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Die Fans der Guten Sache

Vom „revolutionären Subjekt“ und anderen Nebenwidersprüchen

Die Suche nach dem archimedischen Punkt, von dem aus sich die schlech­te Welt aus den Angeln heben ließe, hat die radikale Linke schon viel Zeit gekostet. Ge­funden hat sie ihn bisher nicht. Viele, die einst voller Tatendrang gestartet waren, ga­ben irgendwann auf, zogen sich ins Pri­vat­­leben zurück, wurden alt und verbittert oder Mitglied bei der SPD. Mehr noch: Mit ihrer Suche nach dem Hauptwider­spruch, aus dem sich sämtliche sonstigen Wi­dersprüche der Gesellschaft ableiten lie­ßen, mit dessen Aufhebung sich also auch diese wie von selbst erledigen wür­den, stand sich die Linke regelmäßig selbst im Weg.

Nebenwidersprüche

Ein Beispiel: In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts gab es in Wien eine starke und sehr aktive organisierte Arbeiter­schaft. Einer der am besten organisierten Be­rufsgruppen waren die Buchdrucker – 1872 waren etwa 75% von ihnen Mitglied im Fachverein der Buchdrucker. 1870 und 1882 führte dieser Verein gut geplante Streiks durch, die alle Wiener Betriebe ein­be­­zogen. 1882 wurde volle acht Wochen ge­streikt – die Kapazitäten dafür hätte zu die­ser Zeit kein anderer Fachverein auf­brin­gen können. Trotzdem war keinem der beiden Streiks großer Erfolg beschie­den. Der Grund: Die Drucker weigerten sich, die nicht in ihrem Verein organisier­ten Arbeiterinnen einzubeziehen, obwohl diese durchaus bereit waren, sich zu betei­ligen. Mit den weiblichen Hilfskräften woll­ten die Drucker nichts zu tun haben. So war es kein Wunder, dass diese schließ­lich von den Unternehmern als Streikbre­che­rinnen eingesetzt wurden und der Ar­beits­kampf scheiterte (1). Das ist kein Ein­zelfall. Auch die US-amerikanischen Ge­werk­schaften weigerten sich z.B. lange Zeit, Frauen und Afroamerikaner aufzu­neh­men (eine rühmliche Ausnahme waren die Industrial Workers of the World) – mit ähnlichen Ergebnissen.

Das widerspricht nicht der Tatsache, dass das Privateigentum an den Produktions­mitteln die materielle Basis der bür­ger­li­chen Herrschaft ausmacht. Es zeigt aber, dass es grundverkehrt ist, diesem „Haupt­wi­der­spruch“ gegenüber andere Diskrimi­nie­rungs- und Ausbeutungsverhältnisse wie Rassismus und Sexismus als bloße Ne­ben­widersprüche abzukanzeln – denn eben diese spielen eine wichtige Rolle bei der Auf­rechterhaltung der Klassen­herrschaft.

Die Realität der kapitalistischen Gesell­schaft lässt sich nicht auf den Klassenge­gensatz reduzieren. Vielmehr stellt sich die bürgerliche Herrschaft als ein komplexes System von Trennungen, Ein- und Aus­schlüssen, Hierarchien und der Verteilung von Privilegien dar, die den Gegensatz von „Besitzenden“ und „Besitzlosen“ über­lagern und damit stabilisieren. Die von Marx im Kommunistischen Manifest gestellte Prognose hat sich nicht erfüllt, dass die Dynamik des kapitalistischen Ver­wertungsprozesses auf lange Sicht die en­gen nationalstaatlichen Grenzen ebenso über­winden würde wie die alte feudale Ge­sellschaftsordnung und so dafür sorgen wür­de, dass sich letztlich Bourgeoisie und Proletariat klar und unverstellt gegenüber­stehen (womit das Ende der bürger­lichen Herrschaft besiegelt wäre). Nicht nur den Aufstieg des Nationalismus hat Marx nicht vorausgesehen – auch die Spal­tungen durch Kriterien wie „Rasse“, Reli­gion oder biologisches Geschlecht sind längst nicht überwunden.

Das revolutionäre Subjekt

Diese Verschränkung verschiedener Un­ter­drückungsverhältnisse war schon im­mer ein Problem für Bewegungen, die sich die Aufhebung solcher Verhältnisse zum Ziel gesetzt hatten. Dass etwa Frauen nicht automatisch kraft ihrer „Weiblichkeit“ alle die gleichen Interessen haben, war eine Lektion, die die Frauenbewegung erst zu lernen hatte. Ein wichtige Rolle spielten dabei Schwarze Feministinnen (2) wie Angela Davis und Bell Hooks, die darauf hinwiesen, dass zwar weiße Frauen in der Tat aufgrund ihres Geschlechts diskrimi­niert würden, ihrerseits aber auch aktiv an der Unterdrückung afroamerikanischer Män­ner und Frauen mitwirken.

Und auch die von rassistischer Diskrimi­nie­rung Betroffenen können wiederum ih­rer­seits andere Menschen diskriminieren oder ausbeuten, selbst Sexisten oder Ras­sisten sein. Ein Beispiel dafür wäre die afro­amerikanische Nation of Islam, die krude antisemitische Verschwörungstheo­rien pflegt (auf Veranstaltungen werden u.a. die „Protokolle der Weisen von Zion“ ver­kauft) und überzeugt ist, dass der „wei­ße Mann“ von Grund auf böse sei (3).

Diese Tatsachen werden auch von radika­len Linken gern übersehen. Der Grund dafür liegt in einer Gruppenkate­gorie, die mit der Idee des „Hauptwider­spruchs“ eng verbunden ist, der Idee des „re­vo­lutio­nären Subjekts“. Wenn mensch erst ein­mal in einem bestimmten Herr­schafts­verhältnis den Hauptwiderspruch aus­ge­macht hat, ist es nur logisch, die größte Hoff­nung eben auf die diesem Herr­schafts­verhältnis unterworfene Grup­pe zu setzen. Der zweite Schritt ist es, diese be­sondere Gruppe von Menschen restlos zu idealisieren.

Manche der dabei wirkenden Motive sind leicht zu verstehen. Zwar hängt die Linke traditionell an der Idee einer totalen revo­lu­tionären Umwälzung der herrschenden Verhältnisse. Aber abgesehen von den we­nigen Gelegenheiten, bei denen ein revo­lu­tionärer Umsturz tatsächlich in greifbare Nähe zu rücken scheint, steht sie damit meist ziemlich alleine da. Die eigene Iso­liertheit (im Verbund mit einer sicher eh­ren­werten Solidarität mit den Unter­drück­ten) führt zur Konstruktion eines „re­vo­lutionären Subjekts“, das die Sache richten soll.

Damit einher geht die Illusion, das so kon­struierte „Subjekt“ müsse eben so denken und handeln, wie man es sich vor­stellt. Da das revolutionäre Subjekt per Defini­tion auf Seiten des Fortschritts steht, muss es selbst von Grund auf (oder wenigstens im Grunde) gut sein. Die Indi­vidualität der dieser Kategorie unterge­ord­neten Men­schen erscheint dem gegen­über als ver­nachlässigbare Größe. Ihnen wird still­schweigend ein gemeinsames „Wesen“ un­ter­stellt, das ihr Denken und Handeln be­stim­men soll. Was nicht ins Bild passt, wird ignoriert – wenn sich das Idealbild nicht mehr halten lässt, die so idealisierten Leu­te einfach nicht daran denken, die auf sie projizierten Sehn­süch­­te einzulösen, sucht mensch sich eben ein neues Objekt der Begierde oder resig­niert.

Diesem Muster folgt z.B. das Umschwen­ken der deutschen Linken nach dem von Israel 1967 geführten 6-Tage-Krieg. Hatte diese dem zionistischen Projekt mehrheit­lich positiv gegenüber gestanden, wurde es nun in Grund und Boden verdammt und stattdessen den „fortschrittlichen Kräf­ten“ des „palästinensischen Wider­stan­­des“ zugejubelt. Dass man dabei von ei­ner Illusion zur Dummheit, von der Ide­a­lisie­rung oft genug zum offenen Anti­se­mitismus kam, zeigte sich an so verab­scheu­ungswürdigen Aktionen wie dem versuchten Bombenanschlag der Tupama­ros Westberlin auf ein jüdisches Gemeinde­haus anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht.

Umgekehrt könnte man das Ent­stehen der antideutschen Linken Anfang der 90er Jahre nicht nur als Reaktion auf einen solch stumpfen „Anti­imperialis­mus“, son­dern auch als Abkehr von der lang geheg­ten und nun enttäuschten Liebe zum Pro­le­tariat interpretieren. Die „Arbeiter­klas­se“ dachte nicht nur nicht da­ran, endlich mal die Revolution zu machen, manche ihrer Vertreter_innen be­teiligten sich auch ohne Probleme an den rassistischen Po­gromen in Rostock-Lich­tenhagen und anderswo. Auch Pro­le­tarier können Ras­sisten sein – wer hätte das gedacht…

Der subjektive Faktor

Ein Problem an diesem Konstrukt des „re­vo­lutionären Subjekts“ ist, dass die so Idea­lisierten den an sie gerichteten An­sprü­chen niemals gerecht werden können – was regelmäßig dazu führt, dass quasi das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird: Wenn die idealisierte Gruppe sich als das erweist, was sie ist, eine Gruppe von eben mitunter dummen, unsym­pa­thischen und insgesamt fehlerhaften Men­schen, kann das eben nur bedeuten, dass man sich geirrt hat, dass man das „rich­tige“ revolutionäre Subjekt noch nicht ge­funden hat.

Die Idealisierung ist auch falsch, weil sie den angeblichen Subjekten der Emanzi­pation die Fähigkeit abspricht, selbst Ent­scheidungen zu treffen. Diese Sichtweise zieht sich sozusagen selbst den Boden unter den Füßen weg. Denn indem sie die Möglich­keit leugnet, (auch falsche) Ent­schei­dungen zu treffen, leugnet sie zu­gleich die Möglichkeit von Emanzipation.

Denn während Herrschaft im Wesent­li­chen erzwungene Passivität bedeutet, das Unterworfensein unter Lebensumstände, auf die man keinen Einfluss hat, ist es das Ziel von Emanzipation, diesen Zustand erzwungener Passivität zugunsten eines Zustands aufzuheben, der aktiv den eige­nen Bedürfnissen entsprechend gestaltet werden kann. Emanzipation setzt also be­wusstes Handeln voraus und zielt darauf ab, diese Möglichkeit bewussten Handelns zu verallgemeinern.

Dementsprechend gibt es auch keinen „Auto­matismus“ der Emanzipation, diese er­gibt sich nicht „zwangsläufig“ – weder aus einer „an sich“ guten Natur des Men­schen, wie viele Anarchisten im Anschluss an die Theorien Kropotkins glaubten, noch aus der stetigen Entwicklung der Pro­­duktivkräfte, wie viele Marxisten mein­­ten. Beiden Theorien ist gemeinsam, dass sie die Menschen als selbsttätig den­ken­de und handelnde Lebewesen vernach­lässigen. So ist nicht die „gute“ oder „böse“ Natur des Menschen das Problem, son­dern der Fakt, dass Menschen mitunter recht blödsinnige Vorstellungen davon ha­ben, was „gut“ bzw. „richtig“ ist – die ge­sell­schaftliche Prägung der Kategorien, in denen sie denken und denen entsprechend sie handeln. Ebenso können die „objek­tiven“ ökonomischen Verhältnisse nur die „Bedingungen der Möglichkeit“ definie­ren – sie sind das Problem, sie liefern die Lösung nicht gleich mit. Lässt man das bewusste Handeln der Menschen außer Acht, wäre es nicht einzusehen, wie die schlechten Verhältnisse aus sich selbst her­aus ihre eigene Negation hervorbringen sollten.

Die Vorstellung eines „revolutionären Sub­jekts“, das allein in der Lage ist, den „Hauptwiderspruch“ aufzuheben, steht die­ser bewussten Tätigkeit entgegen. Wenn mensch davon ausgeht, dass die wich­tigen Kämpfe ohnehin anderswo und von anderen Menschen ausgefochten wer­den, ist das in zweierlei Hinsicht proble­matisch. Entweder reduziert sich die eige­ne Rolle darauf, eben Fan der richtigen Mann­schaft zu sein – oder man stilisiert sich selbst zur „Avantgarde“, die der Masse den Weg weist. Da nehmen die Fans der guten Sache selbst die aktive Position ein und drängen das angebliche Subjekt der Re­vo­lution in die Passivität: Wenn das „re­volutionäre Subjekt“ richtig revolutionär sein soll, macht es gefälligst das, was von ihm erwartet wird.

Wohin das führt, lässt sich gut anhand der Russischen Revolution von 1917 und deren weiterer Entwicklung beobachten. Die Bolschewiki sahen sich als Avantgarde des Proletariats – kurz gesagt, als den Teil der Arbeiterschaft, der die Interessen der Arbeiter_innen besser begriffen hatte, als diese selbst es je hätten tun können. Wo die konkreten Proletarier sich den „objek­tiven Interessen des Proletariats“ nicht un­ter­ordnen wollten, mussten sie (notfalls mit Gewalt) auf Linie gebracht werden – die Konsequenzen kann man etwa bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 bewundern. Die „Dik­tatur des Proletariats“, die die Bol­schewiki zu errichten meinten, war letzt­lich eine Diktatur der Bolschewiki im Na­men des Proletariats, die Bedürfnisse der kon­kreten Proletarier wurden einer Ab­straktion untergeordnet.

Basisbanalitäten

Wo kommen diese Denkmuster her? Aus eben den Verhältnissen, die mensch ei­gent­­­lich überwinden wollte. Denn Herr­schaft beruht weniger auf roher Gewalt und Zwang als auf der Fähigkeit, Legiti­mi­­­tät herzustellen, bestimmte Deutungs­mu­s­ter zu etablieren und allgemein durch­zu­setzen – der Fähigkeit, „Normalität“ zu de­­finieren. Natürlich gibt es Gewaltherr­schaft, aber diese bildet insgesamt einen Aus­­nahmezustand, im staatsrechtlichen eben­so wie im zeitlich-historischen Sinne und im Sinne einer Abweichung von der Norm. Im Übrigen gibt es keine „reine“ Ge­­walt­herrschaft. Selbst in Fällen wie den Ko­lonialreichen des 19. und frühen 20. Jahr­­hunderts, wo die mit überlegener Waf­­fentechnik ausgestatteten Europäer diese Herrschaft theoretisch unbegrenzt hät­­ten aufrechterhalten können, musste der Zwangsgewalt ein Weltbild zur Seite ste­hen, das den Kolonialisten eine Recht­fertigung dafür lieferte, Afrikaner_innen und Asiat_innen zu erschiessen – und sie scheiterten letztendlich dadurch, dass es ihnen nicht gelang, diese Vorstellung von „Normalität“ auch den Kolonisierten nahe­­­zubringen.

Gegenüber der repressiven wird diese pro­duk­tive Seite von Herrschaft oft über­se­hen. „Produktiv“ (ein im Rückgriff auf Michel Foucaults „Überwachen und Stra­fen“ gewählter Begriff) meint kein Wert­urteil, sondern hat rein beschrei­ben­de Funk­tion. Herrschaft funktioniert we­ni­ger darüber, dass man Leute („repressiv“) davon abhält, bestimmte Dinge zu tun, sondern indem man sie („produktiv“) da­zu bringt, in der gewünschten Weise tätig zu werden, indem man eine Ordnung er­richtet, die als unhintergehbarer Rah­men jeden Handelns erscheint.

Um diesen Normalzustand zu begründen, be­ruft sich jede Herrschaft (zumindest still­­schweigend) auf ein „Absolutes“, eine nicht mehr hinterfragbare letzte Instanz. Die Legitimität jeder Herrschaft wurzelt letztlich im Mythos, einer göttlichen oder natürlichen „Ordnung der Dinge“. Im Son­derfall der bürgerlich-kapita­li­sti­schen Herrschaftsform erscheint diese Ord­nung vor allem als Ausdruck von „Na­tur­­geset­zen“. Soziale Verhältnisse werden bio­­lo­gi­siert, Effekte menschlichen Han­delns essentialistisch auf eine über­histo­ris­che Natur des Menschen zurück­ge­führt.

Entsprechend geht jedes Unterdrückungs­ver­­­hältnis mit einer Abwertung der Unter­drück­ten einher und rechtfertigt sich da­durch. So heißt es, Frauen seien von Natur aus zum abstrakten Denken unfähig, Schwar­­ze triebgesteuert, Schwule krank und schwächlich usw. Das läuft auf einen Zir­kelschluss hinaus: Da sie min­derwertig sind, ist es nur normal, dass es den Leuten schlecht geht – und dass es ih­nen schlecht geht, beweist ihre Minder­wer­tigkeit. So rechtfertigte z.B. der eng­li­sche National­ökonom Thomas Malthus (auf dessen Theo­­rien sich später auch Charles Darwin be­rief) das Elend der bri­ti­schen Unter­schicht. Dieses zeige nur, dass hier eben die Intelligenz fehle, um sich im Konkur­renz­­kampf durchzusetzen. Im Übrigen sei das völlig in Ordnung und von der Natur klug eingerichtet, denn nur dank der Ar­mut der Masse hätte die Ober­schicht ihre über­­legene Kultur entwickeln können.

Wenn unterdrückte Grup­­pen nun anfan­gen, gegen diese „Ord­nung der Dinge“ zu re­­bel­lieren, greifen sie zur Legi­ti­­ma­tion ih­res Handelns oft auf eben jene Vor­stel­lungen zurück, aus denen auch die Herrschaft ihre Legiti­ma­tion bezieht. So bedienten sich z.B. die Taboriten oder Thomas Müntzer (4) bei der Theo­lo­gie, um ihre sozialrevolu­tio­nären Be­stre­bungen zu be­grün­den. Dies mag als zeit­­lich begrenz­te takti­sche Maß­nahme Vor­teile brin­gen, wirft aber auf lange Sicht Prob­leme auf. Das zeigt z.B. die Ent­wick­lung eines Teils der neuen Frauen­be­wegung nach 1970: Das Kon­strukt eines weibli­chen „We­sens“ wurde übernom­men, aber nun po­sitiv bewer­tet. Dagegen sei das „We­sen des Mannes“, die männ­liche Herr­schaft, für alle Übel in der Welt (Krieg, Umwelt­zer­störung usw.) verant­wort­lich. Nur die Er­richtung einer neu­en Ordnung unter „weib­lichen“ Vor­zei­chen könne da Abhilfe schaffen. (5)

Problematisch an dieser Deutung sozialer Ver­hältnisse ist, dass sie den Angehörigen der herrschenden Gruppe keine Möglich­keit zur Änderung ihres Verhaltens zuge­steht. Wenn z.B. das ewige Wesen des Man­nes das Problem ist und nicht sein Han­deln innerhalb einer bestimmten Ge­sell­­schafts­ordnung, dann ist keine Verstän­di­gung möglich, die Herrschaft des Man­nes kann bestenfalls durch die der Frau er­­setzt werden (und nicht etwa durch eine herr­schaftslose Ordnung). Schlimmsten­falls ist die Konsequenz die Ausrottung der anderen Gruppe.

Nötig wäre also ein kritisches Hinter­fra­gen solcher Kategorien. Dass jemand z.B. ein Proletarier ist, sagt nur, dass diese Per­son zum Lebensunterhalt auf Lohn­ar­beit angewiesen ist. Daraus folgt höch­stens, dass sie einen guten Grund und even­­tuell die Möglichkeit zu revolutio­nä­rem oder sonst­wie emanzipatorischem Han­­deln hat – nicht, dass sie tatsächlich so handeln muss. Die Einsicht, dass jede als „revolutio­näres Subjekt“ behauptete Grup­pe sich aus Individuen zusammen­setzt und dass es deren konkretes Denken und Handeln ist, wo­­rauf es ankommt, kann eine(n) vor vie­len Illusionen, über­­trie­benem Optimis­mus ebenso wie vor­­schneller Resignation be­wahren. Man mag auf das Proletariat als Ganzes keine Hoff­­nung mehr setzen – die jeweiligen Pro­leta­rier_innen muss man darum nicht aufge­ben.

Die Abkehr von solchen Gruppenkate­go­rien kann auch davor schützen, die Be­dürf­­­nisse der einzelnen Gruppenmitglie­der einem abstrakten „Allgemeinwohl“ un­te­rzuordnen. Alle Anstrengungen zur Er­richtung einer befreiten, befriedeten Ge­­sellschaft müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie die Bedürfnisse der Men­schen nach individuellem Wohler­ge­hen berücksichtigen – auch die der Mit­glie­der der „herrschenden Klassen“: Man ist kein Kapitalist, man handelt nur als sol­cher. Herrschaft ist keine Substanz, keine n­atür­liche Eigenschaft einer be­stimmten Grup­pe von Menschen, sie ist eine soziale Be­ziehung. Es ist eine blöd­sinnige Vor­stel­lung, diese aus der Welt schaf­fen zu kön­nen, indem man eine ge­nügend große Zahl von Leuten an die Wand stellt.

Letztlich ist es diese Abkehr von Gruppen­kategorien, die überhaupt erst die Mög­lich­keit emanzipatorischen Handelns er­öff­net. Selber denken und weiterdenken, mit anderen kommunizieren, die eigenen Be­dürfnisse und die der anderen aushan­deln, sich schließlich zu solidarischem Han­deln verbinden und daran gehen, die eigene soziale Umwelt diesen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten – darauf kommt es an.

justus

 

(1) Siehe Josef Ehmer, „Rote Fahnen – Blauer Montag“, in: Detlev Puls (Hrg.), „Wahrneh­mungsformen und Protestverhalten“, Suhr­kamp 1979.

 

(2) Die Großschreibung des Adjektivs „Schwarz“ soll deutlich machen, dass es sich dabei nicht um eine „biologische“, sondern eine politische Kategorie handelt.

 

(3) Siehe z.B. Werner Zips / Heinz Kämpfer, „Nation X – Schwarzer Nationalismus, Black Exodus & Hip-Hop“, Promedia 2001.

 

(4) Die Taboriten waren eine Frak­tion der Hussiten, der An­hänger des böhmischen Theologen Jan Hus. Dieser wurde 1415 auf dem Schei­ter­haufen verbrannt, was einen Auf­stand auslöste. Thomas Müntzer war ein evangelischer Theologe und eine zentrale Figur im Bauernkrieg Anfang des 16. Jahr­hunderts.

 

(5) Siehe z.B. Martina Schäfer, „Die Wolfsfrau im Schafspelz“, Hugen­dubel 2001. Diesem Weltbild hat der dekonstruktivistische Femi­nismus mit seiner Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht wirkungsvoll wider­sprochen.

