschaften erfüllen immer noch eben jene Rolle, die sie schon vor dem Ersten Weltkrieg und vor dem Versuch einer sozialistischen Revolution im Jahre 1918 im kaiserlichen Deutschland erfüllt hatten. Und die Sozialdemokraten? Müller zitiert eine Aufruf des Parteivorstandes der SPD…

… Parteigenossen, wir fordern Euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewußten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Eine ernste Stunde ist gekommen, ernster als irgend eine der letzten Jahrzehnte. Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!“

… und einer Erklärung der Reichstagsfraktion der SPD: „Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. … Da machen wir wahr, was wir immer behauptet haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen! Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“

Zwischen den von mir gekürzten Zitaten liegt nicht viel. Bei Richard Müller nur eine Überschrift: „Eine weltgeschichtliche Katastrophe“; in der Geschichte die zehn Tage zwischen dem 25.6.1914 und dem 4.8. 1914. Dieser nationale Schwenk der deutschen Sozialdemokratie führte mit Volldampf in den ersten Weltkrieg, der weltweit Millionen Proletariern das Leben kostete. Zu guter Letzt die Reaktion eines Konservativen. Müller zitiert Prof. Hans Dellbrück (September 1914):

Wie weggeblasen war (von der deutschen Sozialdemokratie am 4. August) der ganze Schwulst der staatsfeindlichen Redensarten; der internationale Proletarier erwies sich als eine bloße Kampfesmaske; mit einem Ruck war sie heruntergerissen und es erschien das ehrliche Gesicht des deutschen Arbeiters, der nichts anderes begehrt, als an der Seite seiner Volksgenossen, wenn das Vaterland ruft, zu streiten! Es genügt nicht, den Sozialdemokraten zu danken, daß sie ihr Parteiprogramm in die Ecke gestellt haben und unter der nationalen Fahne mit marschieren, sondern man muß sich auch klarmachen, welches Verdienst sie sich direkt durch ihre Organisationen erworben haben. Stellen wir uns vor, wir hätten diese großen Arbeitervereinigungen nicht, sondern diese Millionen ständen dem Staat nur als Individuen, gegenüber, so ist es doch sehr wahrscheinlich, daß sich sehr viele unter ihnen befinden würden, die nicht von der allgemeinen Bewegung ergriffen, der Einberufung zur Armee passiven oder auch aktiven Widerstand entgegengesetzt hätten.“

Ist es verwunderlich, daß der Kapitalismus nach jahrzehntelanger Propaganda von Gewerkschaftsführern, Sozialdemokraten und Konservativen als das Ende der Geschichte erscheint, als ein Hort der Glückseeligkeit?

Schlimmer geht’s immer!

Doch zurück zu Stephan Detjen: „Nach diesem Verhaltensmuster hat die IG-Metall aus dem Munde ihres Berlin-Brandenburgischen Landesvorsitzenden «mehr Lebensqualität» zum Streikziel in der ostdeutschen Metallindustrie erklärt. … Wir dürfen gespannt sein, wofür die IG-Metall ihre Mitglieder als nächstes zur Arbeitsniederlegung aufruft, wenn die nach dem Vernichtungskampf dieser Tage in den Trümmern der ostdeutschen Metallindustrie verbliebenen Arbeitnehmer nur 35 Stunden zu arbeiten brauchen. Sollten die Gewerkschaften dann zu der durchaus realistischen Einschätzung gelangen, dass sich die Lebensqualität ihrer Mitglieder noch weiter erhöhen ließe, können wir uns wahrscheinlich auf Streiks für besseres Wetter und dickere Grillwürste gefasst machen. …

Wie viel Lebensqualität ein Arbeitnehmer gewinnt, …, wird sich selbst mit einer verquast-kollektivistischen Gewerkschaftsrhetorik nicht erfassen lassen. Um so klarer bezifferbar aber werden die volkswirtschaftlichen Schäden sein, die dieser Streik in ganz Deutschland anrichtet. … In zynischer Offenheit lassen die Gewerkschaften keinen Zweifel daran zu, dass sich ihr Streik genau gegen das richtet, was die Menschen in den östlichen Ländern am bittersten benötigen: Es ist ein Kampf gegen die Arbeit und die damit verbundenen Chancen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Diese Lebensmöglichkeiten schmälern die Gewerkschaften im Augenblick vor allem für diejenigen, die überhaupt keine Arbeit haben.“

Detjen erweist sich als ein legitimer Nachfolger des von Müller zitierten Professor Dellbrück.

Wie Müller richtig bemerkt, liegt eine Funktion der Gewerkschaften darin, „Arbeitern innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft eine erträgliche Existenz zu schaffen“. Wir leben in der Zeit von Hartz und Agenda 2010 und selbst Konservative wie die der Financial Times Deutschland stellen fest, das einige Maßnahmen des Staates nichts sind, als versteckte Lohnkürzungen. Die Zersplitterung der Lohnabhängigen ist blankes Geld für die Kapitalbesitzer, da die Arbeitskraft billiger zu haben ist. Die Angst vor der Konkurrenz in Osteuropa und Deutschland selbst, führt dazu, das immer mehr Arbeiter/innen und Angestellte dazu bereit sind, ihre Haut für immer weniger zu verkaufen. Es kommt noch schlimmer. Derzeit leidet des weltweite Kapital wieder unter einer Krise. Die produzierten Waren lassen sich nicht mehr absetzen. Immer weniger Arbeiter/innen produzieren immer mehr Waren. Das Verhältnis von „toter Arbeit“, also von Gebäuden, Maschinerie etc., die zur Ausbeutung der Arbeitkraft notwendig sind, zur „lebendigen Arbeit“, also zur Arbeitskraft, zum „Humankapital“ neigt sich immer mehr zur „toten Arbeit“. Damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommen kann, ist es notwendig ein Teil des derzeit vorhanden Kapitals einzustampfen. Dies betrifft nicht nur das virtuelle Kapital, also die handelbaren Anrechtsscheine auf Ausbeutung, wie z.B. Aktien, sondern auch die Maschinerie und das „Humankapital“. Dies bedeutet schlicht, das die Anzahl der „erträglichen“ Arbeitsplätze und der Preis der Arbeitskraft – der Lohn – weiter sinken werden.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Geldmenge des Euro nicht mehr im Griff, wie der Deutschlandfunk in „Hintergrund Wirtschaft“ am 22.6.03 zu berichten wußte. Die Banken geben ein und dasselbe Geld vielfach heraus und schreiben es den Kontoinhabern gut. Doch gerade in der Krise ist nur Bares Wahres und es droht eine Bankenkrise, wenn die Banken auf die Forderung „Sehen!“ kein Geld vorweisen können. Deshalb holen sie sich immer mehr Geld von der EZB. Doch die zunehmende Geldausgabe verschlimmert das Problem nur und macht den ins Haus stehenden Crash, der zur notwendigen Kapitalvernichtung führt, nur um so härter.

Die einzige Chance, die die Arbeiter/innen haben, ist die proletarische Kooperation. Sei es die Chance auf ein erträgliches Leben innerhalb des Kapitalismus, die durch dessen krisenhafte Entwicklung letztlich begrenzt ist, oder eine Chance auf die Überwindung der Ausbeutung überhaupt. Diese Kooperation muß weiter reichen, als bis zu dem Betrieb, in den man gerade arbeitet, über die „eigene“ Branche hinaus und über die Grenzen des Landes hinaus, in den man gerade Steuern zahlt. Gerade dagegen wendet sich Detjen. Eine weitere Vereinzelung und Individualisierung der Lohnabhängigen ist nichts, als eine Einladung an die Kapitalbesitzer die Löhne weiter zu kürzen und den Arbeitsdruck weiter zu erhöhen. Eines der Resultate dieses Streiks ist, daß die Gewerkschaft zunehmend ihre Fähigkeit verliert, für die Arbeiter/innen erträgliche Bedingungen zu schaffen. Der faktische Wegfall der Flächentarifverträge begünstigt in dieser Situation weitere Lohnkürzungen.

Eines werden die Konservativen den „Ossis“ nie verzeihen. So beschissen und staatskapitalistisch die DDR auch war, sie bleibt Deutschlands Schande und die ostdeutschen Proleten werden dafür bezahlen. Mit längeren Arbeitszeiten und weniger Entgeld. Und jeder Ungeist im Osten, der sich eventuell noch gegen den deutschen Kapitalismus richtet, soll ausgetrieben werden.

Für «pursuit of happiness»

Doch es zeigt sich, daß Detjens keineswegs ein uneingeschränkter Gegner von „verquast- kollektivistischer“ Rhetorik ist und keineswegs ein grenzenloser Freund der «pursuit of happiness», des Strebens oder der Jagd nach dem Glück. Ihm ist nur die proletarische Solidarität zuwider, das Glück, das nicht nach Arbeit strebt. Ihm geht es um das „verquast-kollektivistische“ Deutschland. Jenes Deutschland das im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege vom Zaum gebrochen hat, Millionen von Menschen mit bürokratischer Sorgfalt ermordet hat und über dem sich derzeit ein übler antiamerikanischer Mief erhebt. Das ist das Kollektiv das Detjen für die ostdeutschen Metaller/innen für geeignet hält. Er will es sehen, „das ehrliche Gesicht des deutschen Arbeiters, der nichts anderes begehrt, als an der Seite seiner Volksgenossen, wenn das Vaterland ruft, zu streiten!“ Die deutsche Volkswirtschaft ist seine Sorge, keineswegs das individuelle Glück der Arbeiter/innen.

Wenn Detjen in übertriebener Weise die ostdeutsche Metallindustrie in Trümmern sieht, so gibt er dem ollen Marx ungewollt und unbewußt recht, wenn dieser der „heiligen Familie“, einigen seiner Zeitgenossen, entgegenhält:

Die kritische Kritik schafft Nichts, der Arbeiter schafft Alles, ja so sehr Alles, daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen beschämt; die englischen und französischen Arbeiter können davon Zeugnis ablegen. Der Arbeiter schafft sogar den Menschen; der Kritiker wird stets ein Unmensch bleiben, wofür er freilich die Genugtuung hat, kritischer Kritiker zu sein.“ *)

In einen Punkt irrt Detjens leider: Die IG Metall kämpft nicht gegen, sondern für mehr Arbeit. In einem anderen Punkt irrt er sich ganz gezielt: die ostdeutschen Metallarbeiter/innen und alle Lohnabhängigen weltweit brauchen nicht am dringendsten Arbeit, sondern besseres Wetter und dickere Grillwürste oder was auch immer ihr Geschmack begehrt. Wo kommen wir denn da hin, wenn die Proleten weltweit massenhaft für ihr individuelles Glück auf die Straße gehen? Vielleicht zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung? Weg von den verquast-kollektivistischen Nationen. Weg von Kommentatoren, die das Glück für Andere nur in der Arbeit erblicken können. Das Glück der Arbeiter/innen liegt auf der Straße, ihre «pursuit of hapiness» führt sie weg von der Arbeit in den Fabriken, Büros, Geschäften etc. Sie schaffen alles, doch nichts für sich, nicht mal den Menschen. Statt dessen schaffen sie ihr eigenes Joch, daß die Möglichkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, nur noch als Arbeit, als Möglichkeit des Verkaufs der eigenen Arbeitskraft erscheinen läßt. Also heraus auf die Straße. Für besseres Wetter und dickere Grillwürstchen! Und Senf und Ketchup nicht vergessen!

v.sc.d

*) K.Marx, F.Engels „Die heilige Familie oder die Kritik der kritischen Kritik“

35 Stunden

Demokratie im deutschen Wahljahr 2004

Hurra, hurra, das Superwahljahr ist da – ein Fest der Politik, welcher Bürger möchte nicht in solch antiken Träumen schwelgen. Aber denkste. Pessimismus aller Orten. Keine Programm-Marathons in Partei­geschichte. Nicht einmal ein ordentliches Lämmerschlachten. Keine Tragik, keine Euphorie. Die Medien halten sich zurück. Die parla­mentarische Debatte wiegt in Lethargie. Da hilft auch kein außen­/euro-politischer Abführtee. Kaum Grüne auf den Friedensmärschen. Kaum Rote am 03.04. (1) in Berlin. Die Schwarzen in die eignen Hierarchien verstrickt, die Gelben kopflos, die Brau­nen dumm wie immer, die Röterroten immer nur dabei statt mittendrin. Selbst dem EU-Parlament fehlen noch Helfer für die eignen Wahlen. Ehrenamtlich versteht sich. Die Reste von politischer Kultur, die die Parteien versam­meln, reichen kaum noch aus, die Lücken zuzuschließen. Hamburg war ein erster Gradmesser. Die Wahlbeteiligung ging um 2,3% auf 68,7% zurück. 10528 Stimmen wurden ungültig abgegeben. Das sind immerhin schon 1,3% von allen (s. Tabelle 2). Die ungültige Stimmabgabe ist eine Option geworden, weil sie ein aktives Moment enthält: Klar seine Stimme zu verweigern, nicht zu delegieren, sondern sie auch selber einzusetzen. (2) Auch wenn kein Erdrutsch zu erwarten steht: 2004 – das Super­wahljahr Deutschlands – könnte zu einem Fiasko der Legitimation parlamen­tarischer Initiative werden. Die Bereitschaft des Bürgers, seine Stimme abzugeben, sinkt ständig. Manch einer sieht es als Strafe für die schlechten Inszenierungen der Par­teien­­politik, manche zieht die Konsequenz aus jahre­langem Hin und Her. Fest steht, die meisten haben begriffen, daß jenseits der dunklen Regierungspolitik, nur düstere Aussichten zu finden sind. Die allgemeine Hilflosigkeit der Parlamente ist auf Landes- und auch Bundesebene erwiesen. Doch was bleibt noch, wenn der Bürger nichts mehr von der Wahl erwartet, politisches Engagement sich weder an der Basis der Parteien noch in Parteien-Neugründungen generiert? Ist das liberale Staatsprojekt an seinem Ende? Und damit auch die demo­kratische Idee? Wo läßt sich Optimis­mus aus politischen Aktionen überhaupt noch schöpfen? Ein Vorschlag sei gegeben.