 

Alles nachhaltig oder was?

Über die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und nachhaltiger Entwicklung

Wer heute mit der Zeit gehen will, muss sein Handeln nachhaltig ge­stal­ten. Oder es zumindest als solches be­zeich­nen. Wenn die deutsche Industrie als „Marktführer beim nachhaltigen Wirt­schaf­ten“ Preise verliehen bekommt (1), wenn Bundeskanzlerin Merkel sich welt­weit als Umweltministerin profiliert und Nachhaltigkeit zum Leitprinzip ihrer Poli­tik erklärt (2), wenn Greenpeace im Rah­men des „Bergwaldprojektes“ zu nachhal­ti­ger Wiederaufforstung hiesiger Wälder mo­bilisiert (3) und wenn A SEED für nach­­haltiges Konsumverhalten eintritt (4), dann scheint zumindest hierzulande die Zukunft – selbst ohne eigenes zutun – schon nachhaltig gesichert zu sein. Fragt sich jetzt, wie diese Zukunft konkret aus­sehen soll, denn das neue Modewort wird in den verschiedensten Lebens­bereichen inflationär und für vielerlei Maßnahmen oder Strategien ge­braucht, die anderen ver­deutlichen sollen, sie wä­ren langfristig be­trachtet eine „gute Sa­che“. Be­sonders im Bereich der Ent­wick­­­lungs­­po­litik ist Nachhaltigkeit bzw. nach­haltige Ent­wick­lung heutzutage aus der Debatte nicht mehr wegzudenken. Der Begriff wird auch hier nicht nur von nichtstaat­li­chen Orga­ni­sationen (NGOs), staatlichen und wirt­schaft­lichen Akteuren äußerst positiv be­setzt, son­dern zudem als internationaler Kon­­sens weltweit gefeiert. Suggeriert wird eine Einigkeit in entwicklungspolitischen Ziel­vorstellungen und Handlungsorientie­run­gen, die praktisch jedoch nicht besteht: Denn während die kommerzielle Privati­sie­rung öffentlicher Güter wie bspw. Was­ser vom Internationalen Währungsfond (IWF) als „Maßnahme zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung“ be­trachtet und gefördert wird, klagen kritische NGOs – wie bspw. weed (5) – selbiges als nicht nach­haltig, sondern vielmehr zerstörerisch für Mensch und Umwelt an. Was verbirgt sich also hinter einem Begriff, der grundle­gen­de Orientierungsrahmen nicht zu ver­ei­nen mag und dem sich dennoch alle ver­schreiben? Warum beansprucht die Gras­wur­zel­organisation A SEED ebenso wie die Bundesregierung das Prädikat der Nach­haltigkeit, wenn sie doch beide un­ter­­­­schiedliche Vorstellungen der „guten Sa­­che“ haben? Ist der Begriff zur hohlen Phra­se verkommen oder stecken dahinter nicht vielmehr differierende Ideen und Ideo­logien, um die noch gestritten wird? Was der Begriff inhaltlich impliziert, wel­che Kontroversen sich bei der Konkretisie­rung der vermeintlich gemeinsamen Ziele offenbaren und welche Akteure derzeit die Deutungsmacht des Diskurses besitzen, soll hier Thema sein.

Eine zarte Pflanze…

Beginnen wir beim Ursprung des Wortes: Bereits im 18. Jahrhundert wurde Nach­hal­tig­keit im Kontext der Forstwirtschaft verwendet und bedeutete von den Er­trä­gen einer Substanz selbst zu leben, also von den Zinsen und nicht vom Kapital. Im­pliziert wurde damit, dass nur soviel abgeholzt wird, wie gleichzeitig wieder an­gepflanzt werden kann – also ein Verhal­ten, das nicht nur umweltschonend wirkt, sondern auch Erträge langfristig sichert. Im Zeitalter der Industrialisierung und des aufschwingenden Kapitalismus, wo wirt­schaft­liches Wachstum Profit und Wohl­stand versprachen, spielten diese Aspekte dann erstmal keine Rolle mehr. Die Be­grenztheit der Rohstoffe dieser Erde war angesichts zunehmend geweckter Kon­sum­bedürfnisse ein zu ver­nachlässigender As­pekt. Erst mit der Be­we­gung der 68er kam auch ein bewusster Umgang mit der Natur auf die po­li­tische Agenda der Akti­vist/in­nen. Die damalige Umweltbe­we­­gung forderte vor allem eine Ab­kehr vom wirtschaftlichen Wachstums­para­digma, sprich einen radikalen System­wechsel, ver­bunden mit einer Änderung der Lebens­sti­le weg von der nur materiel­len Wert­orien­­tie­­run­g. Die Botschaft war klar: Ma­chen wir weiter wie bisher, wer­den zukünf­tige Generationen diese Welt nicht mehr genießen können, da sie schlicht­weg ver­braucht wäre.

Durch die erste Ölkrise 1973 inspiriert, wurde die Rohstoffver­knap­pung dann auch erstmalig in Wirt­schaft und Politik diskutiert und es folgten in den 70ern mehrere internationale Konferenzen, die auch die Forderungen der Umweltbewe­gung aufgriffen. Die Er­geb­nisse dieser Konferenzen fanden aller­dings später – wahrscheinlich wegen ihrer inhaltlichen Radikalität – kaum Beach­tung. Die Um­weltproblematik blieb je­doch ange­sichts zunehmender Ressour­cen­ver­knappung und den ersten sicht­ba­ren Auswirkungen des Klimawandels auf dem Tisch und sollte unter dem Schlag­wort einer „nach­hal­tigen Entwicklung“ welt­weit in den Griff bekommen werden. Am inter­natio­nalen runden Tisch der In­te­ressengruppe „Um­weltschutz“ versam­mel­ten sich des­halb 1987 Vertreter von Staa­ten, Wirt­schafts­unternehmen und NGOs und de­fi­nierten ihr neues Leitbild als „eine Ent­wicklung, die die Bedürfnisse der Gegen­wart befriedigt, ohne zu riskie­ren, daß künf­tige Generationen ihre eige­nen Be­dürf­nisse nicht befriedigen kön­nen“ (6). Wie solch eine Entwicklung aus­zusehen hätte, blieb dabei, aufgrund der in­haltlich kon­troversen Vorstellungen, offen und wur­de erst später vor allem auf nationaler Ebene konkretisiert.

…beginnt zu wachsen …

Im Zuge der letzten 20 Jahre gewann der Begriff Nachhaltigkeit nicht nur an Popu­larität, sondern wurde sowohl in weitere Be­reiche übertragen und integriert, als auch mit inhaltlichen Konzepten und Stra­­te­gien gefüllt. So steht eine global nach­­haltige Entwicklung heute für einen Um­­gang mit Natur, Gesellschaft, Wirt­schaft und Politik, der langfristig den Er­halt selbiger sichert. Im entwicklungs­poli­tischen Kontext spielen zudem Aspekte der Partizipation und Selbstermächtigung eine Rolle, wenn es um Strategien zur nach­­haltigen Entwicklung geht. Dieser brei­te, mehrere Dimensionen umspannen­de Rahmen erklärt zum einen die Weitläu­figkeit des Diskurses, impliziert aber ande­rerseits auch mögliche und nötige um­fang­­reiche Veränderungen in allen Lebens­bereichen.

Die Kunst bei der Etablierung des Leit­bil­des zur nachhaltigen Entwicklung be­steht vor allem in der kohärenten Verbin­dung der Ziele aus den verschie­denen Dimensionen miteinander, die wiederum zu aufeinander abgestimmten Handlungs­stra­tegien füh­ren sollen. Eine große Her­aus­forderung, die je nach konkretisierter Ziel­stellung auch an den bestehenden Ver­hältnissen kräftig zu rütteln vermag, sofern sich die Aus­gestalter nachhaltiger Ent­wick­lung einig wären. Doch gerade hier liegt das Prob­lem: Es besteht kein pro­gressi­ver Kon­sens darin, wie eine zukunfts­fähige Gesellschaft aufgebaut sein müsste, welche Verteilungs­me­cha­nismen existie­ren sollen, nach welchen Prinzipien ge­wirt­schaftet wird, wie politische Einfluss­mög­lichkeiten strukturiert sind und in­wie­­weit natürliche Rohstoffe überhaupt noch angetastet wer­den dürfen. Die Spann­­breite der mög­lichen Positionen ist breit und spiegelt da­bei auch verschiedene (alte) ideologische Kontroversen wider, die allerdings durch die Integration in die Um­weltdimension neu an Brisanz gewin­nen.

… bis der Rasenmäher kommt.

Die wohl substanziellste Kontroverse des Dis­kurses besteht dabei zwischen den Er­fordernissen, die notwendig sind, um den nächsten Generationen die Natur zu er­hal­­ten und den Vorstellungen einer nach­haltigen Wirtschaftsweise, die sich gleich­zeitig auf Wachstumsorientierung bzw. Ka­­pi­talismus gründet. Mit anderen Wor­ten variieren die Vorstellungen erheblich, in­wie­weit wir sowohl unseren Lebensstil und die Konsumbedürfnisse, als auch die all­gemeine Wirtschaftsweise verändern müs­sen, um die Umwelt und das mensch­liche Überleben darin zu sichern. Die ra­di­kalen Prota­go­nisten der 70er Jah­re wa­ren sich darin einig, dass im Rah­men des kapitali­stischen Systems, in dem Wachs­tum und Gewinnmaxi­mierung die trei­ben­­den Fak­to­ren sind, kein nachhal­ti­ger Umwelt­schutz erreicht werden kann, da ständiges wirt­schaftliches Wachstum immer an ei­nen übermäßigen Ressourcen­ver­brauch ge­koppelt sein wird. Oder anders ausge­drückt: „Wenn es alle Länder schaffen wür­­den, dem industriellen Vorbild zu fol­gen, dann wären 5-6 Planeten vonnöten, um als Bergwerk und Müllhalde für die Wirt­schaft herzuhalten“ (Wolfgang Sachs). Statt dessen forderten sie sog. „Null­­wachstum“, also eine gesamtgesell­schaft­­liche Abkehr vom hiesigen Wirt­schafts­system, verbunden mit einer Ände­rung der Lebensstile weg vom stumpfen, unnötigen Konsumismus. Solche Forde­run­gen stießen – welch Wunder – auf we­nig Gegenliebe bei Wirtschaftslobbyisten. Dort herrscht – durch derzeitige Erfolge op­­ti­­mistisch gestärkt – bis heute die Über­zeu­gung, dass eine schrittweise Entkopp­lung des wirt­schaft­li­chen Wachstums vom Ressourcen­ver­brauch möglich wäre und ausreichen würde, um künftige ökolo­gische Katas­trophen zu verhindern. An einer kapitalis­ti­schen Wirtschaftsweise bräuch­te sich demzufolge nichts zu än­dern, da sich Investitionen in ressourcen­spa­rende, neue Technologien, wie bspw. das schadstoff­arme Auto langfristig für Wirt­schaft und Umwelt rentieren würden. Dieser Ansicht sind auch die herrschenden Politiker/innen hierzulande, zumal die deut­sche Wirtschaft bereits Erfahrungen mit ressourcensparenden und umwelt­freund­­lichen Technologien hat, und die Re­gie­rung weiß, dass diese als Export­schla­ger auch Geld in die Staatskassen spü­len können. So wird auch das Engagement der konservativen Kanzlerin in Bereichen der Umweltpolitik auf internationalen Gip­­feln erklärbar. Um den zukünftig boomen­­den Sektor anzukurbeln, werden dann auch mal neue Richtlinien einge­führt, wie bspw. die kürzlich verabschie­de­te, die den Kauf schadstoffarmer Auto­mo­bile mit bis zu zwei Jahren Steuer­be­freiung belohnt. Das dies eher ein Kon­junk­tur­programm für die wachstums­orien­tierte Wirtschaft angesichts der Fi­nanz­krise ist und weniger mit den eigent­lich notwendigen Um­welt­zielen zu tun hat, wird schon allein da­ran deutlich, dass diese Autos zwar we­niger Kohlenmonoxyd ausstoßen, jedoch wei­terhin das Klima mit ihrer hohen CO2-Emission belasten. Nichtsdestotrotz sind sich Wirtschaft und Politik hierzu­lande einig, dass mit genü­gend Investi­tio­nen in klimafreundliche und ressourcen­spa­rende Technologien die schlimm­sten Um­weltauswirkungen ver­hin­dert werden können. Mischt man dazu noch ein paar globale Abkommen, wie das Kyoto-Protokoll, dann wäre das schon machbar und angesichts der Vorreiterrolle Deutsch­lands in neuen, umwelt­schonen­den Tech­nologien auch wirtschaftlich pro­fi­tabel. Da­gegen wirkmächtig anzukom­men und radikalere Schritte einzuleiten ist schwer, denn die Aktivist/innen der Um­­weltbewe­gung, die den Zusammen­hang zwi­schen Umweltzerstörung und Ka­pita­lis­mus thematisieren sind eher Man­gel­­wa­re. Während es in den 70ern noch nahezu unvorstellbar war, dass ressourcen­sparende Technologien, wie sie heute existie­ren, über­haupt produzierbar sind, sind die Meisten heute eingelullt vom Tech­­nik­wahn, der sicher auch in schlimm­sten Zei­ten das Überleben der Menschheit si­chern werde (fragt sich nur wer da über­lebt…).

Die Stimmen der Befürworter eines radi­ka­len Wandels sind jedenfalls wieder sehr lei­se geworden, spätestens seit die Grünen als Partei Karriere zu machen begannen und sich Frau Merkel interna­tional als „Um­­welt­ministerin“ profiliert und dabei Deutsch­land zum Vorzeigeland in Sachen Nachhaltigkeit deklariert. Zwar gibt es noch einige Netzwerke, wie bspw. auch A SEED, die unter „nachhaltiger Entwick­lung“ eben auch die Abkehr von einer ka­pi­ta­­listischen Wirtschaftsweise verstehen, da permanentes Wirtschafts­wachs­tum nicht ohne Ressourcen­ver­brauch funk­­tioniert, allerdings versin­ken sie im in­ternationalen Machtpoker nahezu in der Bedeutungslosigkeit.

Weg mit dem Mäher!

Die progressive Vision einer nachhaltigen Gesellschaftsordnung ist im Gegensatz zur gängigen nicht angebots- sondern nach­fra­georientiert, was nicht nur eine Um­wäl­zung der kapitalistischen Wirtschafts­weise impliziert, sondern auch die Her­stel­­lung von nutzlosen oder über­schüssi­gen Produkten – die im Bereich der Le­bens­­mittelindustrie bspw. auch zuhauf ent­­sorgt werden und trotzdem für einzelne Unternehmen noch profitabel sind – ver­hindert. A SEED vernetzt sich z.B. daher, um durch gemeinschaftliche Sub­version bzw. direkte Aktionen auf die zer­störe­rischen Folgen des Kapitalismus auf­merk­sam zu machen. Allerdings setzen sie auch an der Alltagspraxis im Kleinen an und mo­bi­lisieren für einen radikalen Wandel der Lebensstile, der sich nicht in Energie­spar­lampen oder effizienteren Autos er­schöpft, sondern blin­den Konsu­mis­mus bekämpft. So soll bspw. das Auto nicht Statussymbol, sondern Nutz­fahr­zeug sein, das nur unter voller Besetzung wirklich an­nähernd nachhaltig an­gewen­det wird. Auch Fleischkonsum und Flugreisen sind da­bei Themen, die von vielem im Alltag ver­ändert werden könnten und der Natur insgesamt helfen. Doch wie bereits beim Auto – das für eine nachhaltige Ent­wick­lung eigentlich abgeschafft werden müsste – be­reits deutlich wird, sind solche Vor­schläge vielleicht gut gemeint aber oftmals konkret schwierig umsetzbar. Angesichts des desaströsen Zustands öffentlicher Ver­kehrsmittel bspw. müssten nicht nur Meh­dorn und Co abgesetzt werden, sondern viel­mehr völlig neue Finanzie­rungs­­kon­zepte erarbeitet, Infrastruktur wieder aus­ge­baut sowie herrschende Pendler­struk­­turen abgeschafft und Ar­beitsverhältnisse radikal verändert werden. Daher kann ein progressiver An­satz auch nur darin be­stehen, sowohl die kapitalis­tischen Verhält­nisse anzuklagen und Netzwerke gegen die­se zu stärken, als auch Bewusstsein im all­täglichen zu er­zeugen. Angesichts unse­rer hochindivi­dua­lisierten Gesellschaft, deren Bewohner zudem unter kapitalis­tischen Verhältnissen sozialisiert wurden, ist klar, dass ein solches Umden­ken weder von heute auf morgen ge­sche­hen kann, noch jemals als politischer Konsens „von oben“ verab­schie­det werden wird. Denn der Konsens zwischen den Lob­byisten in Wirt­schaft und Politik be­steht im quali­ta­tiven Wachstum, das nichts anderes als eine ökologische Moder­nisierung, sprich Öko­kapitalismus, ist. Die­jenigen besitzen leider auch die Deu­tungsmacht über den Begriff der nachhaltigen Entwicklung, der eigentlich auch auf progressive Inhalte rekurrieren könnte. Im Grunde ist Nach­haltigkeit das beste Argument gegen Kapi­talismus bzw. die Ausbeutung von Mensch und Natur. Und auch darüber hinaus kann mensch damit für Emanzi­pa­tion, Dezen­tra­lisie­rung und Selbstbe­stim­mung in wei­te­ren Kontexten argu­men­tie­ren. Eine nach­­haltige Gesell­schafts­ord­nung würde lokale Netzwerke fördern, da sie sich allein schon wegen der Siche­rung der Grundver­sorgung verstän­di­gen müssen, um Trans­port­wege gering zu halten. Selbster­mächti­gungsprozesse, weg von zentra­len Re­gierun­gen wären eben­­so un­um­gäng­lich, wie die Abschaf­fung von lohn­ar­beits­zen­trierten Ausbeu­tungs­­­ver­hält­­nis­sen. Denn eine zukunfts­fähige Gesellschaft jetzt und später bedeutet nicht die Kon­ser­vierung der Natur auf Kosten des Men­schen, sondern ein Leben in Einklang mit dieser. Eine Umsetzung dessen bedarf ra­di­kaler Veränderungen aller Lebensbe­rei­che, so auch die Diskus­sion darüber, was un­ter sozialer Gerechtig­keit verstanden wer­­den soll und wie sich der Reichtum in der Gesellschaft zu verteilen hat. Ange­sichts der politischen Verhältnisse, in de­nen bspw. Wettrüsten zum Standard­reper­toire gehört, schließt eine Diskus­sion um nachhaltige Entwick­lung auch Anti­mi­li­ta­rismus, Bekämpfung von Macht­po­litik und ein Konzept des Zusammen­le­bens jen­seits von Staat und Nation ein. So zu­min­dest könnten die Diskussionen verlau­fen, die in den 70ern angelegt waren und mit denen sich heute nur vereinzelte Grup­pen beschäftigen. Ein Zusammen­den­ken ver­schiedener The­men­be­rei­che fin­det da­bei selten statt, vielmehr wird vom hiesigen Politnik die ökologische Proble­matik oft­mals als „Nebenwiderspruch“ ab­getan. Ma­xi­mal solidarisiert mensch sich noch mit Anti-Castor-Protesten, überlässt dann jedoch das Feld den „Ökos“, die ins­geheim belächelt werden. Diejenigen die sich we­ni­ger mit Politik beschäftigen und denen die Umwelt nicht egal ist, geben sich hin­ge­gen oftmals der Illusion hin, dass mensch mit Mülltrennung schon den ein­zig möglichen Beitrag geleistet hätte.

Schluss mit dem Etiketten­schwindel!

Die Debatte um eine nachhaltige Ent­wick­lung hat nicht nur die entwick­lungs­poli­tischen Zielsetzungen in Bezug auf är­me­re Länder verändert, sondern auch die hie­sige Entwicklung und Wirtschaftsweise in Frage gestellt. Der Westen hat, durch den zer­störerischen Umgang mit der Na­tur, sei­ne gewünschte Vorbildfunktion für die Ent­wicklung anderer Länder verloren. So ge­sehen, kann ihre Debatte um Nach­hal­tigkeit auch als ihr Versuch der Ima­ge­hei­lung betrachtet werden, da die neuen effi­zien­ten Technologien verspre­chen, die ent­standenen Schäden wieder gut zu machen, würden sie weltweit expor­tiert werden. Dass einzelne Staaten – und insbesondere die sog. Entwicklungsländer – dabei nur Eigeninteressen der Indu­strieländer ver­mu­ten, da sie bereits Jahr­zehnte l­ang auf Kosten dieser ausgebeutet wurden und zu Rohstofflieferanten für de­ren Industria­li­sie­rung degradiert waren, wäh­rend ihnen jetzt die eigene Entwick­lung bzw. Indu­stria­lisierung mit dem Ver­weis auf die Um­welt verwehrt bleiben soll, ist nachvoll­zieh­bar. Daher verbinden sie mit nachhal­tiger Entwicklung auch kei­nen progres­si­ven Diskurs, obgleich sie von den Um­welt­auswirkungen am stärksten be­troffen sind und sein werden. Schon deshalb sollte die Deutungsmacht von Nach­haltigkeit nicht in den Händen hie­si­ger Machthaber ver­bleiben, denn sie ver­stümmeln die progressiven Möglichkeiten einer Verän­derung der Gesellschafts­ord­nung und re­du­zieren sie auf ihr „business as usual“. Des­halb wäre es zumindest ein An­fang, den Begriff der Nachhaltigkeit wie­der mit radikalen Inhalten zu besetz­ten. Die Eti­kette „Nachhaltigkeit“ ver­spricht in ihrer Anwendung derzeit mehr als sie zu halten vermag. Nur weil nicht das drin steckt, was drauf steht, liegt die Lösung al­lerdings nicht darin das Etikett zu ver­werfen. Viel­mehr müsste da der Etiketten­schwindel endlich auffliegen!

momo

(1) Der Bundesverband der deutschen Indu­strie (BDI) verleiht alljährlich einen Umwelt­preis an hiesige Wirtschaftsunternehmen, wie Bayer und Henkel im Jahr 2008, die Tech­no­logien entwickeln, die umweltschonender bzw. engergiesparender sind: www.bdi-online.de/de/fachabteilungen/10183.htm

(2) Siehe: www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2007/11/2007-11-27-konsultationen-zur-nachhaltigkeitsstrategie.html

(3) Siehe: www.greenpeace.de/themen/umwelt_wirtschaft/weltgipfel_2002/artikel/nachhaltigkeit_handeln_statt_langer_reden/

(4) A SEED (Action for Solidarity, Equality, Environment, and Diversity Europe) ist ein 1991 gegründetes radikales Netzwerk junger Menschen, die sowohl Aktionen und Kampag­nen gegen Umweltzerstörung und für soziale Gerechtigkeit organisieren, als auch Trainings-, Diskurs- und Vernetzungsmöglichkeiten mit sog. Grasrootorganisationen fördern. Mehr unter: www.aseed.net

(5) weed ist eine 1990 gegründete NGO, die sich mit Ursachen der Umwelt und Armuts­prob­leme beschäftigt, sich in nationalen und inter­nationalen Netzwerken engagiert und v.a. in Deutschland mehr Bewusstsein für einen notwendigen Wandel schaffen will. Siehe auch: www.weed-online.org/themen/finanzen/20815.html

(6) Aus dem Brundtland-Bericht der „Welt­kom­mission für Umwelt und Entwicklung“ 1987

Die Illusion von Freiheit

Erich Fromm und die Vermittlung zwischen Marx und Freud

Da wir in einer Gesellschaft leben, die auf den drei Säulen Privateigentum, Profit und Macht ruht, ist unser Urteil äußerst vorein­ge­­nom­men. Erwerben, Besitzen und Geld­machen sind die geheiligten und unver­äußerlichen Rechte des Individuums in der Industrie­ge­sell­schaft.“ (1)

Erich Fromm – sowohl radikaler Human­ist und Optimist im Zeitalter der Auf­klärung, als auch selbsternannter Marxist und Freudianer – verbrachte zweifelsfrei die meiste Zeit seiner wissenschaftlichen Forschung mit den Studien von Freud und Marx. Sein Interesse galt dabei immer dem Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Psyche des Menschen.

Im Jahr 1900 als Kind orthodoxer jüdischer Eltern geboren, wendete er sich schon früh hin zu einer Art „humanis­tischer Religiösität“, die weniger ortho­dox, sondern vielmehr vom Zen-Buddhis­mus, der Mystik Meister Eckards und den Schriften von Marx geprägt war. Die Erfahrungen der zwei Weltkriege, die er z.T. im Exil mitverfolgte und die allge­meine Enttäuschung über die gescheiterte kommunistische Revolution prägten auch sein wissenschaftliches Interesse maß­geblich, so dass er versuchte, mittels der analytischen Sozialpsychologie einen Brückenschlag zwischen Individual­psychologie und Gesellschaftstheorie zu vollziehen. Eine Verbindung, die vor allem erklären sollte, warum die Menschen nicht – wie von Marx prophezeit – vom Sein zum Bewusstsein gelangen und sich selbst aus ihrer Klassenlage befreien, sondern sich stattdessen vielmehr von Autoritaris­mus und einem starken Führer anziehen lassen. Durch seine gesellschafts­theo­retischen Erkenntnisse, seine Arbeit im Frankfurter Psychoanalytischen Institut (2) und die praktischen Erfahrungen bei der Arbeit als Psychoanalytiker, entfernte sich Fromm auch zunehmend von bestimmten Freudschen Annahmen, wie der Libido-Theorie und wurde zu einem der be­kanntes­ten Revisionäre Freuds, obgleich er sich selbst zeitlebens als Freudianer bezeichnete. Dem gegenüber verlor er nie seinen positiven Bezug zu Marx und der Einstellung, die Ausbeutungsverhältnisse überwinden zu müssen, um eine humanis­tische Gesellschaft jenseits des Kapital­ismus zu errichten. Seine eigenen sozial­psychologischen Theorien, die vor allem in „Der Furcht vor der Freiheit“, „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ und „Haben oder Sein“ zum Ausdruck kommen, geben auch Einblick in seine Kritik bezüglich der Entwicklung der Gesellschaft in Zeiten von Nationalsozialismus und Kapital­ismus, sowie in seine Vorstellungen verschiedener Lebensauffassungen. Sig­nifi­kant – im Vergleich zu anderen Philosophen seiner Zeit, insbesondere der Frankfurter Schule – ist dabei jedoch seine unerschütterlich optimistische Grund­haltung, ob der Möglichkeit zur Verän­derung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich durch die Werke ziehen.

Die ungeklärte Verbindung zwischen Basis und Überbau

Als überzeugter Marxist und Anhänger der kommunistischen Revolution versuchte Fromm in seiner Synthese zwischen den individualpsychologischen Annahmen Freuds und der Gesellschaftstheorie Marx’ zu erklären, warum die objektiven ökono­mischen Verhältnisse (das Sein, die Basis) scheinbar nicht im Bewusstsein der Menschen als problematisch empfunden werden; also weshalb sich die Menschen anpassen und zu überzeugten Anhängern des Systems werden – obgleich sie nicht profitieren – statt gegen die Ausbeu­tungsverhältnisse mobil zu machen. Gleichzeitig wollte er damit jedoch nicht die Marxsche Theorie der Möglichkeit zur Überwindung dieses Systems in Frage stellen, sondern vielmehr durch die Erläuterung des psychischen Mechan­ismus ein größeres Verständnis fördern, wie schwierig (aber nicht unmöglich) der Weg vom Sein zum Bewusstsein ist. Er beschreitet damit einen Weg, der von Marx selbst nie begangen wurde, da sich für diesen der Übergang von der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘ eben einfach und irrtümlich durch das Bewusst-werden der Klassenlage ergibt. Dieses Bewusst-werden wird nach Fromm jedoch haupt­sächlich durch drei Faktoren behindert: den gesellschaftlich modifizierten Trieb­apparat, den Gesellschaftscharakter und das gesellschaftliche Unbewusste.

Der gesellschaftlich modifizierte Triebapparat

Fromm vertrat die These, dass der menschliche Triebapparat bereits in gesellschaftlich veränderter Form er­scheint, also die tiefsten inneren Bedürf­nisse des Einzelnen bereits Anpassungen bzw. Sublimierungen der eigentlichen Triebe an die gesellschaftlich erreichbaren Bedürfnisse sind. Ausgangsbasis für diese These sind Freuds Analysen zum Selbster­hal­tungs­trieb und Sexualtrieb. Der Selbsterhaltungstrieb bezeichnet dabei essentielle Bedürfnisse wie Hunger, Schlaf und Fortpflanzung. Während der Sexual­trieb bei Freud die sexuellen Begierden beschreibt, bilden bei Fromm hingegen die Leidenschaften wie Selbstver­wirk­lichung aber auch die Sehnsucht nach Zwischenmenschlicher Liebe den zweiten Strang der ursprünglichen Triebe. Der Sexualtrieb unterscheidet sich vom Selbsterhaltungstrieb darin, dass er nicht zwingend existierende Mittel benötigt (er ist z.B. durch Phantasien komprimierbar) und zudem aufschiebbar, verdrängbar, sublimierbar und austauschbar ist.

Eben weil die Bedürfnisse dieses Triebes sehr anpassungsfähig sind und vielfältig befriedigt werden können, schließt Fromm daraus weiter, dass sich die Menschen auch bezüglich der Art zu Leben in der Gesellschaft an die ihnen zur Verfügung stehenden und erreichbaren Mittel anpassen und ihre eigentlichen Bedürfnisse so sublimieren. Da wir durch unsere Familie und den Rest der Gesell­schaft von vornherein Sublimierungs­möglichkeiten für Bedürfnisse angeboten bekommen, die eben nicht mehr die eigentlichen und ursprünglichen Leiden­schaften befriedigen, sondern den gege­benen Möglichkeiten entsprechen, wer­den wir uns jener auch nicht mehr bewusst. So ist die menschliche Psyche von vornherein gesellschaftlich veränderte Psyche und der Triebapparat ein bereits gesellschaftlich modifizierter Triebapparat. Ein Beispiel dafür ist der Erwerbstrieb, der eigentlich nicht existiert, sondern lediglich einen Ausdruck des Bedürfnisses nach Anerkennung oder Selbstverwirklichung darstellt. Dass die meisten Menschen im kapitalistischen System jedoch davon überzeugt sind (und waren), diesen Trieb zu verspüren, ist für Fromm ein Beweis, wie die eigentlichen Bedürfnisse bereits an die gesellschaftliche Realität angepasst bzw. sublimiert wurden, um den Anforde­rungen im Kapitalismus gerecht zu werden. So kann er erklären, warum die Menschen nicht zu einem Bewusstsein über ihre objektive Klassenlage gelangen: weil die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche des Einzelnen bereits an die ökonomischen Gegebenheiten angepasst sind und der eigentliche Widerspruch zwischen dem möglichen gutem Leben und der Realität nicht mehr zum Aus­druck kommt.

Der Gesellschaftscharakter

Ausgangspunkt für Fromms eigene, dynamische Konzeption des Gesellschafts­charakters ist die Freudsche Charakter­konzeption. (3) Fromm hält allerdings nicht viel von Freuds Libido-Theorie – sprich seiner Sexualisierung der unbe­wussten Vorgänge – und verwirft deshalb auch seine Erklärung zum Ursprung der verschiedenen Charaktere. Stattdessen setzt er die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren begünstigende Charakter­eigenschaften als Ausgangsbasis zur Herausbildung der sog. Gesellschafts­charaktere, welche wiederum den Kern der Charaktereigenschaften beschreiben, den die meisten Mitglieder einer Kultur gemeinsam haben. Oraler und analer Charakter sind demnach nicht das Ergebnis sexueller Erregung, sondern Spiegelbild gesellschaftlicher Realitäten in Form von Verhaltensmerkmalen, die sowohl Aufschluss über Familie und Gesellschaft geben, als auch das optimale Funktionieren der Gesellschaft garan­tieren. So beschreibt der Gesellschafts­charakter im Grunde die gebündelten und verallgemeinerten Bedürfnisse des modifi­zierten Triebapparates, die sich in Verhal­tens­merkmalen und Charakter­eigen­schaften manifestieren.

Am bereits erwähnten sog. Erwerbstrieb (hinter dem eigentlich andere Bedürfnisse stehen) lässt sich dies gut verdeutlichen: Die Arbeit gilt unter den Menschen durch die moderne Industriegesellschaft weniger als Mittel zum Zweck, sondern als angestrebtes Ziel an sich, mit denen Werte wie Pünktlich­keit, Ordentlichkeit und Disziplin einhergehen, die notwendig sind, um z.B. den Produktionsprozess reibungslos und dauerhaft fortzuführen. Die Interna­lisierung seitens der Mehrzahl der Mitglie­der der Gesellschaft, diese Werte an­zu­stre­ben, verdeutlicht, wie sehr sich die Men­sch­en bereits von ihren ursprünglichen Be­dürfnissen entfernt haben und wie sich dies sogar in den Verhaltens- und Char­ak­ter­merkmalen widerspiegelt. Sicherlich gibt es solche individuellen Charak­tereigenschaften auch unabhängig von den ökonomischen Bedingungen, den­noch kann man die gewachsene Be­deutung dieser Werte anhand der ökono­mischen Umstände erklären. Der Gesell­schafts­charakter, als Bündel der „ge­wün­schten Eigenschaften“ wird zum Ver­mittler zwischen den ökonomischen Be­dingungen und der Psyche der Menschen. Fromm führt einige Beispiele in ver­schie­den­en historischen Epochen an, bei denen der (anfangs ungewollte, dann ge­sell­schaft­lich internalisierte) Wertewandel deut­lich wird; insbesondere aber bezieht er sich auf den Gesellschaftscharakter des Ka­pitalismus, den er weitestgehend mit Freuds analem Charakter vergleicht, bei dem vor allem das Besitzen, Haben und Hor­ten von Eigentum eine zentrale Rolle spielt. Im Vergleich zum frühen, cal­vi­nis­tisch geprägten Kapitalismus, in dem Spars­amkeit ein hoher Wert war, gehen die Tendenzen jetzt hin zu einer pseudo-he­donistischen Verhaltensweise, in der größt­möglicher Konsum an Bedeutung ge­winnt. Ebenso zählen in diesem Ge­sell­schafts­system Werte wie Rationalität und Sou­veränität weitaus höher als Mitleid und zwischenmenschliche Beziehungen, zudem wird Liebe heute zunehmend ver­ding­licht und rationalisiert:

Als die Haupt­charakterzüge des bürgerlichen Geistes glauben wir annehmen zu dürfen: Einerseits die Einschränkung des Genusses als Selbst­zweck (speziell der Sexualität), den Rückzug von der Liebe und die Ersetzung dieser Positionen durch die lustvolle Rolle des Sparens, Sammelns und Besitzens als Selbst­zweck, der Pflichterfüllung als obersten Wert, der rationalen ‚Ordentlichkeit‘ und der mit­leid­­losen Beziehungslosigkeit zum Mit­men­schen.“ (4)

Allerdings unterscheidet Fromm hier noch einmal zwischen den jeweiligen Lebensumständen der Mitglieder der Gesellschaft und kommt zu dem Schluss, dass die beschriebenen „analen Charakter­züge“ im Gesellschaftscharakter des Kapi­tal­ismus eher denen des Kleinbürgertums ent­sprechen, wohingegen das mittellose Pro­letariat eher mit oralen Charakter­zügen vergleichbar wäre. (5) Im Grunde be­schreibt Fromm den Ge­sell­schafts­charak­ter als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, wo menschliche Energie und die offene Veranlagung zur Aus­prä­gung verschiedener Charaktere so um­ge­formt wird, wie es der derzeitigen Ge­sell­schafts­form „nützt“.

Das gesellschaftliche Unbewusste

Ein weiteres Element, das zwischen Basis und Überbau vermittelnd wirkt, ist das gesell­schaftliche Unbewusste. Sowohl Marx als auch Freud gehen davon aus, dass wir in einem sog. ‚falschen Bewusstsein‘ le­ben und unsere Wirklichkeit nicht immer der tatsächlichen Realität ent­spricht. Freud hebt damit hauptsächlich auf das individuelle Unbewusste ab, in dem die verdrängten und sublimierten libidinösen Kräfte schlummern, die durch den Widerstand des Ichs und des Über-Ichs nicht zu Tage treten. Fromm erweitert Freuds Theorie dahingehend, dass er nicht nur sexuelle Triebe und Gefühle als verdrängt erachtet, sondern alle Tatsachen und Ideen, die dem Weltbild – meistens den herrschenden ge­sell­schaftlichen Normen – zuwiderlaufen. Denn das Weltbild dient als eigener Bezugsrahmen, der Sicherheit und Orientierung ge­währ­leistet, weshalb das, was mit den gesell­schaft­­lichen oder fa­mi­liären Sitten unvereinbar ist, ab einem gewissen Punkt ins Un­be­wusste verdrängt wird, um diese Sicherheit nicht zu ge­fährden.

Weil hier die menschliche Subjektivität durch die ge­sell­schaftlichen, objektiven Faktoren bestimmt wird, die wiederum in­direkt das Handeln beeinflussen, lebt der Durchschnittsmensch in der Illusion, frei zu sein. Fromm spricht in diesem Zu­sammenhang von dem gesellschaftlichen Un­be­wussten, dem kol­lektiven Verdrängen der „objektiven“ ge­sell­schaftlichen Umstände (wenn sie dem eigenen Weltbild zu­widerlaufen) aus Angst vor Iso­lation aus gesellschaftlichen Grup­pen. Auch Marx geht von ei­nem ‚falschen Bewusstsein‘ aus, aller­dings sind die Faktoren, die das Bewusstsein beeinflussen, nicht wie bei Freud die trieb­tech­nischen Bedürfnisse, sondern die ge­sell­schaftlichen, öko­no­mischen und historischen Verhältnisse. Da er ja prinzipiell davon aus­geht, dass das Sein das Bewusstsein be­stimmt, ist es logisch, dass die gesellschaftlichen Produktions­ver­hältnisse auf die Le­bens­praxis und diese wiederum auf das Be­wusstsein wirken. Fromm stärkt nun, durch seine These des ge­sellschaftlichen Un­be­wussten, Marx’ Argument und bringt sie mit den Freudschen An­nahmen zum individuellen Unbewussten in Verbindung.

Wenn Marx bedeutend sagt: „Die Forderung die Illusion über einen Zus­tand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf“ (6), dann plädiert er für eine Bewusstwerdung ins­besondere der ‚Klasse an sich‘ zur ‚Klasse für sich‘, um die ge­sellschaftlichen Verhältnisse zum Umsturz zu bringen und die Menschen von ihrer Illusion zu befreien. Für diese Be­wusst­werdung argumentiert Fromm auch, sieht aber hauptsächlich die drei erläuterten Elemente der menschlichen bzw. gesellschaftlichen Psy­che, die die Vermittlung zwischen Basis und Überbau zwar er­klären, jedoch im Marxschen Sinne auch erschweren: das ge­sellschaftliche Unbewusste, das (im ideellen Überbau angesiedelt) die Impulse vergräbt, die nicht mit den gesellschaftlich gegeben Werten übereinstimmen; der Gesell­schafts­­charakter, der die herrschenden Verhaltens- und Charaktermerkmale als gewünschte und ureigenste zwischen Basis und Überbau vermittelt; und die ge­sellschaftlich modifizierte Triebstruktur, die von der Basis aus be­reits die eigentlichen menschlichen Bedürfnisse und Triebe in ge­sellschaftlich realisierbare modifiziert.

Mit dieser Erklärung, die Fromm nur mit Hilfe der Freudschen psychoanalytischen Er­kenntnisse fassen konnte, kann er die Wechselwirkung zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen objektiven Verhältnissen (Basis) und subjektiven Bedürfnissen (Überbau) einleuchtend erklären und durch das Wie der Vermittlung Marx untermauern. Warum es bisher nicht zu der von Marxisten prophezeiten Revolution ge­kommen ist, wird so auch deutlich: denn mit den beschriebenen Hin­dernissen, die zwischen der Klasse an und für sich liegen, ist eine Bewusstwerdung schwierig zu vollziehen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es dem Proletariat dann ökonomisch besser ging und dementsprechend durch Konsumbefriedigung die eigentlichen Bedürfnisse relativ gut sublimiert wurden. Allerdings lässt Fromm auch die Hoffnung auf Umsturz der Ver­hältnisse offen, denn er geht davon aus, dass bei zunehmenden ob­jektiven Widersprüchen die libidinösen Leidenschaften, die noch als ‚Kitt‘ fungieren und sich an die gesellschaftliche Realität an­passen, dann zur Sprengkraft werden und wiederum verändernd auf die ökonomischen Verhältnisse einwirken können. Leider verrät Fromm an dieser Stelle nicht, wie die optimistische Wendung in den Rahmen seines Konzeptes integriert werden kann, wo die Menschen doch nun neben der ökonomischen Ab­hängigkeit auch psychisch der gesellschaftlichen Realität ausgeliefert sind. Einige Handlungsansätze, die den Weg weg vom kapitalistischen Denken bereiten können, bietet Fromm jedoch in „Haben oder Sein“ an. Trotz der Ungeklärtheit der theoretischen Einbettung, gibt sein Optimismus und die herzerfrischende Philosophie dem Zusammendenken von Gesellschaft und Psyche eine neue erfahrenswerte Dimension und untermauert zudem die eigene politische Motivation.

(momo)

Nur in einer Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung gibt und die daher nicht auf irrationale Annahmen zurückgreifen muß, um die Ausbeutung zu vertuschen oder zu rechtfertigen, nur in einer Gesellschaft, in der die grundlegenden Widersprüche gelöst sind und in der die gesellschaftliche Wirklichkeit unverzerrt erkannt werden kann, kann der Mensch vollen Gebrauch von seiner Vernunft machen und erst dann kann er die Wirklichkeit unentstellt erkennen, das heißt, erst dann kann er die Wahrheit sagen.“ (7)

Literatur von Fromm: „Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud“, „Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie“, „Die Furcht vor der Freiheit“, „Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung“, „Haben oder Sein“

(1) Fromm (1976) „Haben oder Sein“
(2) Das Psychoanalytische Institut wurde 1929 gegründet und befand sich in den Räumen des Frankfurter Institutes für Sozialforschung (IfS), das unter der Leitung von Max Horkheimer stand. Ab 1930 war Fromm Leiter der sozialpsychologischen Abteilung, die – wie alle Institute – unabhängig waren, jedoch im ständigen Austausch standen. Fromms Freundschaft und Zusammenarbeit mit Horkheimer und dem IfS verminderte sich erst im New Yorker Exil, u.a. bedingt durch Fromms Entfernung zur kritischen Theorie hin zu mehr Soziologisierung der Freudschen Psychoanalyse, diversen Geldstreitigkeiten und Auseinandersetzungen mit Adorno.
(3) Dort entwirft Freud verschiedene Charaktere, die insbesondere bei neurotischen und perversen Menschen zum Ausdruck kommen und Ergebnis einer gestörten kindlichen Entwicklung in Bezug auf die eigene Sexualität sind. In dieser Konzeption entsteht der orale Charakter z.B. durch Entzug von der Mutterbrust und der anale Charakter resultiert aus Störungen der sexuellen Faszination dem eigenen Stuhl gegenüber.
(4) Fromm (1970): „Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie“
(5) An dieser Stelle wird seine idealisierte Sichtweise besonders deutlich, da er mit dem oralen Charakter vor allem die Lebensweise des Seins verbindet. Da er allerdings auch selber feststellte, dass das nicht der Realität entspricht, weil auch innerhalb des Proletariats anale Charakterzüge zu finden sind, erklärte er sie mit der Prägung durch die traditionelle Familie, die den vorherrschenden Gesellschaftscharakter an ihre Kinder weitergibt.
(6) Marx in Fromm (1962): „Jenseits der Illusionen“
(7) Fromm (1980): „Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größen und Grenzen“

INNERE SICHERHEIT föderativ und zentral

Die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zum ganz „normalen“ Polizeistaat

Was man in Leipzig schon ahnt, ist im restlichen Territorium der Bundesrepublik noch nicht bekannt. Neben einem kruden Häuflein Worchianer, alten Kameraden, Faschisten und Nationalsozialisten und einer kunterkonterbunten Menge von verschieden antifaschistisch inspirierten Menschen nutzt mittlerweile noch eine dritte Gewalt, die recht eigentlich die erste ist, die Leipziger Straßen, um am 1. Mai Stärke zu demonstrieren – es ist der Staat, der hier mittlerweile alljährlich die funktionale Differenzierung seiner Exekutiv­behörden paradiert. Da brüten neben Hundertschaften des BGS und der Bereitschaftspolizei, BFEs aus Thüringen und Sachsen in der prallen Sonne. Eine SEK schleicht über Hinterhöfe, ständig in Kontakt mit dem MEK. Ohne ersichtlichen Grund lässt der diensthabende Einsatzleiter zwei Hundertschaften bayrische USK die breite Straße zum Bahnhof hinunter besetzen. Es bleibt zu dieser Stunde und an diesem Ort ein „Zur Schau stellen“. Kontrollen, Maßnahmen wie Gas-, Spray- und Knüppeleinsatz, ED-Behandlungen und Festnahmen finden dagegen in dem schwer einsichtigen Gelände rund um den zweiten angemeldeten Treffpunkt der Neonazis statt.