Die Demokratie in ihrer Gegenwart ist die parlamentarische Lösung im nationalen Mehrparteienstaat. In ihrer Idee ist sie die Teilhabe aller, mithin von jedem und jeder Einzelnen, an der Macht – freiheitlich, brüderlich, gleich. Die Macht und ihre Territorien jedoch, die die Parlamente der nachfeudalen Aristo­kratie im 19. Jahr­hundert listenreich und unter vielen Op­fern abgerungen haben – wie wichtig dabei die Ideen des Sozialismus waren, wie wichtig der gewerkschaftliche Druck der organisierten Arbeiterschaft, wird oft ver­gessen – ging über an die skrupellosen Führer der nationalen Bewegungen, die nicht nur in Europa aufmarschierten. Wie­viel Leid mußte ertragen werden bis mit der „Wende“ und dem Ende des Kalten Krieges endlich die Hoffnung wieder aufkeimte, nun mit dieser alten Macht zum ewigen Frieden fortzu­schrei­ten. Heute fällt es schwer, noch jene Euphorie zu teilen, die damals beide Erdenteile erfaßte, als der staatliche Kriegs­ter­rorismus sich vielerorts zu befrieden begann. Es war ein großer Sieg der parlamentarischen Debatte. So wurde es zumindest hingestellt. Ein Beweis für die politische Wirksamkeit des Parlamen­tarismus. Großen Worten folgten große Pläne und allzu große Erwartungen. Gerade in den Ländereien deutscher Nation. Riesige Verteilungspro­gram­me gebaren gigantische Subventions­kataloge mit sichtbaren Effekten: Wirt­schaftsboom dort, Warenvielfalt hier. Das Rheinische Modell der sozialen Marktwirtschaft stand scheinbar in Blüte. Der Aufstieg der Grünen Partei und das Überleben der links­sozialistischen Kräfte in der PDS jedoch – beide ideologischen Strömungen stießen als Parteien schnell an ihre real­politischen Grenzen – gaukelten eine Ver­änderung des politischen Alltags­geschäfts im deutschen Mehrparteien­staat nur vor, ebenso wie die Staatssubvention auf Pump. Heute, ein neues Jahrtausend hat kaum begonnen, halten Resignation und Trauer wieder Einzug in die Häuser­meere der Städte und Hofzeilen der Dörfer, kehrt an die Herde der Familien, Kollektive und Individuen wie ein Déjà-vu zurück, was man in den Neunzigern noch zu bannen glaubte: die Angst vor dem Morgen. Und wie zum Hohne ist die Überbringerin der Schrecken hierzulande die Rot-Grüne-Re­gierungs­koalition. Der Pessimis­mus wächst. Das zeigen die steigenden Zahlen der Nichtwählenden und Ver­wei­gerungen jeder Art.

Ist der Staat, was seine liberale Idee ver­heißt, der Garant des Friedens durch Zentra­lisierung der Gewalten und damit Wächter jeden Eigentums, kann er bei seinem Bürger und seiner Bürgerin auch Vertrauen erwecken, ihn und sie zur Ab­kehr von der individuell-willkürlichen Gewalt bewegen, gar zur Abgabe seiner Freiheitsrechte. Doch muß der Staat auch andersherum seinem Bürger Vertrauen schenken, will er nicht die durch ihn im Vertrauen zugesicherte Freiheit des Indivi­duums restlos durch staatlichen Zugriff untergraben. Die gegenseitige Vertrauens­basis von Staat und Bürger ist das Herz­stück jedes liberalen Ideals. Aber schon der Blick in die Geschichte zeigt, der Parla­men­tarismus konnte von Anbe­ginn keines seiner noch so liberalen Versprechen ein­lösen. Die Balancen des sozialen Friedens im Innern der national verfaßten Terri­torien, zwischen Arbeits­kampf und Kapitalinteresse, zwischen den Jungen und den Alten, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nationalis­ten und den Kommunisten, sie alle blieben von der parlamentarischen Initiative beinahe un­berührt. Den Ausbruch von Krieg und Revolte konnte sie weder verhindern noch ernsthaft begrenzen, im Gegenteil oftmals reichte die Rhetorik der nationalen In­teressen aus den Parlamenten der kriegs­fördernden Maßnahme die Hand. Erinnert sei nur an den Kriegs­zuspruch der deut­schen SPD 1914. Unfriede, Widerstand und Krieg unter­minierten unent­wegt das bürgerliche Vertrauen und zwangen zur bürokratischen Spezialisierung der Parla­mente. Die Parteien mußten sich ständig profilieren, um verlorenes Vertrauen zu aktualisieren. Gewählte Volksvertreter und -vertre­terinnen ja, aber von den Parteien aus der eigenen Elite rekrutiert und auf die Liste gesetzt. Strategisch geplant und aus­ge­­klüngelt, um dem politischen Gegner kein Stück weit Luft zu lassen. Schon hier wird fraglich, inwieweit die oder der Delegierte jenes Vertrauen in die Wähler­schaft unterminiert. Und von da an geht der Riß über eine lange Kette von Amts­miß­bräuchen, nicht gehaltenen Ver­sprechen bis hin zur Korruption. Spä­tes­­tens jedoch seit der Terrorismus im parla­men­tarischen Staate zum Unwesen geriet, bedroht die Eskalation der Inneren Sicher­heit als gesteigertes Miß­trauen der Parla­men­tarier und Parlamen­tarie­rinnen in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen den Frieden mit und damit auch das Vertrauen in den Staat. Eine Geschichte der an diesem Punkt ansetzenden staat­lichen, sprich par­la­­men­­­tarisch geführten, Re­pres­­sion im um­fas­sen­den Sinne steht noch aus. Die Offen­legung zumin­dest einiger Stasi-Akten ist nicht mehr als ein Indiz für ein dunkles Staats­kapitel in Ost wie West. Die Aus­maße von Datenerfassung und Ter­roris­mus an der Schwelle dieses Jahr­tausends machen sie zur lächerlichen Zettelkastelei.

Ist also der moderne Mehrparteienstaat, dessen Sonderfall die Europäische Union nur ist, heute weit von der Erfüllung jenes liberalen Ideals entfernt? Ich meine ja. Die Kultur der Individualisierung und die pluralistische Erziehung (3) haben das Miß­trauen reifen lassen, trotz und gerade we­gen der medialen Öffentlichkeit. Par­teien und Gewerkschaften gelten als über­holt, wegen ihren bürokratischen Aus­differen­zierungen und institutionellen Ver­engungen, wegen ihren internen dogma­tischen Ansprüchen und Auslesen, wegen der parlamentarischen (tarif­ründlichen) Praxis und deren Folgen. Das Vertrauen in die Solidarität der „großen Sozialkas­sen“ schwindet. Und wer hat schon Aus­sicht auf politische Mitbe­stimmung, wer fühlt sich dazu in der Lage? Aus Ohnmacht kann kein Vertrauen entstehen.

Ist also mit dem gescheiterten Vertrauens­verhältnis, mit dem Scheitern der liberalen Idee vom Bürger und dem Staate auch die Idee der Demokratie an ihrem Ende – nachdem die Geschichte ihrer Entwick­lung unzweifelhaft mit dem Mehrpar­teien­­staat und seinem Parla­men­tarismus verbunden ist? Scheint Demokratie ange­sichts dessen heute als politische Praxis, die den aufklärerischen Idea­len folgt, nicht mehr möglich? Ich meine nein. Um Egoismus und pes­simis­tischer Stim­mung die Stirn zu bieten, gilt es die demokratische Idee in optimistischer Absicht neu zu beleben. Ihre Ideale von der Frei­heit, Brüderlich­keit (Solidarität), und Gleich­heit des Menschen aufzugeben, hieße ja die Träume und Hoffnungen so vieler mit Füßen treten, hieße schließ­lich die moderne Bewegung des Denkens in ihrem politischen Kern in Frage stellen. Der Rückzug ins Private, sofern er von der Not erlaubt, wäre der Auszug aus der Gesellig­keit, das Aufkündigen jeder ver­trau­lichen Basis, das Ende jeder Politik. So scheint am Ende der liberalen Staatsidee das zu stehen, was sie schon am Anfang im eigenen Menschen­bilde unterstellte. Der Mensch sei eigent­lich nur durch Ge­walt zur Abkehr von dem Egoismus und damit zu Gesellschaft fähig.

Wenn es also so schlecht um die liberale Staatsidee bestellt ist. Wenn ihre politische Praxis des Parlamentarismus heute keines ihrer Versprechen einlösen kann, gar das politische Grundverständnis der gesell­schaft­lichen Verhältnisse bedroht. Wenn das grassierende Mißtrauen die Indivi­duali­sierung befördert und die Zersetzung der Solidarität innerhalb der gesellschaft­lichen Gefüge. Wo kann jener Optimis­mus in die Demokratie überhaupt noch Wurzeln schlagen? Wo herrschen denn noch demokratische Verhältnisse? Wo, wenn nicht direkt zwischen den Menschen? Denn wenn Demokratie die Idee der Teilhabe jedes und jeder einzelnen Betrof­fenen an der Macht über die Verhältnisse bedeutet, so ist gar nicht einzusehen, warum sie sich nur auf Staatsform und -geschichte beziehen soll.

Demokratische Verhältnisse sind, wie sie ab jetzt verstanden werden sollen, das Er­geb­nis von politischen Haltungen, die In­di­­viduen zueinander einnehmen. Sie sind di­rekt und gegenseitig. Deshalb keines­wegs abstrakt. Demokratie herrscht dort, wo sich Menschen in einem aus­balan­cier­ten Machtverhältnis vertrauen. Wer kurz überlegt … wird feststellen, es gibt schon Anlaß zu ein wenig mehr Op­ti­mismus. Denn wenn auch nicht in der Re­gel, der Alltag des Menschen ist von demokratischen Verhältnissen durchsetzt. Trotz aller Unkenrufe, die Leute seien apolitisch und zu einem anständigen Wahlkreuz nicht mehr fähig. In der „klei­nen“ Politik des Alltages sind demo­kra­tische Verhältnisse oft häufiger anzu­fin­den, als in der „großen“ der Parlamente. Demo­kratie ist eine Wirklichkeit, die es aus­zuleben gilt! Der parlamentarische Spiel­raum reicht da lange nicht aus. Und wer kann jemandem ernsthaft das Desin­ter­esse am alltäglichen Parteigeschäft verweh­ren? Modernes Leben sieht sich vielen Ansprüchen ausgesetzt. Der Parla­men­tarismus stellt da lange nicht die höchsten.

Man wäre schnell versucht vom Standbild aus zu schließen, die Verhältnisse im liberalen Mehrparteienstaat lägen doch nicht so schlecht, wie eingangs noch behauptet. Doch nicht aufs Potential sondern die Ent­wicklung kommt es schließlich an. Und hier sind die Tendenzen trübe, die Aus­sicht nochmal düsterer. Idee, Form, Ein­richtung und Geschichte des liberalen Staats­modells sind sehr eng geworden, be­häbig, wenig in der Lage jene demokratischen Verhältnisse, wie oben verstanden, in sich abzubilden, sie zu fördern und direkt auch zu bewirken. Um aber das Ideal der Teilhabe jedes Einzelnen in die Tat zu set­zen und sich den neuen Herausfor­derun­­gen zu stellen, bedarf es viel vielmehr Demokratie. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Und die muß in ihrem Herzen utopisch sein, will sie Menschen an sich binden.

Demokratie, optimistisch betrachtet, findet also weder neben noch über Menschen statt, sondern zwischen ihnen. Politisch ist nicht ein Verhältnis zwischen Bürger, Recht und Staat, aus historischer Entfernung kühl betrachtet, politisch ist der Mensch, wenn er sich auf andere bezieht, mit Wünschen, Bedürfnissen und auch Ansprüchen. Politisch ist er, insoweit ihn die Probleme seiner Umwelt, seiner Mitmenschen direkt betreffen. Ist man gewillt zu glauben, das Individuum ist nur mit sich selbst beschäf­tigt und nur an seinem Eigentum interes­siert, wäre jede Aussicht auf das Erleben und Bewirken gemeinsamer Geschichte an ihrem Ende.