Trotz der großen Anzahl an Gegende­mons­­trantInnen, die sich teils schon früh zum alljährlichen Maizug zusammengefunden hatten und der offensichtlichen personellen Unterbesetzung der versammelten Polizeiverbände, trotz der erschwerten Situation, dass die rechten Radikalos ihr Glück diesmal in einer doppelten Strategie (zwei angemeldete Demonstrationen) suchten, trotz alledem blieb offenbar genug Zeit und Potential, um die innere Geschlossenheit von Länder-&Bereitschaftspolizei, Bundespolizei (ehemals BGS – siehe Kasten unten) und den polizeilichen Spezialeinheiten in die (mediale) Öffentlichkeit zu transportieren. Zum Ausdruck kommen soll, dass professionelle Polizeiarbeit auch zum neuen nationalen Selbstbewusstsein Deutschlands gehört. Es reicht nicht mehr, diesen Zusammenhang nur nach seiner integrierenden und repressiven Funktion zu untersuchen, vielmehr muss die mediale Repräsentation der deutschen Polizei heute perfider Weise auch als gezielte Marketing-Strategie verstanden werden. Denn es gibt bereits einen globalen Markt um Personal, Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung, um allgemeine Technologie der Kontrolle und Disziplinierung, der sich seit dem Wegfall der großen Blöcke intensiviert und seit der Greueltat vom 11.09.2001 eine neue Qualität erreicht hat. Und auch hier beweist sich die geheimnisvolle Kraft des deutschen Exports. Die deutsche Polizei ist überall gefragt und heiß begehrt, ob nun streifend durch die Regionen des Balkans, leicht gepanzert durch die darbenden Wälder des Kongo oder tief eingegraben in die Geröllhalden Afghanistans und den Wüstensand Iraks – wo es heute brennt, da darf auch die deutsche Polizei nicht fehlen, weil sie gut ausgebildet und ausgerüstet, weil sie eben professionell ist. Daraus leitet sich wesentlich auch der Anspruch der größten Fraktionen des deutschen Parlaments auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO ab. Diese These mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig klingen, könnte man diesem parlamentarischen Anspruch doch genauso gut auch die aktive Rolle der Bundeswehr zu Grunde legen.

Eine nur irgendwie erschöpfende Analyse, wie die deutschen Parlamentarier und Parteien zu solcherlei vermessenen Ansprüchen kommen, müsste tatsächlich diesen Punkt berücksichtigen, neben einer ausführlichen Parteigeschichte und letztlich gar einer sozial-psychologischen Untersuchung der Rolle des Parteifunktionärs als Parlamentarier selbst. All das kann hier nicht im Ansatz unternommen werden. Ich werde mich damit begnügen, die Relevanz dieser Thematik und ihrer ausführlichen Behandlung vor Augen zu führen, in dem ich auf die wenig beachtete Entwicklung der deutschen Polizei verweise und ihre gewichtige Rolle für einen neuen deutschen Nationalismus betone. Fragen der grundrechtlichen Bewertung bestimmter Entwicklungen bzw. völkerrechtliche Fragen im Rahmen sogenannter „Grauzoneneinsätze“ spielen nur insofern eine Rolle, wie hier ein expansives Feld zwischen äußerer und innerer Sicherheit, die Entwicklung neuer Technologien der Kontrolle und Diszipli­nierung möglich gemacht wird.

Polizei oder Miliz?

In der konventionellen Polizeiforschung wird die Entstehung halbstaatlicher paramilitärischer Verbände gern über einen quasi natürlichen „Bedarf“ erklärt. Das schnelle Wachstum der Städte im 16. und 17. Jahrhundert hätte verschiedene Versor­gungskrisen ausgelöst, die wiederum eine Behörde zur Regulation, Begrenzung und Kontrolle notwendig machten. Seitdem seien die Aufgaben der Milizen bzw. Polizei nur quantitativ ausgewachsen und hätten so die funktionale Differenzierung hin zu den modernen Polizeiverbänden bewirkt. Kaschiert werden soll damit offensichtlich, dass Stärke, Aufgabenbereich und Ausrüstung, sowie die daran notwendig geknüpfte Differenzierung solcher paramilitärischen Verbände schon seit je Produkt politischen Willens waren und darum eben nicht notwendig, ja nicht mal einmal hinreichend einem puren „Bedarf“ entspringen. Doch vielmehr als Ursprung und Ursache interessiert hier Zusammenhang, Funktion und Tendenz im qualitativen Sinne. Um der deutlichen Abgrenzung zum Begriff der „Miliz“ hin werde ich „Polizei“ im Folgenden deshalb auf diejenigen paramilitärischen Verbände beschränken, die per moderner, parlamentarisch legitimierter Rechtssetzung innerhalb eines nationalen Staatsgebietes durch monopolisierte Gewalt agieren. Anders: Die Polizei ist die wichtigste Kontrollbehörde des modernen Staates. Sie dient der Segregation und Disziplinierung, der Integration und Assimilation. Sie setzt sich letztlich durch, wenn gesetzmäßiges Recht durchgesetzt wird. Sie ist eben die Exekutivgewalt des Nationalstaates. Dies zeigt sich um so deutlicher, je mehr die Relevanz stehender Heere in Europa nachlässt.

Die deutsche Polizei vor 1945

Von Polizei in Abwesenheit eines aktiven Nationalstaates zu reden, wäre deshalb in gewisser Weise widersinnig. Die Polizei ist eben kein Agent der Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen, sondern dient einzig der jeweils geltenden, d.h. im modernen Kontext der parlamentarisch legitimierten, Rechtsprechung. Ein Polizeiverband, der sich dieser Grundlage entzieht, wird zur Miliz. Um die Rechtsbindung der verschiedenen paramilitärischen Verbände sicherzustellen, hat der moderne Staat mittlerweile ein komplexes Geflecht der bürokratischen und psychologischen Kontrolle für seine Exekutiv-BeamtInnen entwickelt. Die Diszipli­nierung der Milizen hin zur Polizei muss überhaupt zu den größten Stabilisierungsleistungen des Status quo im modernen Nationalstaat gezählt werden.

Von deutscher Polizei im Sinne der oben angegebenen Definition lässt sich also erst­mals mit der Reichsgründung von 1871 reden. Die maßgeblichen Verwal­tungs­entschei­dun­gen zur Bildung einer reichs­über­­grei­fen­den Polizei werden allerdings schon 1848 geschaffen: Es ist die königlich preußische Schutzmannschaft in blauer Uniform mit Pickelhaube, die von nun an der Befehlsgewalt der Landesfürsten bzw. des Kaisers direkt untersteht. Bereits 1850 wird die bisher kommunale Polizei via Gesetz aufgelöst. Frühe Formen der Kriminal-, Ordnungs- bzw. Schutz-, Verwaltungs- und Staatspolizei wie etwa der „Polizey­reuter“, der „Gendarm“ oder der „Polizei­inspek­tor“ werden in diesem neuen Poli­zei­verband zusam­mengefasst. Dennoch besteht auch weiter­hin und abseits der Städte eine kommunale Polizeistruktur.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges und mit Gründung der Weimarer Republik sieht sich der deutsche Staat zur erneuten Restrukturierung seiner Polizei gezwungen. Um die konservative Restauration zu stärken, wird aus Korporierten und bewaffneten Freikorps die Sicherheitspolizei (Sipo) gegründet und 1920 zusammen mit der preußischen Polizei in die sogenannte Schutzpolizei (Schupo) integriert. Die Schutzpolizei unterstand in dieser Zeit größtenteils den Landesherren. Die Gründe für den starken Auf- und Ausbau der Schutzpolizei in der Weimarer Republik liegen zum einen beim Versailler Verdikt der Siegermächte, kein neues stehendes Heer (Reichswehr) über einer Gesamtgröße von 100.000 Mann auszuheben, zum anderen in den innenpolitischen Spannungen, die die ganze Zeit der Weimarer Republik durchziehen, begründet. Der Versuch, 1922 ein Reichskriminal­polizeiamt (RKPA) aufzustellen, wurde jedoch erst 1937 verwirklicht, bis dahin entstanden vor allen Dingen in den Zwanzigern die Landeskriminalpolizeiämter (LKPA), beides Vorläufer des jetzigen BKA und LKAs. Über das Wirken der politischen Staatspolizei (Stapo) ist bisher wenig bekannt.

Vorbereitet durch die Absetzung der preußischen Landesregierung („Preussen-schlag“) fällt den Nationalsozialisten mit der Machtübernahme der NSDAP 1933 dann das „heimliche“ zweite Heer des deutschen Staates praktisch in den Schoß. In Kürze werden leitende und hohe Beamte ausgetauscht und insgesamt ca. 40.000 SA- und SS-Leute und 10.000 Stahlhelmleute zu Hilfspolizisten ernannt.

Am 26. April 1933 gründet Hermann Göring, preußischer Innenminister und später Ministerpräsident, das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa), aus dem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) hervorgeht. Die preußische Polizei wird in eine Ordnungspolizei (Orpo) und Kriminalpolizei (Kripo) neu strukturiert. Die Staatspolizei (Stapo) und die politische Abteilung der Kripo werden der Gestapo zugeteilt. Der bereits 1931 in Bayern von Heinrich Himmler geschaffene interne Sicherheitsdienst (SD) der NSDAP war bis zum Kriegsbeginn hauptsächlich mit Personenschutz und Verfolgung interner und externer Gegner der Partei beschäftigt. 1939 verschmilzt Himmler die Kripo, Gestapo und den SD im Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Polizeibataillone dieser neuen Sicherheitspolizei folgten der Wehrmacht bei ihrem Ver­nichtungsfeldzug durch Europa auf Schritt und Tritt, und sie sind verantwortlich für die schlimmsten Greueltaten der Mensch­heits­geschichte. Die Bataillone bestanden etwa aus 1.000 Mann: 100 Gestapo-Männer, 30-35 SD-Leute, 40-50 Kripobeamte, 130 Ordnungspolizisten, 80 Hilfspolizisten, 350 Männer der Waffen-SS, 150 Fahrer und Mechaniker sowie Dolmetscher, Funker, Schreibkräfte, Sanitäter, Köche etc. und werden heute für weit über 1 Millionen Tote allein hinter der „Ostfront“ verantwortlich gemacht. Neben der gezielten Ermordung der osteuropäischen Juden waren sie auch an der unbarmherzigen Unterdrückung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten beteiligt und damit ein wichtiges Instrument für die Einrichtung, die Verwaltung und letztlich auch die Liquidierung der Ghettos.

Nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes wurde das verbliebene deutsche Staatsterritorium von den Siegermächten in vier Besatzungszonen geteilt, aus denen 1949 die beiden Satellitenstaaten Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstehen. Am 14. April 1949 erlassen die drei alliierten Militärgouverneure einen Polizeibrief, der die Verantwortung über die Polizei in der „Westzone“ an die Länderkompetenz verweist und damit die bereits entstandenen kommunalen und Gemeindepolizeien stützt. Die Maßnahme soll eine erneute Zentralisierung und Aufstellung eines „heimlichen“ zweiten Heeres wie in der Weimarer Republik erschweren. In der „Ostzone“ wurde derweil schon am 1. Juli 1945 eine neue staatsübergreifende Volkspolizei (VP) gegründet, der bereits 1946 die Deutsche Grenzpolizei (DGP) zum Schutz der neuen Staatsgrenzen folgt.

Ich werde diesen beiden Geschichtslinien im zweiten Teil noch ein wenig weiter folgen müssen, um eine gewisse Vollständigkeit zu präsentieren und zu fundierten Schlüssen zu kommen. Vorab sei bemerkt, dass sich an dem Bisherigen schon ablesen lässt, inwieweit die spezifisch föderale Struktur der postfaschistischen deutschen Polizei in der BRD Produkt eines politischen Willens ist. Es galt das Wiedererstarken eines deutschen Staates möglichst zu hemmen, um die Fehler des Versailler Vertrages nicht erneut zu wiederholen. (Fortsetzung folgt …)

(clov)

Vom Grenzschutz zur Bundespolizei – die kleine Geschichte des BGS

Der Bundesgrenzschutz (BGS) wurde 1951 hauptsächlich aus ehemaligen Wehrmachtsangehörigen zusammengestellt und wesentlich durch den Aufbau von Grenzeinheiten der Volkspolizei (VP) der DDR begründet. Bereits zwei Jahre später wird die Personaldecke der Grenzschutzgruppen (GSG) verdoppelt. Der Aufgabenschwerpunkt lag damals auf der Absicherung der innerdeutschen Grenze. Der BGS war dadurch seit je her schwerer ausgerüstet als die länderspezifischen Polizeien. Nachdem die Alliierten 1956 erneut dem Aufbau eines deutschen, stehenden Heeres zustimmten, wurden gut 10.000 BeamtInnen des BGS in die neu geschaffene Bundeswehr überführt. Der Aufgabenbereich des BGS ist seitdem ständig angewachsen und recht eigentlich war der BGS schon seit seiner Gründung das heimliche zweite Heer des deutschen Staates. Erst mit Schutzaufgaben bei Geldtransporten und zum Katastrophenschutz eingesetzt, erreichen die Befugnisse des BGS im Zuge der Notstandsgesetze von 1968 und der RAF-Verfolgung in den Siebzigern eine völlig neue Qualität. Aus der Grenzschutzgruppe 9 entsteht die neue Anti-Terror-Einheit GSG9. Mit der Neuordnung des Bundesgrenzschutz-Gesetzes wird die Zusammenarbeit mit den Länderpolizeien intensiviert. Der BGS beteiligt sich an Großfahndungen nach RAF-Gruppen und Schutzaufgaben bei Großveranstaltungen wie der Olympiade 1972 in München oder der Fußballweltmeisterschaft 1974. 1975 übernimmt der BGS auch den Schutz der Amtssitze der wichtigsten Ministerien des Bundes. 1977 werden Hundertschaften des BGS zum Schutz der Baustellen von Kernkraftanlagen in Grohnde und Brokdorf eingesetzt, zeitgleich wird der Personalstand weiter aufgestockt. 1979 schützen BeamtInnen des BGS den Bau des nuklearen Entsorgungszentrums in Gorleben. 1985 sind Einheiten des BGS hauptverantwortlich für den Schutz des Weltwirtschaftsgipfels in Bonn. 1987 unterstützen BGS-Gruppen den Bau der bayerischen Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Im selben Jahr werden erstmals Frauen in den Vollzugsdienst aufgenommen. 1989 erfolgt der erste Auslandseinsatz zur Unterstützung von Polizei-Einheiten der UNO in Namibia. 1990 spielt auch der BGS bei der reibungslosen Abwicklung der DDR eine wichtige Rolle, über 7.000 BeamtInnen der Volkspolizei werden in den BGS integriert. Nachdem der BGS 1992 die Aufgaben sowie weitere BeamtInnen der Bahnpolizei übernimmt und nun auch für die Sicherung des Luftverkehrs zuständig ist, beginnt eine weitreichende Restrukturierung, die sicher auch mit dem Schengener Abkommen und der damit zusammenhängenden Abrüstung der europäischen Binnengrenzen in eins geht. Seit 1995 bewacht der BGS alljährlich den Transport von abgebrannten nuklearen Brennelementen nach Gorleben, sowie andere atomare Transporte. 1998 wird das Gesetz für den Bundesgrenzschutz erneut überarbeitet, der BGS erhält damit erweiterte Befugnisse zur Verhinderung unerlaubter Einreisen in das Bundesgebiet. Mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz, das am 01.01.2002 in Kraft tritt, werden erneut zahlreiche Gesetze geändert. Seit 2003 ist der BGS u.a. maßgeblich an Aufbau und Ausbildung der afghanischen Polizei beteiligt. Am 30. Juni 2005 wird das Gesetz zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei (BPOL) verkündet. Zwar sind mit der Umbenennung keine unmittelbaren Befugnisänderungen verbunden, dennoch erhält die BPOL neue Ausrüstung und Technik sowie eine intensivere Datenvernetzungsarchitektur. Letztlich ist die Namensänderung lediglich als Endpunkt einer über 30jährigen Entwicklung zu betrachten, die mit einer steten Aufgabenerweiterung verbunden war.

Elemente deutscher Sicherheits-Architektur

Zentrale Einrichtungen:

Das Bundesministerium für Inneres (BMI) wird derzeit von Wolfgang Schäuble (CDU) geleitet. Neben einigen beratenden und verwaltungstech­nischen ist vor allen Dingen der stete Ausbau der sicherheitsrelevanten Abteilungen auffällig. Die erste dieser Abteilungen, die heutige Abteilung B (zuständig für die Angelegenheiten der Bundespolizei), wurde bereits 1951 im Zuge der Einrichtung des BGS gegründet. Weitere eigenständige Behörden sind heute die Abteilung P, zuständig für Poli­zei­angelegen­heiten und Terrorismusbekämpfung, die Abteilung IS, zuständig für Innere Sicherheit, die Abteilung M, zuständig für Migration, Integration, Flüchtlinge und Europäische Harmoni­sie­rung und zwei Stabsstellen, einmal für BOS-Digital-Technik und einmal für Krisenmanagement. Mit gut 53.000 MitarbeiterInnen und einem Gesamt-Etat von mehr als 4 Milliarden Euro ist das ein BMI ein gewichtiges Ministerium des Bundes.

Das Bundeskriminalamt (BKA) umfasst ca. 5.000 BeamtInnen und ist vorwiegend mit der zentralen Datensammlung und -weitergabe beschäftigt. In dem zentralen Fahndungs-Archiv INPOL sind derzeit Lichtbilder und Fingerabdrücke von mehr als drei Millionen Personen gespeichert. Seit 1975 verfügt das BKA auch über eine Abteilung für "Terrorismusbekämpfung", die 2004 durch das neue "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) ergänzt wurde. Das BKA wird aber insbesondere auch zum Personenschutz der oberen und obersten BeamtInnen des Bundes eingesetzt. Hierzu stehen dem Amt die Abteilungen Siche­rungs­gruppe (SG) und Staatsschutz (ST) zur Verfügung.

Oft unterschätzt und vergessen wird die ebenfalls umfangreiche und stark vernetzte Zollbehörde des Bundes. Das im Zuge der Umstrukturierung des BGS 1992 neugegründete Zollkriminalamt (ZKA) verfügt neben einigen Fahndungs- und Ermittlungsgruppen auch über Spezialeinheiten wie die Unterstützungsgruppen Zoll (UGZ) oder etwa die seit 1997 neue Zentrale Unterstützungsgruppe Zoll (ZUZ).

Ein weiterer wesentlicher Stützpfeiler der innerdeutschen Sicherheit war und ist der Bundesgrenzschutz (BGS), der nun seit 2005 Bundespolizei (BPOL) heißt (siehe Kasten links). Nach dem Attentat von 1972 in München wurde dem BGS auch die Antiterroreinheit Grenzschutzgruppe 9 (GSG9) angegliedert, die heute mehr als 240 aktive BeamtInnen beschäftigt.

Abschließend zu nennen wären noch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bzw. die verschiedenen Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), die eng vernetzt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, mit ihren BeamtInnen den inländischen Geheimdienst der Bundesrepublik bilden.

Förderale Einrichtungen:

Die länderspezifischen Polizeieinheiten, die sogenannte Länderpolizei, setzt sich je nach Bundesland aus der Kriminalpolizei des zuständigen Landeskriminalamtes (LKA), der jeweiligen Verkehrspolizei und diversen Schutzpolizei-Einheiten zusammen. Ergänzt wird dieses Ensemble fast in allen Bundesländern durch Einheiten der Bereitschaftspolizei, die allerdings auch unterstützend und länderübergreifend von den Zentralbehörden eingesetzt werden. Spätestens seit der Verfolgung der RAF in den Siebzigern wurden weitere Spezialeinheiten aus der Bereitschaftspolizei ausdifferenziert. Zu nennen wären hier vor allen Dingen die sogenannten Sondereinsatzkommandos (SEK) und die Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Länder. Berühmt und berüchtigt sind auch bspw. die Unterstützungskommandos (USK) Bayerns, umgangssprachlich „Schwarzpelze“ genannt, die mit über 450 Beamten eine größere Personalstärke besitzen als die Bereitschaftspolizei der kleinen Bundesländer. Im Zuge der Einführung digitaler Fahndungstechniken in den Neunzigern wurden in fast allen Ländern weitere Sondereinheiten ausgehoben, die unter dem Namen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) zusammengefasst werden und speziell für zeitnahe Zielfahndung und Festnahmen noch während laufender Veranstaltungen/Demonstrationen ausgebildet sind.

ERNST BLOCH: Über Praxis und Utopie, Kommunismus und Religion

Es ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und das Bewußtsein ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, daß es einen Prozeß gibt, und daß wir Menschen an der vordersten Front dieses Weltprozeßes stehen; daß es in unsere Hände gegeben ist, schon im Schwange befindliche Möglichkeiten zu befördern.“ (1)

Der Begriff der konkreten Utopie scheint in den gegenwärtigen Diskursen, ob spezifisch in den wissenschaftlichen oder den allgemein politischen, ein Schattendasein zu führen. Obwohl sich in jeder Prognose und in jeder Reform konkret Utopisches finden müsste, wird Utopie heute als unmögliche Vision begriffen, als bloß Abstraktes ohne jeden konkreten Gehalt gewertet und beiseite geschoben. Doch sind wir bereits an einem Punkt der gesellschaftlichen Organisation angelangt, an dem wir der heilsamen Kraft der Utopie nicht mehr bedürften? Ist etwa der Kampfplatz des Noch-Nicht-Gewordenen vollends aufzugeben? Ich meine: Nein!

Setzt man sich also die Frage vor, was denn nun genau zu verstehen wäre unter dem Begriff der konkreten Utopie, oder etwa unter dem Prozeß der Konkretisierung von Utopischem, läßt sich ziemlich schnell feststellen, daß der Bedeutungshorizont dieses Begriffs vielschichtiger ist, als die bloße Phrase im ersten Moment suggeriert. Denn: Wie konkret kann eine Utopie überhaupt sein? Oder: Wie kann sich in etwas Konkretem Utopisches überhaupt verbergen? Und welche Entwicklung ist das, bei der sich ein utopischer Gehalt konkretisiert? Das Analysefeld ist weit auffächerbar.

Der letzte Optimist…

Der Akademiker und Philosoph Ernst Bloch, tätig auch zwischen 1948 und 1957 (zwangsemeritiert) in Leipzig, hat hierzu schon 1918 in seiner Schrift „Der Geist der Utopie“ (2) weitreichende Untersuchungen angestellt. Seine Überlegungen gipfelten in der richtungsweisenden Arbeit „Prinzip Hoffnung“ (3), die er wesentlich während der Zeit seines US-amerikanischen Exils zwischen 1938 und 1947 nie­der­schrieb. In seiner Ausführlichkeit darf Bloch deshalb zu recht zu den letzten großen Optimisten zählen. Erstaunlich, denn fast parallel entsteht die „Dialektik der Aufklärung“ (4) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ebenfalls im US-amerikanischen Exil verfaßt, und begründet in gewissem Sinne den postmarxistischen Pessimismus des 20. Jahrhunderts. Zwei gewissenhafte Rezeptionen der Marxschen Theorie im Angesicht der nationalsozialistischen Greuel, die kaum unterschiedlicher ausfallen konnten. Die Erkenntnis der barbarischen Momente menschlicher Aufklärung und Mündigkeit und die tiefe Verzweiflung über die Abwesenheit eines gesellschaftsrevolutionären Subjekts auf der einen, der unerschütterliche Glaube an das Offenbarte Marxens und die schöpferischen Kräfte des Menschen auf der anderen – kritiklos ist wohl keiner Seite recht zu folgen. Weder Adornos beinahe neurotischem Zwang, gegen einen möglichen guten Ausgang der Geschichte anzuschreiben, noch Blochs geradezu pathetischem Humanismus und seiner pseudoreligiösen Erbaulichkeit. Heute, im Zeitalter des Zynismus, das kein Gewissen gegenüber dem Morgen mehr kennt, wird Adorno gelehrt und gefürchtet, Bloch dagegen geehrt und vergessen – Ironie der Geschichte.

…ist und bleibt ein Idealist

Die Zugänge zum Blochschen Werk sind in vielerlei Hinsicht verstellt gewesen. In der DDR nach seiner offenen Parteinahme für die ungarischen Aufstände 1956 totgeschwiegen, 1961 von einer neuen Mauer an der Rückkehr gehindert, blieb er auch in der BRD ein mißliebiger Findling, ob seiner marxistischen Überzeugung und unverhohlenen Unterstützung der studentischen Unruhen von 1968. Dort als Pseudo-Materialist verpönt, hier als Marxist denunziert.

Und tatsächlich, fast scheint es so, als wollte Bloch dem Marxismus neues Leben einhauchen, indem er gegen die Orthodoxie der Parteiadepten den Idealismus des jungen Marx betont, indem er die Frage nach dem Klassenbewußtsein aus ihrer materialistischen Verengung befreit. Dem Blochschen, neu kreierten Kommunismus sieht man deutlich die 100jährige Distanz zum Hegelschen System des absoluten Idea­lis­mus an, seine Polemik gegen dessen universellen Positivismus fällt im Unterschied zum jungen Marx deutlich sanfter aus. Bloch sieht wieder, daß alles Gewordene auch immer schon in Begriffen ist, daß wenn der Hunger zur Arbeit an der Natur aufruft, auch schon ein Begriff desselben gegeben ist, also eine unmittelbare Erfahrung dem Menschen verwehrt bleibt. In diesem Sinne ist die Blochsche Konzeption keineswegs eine materialistische. Würde man das Wagnis eingehen, eine Tradition des deutschsprachigen Idealismus zu konstruieren, wäre Bloch nach dem kritischen Idealismus Immanuel Kants, dem subjektiven Idealismus Gottlieb Fichtes und dem absoluten Idealismus Hegels, und eben neben den negativen Idealismus Adornos einzuordnen: vorsichtig begriffen als konstruktiver bzw. historisch-konkreter Idealismus. Dagegen würde Bloch selber freilich opponieren. Der Anspruch seiner Philosophie ist es ja gerade, den scheinbaren Zwie­spalt zwischen Idealismus und Materialismus durch eine neugeordnete Ontologie, also einer Lehre vom Sein, aufzulösen. Daraus ergibt sich die manchmal verwirrende, aber äußerst fruchtbare Mischung aus kommunistischer und religiöser Konzeption, die der pantheistischen Weltan­schauung Friedrich Hegels letztlich viel ähnlicher ist, als etwa den Praxisüberlegungen, der Kapitalanalyse oder der Klassentheorie Marxens.

„Nur ein Atheist ist ein guter Christ.“

Bloch ist der jüdisch-christlichen Tradition des Chiliasmus (5) tief verbunden. In seinen Texten weist er immer wieder ein umfangreiches Quellenwissen nach und bedient sich gern und ausgiebig aus der bildreichen Metaphorik der geheiligten Schriften. Sein Pantheismus, also die Vorstellung eines alles, weltlich und überweltlich, durchdringenden Gottes ist dabei aber noch viel radikaler als der Hegels, dessen einfacher Gedanke, daß Gott und die Welt als Ganzes Eines wären, eben identisch, 200 Jahre zuvor genug Anlaß gegeben hätte, ihn samt seinen gesammelten Schriften öffentlich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Bloch dagegen will nicht nur die christliche Tradition pantheistisch begründen, er will sie quasi revolutionieren durch ein neues Programm.

Was die beiden radikalen Denker weiter verbindet, ist ihr idealistischer Zugang zur Geschichte, der es ihnen ermöglicht, die ganze Tragweite der religös tradierten Vorstellungen für die moderne Gegenwart zu ermessen. (6) Ein historischer Zugang, der dem orthodoxen Marxismus stets verschlossen bleiben mußte, und dem gesamten Projekt der materialistischen Geschichtsschreibung einen merkwürdig instrumentellen Recht­fertigungscharakter verleiht. Während Marx bspw. seine Theorie als das ganz Neue einer neuen Zeit begreift, erscheint dieselbe für Bloch „nur“ als aktueller Gipfelpunkt einer umfassenden Entwicklung. Ganz wie Hegel hat er die Vorstellung einer sich zur Vollendung hin entwickelnden Welt, insofern der Mensch denkend handelnd in sie eingreift. Beide haben ein Konzept von Geschichte, das qualitative Sprünge (Revolutionen) und gleichbleibende Zwecke (Reformen) mitein­ander verbindet.

Und dennoch stehen die beiden Rücken an Rücken, wenn sie ihre Philosophien konzipieren. Hegel, der liberale und reputierte Akademiker, interessiert sich für die durch die Geschichte hindurch bewußt gewor­denen, sich dem Zweck nach gleichgebliebenen Wahrheiten, für das Ganze dessen, was gewußt werden kann. Bloch dagegen zielt geradezu auf den Gegenentwurf zum Gewordenen, seine zentrale Kategorie ist die des Noch-Nicht-Gewor­denen, des Noch-Nicht-Gewußten, des zu Erhoffenden, zu Erträumen, zu Erfindenden. Im Bloch­schen Reich herrscht keine Gewiß­heit und Notwendigkeit, sondern Latenz, Möglichkeit, Ambivalenz, mehr Eros als Logos. Gerade das hält ihn aktuell. Der Mensch als denkendfühlendes und handelndes Wesen, der vorwärts schaut, auf das Kommende, das erträumt, ersehnt und erhofft wird, getrieben von der inneren Not, unvollendet zu sein, und den Potenzen der ihn umgebenden Natur. Freilich, solch optimistisch inspirierende Kraft konnte sich nicht aus der Gegenwart seiner Zeitgenossen allein speisen, dafür waren die Umstände seines Lebens zu gewaltig, von Krieg zu Krieg, von Exil zu Exil. Es bedurfte eben jenes Rückgriffs auf die Religion und die in sie eingeschlossenen und überlieferten Ideen. Ja, Bloch geht sogar soweit, eine Neudeutung der Schöpfungsgeschichte vorzugeben, dernach das Paradies erst am Ende der Geschichte auf den Menschen warte, Christi Himmelreich auf Erden. Damit kann er zwar in Anspruch nehmen, den ungeklärten Bruch zwischen Politik und Religion, wie Hegel ihn schon markiert hat, thematisiert zu haben, befriedigend lösen kann das Problem m.E. aber nicht. Zwar zeigt er die Gefahren auf, die sich aus dem aufkeimenden Atheismus in der bürgerlichen Revolution entwickeln, und weist hier dem Nationalsozialismus einen wichtigen Platzhalter zu, dennoch steht sein beinahe naiv humanistischer Optimismus in auffälligem Kontrast zu den historischen Vorgängen seiner Zeit. Dem stets Unvollendeten die Vollendung auf Erden zu versprechen bleibt Propheterie. Deshalb gilt für Bloch auch: ‚Nur ein Christ ist auch ein guter Atheist.‘

Zur konkreten Utopie

Ich hatte bisher versucht aufzuzeigen, inwieweit man die Blochsche Konzeption des Utopischen mit dem Idealismus verbinden muß, um seine kommunistische Haltung zu verstehen. Sein Marxismus ist eben gar nicht materialistisch geprägt, im Gegenteil aktualisiert er den Marxismus, indem er ihn in ein idealistisches Konzept einbindet. Der Mensch kommt nicht nur durch die Erfahrungen gemeinsamer Organisation am Arbeitsplatz zur Erkenntnis notwendiger Veränderungen, viel weiter noch gefaßt, geht Bloch davon aus, daß der Mensch als „Mangelwesen“ stets und in allen Zeiten nach der Veränderung seiner Verhältnisse strebt. Glauben, Hoffen, Utopie – im tätigen Kampf mit der Gegenwart greifen wir beständig nach dem, was noch nicht geworden ist, was seiner Verwirklichung noch harrt. Diese beständige „Frontsituation“ des Menschen ist die anthropologische Konstante, die er behauptet und an vielen Phänomenen der Alltagswelt belegt. Doch weiß er ebenso um das Meer hoffnungsloser Tagträume, leerer Visionen und falscher Programme, das zwischen den Men­schen braust. Um also die gehaltvollen von den sinnlosen Utopien trennen zu können, benötigt er eine weitere Bestimmung, deshalb seine Rede von der konkreten Utopie. Leider muß man sagen, daß gerade bei der Frage nach diesem Konkreten Blochs schwächste Punkte liegen. Er traut zwar auch dem inneren Drängen des Menschen ein positives Gerichtetsein zu, dieser Optimismus wäre jedoch allzu naiv. Vielmehr muß es jetzt auch eine äußere, weltliche Tendenz geben, die bereits Noch-Nicht-Gewor­denes anzeigt – „Die Welt ist im Schwan­ge“ mit Blochs Worten. Diese Tendenzen mit tätigem Geist zu erkennen und das in ihnen vorscheinende zu verwirklichen, ist für ihn der Weg der konkreten Utopie.

Jetzt versteht sich auch, welche Stellung für ihn die Marxsche Theorie überhaupt hat. Sie ist für ihn die konkrete Utopie der Moderne. Oder, viel weiter noch gefaßt und auf den Blochschen Pantheismus hin gelesen, der Kommunismus ist für ihn die neue Religion des Christentums. Das Verhältnis von Konkretem und Utopischem, von Gewordenem und Noch-Nicht-Gewordenem bleibt dabei kritisch. Denn der Idealismus und Materialismus der Aufklärung hatten ja gerade über die Relgionskritik herausgestellt, daß der Bereich des menschlichen Wissens auf das bereits Verwirklichte beschränkt ist und dabei die schwierige Position des Erkenntnissubjektes betont. Um die Marxsche Theorie also zu verstehen und ihren konkreten Gehalt zu prüfen, müßte man sie aus dieser Perspektive zuallerst problematisieren. Bloch behauptet aber, sie wäre bereits Ausdruck eines konkret Wirklichen und macht sich so zu ihrem Propheten. Daran allerdings, daß die Arbeiterklasse die Macht über die Produktionsverhältnisse an sich reißt, kann man auch mit Bloch nur guten Willens glauben. Und angesichts des Aufstieges der modernen Nationen, der faschistischen Bewegungen und dem Niedergang der Gewerk­schafts­kultur drängt sich heute viel mehr die Frage auf, in welchem „Schwan­ge“ die Welt überhaupt ist bzw. wie konkret die kommunistische Utopie des Marxismus gegenwärtig noch ist. Dieser Skepsis hat sich Bloch freilich zeitlebens nicht ausgesetzt. Lange Zeit hat er den Sozialismus der DDR-Protektion verklärt und am Stalinismus festhalten wollen. Dennoch: Seine Überlegungen zur Utopie als einer spezifischen Art der säkularisierten Reli­gion sind beachtenswert. Der Identi­tätszwang des Politischen, der sich sowohl in der massenhaften National-Kultur der modernen Staaten, als auch in den Abgren­zungs­bedürfnissen innerhalb politischer Bewegungen zeigt, nähert die Politik tatsächlich der Religion an, aus der sie einst in radikaler Abwehrhaltung entstand. Und hier gilt es auch, weiterzudenken, bzw. mit Blochs Worten, durchs Denken das hier Vorgelegte zu überschreiten.

(clov)

(1) Bloch, Ernst „Abschied von der Utopie?“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1980, S. 63
(2) Bloch, Ernst, „Der Geist der Utopie“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1980 (1923)
(3) Bloch, Ernst, „Das Prinzip Hoffnung I-III“, Suhrkamp, Frankfurt (M.), 1985 (1959)
(4) Adorno, Theodor W. u. Horkheimer, Max, „Dialektik der Aufklärung“, Fischer, Frankfurt (M.), 2004 (1944)
(5) mit der ganzen Gewalt eines lexikalischen Verständnisses gesagt: Religiöse Haltung, die mit dem baldigen Eintreten eines herrlichen tausendjährigen Reichs rechnet, das die Weltgeschichte beendet.
(6) In ähnlicher Weise versucht der Soziologe Max Weber im frühen 20. Jahrhundert, den „Geist des Kapitalismus“ aus dem Protestantismus heraus zu begründen.
(7) Bloch, Ernst, „Das Prinzip Hoffnung I-III“, Suhrkamp, Frankfurt(M.), 1985 (1959), Band III, S. 1628

Sonderzug ins Tierreich (Teil 1)

Vom Liberalismus zur Eugenik

Man könnte froh sein, dass die Medienhysterie um Thilo Sarrazin mittlerweile abgeflaut ist. Nicht allein, weil Sarrazin mit seiner Klage über zu viele Geburten in der Unterschicht und unintegrierte, genetisch zur Dummheit verdammte Ausländer bloß al­te Vorurteile aufwärmte. Sondern auch, weil die meisten seiner „Kritiker“ darauf nicht mit Kritik, sondern nur mit moralischer Empörung antworteten – man denke etwa an SPD-Chef Gabriel, der gegen Sarra­zin nur einzuwenden hatte, dass dieser nicht das Menschenbild der SPD vertrete.

Da muss also wieder der Feierabend! in die Lücke springen. In diesem Heft soll dabei zunächst aufgezeigt werden, in welcher historischen Tradition sich Sarrazin mit seinem Denken bewegt. Dabei will ich mich auf einige zentrale „Thesen“ Sarrazins konzentrieren – der Diskurs über die „Unterschicht“, die Behauptung, Intelligenz sei angeboren und zwischen verschiedenen Menschengruppen ungleich verteilt und schließlich die daran anschließende Forderung nach Eugenik, nach einer systematischen Politik der „Bevölkerungsverbesserung“. Als neuere Form des biologistischen Denkens, die in den 1970er Jahren im wissenschaftlichen Diskurs auftauchte, soll dann im nächsten Heft die sog. Soziobiologie ausführlicher kritisiert werden.

Die Geburt der Biopolitik

Als wichtigster Vordenker des Sozialdarwinismus kann wohl der englische Ökonom Thomas Malthus gelten. In seinem 1798 veröffentlichten „Essay On The Principles Of Population“ (dt. „Das Bevölkerungsgesetz“) behauptete Malthus, es sei ein Naturgesetz, dass die Bevölkerung stets schneller wachse als neue Ackerflächen kultiviert werden können – während die Bevölkerung in geometrischen Proportionen wachse (also 1, 2, 4, 8, 16…), erhöhe sich die Nahrungsproduktion nur in arithmetischer Folge (1, 2, 3, 4, 5…). Hunger und Armut seien darum unvermeidbar. Wie Friedrich Engels treffend bemerkte, machte Malthus damit die soziale Frage zur biologischen: Armut erschien so nicht mehr als Produkt einer bestimmten Eigentumsordnung, die wachsende Zahl der Armen nicht mehr als Folge eines Wirtschaftssystems, das durch stete Rationalisierung der Arbeit immer neue „Überflüssige“ und durch die Konkurrenz immer neue Verlierer produzierte – nein, das Problem lag einfach bei der Fortpflanzung.

Dieses Denken schlug sich auch im britischen Armengesetz von 1834 nieder. Die bis dahin übliche Armenunterstützung durch Zuteilung von Lebensmitteln wurde nun im Lichte von Malthus´ Theorie als „ein Hemmnis der Industrie, eine Belohnung für unüberlegte Heiraten, ein Stimulus zur Vermehrung der Bevölkerung“ denunziert. Auch der „Einfluss einer vermehrten Volkszahl auf den Arbeitslohn“, also ein Sinken der Löhne, würde dadurch verhindert – so lautete (in Engels´ Worten) das Urteil der Kommission, die das alte Armengesetz überprüfte.

Also wurde hart durchgegriffen: „Alle Unterstützung in Geld oder Lebensmitteln wurde abgeschafft, die einzige Unterstützung, welche gewährt wurde, war die Aufnahme in die überall sofort erbauten Arbeitshäuser.“ Die Zustände in diesen Häusern waren miserabel: Schlechte Ernährung, harte und sinnlose Arbeit, mangelnde medizinische Versorgung und harte Strafen bei den kleinsten Regelverstößen. Damit die „Überflüssigen“ sich nicht vermehrten, wurden die Familien getrennt. Vor allem ging es aber darum, die Lohnarbeit zur einzig möglichen Einkommensquelle zu machen – oder wie die Liberalen es sahen, die Hindernisse zu beseitigen, die der natürlichen Ordnung des Marktes im Wege standen (siehe den Polanyi-Artikel in FA! #19).

Die Armut war dabei für die liberalen Besitz- und Bildungsbürger ein nicht nur unvermeidbares, sondern auch notwendiges Übel. Denn so, wie sie selbst ihren wirtschaftlichen Erfolg als Beweis besonderer Tüchtigkeit ansahen, so mussten eben auch die Armen selber schuld sein, wenn die angebliche Rechts- und Chancengleichheit praktisch zu unübersehbarer Ungleichheit führ­te. Die Wirkungen der Markt­konkur­renz wurden so zu Eigenschaften der Individuen selbst, ihr Marktwert erschien als eine ihnen schon „von Natur aus“ innewohnende Größe: Wer arm war, bewies damit seinen Mangel an Unternehmergeist und Intelligenz.

„Kampf ums Dasein“

Auch der junge Charles Darwin wurde von Malthus´ Ideen zu seiner Theorie der natürlichen Auslese inspiriert, wie er in einer autobiographischen Notiz schreibt: „Im Oktober 1838 (…) las ich zufällig (…) das Buch von Malthus über die Bevölkerung. Da mich lang fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensweise von Tieren und Pflanzen hinreichend darauf vorbereitet hatten, den überall stattfindenden Kampf ums Dasein zu würdigen, so kam sofort der Gedanke, dass unter solchen Umständen vorteilhafte Änderungen der Lebewesen dazu neigen müssten, erhalten zu werden, unvorteilhafte dagegen vernichtet zu werden. Das Resultat muss die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich denn nun endlich eine Theorie, mit welcher ich arbeiten konnte…“

Diese Theorie machte Darwin (nach Veröffentlichung seines Buches „Die Entstehung der Arten“ 1859) nicht nur zum bedeutendsten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Darwins Lehre schien auch eine Erklärung für die sozialen Zustände, den ständigen Konkurrenzkampf in der kapitalistischen Arbeits- und Wirtschaftswelt zu bieten. Schließlich bezog Darwin seine Inspiration von Theoretikern, die genau diese Zustände (weg)erklären wollten – nicht nur von Malthus, sondern auch von dem Soziologen Herbert Spencer (von dem z.B. die berühmte Formel vom „survival of the fittest“ stammt). Es lag also nahe, nun wiederum die Gesellschaft im Lichte der Dar­winschen Evolutionstheorie zu deuten.

Darwin verlieh dem Sozialdarwinismus zwar eine biologische Basis und mit seinem Namen auch wissenschaftliches Ansehen. Er selbst hatte aber Skrupel, seine Theorie auch auf den Menschen anzuwenden. So wie er schon (aus religiösen Gründen) lange gezögert hatte, seine Evolutionstheorie öffentlich zu machen, so zögerte er auch jetzt. Erst 1871 veröffentlichte er sein Buch über „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“.

Hier zeigte sich, wie sehr Darwin den common sense seiner Zeitgenossen teilte, etwa was die außereuropäischen „Rassen“ betraf. Die Vorstellung eines evolutionären Aufstiegs der Menschheit von niederen zu höheren Stufen war schon seit der Aufklärung ein Allgemeingut des europäischen Denkens. Und obwohl die Aufklärer diesen Fortschritt vor allem als steten Prozess der moralisch-geistigen Vervollkommnung sahen, gingen auch sie stillschweigend davon aus, dass die gebildete europäische Oberschicht (also sie selbst) dabei die höchste Stufe einnahmen – die außereuropäischen „Völker“ mussten folglich auf niedrigeren Stufen der Entwicklung angesiedelt sein. So meinte z.B. Kant: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“

Das sah Darwin ebenso, und so kolportierte er nun seitenlang das gängige Bild von den abergläubischen, triebhaften, grausamen „Wilden“. Das liest sich etwa so: „Die das eigene Selbst betreffenden Tugenden (…) sind von den Wilden nie beachtet worden, obgleich sie jetzt von zivilisierten Völkern hoch geschätzt werden (…) Größte Ausschweifung und unnatürliche Verbrechen herrschen in einer erstaunlichen Ausdehnung (…) Der Abscheu gegen die Unzüchtigkeit, der uns so natürlich erscheint, dass wir sie fast als angeboren betrachten, und der eine so wertvolle Hilfe für die Keuschheit bildet, ist eine moderne Tugend, die (…) ausschließlich den zivilisierten Völkern eigen ist“. Oder kurz gesagt: Die „Moralität bei den Wilden“ befinde sich „gemessen an der unseren“ eben auf einem weit niedrigeren Stand. Ein sauberer Zirkelschluss, denn wenn man die eigene „Moralität“ zur absoluten Norm erhebt, dann muss jede Abweichung von dieser Norm natürlich eine Abweichung zum Schlechteren sein.