Daß zwischen Staat und Bürger die Ver­trauens­basis bricht, ist hinreichend beschrieben worden. Daß politische Kultur im Mehrparteienstaat allzuoft zur Partei­kultur degeneriert, ist einsichtig, sonst wären wir ja längst darüber hinaus. Daß kein Fünkchen Utopie beim Glauben an die Steuerung des positiven Wachstums bleibt, sondern nur hastiges Gefummel, daß kein utopischer Gedanke mehr vom herrschenden Politiker zur beherrschten Bürgerin dringt, liegt auch an der Aus­sichtslosigkeit der parlamentarischen De­batte. Es fehlen die Visionen. Und mit einem Seitenblick auf die Geschichte, ist mensch auch heilfroh darüber.

Es zeigte sich also die Notwendigkeit, den Begriff der Demokratie von seinem her­kömm­lichen Gebrauch, von seiner natio­nalen Sittenhaft zu trennen, das Politische von reiner Staatsverwaltung abzuheben, um Utopie und Optimismus für die demokratische Entwicklung des Menschen zu­rückzugewinnen. Beharrte man auf der An­erkennung der politischen Einrich­tungen, wie sie sind, so wären Pessimismus und auch Egoismus Haus und Tor geöff­net, die Ideale der Aufklärung wären schließ­­lich preisgegeben. So sei das „große“ Politikgeschäft von nun allein ge­las­sen, in der frohen Hoffnung auf Zerset­zung. Der Auszug aus den Parla­men­ten wird Demo­kratie und Selbst­be­stimmung weiter vor­wärts bringen. Geh zu den Ur­nen, laß Dich zählen, aber behalt die Stim­me zumindest dieses Mal bei Dir. Zeig Dich solidarisch mit den Anderen, setz ein Zeichen, nutze Deine Stimme (und auch Deine Arme), eine neue poli­tische Kultur demokratisch zu begrün­den. Der Auf­gaben sind genug gewachsen. Der Op­timismus liegt allein daran zu glau­ben, wir Menschen seien auch dazu befähigt, sie gemeinschaftlich zu über­win­den.

clov

(1) DGB-Großdemonstration
(2) Tipp für anspruchsvolle NichtSwähler: Die Briefwahl. Mensch hat den ganzen Kram zwei Wochen vor der Wahl und kann den Stimmzettel in Ruhe analysieren, disku­tieren, verzieren, beschmieren, file­tieren oder toasten, Hauptsache er geht wieder rechtzeitig zurück.
(3) die etwas geraffte Formulierung verweist einmal auf soziologische Arbeiten zu Indivi­dualisierungsprozessen u. a. von Ulrich Beck, vgl. bspw. „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983; und zum anderen auf den Fakt, das unsere Kinder heute keinen mo­no­­li­thischen Bildungsangeboten mehr gegen­­überstehen.

Theorie & Praxis

Gustav Landauer: Freiheit durch Solidarität

Der Anarchismus im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft

Anarchismus und anarchistische Theorien werden gemeinhin mit Chaos und Gewalt assoziiert und deshalb abgelehnt oder als utopisch und unvereinbar mit angeblich ‚schlechten‘ Aspekten der ‚Natur des Menschen‘ verworfen. Dennoch tauchen anarchistische Gedankengänge und Vorschläge immer wieder in Debatten um das gemeinsame Leben auf, um der negativen Stigmatisierung zu entgehen – die ein Werk der politischen Propaganda ist – jedoch meist ohne das Prädikat Anarchismus. Auch sind die Vorstellungen der sogenannten „klassischen“ Anarchisten wenig oder nur bruchstückhaft verbreitet. So verharren Diskussionen über alternative und anarchistische Formen des Zusammenlebens meist auf dem Niveau bloßen Austausches und der Reproduktion gängiger Vorurteile, anstatt selbige abzubauen. Einer der klassischen Anarchisten war – neben Proudhon, Kropotkin und Stirner – Gustav Landauer, der um die Jahrhundertwende aktiv war und vor allem mit seinen programmatischen Schriften „Aufruf zum Sozialismus“ und „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ (1) dazu beitrug, seine konkrete Utopie in die Realitäten des deutschen Kaiserreichs der vorletzten Jahrhundertwende zu tragen. Aber auch praktisch während der Münchener Räterepublik (siehe Kasten S. 17) als eine Art Kultusminister engagiert, versuchte er zeitlebens seine Vorstellungen des richtigen Zusammenlebens den Menschen auf vielfältige Art näher zu bringen und zur Verwirklichung im Hier und Jetzt anzuregen. Bemerkenswert sind hierbei seine Vorstellungen von der Bewusstwerdung der Menschen hin zu einem „Geist der Gemeinschaft“ und seine generelle Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft. Einige seiner Vorstellungen zum praktischen anarchistischen Sozialismus und die Auseinandersetzung mit dem angedeuteten Spannungsfeld sollen hier Thema sein, um eine Perspektive auszubauen, die sich der Frage stellt, inwiefern anarchistische Ideen von einer herrschaftsfreien Gesellschaft heutzutage und mit den Menschen in der Gegenwart umsetzbar wären.

Gustav Landauer, 1870 als Sohn eines jüdischen Schuhwarenhändlers in Karlsruhe geboren und Student der Germanistik und Philosophie wandte sich schon in jungen Jahren dem Anarchismus zu, war Mitglied im Verein unabhängiger Sozialisten und auch kurzzeitig Delegierter der Zweiten Internationale. Innerhalb dieser Organisationen und Treffen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen anarchistisch-sozialistischen Strömungen – wie auch Landauer sie vertrat – und orthodox-marxistischen Positionen. Die Konfliktpunkte kreisten dabei im Wesentlichen um die anti-emanzipatorische Rolle des Staates, um Fragen der konkreten Organisierung und um die Selbstbestimmung der Individuen; Punkte, die aufgrund der fehlenden Macht- bzw. Herrschaftskritik unter den KommunistInnen wenig Beachtung fanden. Die inhaltlichen Differenzen führten schlussendlich zu Spaltungen und Landauers Austritt aus dem Verein. 1908 kehrte er auf die politische Bühne als Mitherausgeber der Zeitung Der Sozialist zurück, um damit aktuell politischen Fragen, aber auch philosophischen, anarchistischen und sozialistischen Ideen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Neben dieser literarischen Tätigkeit und zahlreichen Übersetzungen u.a. von Proudhon und Shakespeare inklusive seiner umfangreichen herausgeberischen Tätigkeiten, wirkte er vor allem während der kurzzeitigen ersten Münchener Räterepublik. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung durch Reichswehr und Freikorpsverbände wurde Landauer verhaftet und 1919 im Gefängnis ermordet.

Anarchie leben!

Anarchismus fordert – darin sind sich zumindest die klassischen AnarchistInnen einig – eine Gesellschaft frei von Herrschaft, Zwang und Hierarchie. Die Beseitigung der staatlichen Herrschaft in ihrer Machtposition über den Menschen ist dabei zentral. An deren Stelle wird in der anarchistischen Vorstellung die individuelle Selbstbestimmung und -entfaltung der Einzelnen gesetzt, die sich in dezentralen und hierarchiefreien Strukturen kollektiv verwirklichen lassen könnte. Doch neben der Kritik am Staat in seinen historischen Erscheinungsformen teilen viele AnarchistInnen auch die Kritik an den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen im Kapitalismus, die den Menschen ebenso unter Herrschaft stellen, und haben damit einen wesentlichen Nenner mit kommunistischen Bestrebungen gemeinsam. Statt Herrschaft des Kapitals geht es ihnen um ökonomische Selbstverwaltung, bei der den ProduzentInnen der ganze Anteil des erwirtschafteten Gutes zur Verfügung steht – individuell und/oder gemeinschaftlich. Dieser sehr kleine gemeinsame Bezugspunkt dessen, was gemeinhin unter Anarchismus verstanden wird (2), ist von einzelnen anarchistischen VertreterInnen oft sehr unterschiedlich und vielfältig ausbuchstabiert worden. Dies liegt zum einen an dem Eigenanspruch des Anarchismus – nämlich kein Dogma oder -ismus sein zu wollen, sondern offen zu sein für die Vorstellung jedes Einzelnen – und zum anderen auch an den unterschiedlichen historischen und lebensweltlichen Umständen, in denen die AnarchistInnen für bessere gesellschaftliche Verhältnisse kämpften.

Landauer selbst setzt Anarchismus, Sozialismus und Gemeinschaft gleich und sieht ausschließlich im Handeln der Menschen zueinander, also den Beziehungen die die Menschen miteinander haben, das Kriterium für ein Leben mit oder ohne „Geist“. Anarchismus ist dabei für ihn eine Art Kulturbewegung aus den Menschen heraus und zu den Menschen hin, hin zu einer Gesellschaft ohne jegliche Herrschaft, eine Gesellschaft ohne Kapitalismus und Staat. Seine Kritik richtet sich auch gegen die Großindustrie und die damit verbundene Arbeitsteilung, die den Menschen von sich selbst und dem Produkt seiner Arbeit entfremdet und anti-emanzipatorisch wirkt. Fortschritt bedeutet für ihn weniger technische und ökonomische Neuerung, die hauptsächlich nur zur Steigerung des Konsums der Gesellschaftsmitglieder beitragen, sondern die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und Eigeninitiative der Menschen. Den Fortschritt sieht er deshalb eben nicht, wie Marx in zentraler Verwaltung und Großindustrie, auch verwirft er dessen Ansatz, dass dies die Voraussetzung zur Überwindung des Kapitalismus sei. Statt dessen setzt er auf dezentralisierte Produktions- und Konsumgenossenschaften, also Gemeinschaften die miteinander leben und arbeiten, Kommunen die ihre Erträge untereinander solidarisch teilen. Gegenseitige Kooperationen, freie Vereinbarungen und freie Assoziationen sind in diesem Zusammenhang ein Grundbaustein der Landauer’schen Vorstellungen, um einen regen Austausch zwischen den Gemeinschaften zu fördern, damit die einzelnen Produkte vielfältig verbreitet werden können.

Im Gegensatz zu Kropotkin, der die gewaltvolle Abschaffung des Staates als Voraussetzung für die Errichtung eines kommunistischen Anarchismus sieht, verfolgt Landauer eher einen subversiven Ansatz, bei dem klein und im Jetzt begonnen werden kann diese Lebens- und Arbeitsgemeinschaften aufzubauen, so dass der Staat sukzessive zersetzt und überflüssig wird. Revolution wird somit als gewaltfreier und permanenter Prozess verstanden, bei dem sich die Menschen der staatlichen Herrschaft durch den Aufbau autonomer Produktions- und Lebenswelten (Kommunen) entziehen. Dieser sogenannten „Gemeindesozialismus“ ist nicht denkbar ohne die vorausgehende Bewusstwerdung der Menschen und die Veränderung der Beziehungen zueinander, die wiederum die gesellschaftlichen Verhältnisse kultivieren. Für Landauer ist der Staat an sich auch nur eine Beziehung der Menschen zueinander, jedoch eine ‚geistlose‘, d.h. Ohne Liebe, Bund- und Gemeinschaftsgefühl zwischen den Individuen. Der Konflikt von Staat und Gesellschaft ist für ihn Ausdruck dieses fehlenden Gemeinschaftsgeistes, dessen Konsequenz bzw. Überwindung nur in der Entstehung des ‚Geistes der Gemeinschaft‘ liegen kann und nicht in der Ersetzung einer alten durch eine neue staatliche Herrschaft.

Im WIR denken

Die mystische Beschreibung dessen, wie der ‚Geist der Gemeinschaft‘ in jedem Einzelnen erwachen kann, muss wohl abstrahiert betrachtet werden, um vorstellbar zu sein. Landauer selbst geht davon aus, dass wenn wir uns in uns selbst zurückziehen – also in unser ‚tiefstes Innerstes‘ einkehren – wir uns bewusst werden, ‚dass unser Aller-Individuellstes auch unser Aller-Allgemeinstes ist‘. Will heißen, dass es einen großen Bund der menschlichen Gemeinschaft gibt, eine große Ahnengemeinde, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint sind und die Menschen als Gemeinsames begriffen werden. Landauer schlägt einen Perspektivwechsel vor: Eine Sichtweise in der sich der Mensch nicht als Einzelner begreift, sondern als untrennbarer Teil der Menschheit. So wie unsere fünf Finger Ausdruck menschlicher Vergangenheit sind und unsere krumme Nase auf den Uropa verweist, müssen wir demnach begreifen, dass die menschliche Vergangenheit in uns selbst gegenwärtig ist und auch alle Menschen der Gegenwart ein Teil von uns sind. Seine Mystik gipfelt dahingehend in der Kritik am subjektiven Raum, der durch die Augen Ausdruck und Grenzen bekommt, was dazu führt, dass wir eine Distanz zwischen uns und anderen Menschen wahrnehmen und uns nicht als eins mit der Menschheit begreifen. Diese These wird durch seine Sprachkritik gestützt, die unsere Erklärung der Welt durch Begriffe generell in Frage stellt und insbesondere naturalistische Formulierungen bzw. mechanische und physiologische Begriffe in Bezug auf menschliche Verhältnisse für unbrauchbar erachtet. Für ihn sind die Begriffe, mit denen die Menschen versuchen die Welt um sie herum zu begreifen und zu erklären nichts weiter als Metaphern und Ausdruck des Gesehenen & Erlebten. Sie haben keinen Erkenntniswert an sich, sondern entsprechen lediglich den jeweils historisch entwickelten Interpretationen des Gesehenen. Die Wirklichkeit wird im Kopf geschaffen und findet in der Sprache lediglich eine Ausdrucksform. Es bleibt eine Indifferenz zwischen Gedanke und dessen (sprachlicher) Äußerung.