Hirngespinste

Darwin versuchte aber auch, die angeblich höhere Moral der Weißen über die „Vererbung moralischer Neigungen“ zu erklären. Ebenso glaubte er, dass in dem Maße „wie die verschiedenen geistigen Fähigkeiten nach und nach sich entwickelt haben, auch das Gehirn sicherlich größer geworden“ sei. Auch damit stand er nicht alleine da: Solche Schädelmessungen waren damals eine anerkannte Wissenschaft. Der erste Versuch, auf diesem Wege die angebliche Überlegenheit der weißen Rasse wissenschaftlich zu untermauern, wurde von dem US-Amerikaner Samuel George Morton unternommen, der sich dazu auf die von ihm angelegte, ca. 600 Stück umfassende Sammlung menschlicher Schädel stützte. Indem er deren Volumen maß, wollte Morton Rückschlüsse auf die Größe des Hirns und damit die Intelligenz der jeweiligen „Rassen“ ziehen.

Die Ergebnisse schienen die Theorie zu bestätigen: „Weiße“ hatten scheinbar die größten Schädel, „Gelbe“ etwas kleinere, und „Schwarze“ standen ganz am Ende der Hierarchie. Der amerikanische Biologe Stephen Jay Gould, der sich die Mühe machte, Mortons Vorgehen genauer zu untersuchen, kam in seinem 1981 veröffentlichten Buch „The Mismeasure of Man“ („Der falsch vermessene Mensch“) allerdings zu einem anderen Schluss: Morton habe die Untersuchung unbewusst manipuliert, um zu seinem Ergebnis zu kommen. So hatte er die Schädel anfangs mit Senfkörnern gefüllt, um ihr Volumen zu messen. Da die Senfkörner aber ungenaue Zahlen lieferten, wechselte er nach einer Weile zu Schrot über. Als er die Ergebnisse der ersten (Senfkorn-) mit der zweiten (Schrot-)Messung miteinander verglich, fiel Gould auf, dass Morton bei den „nicht-weißen“ Schädeln wesentlich nachlässiger gemessen hatte als bei den „weißen“. Zudem hatte er schon bei der Auswahl der Schädel manipuliert und bestimmte, eher groß gewachsene nicht-europäische Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen. In der Summe ergaben diese kleinen Manipulationen das gewünschte Ergebnis.

Die Schädelforscher wollten aus ihrem Gegenstand aber nicht nur allgemeine Aussagen über die Intelligenz ableiten: So glaubte der italienische Kriminalanthropologe Cesare Lombroso, am Schädel und der Physiognomie auch Neigungen zum Verbrechen ablesen und mehr noch, sogar die verschiedenen Verbrechertypen, vom Ladendieb bis zum Raubmörder, unterscheiden zu können. Indem er Kriminalität auf erbliche Disposition zurückführte, verband Lombroso die Schädelforschung mit dem Diskurs über „Degeneration“, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bürger in Aufregung versetzte. Der Fortschrittsglaube geriet ins Wanken, mehr und mehr trat die Gefahr eines möglichen Rückschritts ins Zentrum der Erörterungen.

Als einer der Ersten formulierte der französische „Rassenforscher“ Arthur Graf von Gobineau diese Angst vor dem Rückschritt in seinem 1855 vollendeten Hauptwerk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ und entwarf eine Geschichtsphilosophie, in der er Aufstieg und Fall der diversen „Völker“ aus der „Rassenmischung“ zu erklären suchte. Gobineaus besondere Vorliebe galt dabei den „Ariern“. Sämtliche kulturellen Leistungen der Menschheit seien deren Werk gewesen. Nach der erfolgreichen Unterwerfung der anderen Völker hätten sich die Arier aber mit diesen vermischt und seien damit der „Dekadenz“ anheim gefallen.

Angst vor der Masse

Ebenso wie die Angst vor „Degeneration“ war auch die Angst vor der „Masse“ ein Krisensymptom. Denn im Zuge der Industrialisierung und der Durchsetzung der Marktwirtschaft hatten sich die Besitzlosen in den Städten gesammelt, um dort nach Arbeit zu suchen. Diese „Masse“ wurde mehr und mehr zu einer Quelle steter Beunruhigung für das Bürgertum, das die Masse (zu Recht) als Gefahr für die öffentliche Ordnung sah. So begünstigten die elenden Lebensbedingungen der unteren Klassen nicht nur Seuchen und Kriminalität (wie Lombroso sie mit seiner Schädelforschung erblich erklären wollte). Das städtische (Sub-)Proletariat entwickelte sich nach und nach auch zu einer politischen Kraft, deren Ansprüche nicht mehr einfach zu ignorieren waren.

Mit seinem 1895 erschienenen Werk über die „Psychologie der Massen“ verlieh Gustave Le Bon (der nicht ganz zufällig seine wissenschaftliche Karriere als Schädelvermesser begann) diesen Befürchtungen des Bürgertums Ausdruck. Le Bon sah ein „Zeitalter der Massen“ heraufziehen, das „den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft“ mit sich bringen werde, „um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war.“ Die Hauptmerkmale der Masse seien „Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle“, Eigenschaften also, wie sie bei „Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe“, „beim Wilden und beim Kinde“ zu finden seien. Und um die Liste der „niedrigeren Entwicklungsstufen“ der Menschheit komplett zu machen: „Überall sind die Massen weibisch.“

Wenn Menschen sich in Gruppen zusammentun, so Le Bon, würden sie zur „Masse“ und damit Opfer irrationaler Instinkte. Le Bon hatte freilich recht eigene Ansichten davon, was „irrational“ sei: So erschien ihm auch die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter_innen nur als Ausdruck eines dunklen Triebs und nicht als vernünftiges Mittel zur Verbesserung der eigenen Lage. Auch darin erweist sich sein Blickwinkel als der Blickwinkel eines weißen, europäischen, bürgerlichen Mannes, und sein Buch als Ausdruck der Ängste, von denen die Bürger um 1900 getrieben wurden.

Nicht nur von Seiten des Proletariats sahen sich die Bürger bedroht, sondern auch von der aufkommenden Frauenbewegung. Diese „Massen“, die man so lange erfolgreich aus der parlamentarischen Politik ferngehalten hatte, forderten nun gleiche Rechte ein. Und damit gewann auch der Biologismus als Abgrenzungsideologie zuseh­ends an Bedeutung. Beispielhaft zeigt sich dies an den amerikanischen Rassengesetzen, die erst nach der Sklavenbefreiung erlassen wurden. Bis dahin war die Sklaverei vor allem aus dem „Erziehungsauftrag“ gegenüber den Schwarzen begründet worden, aber nun wurden angeblich unüberwindliche biologische Trennlinien gezogen und jeglicher „Rassenmischung“ ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben. Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich zwischen der 1871 für das ganze Deutsche Reich verkündeten rechtlichen Gleichstellung der Juden und dem Aufstieg des modernen, „rassisch“ begründeten Judenhasses herstellen.

Bevölkerungskontrolle

Diese Themen verbanden sich im eugenischen Denken zu einer brisanten Einheit: Die Eugeniker sahen sich selbst in der Rolle des Arztes und die „Degeneration“ als die Krankheit, von der es die „Masse“ als Patienten zu heilen galt.

Während die Sozialdarwinisten den „Kampf ums Dasein“ zum auch in der menschlichen Gesellschaft wirkenden Naturgesetz erklärten, war es die Sorge der Eugeniker, dass dieses „Naturgesetz“ von der menschlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden könnte. Auch Darwin stellte in seinem Buch „Über die Abstammung des Menschen“ solche Überlegungen an: „Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles Mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke. Wir erlassen Armengesetze (…) Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren kennt, wird daran zweifeln, dass dies äußerst nachteilig für die Rasse ist.“

Hier zeigt sich, wie sehr Darwin von seinen Anhängern beeinflusst wurde, in diesem Fall von seinem Cousin Francis Galton, dem Begründer der Eugenik. Wie dieser sorgte Darwin sich nicht nur wegen der mangelnden Auslese, sondern auch, weil die „Untauglichen“ sich vermeintlich zu rasch fortpflanzten. Dazu zitiert Darwin einen Mitarbeiter Galtons: „Der sorglose, schmutzige, genügsame Irländer vermehrt sich wie ein Kaninchen; der mäßige, vorsichtige, sich selbst achtende ehrgeizige Schotte (…) heiratet spät und hinterlässt wenig Kinder. Gesetzt den Fall, ein Land sei ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Kelten bewohnt“, so würden bald „fünf Sechstel der Bevölkerung Kelten sein, aber fünf Sechstel alles Besitztums, aller Macht und Intelligenz würde sich in den Händen des einen Sechstels Sachsen befinden.“

Um dem vorzubeugen, sollte nach Galtons Meinung der Staat die „Erbkranken“ nicht nur von der Fortpflanzung abhalten, sondern ihnen auch jede Unterstützung verweigern, um nicht durch einen „irregeleiteten Instinkt des Mitleids und des Helfens den Schwachen eine zu große Fürsorge zu schenken und dadurch das Aufkommen der Starken und Tapferen zu verhindern“. Dagegen sollten die „Erbgesunden“ mit gezielten Maßnahmen zur Vermehrung angeregt werden, wie Galton sich ausmalte: „Die Heiratslustigen müssen sich einer gründlichen Untersuchung auf Ehetauglichkeit von Körper und Seele unterziehen, damit Bestes zum Besten sich zusammenfindet. Ein Preis als Mitgift soll jedes Jahr vom Staat für solche Ehen vergeben werden, von deren Nachwuchs zu erwarten ist, dass sie Staat und Gesellschaft aufgrund ihrer durch das Erbgut der Eltern hervorgebrachten positiven Eigenschaften und Fähigkeiten besonders wertvolle Dienste leisten.“

Das eugenische Denken gewann rasch international an Popularität. 1905 gründete der Arzt Alfred Ploetz in Berlin die Gesellschaft für Rassenhygiene, weltweit die erste Gesellschaft dieser Art – erst 1908 rief Galton in England eine ähnliche Vereinigung ins Leben. Weitere Gründungen (in den USA, Holland und Norwegen) folgten. Für seine „Verdienste“ wurde Galton schließlich der Adelstitel verliehen, und als er 1911 starb, wurde ein Teil seiner Erbschaft verwendet, um an der Londoner Universität den ersten Lehrstuhl für Eugenik einzurichten. 1912 fand in London der Erste Internationale Kongress für Rassenhygiene und Eugenik mit rund 700 Teilneh­mer_innen statt. Unter den Redner_innen war übri­gens auch der russische Anarchist Pjotr Kropot­kin.

Das eugenische Programm lag im Trend der Zeit und profitierte von den neuen staatlichen Kontrollmöglichkeiten, die der 1. Weltkrieg mit sich brachte. Der Krieg erzwang die lückenlose Registrierung aller Staatsangehörigen, und so statteten die Nationalstaaten nun alle Bürger_innen mit Ausweispapieren aus (siehe FA! #24), um Deserteure und Spione ausfindig machen, Wehrpflichtige einziehen, kurz gesagt die menschlichen Ressourcen optimal ausnutzen zu können. Dieses neue staatliche Interesse an der Kontrolle von Bevölkerungbewegungen verband sich z.B. im US-amerikanischen Einwanderungsgesetz von 1924 mit dem eugenischen Programm. Bei Tests an osteuropäischen Einwanderern wollten Wissenschaftler festgestellt haben, dass die Flüchtlinge einen durchschnittlichen IQ von nur 75 Punkten hatten, also blöd bis zur Schwachsinnigkeit waren. Die Ergebnisse waren zwar nur eine Folge mangelnder Sprachkenntnisse und Schuldbildung, weckten aber dennoch Ängste vor einer möglichen „Degeneration“ des amerikanischen Volkes durch Vermischung mit den osteuropäischen Flüchtlingen. Per Gesetz wurde die Einwanderung schließlich drastisch beschränkt (was dann in den 30er Jahren vielen deutschen Juden zum Verhängnis werden sollte).

Sozialistische Eugenik

Aber auch für die Demokratie spielte der 1. Weltkrieg eine wichtige Rolle. Denn um die Bevölkerung aktiv in den Krieg einzubeziehen, war es auch nötig, ihr gewisse Rechte zu gewähren. Dieser Prozess ließ sich nicht wieder rückgängig machen: Um 1918 herum führten die meisten Nationalstaaten das allgemeine, gleiche Wahlrecht ein. Die Befürchtung der Bürger, wenn man die bislang Ausgeschlossenen an der Macht beteilige, drohe der „Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft“, erfüllte sich freilich nicht. So dachten die Sozialdemokraten, die 1919 in Deutschland und Österreich die Regierung übernahmen, nicht daran, irgendetwas umzustürzen. Ihre Vision von Sozialismus beschränkte sich darauf, die gesamte Gesellschaft im Dienste des „Allgemeinwohls“ staatlich zu verwalten (siehe „Verquere Fronten“, FA! # 28).

Und so waren es gerade die Sozialist_innen, die das eugenische Menschheitsbe­glück­ungs­programm vorantrieben. Dazu gehörte z.B. der österreichische Sozialdemokrat Karl Kautsky, der die Theorie von Malthus und Spencer mit dem Marxismus zu verbinden suchte und im Laufe seines Lebens mehrere Bücher zum Thema der Bevölkerungspolitik schrieb. In England wurde die Eugenik vor allem von der Fabian Society propagiert, einem sozialdemokratischen Club, dem u.a. die Schriftsteller George Bernard Shaw und H. G. Wells angehörten. Und auch der schon erwähnte Schädelmesser Lombroso war überzeugter Sozialist. Das ist nur scheinbar paradox: Die meisten führenden Sozialisten teilten die Abscheu der Bürger vor der „Masse“, dem „Lumpenproletariat“, dem sie das „gute“ Proletariat entgegenstellten. Auch der Glaube an die an sich schon wohltuende Wirkung von Wissenschaft und Technik war fester Teil ihres Weltbilds, weswegen sich die Sozialisten (anders als die bürgerlichen Wissenschaftler) nicht scheuten die wissenschaftlichen „Erkenntnisse“ der Eugenik in ein politisches Programm umzuwandeln.

Ein solches Programm stellte z.B. Julius Tandler auf, ein Parteigenosse und Verehrer Kautskys. Tandler, der ab 1922 das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien leitete, verwendete dafür den Begriff der „Menschenökonomie“, worunter er „die rationelle Bewirtschaftung des organischen Kapitals“ (also der Bevölkerung) verstand. In einer Schrift von 1924 schlüsselte er z.B. die Sozialausgaben auf: „80 Milliarden für die geschlossene Armenpflege“, die „gewiss gerecht und human, aber sicher nicht produktiv“ sei. „44 Milliarden kostet die Irrenpflege“. Und Tandler fährt fort: „[N]ehmen wir an, dass es uns gelänge, durch vernünftige bevölkerungspo­litische Maßregeln die Zahl der Irrsinnigen auf die Hälfte herabzusetzen“, so sei es mit dem gesparten Geld möglich, „nahezu ein Drit­tel aller Schulkinder Wiens“ für vier Wo­chen jährlich in den Urlaub zu schicken.

Was Tandler sich für „bevölkerungspolitische Maßregeln“ vorstellte, bleibt unklar. Vielleicht dachte er dabei an Zwangssterilisationen, wie sie zu dieser Zeit schon in vielen Bundesstaaten der USA schon routinemäßig an Heimin­sass_innen durchgeführt wurden. Aus seiner Kosten-Nutzen-Rechnung folgt jedenfalls mit zwingender Logik „die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um Lebenswertes zu erhalten (…) Denn heute opfern wir vielfach lebenswertes Leben, um lebensunwertes Leben zu erhalten.“ Der Jargon ist verräterisch: Nur wenige Jahre später setzten die Nazis dann die Vernichtung „unwerten“ Lebens weit konsequenter um, als es Sozialdemokraten wie Tandler und Kautsky zu träumen gewagt hätten. Die Rassengesetze, „Euthanasie“ und die massenhafte Vernichtung von „rassisch Minderwertigen“ in den Konzentrationslagern zeigten die hässliche Kehrseite des eugenischen Traums vom „vollkommenen Menschen“.

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war die Eugenik also gründlich diskreditiert. Die Wissenschaftler_innen distanzierten sich öffentlich vom Rassismus und biologistischen Erklärungen für die Ungleichheit der Menschen. Erledigt war der Biologismus damit aber nicht. Ab den 1970er Jahren kehrte er im Gewand der modernen Genetik, unter dem Label der „Soziobiologie“ zurück. Diese neue Form des biologistischen Denkens soll im nächsten Heft das Thema sein.

(justus)

Verwendete Literatur:
Friedrich Engels, „Zur Lage der arbeitenden Klassen in England“, MEW Bd. 2, Dietz Verlag Berlin 1976
Stephen Jay Gould, „Der falsch vermessene Mensch“, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1988
Manfred Kappeler, „Der schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen – Rassenhygiene und Eugenik in der Sozialen Arbeit“, Schüren Verlag 2000
Gustave Le Bon, „Psychologie der Massen“, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1982

JOIN THE UNION ?!?

Über die Bedeutung des Streiks und das Elend gewerkschaftlicher Organisierung*

Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei! So proklamieren derzeit die Funk­tio­nä­re der deutschen Gewerkschaften an allen Ecken des Landes. Man will doch ernst­haft an dem deutschen Apfelbäum­chen namens Volkswirtschaft rütteln, damit mal wieder ein kleiner Goldregen die Ba­sis da­rüber belehrt, warum die Mit­glieds­beiträge sich eigentlich noch lohnen. Und wahrlich, der Konkurrenz-Kampf um die Mitglieder ist in den letzten Jahren auch schlecht gelau­fen! Man hatte sich soweit vom Wahrnehmen der aufgetragenen Interessen „zurück­ge­halten“ und die Zeit mit dem Erfinden von Werbege­schen­ken zur Mitgliederbe­loh­nung ver­geu­det, dass Basis und gewerk­schaft­liche Be­wegung mit den Gletschern Grön­lands um die Wette schmolzen. Statt die landläufige Politikverdrossenheit positiv zu nutzen und Vielfalt und Stärke zu de­mon­­strieren, versuchte man die internen Impulse kleinzuhalten, deckelte lokale Initiativen, boote­te kleinere Gewerkschaften aus und paktierte mit dem politischen Geg­ner. Passend zum deutschen Kleingeist erfand man dem „passiven Widerstand“ da­bei eine völlig neue Bedeutung, den ‚sym­bo­lischen Streik ohne ökonomische Wir­kung‘. Eine mediale Groteske, die nicht we­nige mit Austritt quittierten und viele davon ab­schreckte, ein gewerkschaftliches Engagement überhaupt zu erwägen.

Kein Wunder, dass es da gerade die rückschrittlichsten Kleingewerkschaf­ten wie Cockpit, Marburger Bund oder die Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) waren, die aus diesem nationalen Kuschel­kurs aus­scherten, um ihre Partikular-Interessen mit eigenen Fäusten durchzusetzen. Die relativ gute Streikorganisation und Kampf­­bereit­schaft hat die Funktionäre auf­geschreckt. Die Angst geht um, noch mehr Mitglieder könnten sich von den zen­tralen Verbänden abwenden. Und so kommt es zu so abstrusen Folgen wie zum Bei­spiel bei der Bahn, wo nun die Organi­sations­freiheit der Belegschaften im Rahmen von Tarifverträgen (!!!) eingeschränkt wird. Die GDL hat das selbständige Verhandlungsmandat nämlich nur um den Preis der Isolierung von der Ba­sis erhalten. Und Transnet plus die Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA) haben quasi per Ta­rif­verhandlung ihre Ver­bandsinteressen durch­gesetzt. Selbst wenn die Mitglieder wechseln wollten, sie könnten‘s nicht mehr.

Oh welch blend­ne­rischer Schleier des Nicht­­wissens zieht da durch die Köpfe der Ge­nos­senbosse! Welch Hohn der Ge­schich­­te und allem, was sie in sich als Solidarität jemals begriff! Diese Senke des Be­wußtseins nennt sich Solidarpakt und der Wald, der sie um­gibt, das ist das dichte Dickicht der Selbst­er­hal­tungs­interessen der Verwaltung. Solidarisch Handeln heißt ja auch immer die Be­­reitschaft, eigene Interessen hintan zu stel­len, beizuspringen und zu helfen, offen sein. Doch stattdessen: Wird für die ei­ge­nen Interessen nur taktiert, sind die Mit­glieder nichts als Zahlen in Bilanzen, die man sich dann beim Sektchen eitel un­ter die Nasen reibt. „Organizing“ heißt das neue Zauberwort. Völlig neuartige, dezentral und konkret ansetzende Werbe­stra­te­gien, um Mitglieder mit Konzepten aus der Kun­den­wer­bung zur Unterschrift zu locken. Natürlich alles ganz heiß aus Amerika! Die Gewerkschaft als moderner Dienst­­­­leister, flexibel, innovativ und natürlich völlig kostenlos … für Mitglieder. Es biegen sich die Balken und die vielen Toten der Geschichte stöhnen unter dieser dreisten Pos­sen­reiterei! Es gab mal Zei­ten, da war die Or­ga­nisation in der Ge­werk­schaft eine ge­sell­schaftspolitische Not­wendigkeit, und als Kampforgane der sozialistisch-kommunistischen Bewegung waren diese deren progressivster Teil. Die Mitgliedschaft war selbst­­verständlich und be­durfte keiner spiel­theoretischen Kalküle rationaler Wahl, keiner Kosten-Nutzen-Akro­batik, um Ent­schei­dungen für oder gegen eine Mit­glied­schaft aufs Niveau gewöhnlichen Kaufver­haltens zu reduzieren, und dann pro­gno­stizieren zu können, dass schwarze Werbekugelschreiber dreimal häufiger zu einer Mit­gliedsunterschrift füh­ren als die üblichen roten.

Nur für Mitglieder !?

Die Gewerkschaft als privatwirt­schaft­lich „organizster“ Dienstleistungsbetrieb!? Oh­ne Umschweife lässt sich sagen, dass die Gewerkschaften als Rechtdienstlei­stungs-Unternehmen ins­besondere in Sachen deutschem Arbeitsrecht einen Marktvorsprung hätten. Aller­dings ist fraglich, ob eine sol­che kapitalistische Unternehmung sich aus Mitgliedsgeldern sinnvoll finanzieren lässt und es überhaupt nicht effizienter wä­re, bei der nächsten Ver­waltungsreform die or­gani­sierte Basis einfach abzuschütteln, wie die Mutter das lästige Kind. Die für einen Rechts­dienstleister prekäre Lage von sinkenden Mitgliedszah­len und damit verkoppelt, sinkenden Einnahmen, wä­re ohne umfangreiche und kostenintensive „Orga­nizing“-Kampagnen mit einem Schlage auf­gehoben. Und die Herren Funk­tionäre hät­ten es endlich geschafft, das gewerk­schaft­liche Konzept von den Beinen derart auf den Kopf zu stellen, dass So­lidarität sich zur Konkurrenz verkehrt, dass die Offenheit zur Ab­schot­tung gerät, und die eminent wichtige länderübergreifende Ausrichtung endgültig zum Nationalismus degradiert wird. Anstelle eines basisnah orientierten Kampforganes für die sozialen Interessen Aller wäre die Gewerkschaft nicht mehr als ein kapitalistischer Normal­be­trieb, bezweckt durch die Partikular-Inte­ressen seiner Unternehmer, anstatt auf re­vo­lutionären Gestaltungswillen mit hu­ma­nistischem Anspruch & Gehalt aus-, wür­de sie auf reine Marktanpassung ab-ge­rich­tet. Es überreizt das Bild noch nicht, wenn man der zukünftigen Firma „Ge­werk­schaft“ einen zweiten Sektor vorstellt, in dem sie marktbeherr­schend werden könn­te, nämlich im Bereich der Polit-Dienstleistung, als Instrument des Konkurrenzkampfes zwischen den Konzernen. Und einige haben diesen rentablen Weg ja auch längst eingeschlagen. Die langjährige Kampferfahrung und das Netzwerk von Informanten in vielen Be­trieben – ach was könnte man da an Dividende für die Mitglieder ausschütten?! Am Ende würde man die alljährlichen Lohn­anpassungen ans Preis­niveau gar selbst bezahlen können … nur für Mitglie­der, versteht sich. Streiks wären völlig über­flüssig und dazu noch kostenneutral.

Für die Zukunft der gewerkschaftlichen Zen­­tralverbände werden also goldene Zeiten kommen, solange sie nur auf das beru­hi­­gende Wispern ihrer Markt- und Fi­nanz­be­rater hören. Doch was geschieht mit den Interessen, die die Gewerkschaft von einst re­präsentierte? Was hat die Arbeitnehmerschaft innerhalb und außerhalb der Ge­werk­schaften noch zu erwarten? Die Tarif­run­den des Jahres 2008 werden ohne Zweifel und trotz aller Rhetorik Nullnummern sein. Was man auf dem Papier als Lohner­höhungen verkaufen wird, sind nur die drin­gend notwendigen Anpassungen auf der Nachfrageseite des Binnenmarktes. Wenn nicht so, dann wären diese anders, über Steuererleichterungen etwa, gekommen. Bitter dabei ist, dass diese national-ökonomische Maßnahme faktisch immer nur eines nach sich zieht: Steigende Preise. Es erfolgt also gar keine klassische Umver­teilung von oben nach unten, von wenigen dicken Firmenkonten zu vielen prallen Geld­­beutelchen. Im Gegenteil, die akku­mu­lierten Kapitalien der Unternehmen blei­­ben völlig unangetastet. Vielmehr finanziert das Heer der Konsumenten die „Kon­sum­fähigkeit“ der jeweiligen lohnabhän­gi­gen Gruppe, indem die notwendigen Kosten über den Preis auf eine anonyme Gruppe möglicher KäuferInnen umgelegt werden, die ihr Beutelchen dann enger schnallen müssen. Deswegen haben die Unternehmer und Arbeitgeberverbände ja auch ein Inte­resse an möglichst geringen Löhnen, da­mit sie den Preis im Kampf gegen andere Kon­kurrenten als Waffe noch einsetzen kön­nen. Wären die Lohnumlagen zu hoch, müssten die Bosse nämlich wirklich ran ans dicke Konto und das würde kurzfristig die für frisches Geld unersetzliche, finanzielle Performance beeinträchtigen und langfristig, oh heiliger Mammon, sogar an der Rendite kratzen.

Zwischen Standort-Logik und Nationalismus

Während also die Funktionäre die Basis mit den Zahlen der Lohnforderungen einlullen und ihre mageren 6- bis 10-Prozent-Abschlüsse feiern, wird das Jahr 2008 auf der realen sozialen Ebene für viele Lohnabhängige weitere spürbare Verschlechterungen mit sich bringen. Steigende Mobilitäts- und Grundversorgungskosten und insbesondere verlängerte Arbeitszeiten, die bei den diesjährigen Tarifrunden ganz selbstverständlich und fraglos fast überall mit unterschrieben werden. Das ist offenbar der Preis, den die Un­ter­nehmer für das Erstumpfen ihrer Preis­waffe fordern. Von Widerstand dagegen kaum Spu­ren. Dabei dürfte doch jedem und jeder einleuchten, dass die größte Frucht der Industrialisierung und modernen rationalen Planung der Arbeit die Frei­setzung von der Arbeit, und nicht die Ver­sklavung unter selbige, ist. Doch nichts hört man mehr von der 35-Stundenwoche, mehr Urlaub, Lohnfortzahlung, verkürzter Le­bens­ar­beits­­zeit etc pp.

Klar, der Unternehmer hat nur sei­ne Ver­wal­tungsinteressen und sein internes Lei­stungs­niveau im Auge, aber gerade gegen diese Eng­­stirnigkeit, als „Bewusst­seins­stüt­ze“ so­zu­sagen, waren Ge­werk­schaften ein­mal gedacht, um genau diesem Schießschar­tenblick aus staatlichen und privatwirt­schaft­lichen Interessen eine soziale und offene Perspektive entgegen zu stellen. Die Ver­kürzung der (Lebens)Ar­beits­zeit, die Frei­setzung der Menschen von routinierten Prozessen unter fremdbe­stimm­ten Interessen, die Schonung der Kör­per und Geister, das Ende der Erniedrigung durch Arbeit; nach­haltiges Produzieren und der Aufbau wirksamer und stabiler sozialer Institutionen schließlich – das sind aktuelle Übersetzungen dessen, wofür die Gewerkschaften einst angetreten sind. Und genau wegen einer solchen sozial offenen Politik hat­te man damals auch kein Mitglieder­prob­lem. Es ist gerade die Reduzierung des gewerkschaftlichen Engagements auf be­triebs­interne bzw. branchenspezifische Poli­tik, das Fernbleiben allgemeinpolitischer Per­spektiven und außerbetrieblicher Ak­tionen, der reformistische Kurs und das So­zialpartnerschafts-Ge­schwafel, was starke Ge­werkschaften hierzulande verhindert.

Und dass wir hier alle in dem gleichen morschen Kahn namens Deutschland-AG sitzen, für diese Einsicht brauchts kein Abitur. Zu wenig Bildung des Bewusstseins scheint dagegen vorhanden zu sein hinsichtlich der offensichtlichen Missstände bei der Verteilung der unterschiedlichen Aufgaben und Chancen. Die einen schrubben immer nur die Planken, während andere nur rudern, Dritte lediglich steuern und ein weiterer Teil allein das Sonnendeck belebt usw. Letztlich nicht zu vergessen jene, die, bis zum Kopf unter Wasser, sich gerade mal an den Rumpf krallen können. Die sogenannte „deutsche Solidargemeinschaft“ findet ihre Wirklichkeit doch höchstens in dem Zwangssubjekt mit Namen „Steuerzahler“. Ein ernsthafter, starker und schließlich wirksamer Syndikalismus kann die Beseitigung dererlei gesellschaftlicher Missstände deshalb nicht an die staatlichen Institutionen delegieren, das ist die immer gleiche Lehre aus der Geschichte der Sozialdemokratie. Also Schluss mit diesen alten Reflexen!

Die bürgerliche Klasse der Unternehmer spielt gerade, vom neoliberalen Siegesrausch der „goldenen Neunziger“ nach dem Ende des Kalten Krieges noch ganz ergriffen, vor, wie man die juristischen Regelsätze umdeuten, auslegen und nach Belieben än­dern kann. Und die SPD hält dabei auch noch die Steigbügel. Und schon bröckeln die alten Errungenschaften wie das Arbeitsrecht oder die Betriebsverfassung. Denn sind wir ehrlich, wie wirksam ist denn das Arbeitsrecht aktuell? Ist es nicht vielmehr Richter der ka­pi­talistischen Arbeitsverwalter als An­walt der durch Arbeit Unterdrückten und Ausgebeuteten? Und wie hoch ist die orientierende Bindung an die abgeschlossenen, rechtlich abgesicherten Lohntarife wirklich? Mensch muss kein Prophet sein, um einzusehen, dass es beiderseits bergab geht; eben­so wenig, um hinter dem schnöden Rechtssatz die interessensgeleitete Auslegungspraxis windiger Winkeladvokaten auszumachen. Die syndikalistische Initiative mit humanistischem Inhalt und progressiver Gestalt kann deshalb nicht einhalten vor den Gesetzgebungen nationaler Interessen, sie beschwört keine „nationale Solidarität“, sondern entlarvt die Nations-Beschwörer als das Kartell der Profiteure, welches es realiter ist. Sie kennt keine ‚Stammbelegschaften‘, keinen nationalen ‚Kundenstamm‘, keine Standort-Ausrichtung. Denn um die durch die kapitalistische Marktkonkurrenz verursachten Probleme nachhaltig zu bekämpfen, gibt es keine nationalen Insel-Lösungen. Wenn man so will, ist diese späte Einsicht doch ein mahnendes Erbe der kommunistischen Revolution und des anschließenden Kalten Krieges.

Eine Zwischenbilanz

Es dürfte klar geworden sein, mit den gegenwärtigen Zentralgewerkschaften ist der­zeit nicht viel anzufangen. Bestenfalls ausgenommen von der Kritik ist das Engagement im Bereich von Bildungs-Sponsoring und bei der Finanzierung einiger Basisgruppen und -initiativen. Obwohl nach wie vor den Interessen breiter sozialer Schichten kei­ner­lei allgemeinpolitische Bedeutung bei­gemessen wird und die verschärfte soziale Lage die Menschen mobilisiert und radi­ka­lisiert, die Streikbereitschaft erhöht, ist die Macht der syndikalistischen Organisationen auf einem historischen Tief. Ist also die Zeit der gewerkschaftlichen Organisie­rung an ihr Ende gelangt? Nein, keines­wegs! Denn wie schon gezeigt, gibt es sowohl die Mög­lichkeit, eine empanzipative sozialpoli­tische Perspektive zu denken, als auch die Not­­wendigkeit, diese in sozialen Einrichtungen und Institutionen der Ge­sell­schaft zu verwirklichen. Dass man für solche Um­ge­staltungen der gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings Macht organisieren muss, ist ebenso einsichtig. Und dafür ist der orga­nisatorische Zusammen­schluss der Einzelnen zu einem Kollektiv nun mal unerlässlich. Weiterhin: Dass auch eine ungeheure Macht aus der sozialen Stellung erwachsen kann, von der sich die bürgerliche Gesellschaft stets bemüht zu behaupten, sie wäre völlig ohnmächtig, weil ohne Kapital und Einfluss, diesen Weg wies Marx, und zeigte damit einen, vielleicht den entscheidenden gesellschaftlichen Kampfplatz um die richtigen Verhältnisse an: Den Arbeitsplatz, den wir in einer arbeitsteilig aufgebauten und funktional differenzierten Gesellschaft einnehmen, die nach den Zwecken der ständigen Mehrwert-Spekulation (Wachstum!!!) durch kapitalistische Unter­neh­mungen vorangetrieben wird. Eine solche ist nämlich aus­­gesprochen empfindlich gegen Arbeitskämpfe, Arbeitsverweigerung und das Stocken der weit verzweigten Pro­duk­tions­ket­ten. Zwar halten Chefs in der Re­gel jeden Einzelnen für ersetzbar außer sich selbst, aber ganze Belegschaften auszutauschen, das geht nun mal nicht von heut auf morgen. Und von daher haben auch diejenigen gute Karten beim Poker um die zeit­weise Verbes­serung der Arbeits­be­d­in­gun­gen, die soli­da­risch ge- und kämp­ferisch entschlossen für ihre Interessen am Ar­beits­platz einstehen.

Soweit zum Ein­malEins der Ge­werk­schaf­ten und Betriebs­rä­te. Doch ist das schon ge­nug? Reichen sol­che partiell und lokal zeit­weise erfolgreichen Ar­beits­kämp­fe aus? Nein, das tun sie eben nicht, das wuss­ten schon die fin­digen Köpfe der Gewerkschaftsbewegung an ihrer Wie­ge. Denn ein noch so progressiv eingerichteter Betrieb muss sich auf kurz oder lang der durch die Ka­pitalinte­ressen ent­fachten Konkurrenz wie­der stellen, will er seine Produkte als Wa­ren über den staatlich eingehegten Markt an Mann & Frau brin­­gen. Und ein eher an so­zialen Gesichtspunkten der Produktion orien­tierter Betrieb wird hier letztlich im­mer einer knallharten Aus­beutungs-Unternehmung unterliegen, da ersterer weder die Ef­fi­zienz noch das Lei­stungsniveau des zwei­teren erreichen kann und am Ende beim Preis­wettlauf um die Kon­sumenten verliert. Um also endgültig Schluss zu machen mit dem konkret a-sozialen Arbeitsleben, muss auch Schluss sein mit den allgemeinen Rah­menbedingungen, die dieses zuallererst bedingen. Es geht deshalb bei ernsthaften Ar­beits­kämpfen um nichts weniger als das Gan­ze, um ein revolu­tionär neues Gesicht der Ar­beitswelt und da­­ran gekoppelt, um ge­sell­schaftliche Ver­häl­tnisse, die dies ermöglichen. Dieses poli­tische Ziel, so selbst­ver­ständ­lich wie oft vergessen, ist aber weder durch einen reformistischen gewerk­schaft­lichen Kurs noch über den Gang in die Parlamente zu erreichen, das sollte jeder und jedem klar geworden sein, der oder dem es schwer fällt, die Sozialdemokratie von heute von der Zentrumspartei von gestern noch zu unterscheiden. Denn was diese in Jahr­zehnten parlamenta­rischer Gräben­kämp­fe am grünen Tisch erreicht hat, kassierte sie selbst in nicht we­ni­ger als zwei Re­gierungsperioden größten­teils wieder ein. Der einzig lohnenswerte Syndikalismus von morgen wird also sowohl außerparlamentarisch, antinational und antistaatlich, als auch antikapitalistisch aus­zu­richten sein, oder er wird nicht sein, was immer er auch von sich im Namen von Tradition und Institution behaupten mag.

Warum Streiks so wichtig sind und warum sie nicht ausreichen

Eines der gängigsten Argumente, das die bürgerliche Gesellschaft in den jüngsten Tagen den streikbereiten Belegschaften immer wie­der entgegenhält – erinnert sei nur stellvertretend an die juristische Farce des letzten Bahnstreiks, bei dem der GDL monatelang das staatlich zugesicherte Streikrecht entzogen wurde – ist jenes Ar­gu­ment vom volkswirt­schaft­lichen und damit gesellschaftlichen Schaden, die die Streiks immer wieder heraufbeschwören sollen. Und ja, insofern mit diesem „Schaden“ der Zusammenbruch der bürgerlichen Illusion einer bereits realisierten glücklichen Ar­beits­welt gemeint ist, trifft dies auch zu. Die Streikenden hingegen kann der Rech­nungs­saldo des Finanz­mi­nisteriums oder die Fir­men­bilanz so wenig interessieren, wie umgekehrt ihre Inte­res­sen in der Herren Häuser keine Rolle spie­len. Ein Streik ist kein Zahlenspiel und lässt sich auch nicht darauf reduzieren. Die reinen ökonomischen Kosten, die er verursacht, werden im Rahmen der kapitalistischen Verwertung und unter Einfluss diverser Interessenslagen umgelegt. Wohin, lässt sich nicht in ab­strac­to vorherbestimmen. Im schlimmsten aller Fälle schlägt die Ko­sten­falle sogar auf die Strei­kenden zurück, das sollte man durch­aus bei allem Aktionismus immer mit bedenken. Dennoch liegt im Streik das Au­gen­merk nicht auf den Kosten, sondern auf dem Gewinn, und der ist durchaus nicht nur ökonomischer Natur. Der Streik schafft nämlich direkt am Ar­beitsplatz einen Freiraum, der es dem durch die routinierten Arbeitsprozesse ein­ge­spannten Individuum erlaubt, sich mit anderen auszu­tau­schen und zu organisieren, und damit erst die Voraussetzung, um die gemeinsam be­treffenden Missstände durch kollektives Handeln aufzuheben. Und bei hohen Ar­beits­zeiten steigt auch die Bedeutung solcher selbstbestimmten Freiräume direkt am Arbeitsplatz und damit die Bedeutung eines Streiks. Wer kennt nicht das „Ausgepumpt-Sein“ nach 10-12 Stunden Arbeit, die Burn-Out-Symptome, die Schwierigkeiten beim Versuch, die gemeinsamen Interessen in der „Freizeit“ zu organisieren. Und genau deshalb ist der Katechismus von prosperierender Wachstumsgesellschaft und Vollbeschäftigung auch nicht das rechte Lehr­buch für eine eman­zipative gesell­schaft­liche Ent­wick­lung unter humanistischem Vorbild. Denn wie bitte schön soll der Mensch sich in der Wahrneh­mung seiner politischen Rech­te befleißigen und kollektiv für seine Inte­ressen einstehen können, wenn die Arbeit dafür weder die Zeit noch den Raum lässt? Auf die nationale Po­litik der (Lebens)Ar­beits­zeitver­län­gerung kann es deshalb auch nur eine syndikalistische Antwort geben: Verstärkte Streiks!

Dennoch wird man auch feststellen müssen: Befristete, lokale Streiks und die zeit­weise Freisetzung von der Arbeit reichen nicht aus, um die eiskalte Logik der kapitalistischen Konkurrenz ein für alle mal zu bre­­chen, und an deren Stelle den transnatio­nalen, solidarischen Zusammenschluss aller Menschen zu setzen, sowie neue Formen des nachhaltigen Produzierens in einer nach sozialen Gesichtspunkten eingerichteten, humaneren Arbeitswelt. Um die mehrwert­orien­­tierte Wirtschaftsweise als solche zu verändern, wird mensch auch die bedingenden gesellschaftlichen Co-Faktoren ändern müssen. Und diese lassen sich durch eine be­triebsinterne Politik, temporäre Arbeits­nie­­­derlegungen und zeitweise Verbesserung lokaler Arbeitsbedingungen eben nicht so einfach beeinflussen. Der Streik in der Form vorübergehender Arbeitsaus­setzung, ob nun als subversive Raucherpau­se, bloßer Warnstreik, harmloser Flexi-Streik oder komplett wilder Streik, kann des­halb nur ein Anfang, ein früher Freiraum, eine erste Experi­men­tier­stätte dessen sein, was es als ge­samtgesell­schaftlichen und sozialen Zusammenhang überbetrieblich erst noch zu formieren gilt. Streiks sind deshalb kein Selbst­zweck in dem Sinne, sondern vielmehr ein Mittel, um dem höheren Zweck der besseren Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu dienen. Und die Verlagerung der Ar­beitskämpfe auf andere gesellschaftspoli­tische Felder ist für eine Ge­sellschaft um so wichtiger, je mehr der to­tale Arbeitszwang der kapitalistischen Verwertung vor dem Hintergrund eman­zipa­torischer Ansprüche zerfällt. Positiv gewendet, bieten die brüchig gewordenen Er­werbs­biographien und die schichtenübergreifende Erfahrung von Arbeitslosigkeit nämlich Freiräume, um den solidarischen Austausch über den Arbeitskampf in andere gesellschaftliche Teilbereiche auszudehnen und stabile soziale Institutionen aufzubauen. Die Chancen, die in dieser Ausweitung der Kampfzone für eine starke syndikalistische Machtbasis liegen, zu wenig zu be­rücksichtigen, und stattdessen wie paralysiert auf die betriebsinternen lokalen Ar­beitskämpfe zu starren, ist der zentrale Vorwurf, den man allen deutschen Gewerk­schaf­ten, einschließlich der Freien ArbeiterInnen-Union (FAU) machen muss. Es darf schon ein bisschen mehr Be­tonung auf dem ersten Teil des Wortes „Anarcho-Syndikalismus“ liegen.

Zentralgewerkschaften und die doppelte Organisationsfrage

Um den Kampf vom Arbeitsplatz hinaus aus dem Betrieb und in die Ge­sellschaft hin­einzutra­gen, allgemeinpolitischen Ein­fluss zu nehmen und sozialere Verhältnisse für jeden Einzelnen zu gestalten, ist zweifellos mehr nö­tig als die kurzen Bande, die sich während der Streik­­phasen zwischen den Menschen knüpfen. Es braucht Organisation und Kontinuität im Wech­sel­spiel von Arbeit und „freier Zeit“, von lokalen Be­triebspro­blemen und globalen Mißständen.

Die­se „Or­ga­nisation“ ist aber gerade nicht der zen­trale Massenverband wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) oder ähnliche. Vielmehr ist die ‚Organisation‘ als solche die organisierte Bewegung, die mobi­lisierbare Basis selbst, in all ihren vielschichtigen Facetten lokaler Zusammenschlüsse. Der Mas­sen­verband dagegen ist nicht mehr als ein degenerierter „Homunkoloss“, Kopfgeburt eines all zu naiven Organsations­ver­ständ­nisses dieser Bewegung. In ihm haust, wie in fast allen zentralen bürgerlichen Verbänden, das alte Gespenst des mittelalterlichen Korpora­tis­mus, bei dem die Köpfe (Funk­tionäre) den Verband als ganzen repräsentieren können, der Körper (Basis) aber nicht. Aber was man sich für frühere Zeiten vielleicht noch als durch­aus vitalen Zusammenschluss vorstellen konnte, ist heu­te zusätzlich einbetoniert in die eisernen Richtlinien der bürokratischen Verwaltung, sodass in modernen Mas­senverbänden von einer Vermittlung zwi­schen Basis und Spitze gar keine Rede mehr sein kann. Die Folgen dieser mangelnden Vermittlung zeigen sich dann am gemeinsamen Nenner: 8+x%. Wie gut, dass Zahlen gleichzeitig Alles und Nichts aussagen!

Die Organisationsfrage der gewerkschaftlichen Bewegung lautete jedoch nie: Wie kriegen wir möglichst viele zahlende Mitglieder und Stimmen? Sondern: Wie organisieren wir die lokalen Gruppen und Zusammenschlüsse bzw. genauer: Mit welchen Mitteln organisieren wir uns und auf welchen Zweck hin richten wir unsere Organi­sierung aus? Und in dieser doppelten Li­nienführung der Frage stellt sich auch her­aus, woran es den Gewerkschaften heutzutage mangelt. ‚Organ‘-isation, schon der theoretische Begriff zeigt doch auf der Ebene der Mittel eine deutliche Abkehr vom Kor­po­ratismus und der Einteilung nach hier­archischen Stände-Verhältnissen an. „Wir organisieren uns!“ – das hieß optimistisch: „Wir lassen uns nicht mehr bevor­mun­den, wir sprechen für uns selbst!“.