Wenn jedoch die für den Menschen erlebte Wirklichkeit tatsächlich nur von der eigenen Interpretation der Sinne abhängt, so ist es nach Landauer auch möglich die Perspektive zu wechseln und das Gesehene neu zu interpretieren. An dieser Stelle plädiert er für eine Sichtweise, mit der wir auch unsere ‚inneren Vorgänge‘ der Gefühle, Gedanken und Emotionen beschreiben würden. Wenn dies sprachlich/begrifflich und emotional auf das Äußere übertragen werden würde, könne es gelingen vom Raumdenken bzw. Distanzdenken zu abstrahieren. In Verbindung mit dem Gedanken, Teil des großen Ganzen zu sein, soll die neue Sprache dazu beitragen, diese andere Perspektive denken zu können. So kommt es auch, dass Landauer alles als Beziehung der Menschen zueinander begreift und in ‚geistlose‘ und ‚geistreiche‘ Beziehungen unterscheidet. Geist ist da, wo Gemeinschaftsgefühl ist, wo die Menschen sich in ihrer Verbundenheit begreifen und solidarisch handeln. Dabei negiert er jedoch nicht das Individuum an sich, sondern begreift die unterschiedliche und individuelle Wahrnehmung der Welt von jedem Einzelnen – der sich verbunden fühlt – vielmehr als Gewinn. Landauer grenzt sich so zwar von einem liberalen Individualismus als Egoismus ab, bei dem das Ich vor dem Du kommt, nicht jedoch von der Individualität, als Eigenheit eines jeden, die für eine funktionierende anarchistische Gesellschaft unerlässlich ist. So ist das Landauer’sche Ganze eine Gemeinschaft von Individuellen, die sich als ein ganzer Teil und geteiltes Ganzes begreifen und mit ihren jeweiligen Stärken der Gemeinschaft und dadurch schließlich sich selbst zur Freiheit verhelfen.

Revolution: Jeden Tag gestalten

Sicherlich ist es schwierig Landauers Mystik bezüglich des ‚Geistes der Gemeinschaft‘ zu denken, denn die alltägliche Interpretation der Sinnesorgane und insbesondere des Auges ist unerlässlich, insofern wir mit unserer (Lebens)Umwelt interagieren bzw. an einer empirischen Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse festhalten möchten. Vom Raumdenken abzusehen und das Gesehene vor dem Hintergrund eines ‚inneren Vorgehens‘ zu begreifen, fällt schwer, selbst wenn wir in unserer Wortwahl von physiologischen Begriffen strategisch absehen und alles psychisch und „gefühlsinterpretativ“ begreifen. Denn in Landauers Perspektive müßten wir dabei auch noch von unserer je eigenen Individualität absehen, um einer Art kollektivem Gefühl Platz zu machen. Nichtsdestotrotz enthält Landauers Appell einen anderen und durchaus wichtigen Kernaspekt: Das Begreifen der Menschen als Solidargemeinschaft. Sein Anarchismus ist hier im Mindesten so weltfremd oder -nah, wie der klassisch liberale Humanismus, der davon ausgeht, dass die Menschen zueinander gehören und im Grunde der Einzelne sich nur in der ganzen Menschheit vollständig verwirklichen kann. Die Kritiker des Anarchismus klagen ja auch selten die dahinter stehenden Ideale an, sondern vielmehr die fehlende Umsetzbarkeit des Anarchismus, oftmals mit der Begründung, der Mensch könne ohne den Staat nicht friedlich und gemeinschaftlich zusammenleben, da sich die ‚schlechten‘ Aspekte seiner ‚Natur an sich‘ nicht bändigen ließen. Genau an diesem Punkt versucht Landauer ausgehend von humanistischen Grundannahmen einen anderen Weg einzuschlagen. Sein idealer ‚Geist der Gemeinschaft‘ ist (einmal etabliert) in der Lage die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu kultivieren, dass ein Leben ohne Staat und Herrschaft möglich ist, weil die Menschheit im Ganzen dann solidarisch miteinander umgeht und die ‚geistlose‘ staatliche Struktur überflüssig ist. Seine Kritik richtet sich gegen den Staat als allmächtiges Herrschaftsinstrument, das gerade verhindert, dass wir uns als Teil der großen Menschengemeinschaft sehen und stattdessen individuell bzw. national und/oder konfessionell versuchen unser je eigenes Überleben bestmöglich zu sichern, und so konkurrieren statt zu kooperieren. Gäbe es nicht mehr die staatliche Verwaltungsinstanz, die über die Menschen hinweg entscheidet, so fiele es den Menschen leichter, den ‚Bund der Gemeinschaft‘ durch Selbstinitiative in sich zu entdecken und durch kollektive Aktion zu verwirklichen. Damit schließt sich der Kreis zu seiner praktischen Herangehensweise: Weil Landauer eben nicht auf die große Bewusstwerdung abstrakter Massen und die daran anschließende gewalttätige (materielle) Revolution als einmaligem Akt setzt – wie im Marxismus; sondern jedeR Einzelne die Entdeckung der Solidargemeinschaft durch ‚Einkehr in sich selbst‘ jederzeit und an jedem Ort umsetzen kann, hat er auch einen optimistischen Grund für seinen Glauben, dass die entstehenden Kommunen und Gemeinschaften von Leuten erbaut werden, die den ‚Geist der Gemeinschaft‘ für sich entdeckt bzw. in sich kultiviert haben und sich daher vom ‚geistlosen‘ Staat abwenden und trotzdem friedlich zusammenleben können. Landauers Hoffnung zielt zweifelsfrei darauf, dass es irgendwann bei den meisten Menschen zu solch Bewusstwerdung kommt, so dass die staatliche Herrschaft einmal an ihr historisches Ende gelangt. Das geschieht jedoch gerade nicht als Ergebnis eines Gesetzes der Geschichte, das sich listig durch uns hindurch verwirklicht und in dessen Anbetracht wir nur warten können, sondern durch die (theoretische) Einsicht der Einzelnen in ihre ideal-historische Verbundenheit und ihre (praktische) Aktion im Aufbau der kommunalen Gemeinschaften im Hier und Jetzt.

Individuum contra Gemeinschaft?

Zweifelsfrei macht dieser praktisch realistische Ansatz mit dem Vorrang der gegenwärtigen Menschen, die durch ihre Einsichten und Aktionen im Hier und Jetzt sich selbst verwirklichen, auch die Attraktivität von Landauer unter den heutigen libertären DenkerInnen aus. Jedoch ist auch seine theoretische Perspektive im Hinblick auf größere Anerkennung der anarchistischen Theorien nicht uninteressant. Viele PhilosophInnen beschäftigen sich seit Jahrtausenden mit der Frage, wie der Mensch ‚an sich‘, seiner Natur nach – also ohne gesellschaftliche Beeinflussung – ist. Die Antwort auf diese Frage ist zwar nie vollständig, also nur hypothetisch gegeben, verweilt immer auf dem Status eines (historisch) vorläufigen Urteils, trotzdem wurden die angeblichen ‚schlechten Aspekte‘ der Menschennatur immer wieder herausgehoben und als unverbesserlich dargestellt, um damit die Legalität von Staaten mitsamt ihren anwachsenden Gewaltmonopolen zu begründen. Weder die Liberalen und Konservativen, noch die heutigen Sozialisten und viele Kommunisten bestreiten heute noch die Notwendigkeit der staatlichen Verwaltung und naturalisieren damit nicht nur die Herrschaftsverhältnisse, die durch den Staat in Gang gehalten werden, sondern auch einen schlechten Kern der menschlichen Natur.

AnarchistInnen haben dagegen immer auf einem ‚guten Menschenbild‘ beharrt und sind davon ausgegangen, dass ein friedliches, selbstbestimmtes Zusammenleben der Menschen ohne Ordnungsinstanz möglich ist und die Besserstellung des Eigenen auf Kosten des Anderen nicht Teil des ‚schlechten Menschen an sich‘ ist, sondern vielmehr einem Mangel an Kultur, Politik und Bildung entspringt, der durch den Staat nicht vermindert, sondern im Gegenteil aufrecht erhalten wird. Die Begründungen jedoch unterscheiden sich.

Landauer begreift den idealen Bund der Menschengemeinschaft als das wahre Menschliche und sieht die Kultivierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Bewusstwerdung bzw. den Perspektivwechsel jedes Einzelnen verwirklichbar. Einen anderen Ansatz bietet Kropotkin, der als Geologe um die Jahrhundertwende in Russland aktiv war und durch seine Beobachtungen der Tier- und Menschenwelt feststellte, dass es einen natürlichen Trieb unter den Lebewesen gibt, den er „gegenseitige Hilfe“ nannte (3). Damit ergänzte er Darwins Theorie darin, dass der Kampf ums Überleben kein Konkurrenzkampf zwischen den Individuen ist, sondern vielmehr, dass sich Individuen einer Art untereinander helfen (z.B. Vögel beim Winterflug, die einen Pfeil bilden, wobei die Schwächeren im Windschatten der anderen fliegen). Da diese ‚gute Tendenz‘ nach Kropotkin quasi genetisch im Menschen steckt, verweilt seine Begründung zwar auch auf der Ebene einer behaupteten ‚Natur des Menschen‘, dennoch ist der Akzent merklich verschoben. Denn da der Mensch von Natur aus eher gut als schlecht miteinander umgeht, sind die Ursachen für seinen ‚schlechten Umgang‘ eher in der Art der Einrichtung der Verhältnisse zueinander zu suchen, die ihn davon abhalten, die guten Aspekte seiner Natur zur Geltung zu bringen. Demgegenüber versucht Landauer nicht, die ‚gute Natur‘ der Menschen naturwissenschaftlich und genetisch zu begründen, sondern meint, dass die Menschen durch die Kultivierung ihres Geistes, durch die Einsicht des Einzelnen in seine Verbundenheit mit der ganzen Menschheit, befähigt werden gut zu handeln. Ohne in „Vererbungsfallen“ sprachlicher wie biologischer Art zu tappen und staatliche Ordnung zu affirmieren, spricht er dem Menschen dabei die Fähigkeit zu einer gemeinschaftlichen Kultur zu, die die ‚geistlose‘ staatliche Verwaltung durch eine ‚geistreiche‘ Selbstverwaltung ersetzt.

Beide, Kropotkin wie Landauer, schließen dabei jedoch die Individualität nicht aus, im Gegenteil. Denn solidarisches, gemeinschaftliches Handeln wird zur Voraussetzung der individuellen Freiheit, wie das Individuum in seiner Eigenheit sich die Freiheit durch die richtige Einrichtung seiner sozialen Verhältnisse zuallererst verschafft. Die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen stehen im Mittelpunkt einer anarchistischen Theorie, die davon ausgeht, dass sich eine bessere Einrichtung der Welt durch den Ausbau herrschaftsfreier Räume verwirklichen ließe. Die Attraktivität des theoretischen Anarchismus ist für mich also zweiteilig begründbar: Zum einen wegen der Prämisse, die auf ein ‚gutes‘ Menschenbild setzt und daran anschließend eine gesellschaftspolitische Perspektive des gemeinsamen und solidarischen Zusammenlebens ausbuchstabiert; zum anderen wegen des gelungenen Spagats zwischen den individuellen Bedürfnissen, die an erster Stelle stehen und dem gleichzeitig friedlichen und solidarischen Zusammenleben. Die Spannung von Individuum und Gesellschaft wird gelöst durch die Gemeinschaft, die zur Voraussetzung für die wirkliche Freiheit des Individuums wird, ebenso wie sie der individuellen Freiheit für ihren Erhalt weiterhin bedarf. Nicht nur die Freiheit von Zwängen und Herrschaft steht im Mittelpunkt, sondern auch die Freiheit zur Selbstverwirklichung. Beide bilden aber keinen Gegensatz und Widerspruch zueinander, sondern verschmelzen zur Erreichung ihres jeweiligen Ziels. Während der Liberalismus auf einen egoistischen Individualismus setzt, bei dem schwächere Individuen das Nachsehen haben, setzt der orthodoxe Marxismus auf einen kollektiven Zwang zur Vergesellschaftung, der den Bedürfnissen der Einzelnen und ihrer je eigenen Emanzipation nicht gerecht wird. Insofern hat der Anarchismus eine Zwischenposition inne, bei der niemand auf der Strecke bleibt, da sich jedeR individuell und kollektiv verwirklicht. Dass ein Versuch dazu Jetzt und Hier begonnen werden kann, lehrte Landauer, dass dieser lohnenswert ist, der Blick aus dem Fenster.

momo

(1) Gustav Landauer, „Aufruf zum Sozialismus“, hrsg. v. H.-J. Heydorn, Europa Verlag, Frankfurt (M.), Wien, 1967 [1911] bzw. Gustav Landauer, „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“; in: „Gustav Landauer: Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890-1919“, hrsg. v. R. Kauffeldt u. M. Matzigkeit, Boer Verlag, München, 1997 [1900]
(2) Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang nicht auf den Anarcho-Kapitalismus, der als „anarchistische Abart“ zwar gegen staatliche Herrschaft ist, andererseits im Kapitalismus keine Form der Herrschaft entdeckt und auch nicht auf Max Stirner, der zwar seine Kritik am ökonomischen System andeutet, jedoch keine konkreten Anmerkungen zur Überwindung dessen macht und auch sonst Anarchismus ausschließlich mit dem Wohl des einzelnen Individuums assoziiert, ohne Berücksichtigung der Gemeinschaft. Innerhalb der libertären Diskussionen werden beide Ansätze meist ebenso wenig zum Anarchismus gezählt.
(3) Vgl hierzu insbesondere: Pjotr Kropotkin, „Gegenseitige Hilfe“. Trotzdem-Verlag, Grafenau, 1993 [1902]

Exkurs: Die Münchener Räterepublik

Nach der Novemberrevolution und im Zuge der Unruhen um die Ermordung von Kurt Eisner wurde am 7.4. 1919 die Münchener Räterepublik von Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer

ausgerufen. Die Umsetzung der freiheitlich-anarchistischen Vorstellungen war nicht möglich, weil es bereits wenige Tage später zu Putschversuchen seitens der Rechten kam, die von den Rotarmisten niedergeschlagen wurde. Im Zuge dessen setzen die Kommunisten der KPD die Zentralregierung der Räterepublik am 13.4. ab und errichteten die sog. Zweite Münchener Räterepublik unter der Leitung von Eugen Levinè. Enttäuscht von den Kommunisten und nach Ablehnung der Vorschläge Landauers, der als Beauftragter für Volksaufklärung eine Umgestaltung der Volksschulen (Abschaffung der Prügelstrafe, Einführung von Elternräten, Betonung von Kunst und Sport) und Universitäten (z.B. Streichung der juristischen und theologischen Fakultät) vorschlug, trat Landauer nach drei Tagen der zweiten Räterepublik zurück. Am 1.5. wurde diese Republik von Freikorpsverbänden blutig niedergeschlagen, ihre Vertreter wurden verfolgt und verhaftet. Von den Soldaten misshandelt starb Landauer am 2.5.1919 im Gefängnis München-Stadelheim.

Theorie & Praxis

Für eine umfassende Arbeitszeitverkürzung

Die Gesellschaft ist nicht mehr in der Lage, allen Menschen Arbeit zu geben. Die durch die Arbeitslosigkeit drohende Verarmung wird voll und ganz auf die Erwerbslosen abgeschoben. Manager und Funktionäre aus Wirtschaft und Politik überziehen die Arbeitslosen mit einer beispiellosen Verleumdungskampagne. Die Arbeitslosen allein treffe die Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit. Sie seien faul und sollen sich endlich Arbeit suchen. Mit Kürzungen der Arbeitslosen- und Sozialleistungen durch Hartz und Agenda 2010 wie in der BRD sollen sie wieder zur Arbeit getrieben werden. In Wahrheit verschleiern die Manager und Funktionäre hiermit nur ihre tatsächliche Rolle. Die wahre Ursache der sich anbahnenden wirtschaftlichen Katastrophe ist: Die Überproduktion! Trotz ca. 10% Arbeitslosigkeit + 5% Dunkelziffer in Mitteleuropa ist es das größte Problem der Wirtschaft, mit den Bergen an Überproduktion fertig zu werden. Jeder weiß von den Butter-, Käse-, Fleisch- und Obstbergen oder den Weinseen, die jährlich vernichtet werden. Die Bauern erhalten inzwischen sogar so etwas wie einen Grundlohn für die Nichtbestellung ihrer Felder, wobei die Stillegung der Agrarflächen mit einem riesigen Aufwand über Satellit überwacht wird.

Warum müssen wir trotzdem immer länger arbeiten?

Die Ursache liegt in den Mechanismen der Marktwirtschaft begründet. Der Preis jeder Ware wird durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt und menschliche Arbeit ist heute nichts weiter als eine Ware. Arbeitskräfte sind weltweit im Überfluß vorhanden, weshalb überall ein Preisverfall für Arbeit zu beobachten ist. Lebensmittel und industrielle Güter werden hingegen durch die Vernichtung der Überproduktion oder durch Massenarbeitslosigkeit künstlich verknappt. Hiermit werden die Preise für Lebensmittel und industrielle Güter hoch gehalten. So kommt es, das wir bei sinkenden Löhnen zur Bestreitung unserer steigenden Lebenshaltungskosten immer länger arbeiten müssen. Deshalb werden bei steigender Arbeitslosigkeit immer weniger immer mehr arbeiten müssen.

Wer hat ein Interesse an langen Arbeitszeiten?

Für die Unternehmen ist die menschliche Arbeitskraft lediglich eine Ware, die als Produktionsfaktor wie ein beliebiger Rohstoff behandelt wird. Hiermit sind lange Arbeitszeiten lediglich eine Folge der billig gehaltenen Lohnarbeit, wobei beide Faktoren das Überangebot an Arbeitskräften und damit die Arbeitslosigkeit weiter verschärfen. Daß sich die Politik jetzt zur Überwindung der Arbeitslosigkeit an die Unternehmen wendet, ist in dieser Hinsicht nur noch blanker Zynismus. Maßnahmen wie die Agenda 2010 in der BRD sind mit dieser Sicht nur noch ein scheinheiliger Verrat der Politiker an der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Ziel ist, per Gesetz das Einkommen der Arbeitnehmer im Sinne der Unternehmen auf 65% des jetzigen Wertes zu drücken. Zukünftig muß jeder nach 6 Monaten Arbeitslosigkeit einen Job auf dem Niveau von 65% seines letzten Monatsgehaltes annehmen, da sonst seine Bezüge gestrichen werden. In diesem Zusammenhang sollen die Kürzungen der Arbeitslosen- und Sozialleistungen einen gnadenlosen Kampf um die verbliebenen Arbeitsplätze durch Lohndumping entfesseln. Bezweckt wird ein beispielloser Preisverfall für menschliche Arbeitskraft. Denn durch die Kürzungen sind die Menschen zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes gezwungen, um die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze zu konkurrieren. Und im Juli 2004 standen den 4.359.000 Erwerbslosen in der BRD gerade mal 296.600 offene Stellen gegenüber.

Weltweite Lösungen sind nötig!

Zum Zweck der eigenen Gewinnvergrößerung schüren multinationale Unternehmen die Wut auf Randgruppen der Gesellschaft oder ausländische Mitbewohner. In allen Staaten heißt es, die Ausländer nähmen die Arbeitsplätze weg. Die Menschen der verschiedensten Nationen müssen sich anhören, daß sie immer noch billiger arbeiten müssen. Weltweit findet ein Wettlauf bei den Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen als Reaktion der Kürzungen in den reichen Industrienationen statt. Denn alle wollen durch niedrigere Lohnkosten für multinationale Unternehmen attraktive Bedingungen und Arbeitsplätze im eigenen Land schaffen. Doch für gut organisierte Konzerne, wie etwa der Maschinen- und Anlagenbauriese Asea Brown Boveri (ABB), gehört es in der Zwischenzeit zum Standard, im Bedarfsfall die Herstellung jedes Produktes oder Einzelteils binnen weniger Tage von einem Land ins andere zu verlegen. Ein Widerstand kann also nur auf internationaler Ebene mit der Überwindung aller nationalen und ethnischen Grenzen Erfolg haben. Alles andere führt in die Sklaverei.

Schluss mit dem Unsinn!

Wir fordern das Ende der Vernichtung der Überproduktion und die kostenlose Freigabe derselben an die Bevölkerung, denn die Produktion dieser Waren wurde überwiegend über unsere Steuergelder bezahlt. Sie gehören uns allen. Zukünftig soll die Produktion auf die Bedürfnisse der Menschen hin erfolgen. Unter Einbeziehung des 15%-igen Arbeitslosenpotentials sollen alle Menschen, die arbeitsfähig und arbeitswillig sind, wieder mitarbeiten dürfen. Von der entstehenden Überproduktion sollen sich alle kostenfrei bedienen. Sollte sich aus der zu erwartenden Überproduktion ergeben, daß Geld als Tauschmittel unnötig und überflüssig wird, so fordern wir auch dessen Abschaffung. Wir müssen nur bereit sein, Produktion und Verteilung weltweit nach den Bedürfnissen der Menschen zu organisieren. Wohlstand und Bildung könnten zum Menschenrecht erklärt werden und die Menschen könnten bei einer am Bedarf orientierten Produktion darüber nachdenken, wieviel der heutigen Lohnarbeit tatsächlich sinnvoll ist und wie die Arbeitszeit umfassend verkürzt werden kann.

Wieviel Arbeit wird mit dem Ende von Geld- und Warenwirtschaft übrigbleiben?

Wie kann der güterwirtschaftliche Gegenwert der Lohnarbeit exemplarisch am Beispiel der BRD bestimmt werden? Schon die Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch von 1988 zeigten die geringe Menge der notwendigen Arbeit, die auch heute für den von uns gewohnten Luxus und Lebensstandard ausreichen wird. Die notwendige Arbeit umfaßt hier die Sozialleistungen, Produktions- und Verteilungsarbeiten. Zum Sozialwesen gehören u.a. die Bereiche: Gesundheits- und Veterinärwesen, Reinigung usw. Zur Produktion gehören: Land- und Forstwirtschaft, Tierhaltung und Fischerei; Energie- und Wasserversorgung sowie Bergbau (Arbeiter); Verarbeitendes Gewerbe (Arbeiter); Baugewerbe; Angestellte aus Energie- und Wasserversorgung sowie dem Verarbeitenden Gewerbe. Das sind Meister, Techniker, Ingenieure sowie die Angestellten, die zur Arbeitsorganisation notwendig sind. Zur Verteilung gehören: Verkehr und Nachrichtenübermittlung. Mit den Erwerbstätigenzahlen aus dem Statistischen Jahrbuch zu den aufgezählten Wirtschaftsbereichen kommen wir auf etwa 18 Stunden pro Woche.

Diese 18 Stunden klingen zwar schon recht gut, aber mehr als ein Anfang sind sie nicht, denn auch die Lebensdauer unserer Gebrauchsgüter ließe sich mit Leichtigkeit um ein Vielfaches erhöhen. Es liegt nahe, daß dies gerade die Menschen einer herrschaftsfreien Gesellschaft tun werden, weil sie ihre Güter für ihren eigenen Bedarf herstellen. Denn kein Mensch besitzt ein Interesse, für den Schrottplatz zu produzieren. In der heutigen Konsumgesellschaft hingegen werden zur Aufrechterhaltung des Waren-Geld-Kreislaufes selbst die Gebrauchsgüter auf die Ebene der Verbrauchsgüter abgestuft. Ihre Lebensdauer wird erheblich verringert, indem entweder bewußt Sollbruchstellen eingebaut oder Fertigungstechniken nicht verwandt werden, die ihre Lebensdauer erheblich verlängern würden. Folgende Beispiele:

1. Glühbirnen. Ihre Lebensdauer kann auf ein Menschenalter ausgedehnt werden.

2. Glas. Es wird schlagfest durch langsames Abkühlen.

3. Autos. Eine Fahrzeugkarosserie aus rostfreiem Blech hält mindestens 200 Jahre.

Aus der Langlebigkeit der Gebrauchsgüter folgt, weniger Güter müssen hergestellt werden. Das heißt: weniger Fabriken; weniger Rohstoffverbrauch; weniger Arbeit.

Weiter könnte durch die gezielte Verwendung von Mischtechniken z.B. die Lebensdauer von Explosionsmotoren auf etwa 150 Jahre ausgedehnt werden. Verwenden wir nun Wasserstoff als Energieträger, so können wir auch die umweltfreundlichen Wasserstoffmotoren in unseren Autos oder in unseren Kraftwerken zur Gewinnung der Elektrischen Energie einsetzen. Wasserstoff kann in den Wüsten der Erde in Wind-, Aufwind- und Sonnenkraftwerken gewonnen werden. Wasserstoff als Energieträger steht uns also in unbegrenzten Mengen zur Verfügung, womit wir auch das heutige Energieproblem gelöst haben. Das heißt, daß wir nicht nur weniger arbeiten, sondern auch auf dem besten Wege sind, unsere Umweltprobleme zu lösen. Und zwar mit einer etwa 12 Stunden umfassenden Arbeitswoche bei erheblich besseren Arbeitsbedingungen für jeden von uns, wenn wir die Produktion auf die Langlebigkeit der Gebrauchsgüter ausrichten.

Gehen wir davon aus, daß sich die Mitglieder einer herrschaftsfreien Gesellschaft von den von ihnen gemeinsam hergestellten Gütern nach ihren materiellen Bedürfnissen befriedigen – und daß die durchschnittliche Arbeitsmenge um 3/4 sinken wird, dann entfällt praktisch die Rush-Hour. Denn jeder wird da arbeiten, wo er wohnt und nicht mehr längere Fahrwege für eine besser bezahlte Arbeit in Kauf nehmen. Das heißt, die langen Fahrwege zur Arbeit werden entfallen.

Aber nicht nur die langen Arbeitswege, sondern auch die heutige Urlaubsindustrie wird entfallen. Denn wenn die Arbeitsmenge auf 1/4 des heutigen Wertes sinkt, werden die Menschen in Ruhe das Land bereisen und dort verweilen und mitarbeiten, wo es ihnen gefällt. Das heißt, wenn sie das wollen. Insgesamt bedeutet der Wegfall der Rush-Hour und der Urlaubsindustrie:

==> Weniger Transportmittel,

==> weniger Fabriken,

==> weniger Straßen und somit

==> weniger Arbeit,

wobei unter diesen Gesellschaftsbedingungen nach unseren Berechnungen nur noch 10 Stunden pro Woche gearbeitet wird.

Auf die Rohstoffeinsparungen, den Umweltschutz und die Steigerung der Lebensqualität brauchen wir an dieser Stelle wohl nicht in besonderem Maße hinweisen. Die Folgen unserer bisherigen Überlegungen für die Energiewirtschaft liegen klar auf der Hand: Langlebige Güter, Einsparungen bei den Transportmitteln, weniger Straßen, weniger Fabriken sowie Energieeinsparungen in den Haushalten und bei anderen Kleinverbrauchern bedeuten weniger Energieverbrauch und somit weniger Arbeit in der Energiewirtschaft. Insgesamt bedeutet dies mit den Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch, daß ca. 9 Stunden pro Woche gearbeitet wird.

Berücksichtigen wir, daß in der alten BRD von 61,5 Mio. Menschen nur 30 Mio. zum Erwerbstätigenpotential gehören. Viele Nichterwerbstätige würden liebend gern 10 Stunden pro Woche arbeiten, um ihrem Leben wieder einen Inhalt und ein Ziel zu geben. Mit ihnen werden 41,8 Mio. Menschen erwerbstätig sein. Das sind 2/3 der Bevölkerung der alten BRD, wobei nun jeder der 41,8 Mio. Erwerbstätigen nur noch 7 Stunden pro Woche arbeiten darf.

Beziehen wir nun die Möglichkeit der Vollautomatisierung mit ein, so stehen jedem von uns nur noch etwa 5 Stunden Arbeit pro Woche zu. Eine derartig niedrige Wochenarbeitszeit wird eine tiefgreifende Gesellschaftsumwälzung hervorrufen, in der unser Verhältnis zur Arbeit und zum Menschen einer grundlegenden Veränderung unterworfen ist. Spätestens mit 5 Stunden Arbeit pro Woche verliert die Arbeit ihre Zwanghaftigkeit. Unsere angeborene Ruhe- und Rastlosigkeit wird uns antreiben, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die Spaß machen. An diesem Punkt angelangt, ist zu erwarten, daß die Arbeit in einer herrschaftsfreien Gesellschaft allein aus dem Bedürfnis des Menschen nach einer sinnvollen Tätigkeit erledigt und sie deshalb nicht mehr als Arbeit empfunden wird. Hiermit haben wir die Null-Stunden-Woche erreicht.

Darwin Dante

darwin_dante@hotmail.com

Ausführlicher im Internet: www.5-stunden-woche.de

soziale utopie

»Tant de bruit pour une omelette!«

„Viel Lärm um nichts!“

Notwendige Vorbemerkungen

‚Au Backe‘ mag der ein oder die andere Feierabend!-RedakteurIn gedacht haben, als uns ein interner (nicht zur Veröffentlichung freigegebener) Brief von „Falco (aus dem conne island)“ erreichte. ‚Wir sollen uns von dem Artikel aus der FA!#14 „Zum Antideutschen Kommunismus“ S. 20-25 distanzieren.‘ Das gab es in über zwei Jahren Redaktionsarbeit noch nicht! Die Vorwürfe gegen unseren Autor v.sc.d. waren hart und scharf. Bis hin zum Antisemitismus! Wir sind noch einmal in Klausur gegangen und haben uns intensiv und ernsthaft damit auseinandergesetzt. Schließlich war unsere Absicht, eine Position neben und in kritischer Differenz zu den diversen kursierenden antideutschen Positionen aufzubauen, und das besondere Anliegen des Autors bestand darin, das unerträglich gewordene Schweigen über dieses Thema (auch persönlich) zu durchbrechen. Nicht jedoch hatten wir die Intention, in Konfrontation zu Leipziger Projekten wie dem conne island zu gehen oder auch Involvierte zu beleidigen. Nun müssen wir eingestehen, daß Sache und Anliegen in dem veröffentlichten Text durch den persönlichen Gehalt und die teilweise starke Polemik überdeckt wurden, das war uns im Vorfeld nicht so bewußt gewesen. Auch haben sich Fehler im Ausdruck eingeschlichen (Korrekturen s. www.feierabend.net.tc) und einige Passagen sind unglücklich argumentiert. Aber auch wenn es zu einzelnen Punkten des Artikels Kontroversen und Kritik innerhalb der Redaktion gegeben hat; was die inhaltliche Ausrichtung des Textes angeht, stehen wir auch jetzt voll vor und hinter unserem Autor v.sc.d und weisen jeden Vorwurf des Antisemitismus bzw. die Behauptung einer wie auch immer gearteten „rechten“ Denkweise entschieden zurück. Wir halten grundsätzlich an unserer antinationalen Position fest – in dem Sinne sind wir genauso antizionistisch wie antideutsch – und teilen nicht das historische Urteil, mit dem antideutsche Ideologeme operieren, allein die Existenz des Staates Israel wäre Indiz der Möglichkeit antikapitalistischer Emanzipation. Darüber hinaus wenden wir uns gegen die unkritischen Feindbildkonstruktionen diverser antideutscher Positionen, deren hauptsächlicher Mangel in ihrem fehlenden Differenzierungsvermögen besteht. Wir halten darüber hinaus auch nichts von Diskursen – von denen es ja mehr als genug gibt – die auf Grundlage staatlichen Handelns argumentieren und damit staatliche Gewalt und nationale Konstrukte legitimieren. Die Reaktionen auf eine Veröffentlichung zu diesem Thema, auch von anderer Seite, geben uns schließlich darin recht, daß das Thema auf den Tisch gehört. Für unsere redaktionelle Arbeit bedeutet das ganz selbstkritisch auch, daß wir uns nicht länger mit einer ignoranten Haltung demgegenüber zufriedengeben können. Deshalb haben wir uns nach langem Überlegen entschieden, in dieser Ausgabe einen Text abzudrucken, der Appetit machen soll auf eine neuerschienene Publikation des Unrast-Verlages („Wir waren die Antideutschesten der deutschen Linken“ ISBN: 3-89771-432-9). Die dort geführte, umfassende, inhaltliche und geschichtliche Auseinandersetzung mit dem deutschen „Antideutschtum“ bietet einen systematischen Einstieg in das Thema und ist deshalb nur zu empfehlen. Eine andere, an uns heran­getragende Leserkritik des in FA!´#14 veröffentlichten Artikels findet sich auf unserer Homepage.

Einen heißen Kopf und viel Vergnügen beim Lesen

Die Redaktion

Es gibt genug Gründe, gegen Deutschland, ja regelrecht anti-deutsch zu sein: da wäre zuallererst das unabgegoltene Ge­schichtsverbrechen, das den Namen Ausch­witz trägt. Die For­mierungs­leis­tungen des barbarischen Nationalsozialismus haben sich in die BRD-Leistungsgesellschaft eingeschrieben und noch heute manifestieren sie sich unter anderem in dem niedrigen Streik- und Rebellionsniveau im Standort Deutsch­land. Wie zur Unterstreichung dieses Zustands machen sich immer wieder so nationalistische wie klassenübergreifende »Die Deutschen als Opfer«-Diskurse breit – die letzten Jahre beispielsweise in den historischen Kon­junktur­themen »Vertreibung« und »Bom­ben­nächten«. Zu dieser Tendenz in der zukunftsweisenden »Vergangenheitspolitik« gesellte sich jüngst noch die Adelung der Reform-Nazis vom 20.Juli zu Widerstandskämpfern – obwohl »Widerstand« in Deutschland ohnehin einem Fremdwort gleichzukommen scheint. Alles gute Gründe, anti-deutsch zu sein. Selbst eine globalisierte Welt verlangt nicht unbedingt die Aufgabe anti-deutscher Positionen. So kann der im Islamismus sich ausdrückende Antisemitismus berechtigten Deutsch­land­hass bei all denjenigen hervorrufen, die die historischen Verbindungslinien von deutscher (Au­ßen)Politik und Djihadismus kennen, ebenso bei denen, die die Begeisterung heutiger Djihadisten für »Deutschland« und vor allem für seine mörderische antisemitische Geschichte anekelt. In ihren positivsten Momenten war die alte und neue Linke – vor und nach dem NS und bei allen sonstigen Irrtümern – anti-deutsch: Wilhelm Weitling, Bakunin, Franz Pfem­fert mochten Deutschland nicht und auch einige Aktionen des SDS zeugten von einem guten Riecher für die postfaschistischen deutschen Verhältnisse. Aber um heutzutage als »antideutsch« zu gelten, muss man zuallererst Fahnen hissen, man muss bedingungslose Solidarität mit Scharon und dem Staat Israel üben, Befreiung an US-amerikanische Konservative delegieren und ohnehin Front machen gegen einen als »deutsch« apostrophierten »barbarischen Antikapitalismus« – dieser droht überall dort sein Haupt zu erheben, wo sich irgendetwas »von unten« artikuliert, wogegen man beim heutigen Hegemon des kapitalistischen Weltsystems Zuflucht nehmen soll. Zu guter Letzt artikuliert sich laut antideutscher Sicht der Dinge in Kapitalis­muskritik und Solidari­täts­be­dürf­nissen nur die Sehnsucht von völkischen Herdentieren. Vereinzelt euch, seid stark, individualistisch und konsumis­tisch, damit auch ihr euch nicht zum deutschen Volksgenossen eignet, lautet das neue antideutsche Motto.

Schaut man sich maßgebliche Teile der deutschen Linken an, liest man ihre Organe und Publikationen, drängt sich so die sicherlich von verzweifeltem Identifi­zie­rungs­wunsch getragene Frage auf: »Ist das noch links?«. Die wichtigen Themen der historischen Linken, wie Ungleichheit, Herrschaft, Ausbeutung, Krieg finden mittlerweile durch Publizisten, Autoren und Ak­tivis­ten, die sich als »links« begreifen, eine ganz andere Beantwortung als erwartet. Nun war der Begriff »links« schon immer ein schillernder, und nicht umsonst lehnen in anderen Ländern radikale aus­beutungs- und herrschaftskritische Aktivisten und Theo­retikerinnen die Bezeichnung »links« ab, weil sie zu sehr an eine parlamentarische und staatliche Tradition gebunden ist. Die­se Tradition des Linksradikalismus, die immer in Opposition zur Sozialdemokratie, zum Realsozialismus und zum Arbeit und Staat­lichkeit affirmierenden Sozialismus stand, ist im deutsch­sprachigen Raum verschüttet und viele Verwirrungen der heutigen, meist aus dem ein oder anderen dogmatischen Fundus schöpfenden Linken wurzeln genau darin.

Unmittelbar mit der Existenz »der Linken« war »die Kritik« verknüpft – affirmativ, das sind die andern. In der deutschen Mainstream-Gesellschaft ist nach wie vor eine historische Tradition vorherrschend, die radikale Kritik als zersetzend diffamiert und alles und jeden auf unbedingte Konstruktivität verpflichten will. So ist ebenfalls die Geschichte der deutschen Linken geprägt vom Konformitäts- und Konstruktivitätszwang. Gerade deshalb ist die Bedeutung der Kritischen Theorie und ihre Entdeckung durch die bundesrepublikanische Revoltebewegung um 68 nicht zu unterschätzen. Da sich radikale Kritik in Deutschland auch auf Grund der post-faschistischen Zustände nicht mit dem historischen Subjekt verknüpfen konnte, geriet sie jedoch des Öfteren zur »kritischen Kritik« (Marx) und zur reinen Selbstbespiegelung vermeintlich kritischer Geister. Den Umstand vor Augen, dass eine fundamentale Umwälzung der Verhältnisse in weite Ferne gerückt zu sein scheint, radikalisierte sich diese Haltung zum distanzierenden Habitus, und Kritik wurde gleichbedeutend mit Denunziation und Polemik. Doch so sehr die innerlinke Diskussion von dieser Schein-Kritik geprägt ist, so sehr fällt ins Auge, wie affirmativ sich Positionen mancher Linker – gerade der antideutschen – ausnehmen, wenn es um welthistorische Ereignisse geht. Selbstkritik war noch nie die Stärke deutscher Linker. Das Versinken in Selbstmitleid übernahm für die meisten Linken die Stelle, die Selbstkritik einnehmen sollte, denn sie hatten Selbstkritik nur als stalinistischen Exhibitionismus und Selbstverleugnung kennen gelernt. In dem Erfahrungsbericht ehemaliger K-Grüppler »Wir warn die stärkste der Parteien…«, 1977 im Berliner Rotbuch Verlag erschien, findet sich larmoyantes Wundenlecken von Individuen, die ihre Individualität in solchen sek­tenartigen Gruppierungen zugunsten einer festen Gruppenidentität eintauschen wollten. »Die Linke« war nicht nur in Form der K-Gruppen oftmals ein obskures Unterfangen und ist es noch. Viele heutige antideutsche Positionen versuchen sich daran, diese Fehler unter Druck und mit sehr viel Hitze auszubügeln.

Statt Selbstmitleid herrscht bei älteren anti­deutschen Semestern aggressiver Zynismus vor, der erstaunlicherweise auch unter jugendlichen Antideutschen Anklang findet und Nachahmungsverhalten hervorruft. Besonders in dieser Hinsicht ist das Antideutschen-Phänomen ein Phänomen aggressiver Verdrängung von An­pas­­sungsleistungen. Welche Befreiung muss es für ehemalige Dritt-Welt-Aktivisten sein, das schlechte Gewissen wegen der viel zitierten »privilegierten« Metro­po­len­existenz und die schlechte Verdauung dank Sandino-Dröh­nung gleichermaßen hinter sich zu lassen, um ganz »antideutsch«-lustvoll in der Debatte über linke Kriegs- und USA-Begeisterung zu gestehen: ich würde auch lieber in New York als in Bagdad leben. Wer von Antideutsch-Sein redet, kann folglich vom kapitalistischen Weltsystem schweigen. Das passt gut zusammen mit dem beispiellosen Idealismus vieler neuer linker De­batten. Egal was empirisch-praktisch passiert, nicht nur antideutsche Autoren sehen immer idea­le, übergeschichtliche Prinzipien am Werk. Genau diesen Idealismus, diese »Illusion der Ideologen« nahm Marx in der »Deutschen Ideologie« auseinan­der und beschreibt das unkritische Verfahren fol­gender-maßen: »Man muß die Gedanken der aus empirischen Gründen, unter empirischen Bedingungen und als materielle Individuen Herrschenden von diesen Herrschenden trennen und somit die Herrschaft von Gedanken oder Illusionen in der Geschichte anerkennen.« Wie im Brennglas kommen im »antideutschen Syndrom«, das sich seit einigen Jahren in­nerhalb der deutschen Linken breit macht, diese ganzen Schwächen der deutschen Linken zusammen: der germanische Nonsens, wonach Geist, Idee und Bewusstsein die treibenden Kräfte in der Geschichte sind, das Fehlen bzw. Abreißen einer undogma­tischen, antiautoritären Theorie- und Praxis­tradition in Deutsch­land eben­so, wie die zur reinen diskursiven Machtpolitik sich steigernde Polemik und »Kritik«, die sich in immer absurderen, Wirk­lich­keits­abstinenz übenden Selbst­über­bie­tungs­ritualen gefällt. Die Unfähigkeit zur aufhebenden Selbstkritik linker Irrtümer verbindet sich mit der Aufgabe von Herrschafts- und Kapi­ta­lis­muskritik und endet in der Affirmation der bestehenden globalen Verhältnisse.

Lohnt es sich wirklich, in Zeiten der verschärften Restrukturierung der kapitalistischen Ausbeutung auf eine Gruppe linker oder wahlweise: ehemals linker Autoren und Autorinnen einzugehen, die man durchaus ignorieren könnte? Wären es nur die wenigen antideutschen Publizisten, die in der Freiburger Gruppe ISF und der Ber­liner Zeitschrift Bahamas sich heimisch fühlen, könnte man so verfahren. Auch scheint die Zeit so langsam zu Ende zu gehen, in der ein großer Teil der publizistischen deutschen Linken mit einem nach Berlin oder Freiburg schielenden Au­ge ihre vermeintlich in gesellschaftskri­tischer Absicht verfassten Texte schreibt.

Einige winken ohnehin ab und wollen »die Antideutschen« nur als Teil einer sub­kulturellen Jugendbewegung behandelt wissen. Demnach lägen die »Antideut­schen« in einem internationalen Trend: dem Abdriften ehemals links kodierter Jugend- und Subkulturszenen nach rechts. So findet man in den USA »conser­vative punks«, die für Bush und den »war on terrorism« votieren und die vermeintliche »links-liberale Vorherrschaft« in ihrer Szene wie in der Mehr­heits­gesellschaft attackieren. Auch die adoleszente Selbstins­ze­nierung vieler antideutscher Wortführer scheint darauf hinzudeuten, dass es sich lediglich um ein Phänomen der vom Feuille­ton diagnostizierten jugendlichen Spaßgesellschaft handelt.

Doch diese Zuweisung scheint zu verkürzt zu sein. Wenn ehemalige Antideutsche wie der Publizist Jürgen Elsässer, der Mitte der 90er Jahre noch Luxusleben, Hedonismus, A-Nationalismus und Wilhelm Reich propagierte, heutzutage wieder Antiamerikanismus, Souveränismus, Populismus und hemd­särmeliges Gewerkschaftlertum hoch­­halten, dann lässt sich das nicht nur mit der Beliebigkeit und Durchlässigkeit jugendlicher Subkultur-Szenen erklären, zumal es sich bei solchen Protagonisten auch um ältere Semester handelt. Ebenso wären die nach rechts driftenden, sich antideutsch definierenden Antifa-Gruppen, die den Antifaschismus jeglicher sozialer und subversiver Dimension entkleiden, zwar ein Ärgernis, aber keine eigene Abhandlung wert, dies müsste vielmehr als Fußnote in einer Untersuchung der seit der Volksfront-Politik erfolgten staatlichen Pazifizierung des Antifaschismus erfolgen. Doch hier deutet sich am ehesten das tie­fer­liegende Problem an. Die honestly con­cerned vorgetragenen anti­deut­­schen Positionen der Antifa- und Ver­gan­genheits­po­li­tik-Linken haben jegliche Verbindung zum Linksradikalismus, zur radikalen Aus­beutungs- und Herr­schafts­kritik gekappt. Immerhin stellen die Antideut­schen zusammen mit der Regierungslinken von Rot-Grün die erste Generation nach 1945 dar, die den Krieg wieder unter der politisch korrekten Fahne des Antifaschismus hoffähig machen wollte – Joschka Fischer und Co. 1999 in Jugoslawien, die Antideutschen 1991 und 2003 im Irak, 2001 in Afghanistan. Dem ehemaligen »Vordenker der Antideut­schen« und heutigen launischen Kritiker dieses Phänomens Wolf­gang Pohrt ist nämlich durchaus Recht zu geben, wenn er auf die Frage »Wer sind die überhaupt, diese Antideutschen?« die Antwort gibt: »Vielleicht alle und die Regierung vornedran.« Tatsächlich ist das, was sich in der Linken als radikale Kritik aufspreizt, viel mehr Teil des Mainstream, als man denkt. Gemein!, ruft der Antideutsche und erinnert an die alleinige Frontstellung seines Grüppchens im friedensbewegten Deutschland vor und zur Zeit des Golfkrieges 2003. Wir waren und sind es doch: eine radikale kleine Minderheit! Doch auch die lautstark verkündete Negation bleibt ihrem Gegenstand verhaftet, wie der Satanist Kirche und Gott. Ähnlich verhält es sich mit der Antifriedensbewegungsemphase der Anti­deutschen und ihrer Anrufung der free­dom and democracy bringenden USA. Um die so pazifistischen wie harmlosen Schüler, Lehrer und Pfaffen zu erschrecken, schlüpfte man in die böse Kutte des kriegerischen Belzebubs. Generell sind die Antideutschen ein Syndrom weit verbreiteter Ge­schichtslosigkeit und -ver­gessen­heit innerhalb der Linken. Die Ge­schichts­losigkeit der Antideut­schen kommt gerade in ihrem Kokettieren mit belli­zistischen Positionen und dem Krieg selbst zum Ausdruck. Zwischen Fried­rich Ebert und Rosa Luxemburg verlief die Grenze in der Zustimmung zu und dem Sich-Beugen vor imperialistischer oder kapitalistischer Kriegslogik. Diese Auseinandersetzung sollte sich zwischen den Rechtsbolschewiki und den linken Kommunisten und Sozialrevolutionären in Russ­land wiederholen. Und im Spanischen Bürgerkrieg spitzte sich diese Frontstellung auf die Alternative revolutionärer Kampf oder antifaschistisch-republikanischer Krieg zu. Ist bei den Antideut­schen die Waffe der Kritik zum intellektuellen Querschläger verkommen, so ist ihre Position zu der »Kritik der Waffen« ähnlich verquer. Niemand, der ernsthaft eine radikale Befreiungsperspektive und eine Aufhebung der Verhältnisse anstrebt, kann die Frage der Gewalt mit pazifistischen, frommen Sprüchen beantworten. Doch in den antideutschen Kriegs- und Gewaltphantasien ist die letzten Endes auf den Staat bezogene Kritik des Gewaltmonopols und des Militarismus zum Erlöschen gebracht worden. Mit den Antideutschen steht nicht so sehr »die Linke« auf dem Spiel, die hat schon so einige weitaus folgenschwerere Phänomene hervorgebracht. Kommunisten kennen keine Monster, sie sollten es zumindest nicht, und an einem »Feindbild Antideutsche« kann niemand ein Interesse haben, der die Kritik voranbringen will. Aber die Dumm­­heit auf hohem Niveau, die das antideutsche Ärgernis darstellt, ist Ausdruck eines Verfalls kritischen Denkens im Namen der Kritik. Will von links wieder eine radikale Herrschafts- und Ausbeu­tungskritik formuliert werden, muss zuerst der antideutsche Scheinradikalismus als solcher erkannt werden. […]

Gerhard Hanloser, Freiburg im Breisgau, im Spätsommer 2004

Theorie & …

Eduard Bernstein vs. Rosa Luxemburg

Zum Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie

Der Streit um die revisionistischen und letztlich national-(republikanischen) Strömungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, wie ihn Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg um die Jahrhundertwende in idealtypischer Weise austragen, ist nicht nur exemplarisch für viele politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, er ist ein Zeichen des allgemein vertieften politischen Bewußtseins damals.

Die sozialdemokratische Politik erweist sich als durch ihre eigene Geschichte unbelehrbar, wenn sie wie zum Beginn des letzten Jahrhunderts heute wieder auf die Nationalisierung politischen Be­wußtseins als Krisenbewältigung setzt und damit das Erstarken der neuen Rech­ten fördert. Der Revisionismus bzw. die Revision der sozialrevolutionären Perspektive erscheint aus dieser Sicht als ent­schei­dender Indikator der falschen Politik sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Bewegung. Insoweit beweist sich auch erneut die Bedeutung und Aktualität des Marxschen Denkens und seiner politischen Kritik.

Die sozialdemokratische Frage nämlich, wie die sozialen Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft, der Antagonismus der Klassen, aufgelöst werden könnte: durch Reform oder Revolution, verweist dabei auf eine spezifisch moderne Verfassung (Form) politischer Macht: den repräsentativen Parlamentarismus, der gegenüber dem Konstitutionalismus und Mo­narchismus mit der Moderne immer mehr an Bedeutung gewann. Um es mit Rosa Luxemburgs Worten auszudrücken, „… indem ihr [der Sozialdemokratie] der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung der Zweck ist.“, ist die sozialdemokratische Politik als außerparlamentarische noch greifbar und in der Lage sozialpolitische Akteure auch jenseits des Nationalstaates vorzustellen. Durch den sich ausbreitenden Revisionismus jedoch, der in engem Zusammenhang mit dem sich verstärkenden Nationalismus in allen modernen Industriestaaten steht, beschränkt sich die sozialdemokratische Vorstellung politischer Macht und Machtübernahme bald auf die Frak­tions­arbeit im nationalen Mehrparteiensystem, damit aber auch gleichzeitig die Organisierung der proletarischen Klasse auf nationale und nationalistische Parteikultur. Der politische Arm, die Partei, das Mittel der sozialistischen Bewegung degenerierte unter diesem Einfluß zum Selbstzweck auf nationalem Niveau. Demzufolge stimmte die SPD 1914 für die Kriegskredite und damit für den wahnwitzigen Überfallkrieg des deutsch-preußischen Junkertums, in manchen deutschen Geschichtsbüchern mystifizierend unter „Schliefenplan“ bekannt, und wurde so zum Mitverantwortlichen des Ersten Weltkrieges. Dabei hätte auf den ersten Blick ein Generalstreik der damals massenhaft organisierten und politisierten deutschen Arbeiterschaft den Kriegsausbruch noch verhindern können. Auf den zweiten Blick wird allerdings klar, dass die sozialdemokratische Bewegung (ihr proletarisches Bewusstsein) bzw. die von den parlamentarischen Sozialdemokraten Mobi­lisier­baren schon soweit vom Nationalismus durchdrungen waren, dass sie ihre Ängste im Nationalstolz erstickten und kriegsbejubelnd in den Tod zogen. Auch als Folge des Revisionismus und seiner agitatorischen Wirkung.

Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“ Rosa Luxemburg, 1899 [1]

Was Rosa Luxemburg 1899 auf Grundlage des (theoretischen Teils) des Erfurter Programms von 1891 [3] noch gegen Bernstein verteidigt, die politische Machtübernahme und soziale Umwälzung durch die organisierte Arbeiterschaft, wobei die Übernahme des nationalen Staatsapparats als ein bloßes Mittel unter mehreren erscheint, ist sie 1914 reine Makulatur. Und es fragt sich warum Luxemburg und andere sich überhaupt damals dem Fraktionszwang unterwarfen und erst später aus der SPD austraten.[4] Als Scheidemann dann nach Kriegsende 1918 schnell die Deutsche Republik und ihren neuen Kanzler Ebert ausrufen lässt, hat sich die neuformierte SPD endgültig klar gegen jede sozialrevolutionäre These, gegen jedwede Bewegung dieser Art positioniert, den Revisionismus vollzogen und auf den Nationalismus durchs Parlament eingestellt – ein erster, kräftiger Selbst­erhaltungsreflex der parteiinternen Institutionen.

Derweil die Parteiführung dann in den Zwanzigern die sogenannten „Weimarer Verhältnisse“ mit- und missgestaltet, brodelt der Nationalismus in den sozialdemokratisch beeinflussten Milieus weiter. Als die von der SPD geführte große Koalition 1930 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 zerbricht, wird vielen Sozialdemokraten erst langsam bewusst, welche tiefen Gräben mittlerweile zwischen Theorie, nationaler Parteipolitik und politischer Bewegung geraten waren. Die nationalsozialistischen und faschistischen Tendenzen hatten längst weite Teile des proletarischen und des bürgerlichen Bewusstseins erfasst. Die NSDAP sagte 1933, nachdem sie mit dem deutschen Parlament alle Macht des zentralisierten Staatsapparats in den Händen hielt, nicht einmal mehr danke und verbot die SPD stattdessen.

Freilich konnten weder Luxemburg noch Bernstein 1897/98/99 vorhersehen, wie sich die deutsche als Nationalgeschichte so eng geknüpft an die Sozialdemokratie entwickeln würde, auch wenn es in manchen ihrer vorgetragenen Passagen so anklingt als wüss­ten sie, wie sich die „Ge­schich­te“ als Gan­ze voll­zieht. Al­ler­­dings liegt hier auch der Kern der Debatte. Für beide gilt es ja, aus dem theoretischen Vorschein einer zukünftigen Wirklichkeit Schlüsse zu ziehen, die politisches Handeln anleiten. Sie operieren beide auf dem Feld der materialistischen Geschichts­auffassung, welches Marx aus der Taufe hob: Streitpunkt ist wesentlich die postulierte Notwendigkeit, mit der man von historisch-materialistischen Analysen auf zukünftige Entwicklungen schließen könne. Während Luxemburg das Marxsche Denken in kluger Weise aktualisiert, gedenkt Bernstein es an ent­schei­dender Stelle zu revidieren. Was im ersten Moment nur wie eine Ak­zent­ver­schiebung erscheint, hat jedoch, wie Luxemburg eindrücklich ausführt, Kon­se­quen­zen für die gesamte Denkfigur und trifft den Materialismus selbst tief ins Herz:

„Wer heute die materialistische Geschichts­theorie anwendet, ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluß der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschichtlichen und religiösen Traditionen jeder Epoche, den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu denn auch die Natur des Menschen selbst und seiner geistigen Anlagen gehört, voll Rechnung zu tragen. Es ist das ganz besonders da im Auge zu behalten, wo es sich nicht mehr bloß um reine Erforschung früherer Geschichtsepochen, sondern schon um Projizierung kommender Entwicklungen handelt, wo die materialistische Geschichtsauffassung als Wegweiser für die Zukunft helfen soll.“ [5]

Damit stellt Bernstein die revolutionäre Rolle des proletarischen Bewusstseins innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich in Frage. Denn Marx war ja nicht aus auf die „reine Erforschung früherer Geschichtsepochen“ oder auf „Wegweiser für die Zukunft“, sondern wollte seine letztlich nur idealistisch entworfenen, empirisch und kritisch-historisch belegbaren und belegten Begrifflichkeiten in einer Geschichtsschreibung begründen. Daß die Orthodoxie in der Marx-Auslegung in diese eigentümliche Form des Materialismus einen Determinismus der Geschichte deutete, mag in dem bloß instrumentellen Gebrauch der Theorie, einer frühen Funktionärskrankheit begründet liegen. Bernsteins Revision der Bedeutung der Produktionsverhältnisse für die Entwicklung der materialistischen Geschichte der Gesellschaft jedenfalls, betrifft eben auch den dort verorteten Antagonismus der Klassenlagen im Produktionsprozeß, und relativiert diesen zugleich in seinen Folgen für die soziale Ungleichheit als sozialem Widerspruch zwischen Besitzenden und Besitzlosen., und zwar nicht nur allgemein in der Geschichte, sondern auch ganz konkret für das 19. Jahrhundert. Damit fällt aber der Optimismus, der Marxens Werk beseelt, aus dem Elend der kapitalistischen Lohnarbeit unter bürgerlichen Verhältnissen (des 19. Jahrhunderts) müsse sich notwendig ein (proletarisches) revolutionäres Bewusstsein entwickeln, dass die Verhältnisse schließlich umwälzt und die sozialen Ungleichheiten für immer beseitigt:

„Der durchgehende Grundgedanke des Manifestes: daß die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichts­epoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche […] daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, oh­ne zu­gleich die gan­ze Gesellschaft für immer von Aus­beutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien …“ [6]

Und es fragt sich, woraus Bernstein seinen eingangs zitierten Optimismus über­haupt noch bezieht. Und hier liegt einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Luxemburgs und Bernsteins Ansichten und den sich daraus ergebenden verschiedenen Analysen und Ergebnissen, zu denen sie kommen. Während Bernstein die proletarische Bewegung im „Vorwärtsdrängen“ begriffen sieht, geht sie nach Luxemburg zurück:

„Faßt man größere Strecken der sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, dass wir im großen und ganzen nicht Zeiten eines starken Aufschwunges, sondern des Niederganges der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen.“ [7]

Gleiches gilt für die krisenhafte Ent­wicklung der Ökonomie: Während Luxemburg das Aufziehen größerer Krisen unter dem Banner der ersten Globalisierung ahnt, die Veränderung in der Entwicklung der nationalen Zollpolitik erklären kann und den sich überall durchsetzenden Militarismus in den Blick bekommt, so hat der Kapitalis­mus laut Bernstein lediglich seine Anpassungsfähigkeit bewiesen, durch Fabrikrechte und Arbeitsschutz, durchs Kreditwesen, durch die Anerkennung der politischen Arbeiterassoziationen, die ganze ökonomische Entwicklung wäre stabilisiert; die gesamte Gesellschaft sei nunmehr darin begriffen, sich zum So­zialismus zu entfalten. Bernsteins Opti­mis­mus ist schon ganz von jener Stellver­tre­­ter­men­talität, von dem nationalen Aber­­­glau­ben in die politische Allmacht des Parlamentarismus geprägt, der sich bei den Parteifunktionären selbstgefällig ausbreitet. Bernstein gehört so auch zu denjenigen, die sich mit gutem Recht im Stammbaum der Idee wiederfinden, die Fra­ge der sozialen Ungleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auf eine Frage der (gerechten) Güterverteilung zu reduzieren. Das, was Luxemburg den „subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung“ nennt, die Tatsache, daß von einem Be­wußt­sein geleitete handlungsfähige Individuen letztlich diese sozialrevolutionäre Um­gestaltung der kapitalistischen Pro­duk­tionsverhältnisse vornehmen müssen, wenn die Ergebnisse auch ihren Interessen und Bedürfnissen entsprechen sollen, wird von der Bern­steinschen Position aus auf ein bloßes Legitimationsinstrument der parlamentarischen Parteien herabgestuft. Schon in diesem frühen Stadium zeigt sich das Auseinanderdriften von Basis und Partei, von sozialer Bewegung und politischer Entwicklung. Luxemburg ver­sucht diesen Bruch noch zu schließen, indem sie im gewerkschaftlichen (im gewissen Sinne tarifrechtlichen) und politischen (auch parlamentarischen) Kampf zwei Mit­tel zur Bildung des sozialrevolutionä­ren als proletarischen Bewusstseins sieht:

„Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, dass sie die Erkenntnis, das Bewusstsein der Arbeiterklasse sozialisieren.“ [8]

Allerdings müsste sich dann durch die unzähligen gewerkschaftlichen Kämpfe und das allmähliche Durchsetzen der SPD als parlamentarischer Kraft auch das proletarische Bewusstsein als revolutionäres schärfen, wohingegen sie hier eine rückläu­fige Tendenz beobachtet. Ein Fakt, der heu­te selbstverständlich geworden ist.

Die Luxemburgische Auffassung teilt wesentlich die Stärke der ökonomischen Analysen des historischen Materialismus und die Schwäche dessen politischer Implika­tionen. Sieht sie schon den Zusammenhang von Zollpolitik, Militarismus und ökonomischer Krise (als Krieg), doch knüpft sie dabei, wie auch Marx, allzu große Hoffnungen an die Organisationen und Bildung der arbeitenden Klasse. Daß der Glaube hierin dabei oftmals von dem Wahr­heitsanspruch der eigenen, materia­lis­tischen Geschichtsauffassung geleitet wurde, ist dem grundsätzlichen Ge­schichts­­optimismus der marxistischen Theorie zuzurechnen. Allerdings bleibt so die allgemein sich vollziehende Verbürgerlichung des proletarischen Bewusstseins und Milieus ein blinder Fleck und Luxemburg kann die kleinbürgerlichen Elemente in der deutschen sozialdemokratischen Partei [9] nicht mit einer allgemeinen Ver­bür­gerlichung des proletarischen Bewußt­seins in Verbindung setzen. Für Bernstein dagegen erscheint diese gerade­zu als Beweis des aufkommenden Sozialismus. Beide verkennen die Gefahr des sich be­reits formierenden Nationalismus. Aber in einem mag Bernstein doch Recht gehabt haben, der Sozialismus als na­tional­es Par­tei­programm setzte sich im deutschen Staat wirklich als Folge der Verbür­ger­lichung des proletarischen Bewusstseins durch: Er gipfelte im Nationalsozialismus.

Und ich sage noch einmal, daß wir der Zeit entgegengehen, wo die Arbeiterklasse, wie sie heute schon in den großen fortgeschrittenen Ländern die stärkste Klasse der Gesellschaft ist, die herrschende Klasse in dem Sinne sein wird, daß sie der Gesellschaft ihre Ideen, ihre Moralbegriffe, die aus ihrer Klassenlage hervorgegangenen Rechts- und Moralanschauungen aufprägen wird, daß vor der Wucht ihres Vorwärtsdrängens die ihr entgegenstehenden Mächte des Tages zusammenbrechen werden, daß sie auf die eine oder andere Weise die politische Macht im Staate werden, dem Staate ihren Geist einhauchen wird.“ Eduard Bernstein, 1896/97 [2]

In allem Beharren auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Ansichten (auf dem Wahr­heitsanspruch ihrer Rede) zeigt sich jedoch, wie sehr sich Bernstein und Luxemburg in Bezug auf den Gang der Geschichte irrten: Heute ist weder der Sozialismus in Sicht noch ein gereiftes sozial­revo­lutionäres proletarisches Sub­jekt der Geschichte erkennbar, welches diesen ins Werk setzen könnte. Stattdessen erleben wir den fortgesetzten Kapitalismus in den Formen der bürgerlichen Vergesellschaftung als ein ausgeklügeltes System von Kri­sen­bewältigungs­strategien, zu derem Repe­r­toire Nationalismus, Faschismus, imperialistische Stellvertreterkriege, Ras­sis­­mus, Repression und Kontrolle zählen.

„Solange die theoretische Erkenntnis bloß das Privilegium einer Handvoll ‚Akademiker’ in der Partei bleibt, droht ihr immer die Gefahr, auf Abwege zu geraten.“ [10]

clov

[1] Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution?“, in: „Gesammelte Werke“, Bd.1, Erster Halbbd., Dietz Verlag, Berlin 1982, S.369-445 (400)
[2] Eduard Bernstein, „Texte zum Revisionismus“, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 89
[3] Das Erfurter Parteiprogramm der SPD von 1891 bestand wesentlich aus zwei Teilen: einem theoretischen und einem praktischen. Ersterer wurde von Karl Kautsky (1854 – 1938), und ging weit über die Parlaments-Meierei hinaus. Den zweiten verfaßte Bernstein und er stellte schon hier seinen Opportunismus unter Beweis.
[4] Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wandten sich schon Ende 1914 gegen die Fortführung des Krieges und bildeten 1916 die Gruppe Internationale, aus der später der Spartakusbund hervorging. Nach heftigen Flügelkämpfen innerhalb der Partei kam es 1917 zur weiteren Spaltung in Mehrheitssozial-demokratische Partei (MSPD) und Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), die erst nach Kriegsende in der neuen Deutschen Republik aufgehoben wurde.
[5] Eduard Bernstein, „Texte zum Revisionismus“, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn-Bad Godesberg, 1977, S. 109
[6] Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, Reclam, Ditzingen, 1997, S. 5
[7] Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution?“, in: „Gesammelte Werke“, Bd.1, Erster Halbbd., Dietz Verlag, Berlin 1982, S. 391
[8] Ebenda, S. 402
[9] „Die durch Bernstein theoretisch formulierte opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes als eine unbewusste Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen kleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln.“ ebenda, S. 371
[10] Ebenda, S. 371

Theorie & Praxis