Orga­nizing heute, das heißt, pessi­mi­stisch gewendet, Promotion für die Palet­te an Orga­nisierungsdienstleistungen, die der Verband aktuell anzubieten hat. Die Differenz könnte größer nicht sein, denn die Zen­tralge­werkschaften haben die Frage nach den rich­tigen Mitteln der Organi­sie­rung ja längst aufgegeben. Als gäbe es keine Funktionärs-Erblinien, kein Ver­mitt­lungs­­pro­blem mit der Basis, keine Stell-Ver-und-Daneben-Treter, keine Endlosschleife der Bürokratie, keinen chronischen Mangel an partizipativen Prozessen. Die Selbstbestimmung der Mitglieder, das ist bei allem Nacheifern bürgerlicher Institu­tio­na­lisierung völlig vergessen worden. An­statt dass die Gewerkschaft hält, was sie verspricht und den eingespannten Menschen durch den Zusam­men­schluss zum kollektiven Handeln und zum Wahrnehmen seiner Interessen ermächtigt, schweigt die Zen­­trale die Interessen der einzelnen Mitglieder tot und zwingt ihnen ob­endrein das Interesse des Verbandes insbes. seiner Verwaltung zusätzlich auf. Derweil legitimiert der Mummenschanz der parlamentarischen Demokratie das, was jedeR weiß: Die da oben machen doch eh, was sie wollen.

Und in dieser Lage der mangelnden inneren Organisierung der Mitglieder-Interessen sind die zentralen Gewerkschafts­ver­­bän­de auch kein Vorbild für die Massen. Es entsteht nicht mehr der Sog, der sich durch pro­gressive soziale Institutionen bildet, die den em­anzipativen Ansprüchen der Men­schen ge­nügen, weil die Gewerkschaften als ver­ban­desmäßige Organisation in ihrer konkreten Gestaltung nirgends sichtbar aus dem Sumpf der gewöhnlichen bürgerlichen Insti­tutionen herausragen. Die zu­kunfts­wei­sen­den Antworten auf die Frage nach den rechten Organisierungsmitteln der gewerkschaftlichen Bewegung werden also eng geknüpft sein an die Aspekte der Partizipation und Transparenz, an die Probleme der Mit- und Selbst­bestimmung und an die Schwierigkeiten der dezentralen und basisnahen Ver­knüp­fung lokaler Gruppen letzt­lich.

Die eine Seite der Organisations-Medaille bildet also die Frage nach den internen Verhältnissen der Organisierung, nach den rich­tigen Mitteln, um sich sinnvoller Weise als Kollektiv selbstbestimmter Individuen aufzustellen. Denn der Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, das ist höchstens ein nichtiger Aphorismus aus den Fibeln der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die andere Seite nun betrifft die Ausrichtung, diese Organi­sie­rungs­zwecke eben. Und dabei ist gerade die geschlossene Ideologisierung bzw. der Rückzug auf Partikularinteressen der falsche Weg. Denn eine vitale Bewegung wird um­ge­kehrt immer abhängig von ihrer Offenheit sein, will sie dem Anspruch genügen, die Selbstbestimmung der basisnahen Interessen wirklich ernst zu nehmen. Das betrifft nicht nur den internen Austausch zwischen den Generationen, es betrifft auch die syndikalistische Machtbasis in ihrem Kern. Denn nur wenn es gelingt, die Bewegung auf eine breite Basis zu stellen und über die Arbeits­kämp­fe die Menschen schichtübergreifend in einen Kampf ums Ganze, um eine sozialere und emanzipative Gesellschaft zu verwickeln, kann sich das verwirklichen, worauf es schließlich ankommt: Die Aufhebung der kapitalistischen Konkurrenz. Die gewerkschaftlichen Gruppen werden sich also Ziele stecken und Aufgaben planen müssen, die über die eigenen eng begrenzten Interes­senslagen hinausragen, wollen sie offen und einladend wirken. Selbst die beste Organi­sierung nützt letzten Endes wenig, wenn sie nicht in der Lage ist, immer wieder neue Menschen, Ideen und Interessen einzubinden, sie endet schließ­lich als Papiertiger oder bürokratische Aktenleiche.

Innere Einrichtung und äußere Ausrichtung, Selbstbestimmung einerseits, Offenheit an­de­rerseits bilden also den Nerv einer richtigen Organisation. Und genau dieses dialektische Spannungsfeld muss von denen ständig beackert werden, die sich kollektiv organisieren und damit einen emanzipatorischen Anspruch auf die bessere Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbinden. Gibt man dagegen einen der beiden Pole auf, in dem man sich entweder auf die Interessen der Mitglieder beschränkt und ihre selbstbe­stimm­ten Interessen unterdrückt, oder die einzu­be­ziehenden Menschen auf einen nachfragenden Kunden reduziert und deren Interessen nicht wahrnimmt – dann sprechen wir vielleicht über die zur Tradition degenerierten Kontinuitä­ten deutscher Gewerkschaften, nicht jedoch über die progressive Gestalt eines (post)mo­dernen Syndikalismus.

Vom Ersten Mai, dem Generalstreik und dem Ende der Knechtschaft

Tradition versus Kontinuität ist das richtige Stichwort zum Schluss. Drei hartnäckige Missstände der gewerkschaftlichen Bewegung fallen hier besonders auf. Die Winkelemente-Zeremonien zum Ersten Mai, die romantisch-nostalgische Generalstreik-Rhetorik und der sozialstaatliche Irrsinn der So­zia­listen. Der Traditionalismus zeichnet sich nun dadurch aus, dass er sichtbar die Zeit aus­gesetzt hat und an die Stelle wirklicher Ent­wicklungen und geschichtlicher Konti­nui­täten die hohle und jedem Einspruch überhobene Einheit der Sache setzt. Und dementsprechend monoton und innova­tions­resistent erscheinen auch seine Rituale. Wie beim Ersten Mai, wo nach einem gemütlichen Spaziergang jede ernsthafte Auseinandersetzung zwischen Würstchen, bunten Kugelschreibern und schmalen Wer­beheftchen untergeht – alle Jahre wieder. Als hätte ihn nie jemand (mensch lese die Protokolle nach!) zum weltweiten Kampftag, zum Beginn einer globalen Arbeitsverweigerung, zum Generalstreik erklärt. Und als solcher ist er ja wohl an einem bürgerlichen Feiertag äußerst schlecht gelegen!

Ebenso fehl geht aber auch die syndikalistische Tradition des radikalen Flügels, die den Generalstreik immer nur als Anfang einer re­volutionären Neugestaltung der Gesellschaft begreift. In einem solchen Sinne kann er aber umgekehrt nichts anderes sein, als das Ende, die Vollendung einer organisatorischen Leistung, die an der Schwelle dahin steht, der kapitalistischen Konkurrenz kollektiv und global ein Ende zu bereiten. Die Welt muss dann schon ein schier uner­schöpf­liches Reservoir an Freiräumen, eine Vielfalt an sozialen Institutionen, selbstorganisierten und aufgeklärten Individuen bieten. Denn wie sollte sonst die Solidarität zwi­­­schen den Menschen den kapitalistischen Kleinkrieg mit einem Male ersetzen? Den höchsten Zweck als bloßes Mittel auszugeben und dabei stehen zu bleiben, solche Rhe­torik ist schließlich nichts als hohler Idea­lis­mus, der sich weder den konkreten Interessen der Menschen, noch den wirklichen Hindernissen und Problemen einer solidarischen Organisierung stellen will.

Über diesem allen Übel ragt jedoch die Tradition der Sozialdemokratie und der einge­schlif­fene Pragmatismus der Staatssozia­listen. Ganz blind für das Scheitern so ziemlich aller sozial­staat­lichen Projekte beharren diese Schein-Gewerkschafter von SPD bis Linkspartei auf dem bürgerlicher Apparat loyaler Beamten, auf der bürokratischen Verwaltung und den Maßnahmen sozialer Kontrolle und polizeilicher Überwachung. Als gälte es nicht gerade, sich davon zu befreien, um besseren Verhältnissen Platz zu machen. Doch diese neuen Herren sehen in gesellschaftlichen Prozessen nichts als Erfül­lungsbedingungen für die nationale Budge­tierung, den volkswirtschaftlichen Nutzen und die kapitalistische Konkurrenz. Ganz so, als wäre der Markt reiner Selbstweck und nicht lediglich ein Mittel. Ein so staatsgläu­biger Sozialist verschiebt die Organisie­rungs­probleme nachhaltiger und solidarischer Institutionen zwischen den Menschen letztlich auf den kalten Mechanismus einer durchgeregelten Arbeitswelt, wo weder vom individuellen Glück noch vom humanen Zusammenleben ernsthaft die Rede sein kann.

Nicht aber in den Fragen der national-staatlichen Rundum-Vorsorge, nicht in den Schwär­­mereien vom plötzlichen Aufzug eines unbestimmt Besseren, auch nicht in den sozial­part­nerschaftlich ergaunerten Ruhetagen und sonstigen Freizeiten, die nicht einmal für alle gelten, und deren Möglichkeiten der Mitgliedergewinnung – sondern in den Fragen der Organisation entlang der doppelten Linie von Selbstbestimmung und Offenheit, eingerichtet zur Emanzipation jedes Einzelnen und ausgerichtet auf die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der ganzen Welt, liegt das Geheimnis einer wirkmächtigen syndikalistischen Bewegung mit dem Anspruch, an die Stelle der globalen Konkurrenz eine weltweite solidarische Gegenseitigkeit zu setzen. Und das ist auch die einzig sinnvolle und zweckmäßige Antwort, die der Anarchosyndikalismus in Anbetracht der Geschichte auf die neoliberale Entwicklung der Welt geben kann.

(clov)

* Der Text versteht sich als inhaltliche Aktuali­sierung des bereits 1896 von Gustav Landauer im „Sozialist“ veröffentlichten Textes anlässlich der Streikwelle, die die durch den verstärkten Militarismus prosperierende deutsch-preußische Nationalökonomie damals erfasste: „Die Bedeutung der Streiks“ (28.03.1896), nachlesbar bspw. in: „Signatur: g.l.“, hrsg. v. R. Link-Salinger, edition suhrkamp 1113, Frankfurt (M.), 1986, S. 233-236.

Verquere Fronten

Zur Kritik der nationalrevolutionären Ideologie

Dass Neonazis sich immer öfter einer „linken“ Symbolik bedienen, ist längst nichts Neues. „Autonome Nationa­listen“ bilden auf Demonstrationen „Schwarze Blöcke“, Palitücher und Che-Guevara-T-Shirts gehören fast schon zum guten Ton. Und auch bei Freien Kamerad­schaften und NPD wird eifrig „Kapita­lismuskri­tik“ betrieben und der „nationale Sozialis­mus“ gefordert.

Das müsste kein Grund zur Beun­ruhigung sein – trotz aller scheinbaren Neuerungen hat sich das Weltbild der Neonazis nicht geändert. Dennoch haben Linke oft Probleme, auf diese äußer­liche Annähe­rung angemessen zu rea­gieren, auch weil sich die eigenen Forderungen von denen der Neonazis mitunter nur schwer unter­schei­­den lassen – schließlich ist auch nicht alles, was irgendwie „links“ ist, gleich beson­ders menschenfreundlich oder emanzipa­torisch.

Um zu einer Klärung der Fronten beizutra­gen, sollen hier deswegen die zentralen Punkte der faschistischen – oder besser: „nationalrevolutionären“ – Ideo­logie und deren Herkunft näher beleuch­tet werden. Der Begriff „national­revolutionär“ scheint mir hier ange­messener, da er weiter gefasst und gleichzeitig präziser ist als das im politisch-diskursiven Handgemenge recht inflationär gebrauchte Wörtchen „fa­schistisch“. So hat die­ser Begriff den Vorteil, dass er auch gewöhn­lich als „links“ defi­nierte Denkweisen und Bewegungen ein­schließt und zugleich Inhalt und Form des Faschismus näher bestimmt. Denn dieser war immer eine auf den National­staat hin ausge­richtete Bewegung, dabei aber nicht nur konser­vativ auf eine Rückkehr zu einem früheren Zustand aus. Der Faschismus war inso­fern „revolutio­när“, als er auf eine weitgehende (auch gewaltsame) Neu­ordnung der Gesellschaft abzielte.

„Multikultur von rechts“

Die liebste fixe Idee aller National­revo­lutionäre ist das „Volk“, das nicht als vom Menschen geschaffene, staatlich umhegte, son­dern quasi naturwüchsige Einheit gedacht wird. Der letzte Aufguss dieser Idee ist der sog. „Ethnopluralismus“.

Der Begriff entstammt dem Umfeld der En­de der 60er Jahre entstandenen „Neuen Rech­ten“ (1), die damit den Rassismus der „al­ten“ Rechten ansprechender ver­packen woll­te. Der Kern des Konzepts ist die Be­hauptung eines „Rechts auf Diffe­renz“ zwi­schen den als natürliche Einhei­ten gedach­ten „Volksgemeinschaften“ (Eth­nien). Wer­de dieses Recht durch Ver­mischung der einzelnen „Ethnien“ verletzt, drohe also die Einwanderung von Angehö­rigen einer fremden „Ethnie“ die Kultur der Alt­eingesessenen zu zerstören, führe das auto­matisch zu Rassismus. Wenn Rassisten also Mi­gran­tInnen zusammen­schlagen oder tö­ten, ist das in dieser Sichtweise nur eine na­türliche Abwehr­reaktion des „Volks­kör­pers“ gegen Über­frem­dung – also müsse man sich für eine säuber­liche Trennung der Volks­gruppen ein­setzen.

Die biologistische Argumentation des herkömmlichen Rassismus´ wird durch die stärkere Betonung des Kulturellen bei der Unterscheidung „naturwüchsiger“ Volks­gruppen freilich nur übertüncht. Der Hauptunterschied ist, dass nicht mehr die Überlegenheit einer bestimmten (natürlich der eigenen) „Ethnie“ oder „Rasse“ behauptet wird, sondern diese als prin­zipiell gleichwertig, wenn auch grund­verschieden, gelten. Der intellek­tuelle Kopf der „neuen Rechten“, Alain de Benoist, formuliert es so: „Der wahre Reichtum der Welt liegt vor allem in der Vielfalt ihrer Kulturen und ihrer Völker.“ (2) Die Völker seien „nämlich keine bloße Addition individueller Atome, sondern Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit (…)“. (3) Es ließe sich fragen, ob es ohne diesen Zwang zur Unter- und Einordnung in homogene „Volksgemeinschaften“ nicht noch weit mehr Vielfalt gäbe.

Ohnehin sind diese „naturwüchsigen“ Gemeinschaften reine Fiktion. Denn nicht die Völker schaffen sich ihren Natio­nalstaat, sondern die Nationalstaaten (bzw. die gesellschaftlichen Eliten) produzieren „ihre“ Völker. „Volkszu­gehörigkeit“ ist nur die Folge willkürlicher staatlicher Einsor­tierung von Menschen. (4) Zuerst ist der Staat da, der ein bestimmtes Gebiet kontrolliert, die gemeinsame „Kultur“ der in diesem Gebiet lebenden Menschen ist nur eine Folge davon. Die Entstehung einer gemeinsamen Landes­sprache z.B. wäre ohne die staatlichen Institutionen von Armee und Schulwesen oft kaum denkbar gewesen. So wurde die italienische Sprache zum Zeitpunkt der Entstehung des italienischen National­staats (1860) nur von einer verschwin­dend kleinen Minder­heit im Alltag benutzt – ganze 2,5% der Bevölkerung. (5)

Während die Sprache zumindest noch praktische Bedeutung hat, sind „rassische“ Merkmale, die als vermeintlich „objektiv“, weil „natürlich“ gelten, komplett willkür­lich gewählt. Denn warum soll gerade eine andere Hautfarbe oder die Form der Nase der wesentliche Unterschied sein? Wenn es um biologische Merkmale geht, könnte man Menschen mindestens genau­so gut nach ihrer Blutgruppe oder ihrer Schuh­größe sortieren.

Die organische Nation

Die „ethnopluralistische“ Idee ist keines­wegs neu, sondern nur eine Neuauflage des völkischen Nationalismus´. Dieser ent­stand nicht ohne Grund zur gleichen Zeit wie der moderne bürgerliche Natio­nal­staat, Anfang des 19. Jahrhunderts. Die bürgerliche Klasse hatte sich damals dank ihrer ökonomischen Macht zu einem wichtigen Faktor im gesell­schaft­lichen Gefüge entwickelt. Dem ge­gen­über verlor der Adel, dessen Machtbasis Agrarwirt­schaft und Leibeigenschaft waren, an Bedeutung. Die politischen Verhältnisse entsprachen der neuen Realität aber nicht. Die Leibeigenschaft, die die Bauern an die adeligen Groß­grund­besitzer band, wider­sprach z.B. dem Bedürfnis des Bürgertums nach Arbeits­kräften, die absolutistische Monarchie dem Bedürfnis nach Mitbe­stimmung. Theoretisch schlug sich dieser Konflikt in der Philosophie der Aufklärung nieder. Die Legitimation der Feudalherr­schaft – die Idee des Gottesgnadentums – wurde angezweifelt, der Religion Rationa­lismus und Naturwissenschaft entgegen­gestellt. Die Monarchie sollte durch ein „vernünf­tiges“ Staatsmodell ersetzt wer­den, die königliche Willkür durch eine Verfassung und eine parlamentarische „Volksver­tretung“ beschränkt oder gleich ganz dadurch ersetzt werden. Der Staat wurde als großes, nach rationalen Maßstä­ben konstruiertes Uhrwerk gedacht.

Diese Ideen wurden vom deutschen Bürgertum nur zum Teil übernommen. Das Erklärungsmodell, dass man zur Begründung des Strebens nach einem eigenen Nationalstaat wählte, unterschied sich deutlich von dem der englischen und französischen Aufklärung. Statt als von Menschenhand konstruierte Maschine wurde der Staat als natürlicher Organis­mus betrachtet, als institutioneller Körper der ewigen „Volksseele“. Zwei Gründe gab es dafür: Einerseits war der Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft zwi­schen 1806 und 1813 der Startpunkt der Entstehung der deutschen National­bewegung. Ein Rückgriff auf die Ideen der französischen Aufklärung war darum nur schwer möglich. Zudem war das Gebiet des künftigen deutschen Nationalstaats in viele Fürstentümer zersplittert – im Gegensatz z.B. zu Frankreich musste ein einheitliches Staatsgebiet erst hergestellt werden. Um diese erstrebte Einheit zu begründen, berief man sich auf ein ewiges, unwandelbares Wesen der Deutschen.

Während die Burschenschaften, die aus den im Kampf gegen die Franzosen gebildeten Freikorps entstanden waren, eher die aktivistische Seite des Strebens nach nationaler Einheit repräsentierten, wandten sich die Romantiker auf der Suche nach dem „deutschen Wesen“ der Vergangenheit zu – die Märchensamm­lungen der Brüder Grimm gehören z.B. in diesen Kontext. Die „deutsche Volks­seele“ wurde so freilich nicht gefunden, sondern eher erfunden.

Die völkische Idee wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von vielen Nationalisten übernommen und ist bis heute nicht ausgestorben. In Deutschland prägt sie z.B. immer noch die Einwan­de­rungs­politik – während sich z.B. in Frank­reich die Staatsbürgerschaft am Geburts­recht orientiert (wer in Frankreich geboren ist, gilt als Franzose), gilt in Deutschland noch immer das Abstam­mungs­recht: „Deutsch ist nur, wer deutsche Eltern hat.“ Darauf können sich Nazis und CDU-Politiker wie Wolfgang Schäuble problemlos einigen – die Zugehörigkeit zum deutschen Staats­­­­volk leitet sich aus einer my­ste­riösen Qua­lität des „deut­schen Blu­­tes“ ab.

Aus der weiten Verbreitung völ­kischer Ideen er­klärt sich auch, warum auch man­che Linke Pro­bleme haben, der ethno­pluralistischen „Multikultur von rechts“ inhaltlich etwas entgegenzusetzen oder sogar Positionen vertreten, die dieser auf´s Haar gleichen. Die bloße Forderung nach Toleranz „Fremden“ gegenüber greift zu kurz, wenn diese dabei in ihrem „Fremd­sein“ festgeschrieben werden, also z.B. MigrantInnen unveränderlich nur als Repäsentanten ihres jeweiligen „Kultur­kreises“ gesehen werden. Ein wirksamer Antirassismus kann nicht ohne die Kritik am Nationalstaat auskommen. Die nationalstaatliche Logik ist immer struk­tur­ell rassistisch (unabhängig davon, wie sie begründet wird), da sie stets zwischen „uns“ und dem Rest der Welt trennt.

Der nationale Sozialismus

Der Fiktion der „Volks­­­­­­­ge­­­mein­schaft“ stand in der bürgerlichen Gesell­schaft frei­lich stets die Re­a­­lität des Klas­­­­sen­­­­kampfs ent­ge­gen. Dies sa­hen auch viele Nationa­lis­ten, die sich der Not­wendigkeit be­­wusst waren, auch die Ar­beiter­klasse in ihre Pläne ein­zu­­bezie­hen. Ande­rer­seits war auch ein Groß­teil der sozia­lis­­ti­schen und kom­­­mu­­nis­ti­schen Theo­retiker und Funk­­tionäre fest in na­tio­nalis­tischen Denk­weisen verfan­gen. Aus der Verbin­dung beider Seiten entstand das Kon­zept des „natio­nalen So­zialis­mus“. Der I. Weltkrieg mar­kierte dabei den ent­schei­­denden Punkt. Die wich­tigste Neuerung des Krie­ges war, dass sich nicht mehr nur Armeen gegen­über­standen, sondern das Ausmaß des Konfliktes eine weitgehende Mobilisierung der Gesamt­bevölkerung nötig machte. Die Notwen­digkeiten der Kriegsführung zwan­gen die beteiligten Regierungen auch zu einer verstärkten Kontrolle der Wirtschaft, um die ökono­mischen Ressourcen best­möglich nutzen zu können. Das war vor allem eine pragmatische Antwort auf die Sach­zwänge des modernen Krieges mit seinen riesigen Materialschlachten und den damit verbun­de­nen logistischen Anfor­derungen. Doch sahen das nicht alle so – die deutschen Sozialdemokraten z.B. be­trachteten diesen „Kriegssozialismus“ als Vor­zeichen einer künftigen Überwin­dung des „anarchi­schen“ Konkurrenz­kapitalis­mus. Hatten sie noch 1914 nur widerwillig den Kriegskrediten zuge­stimmt, so fanden sie sich bald nicht nur mit dem Krieg ab. Manche von ihnen überhöhten den Konflikt gar zum „Welt­re­vo­lutionskrieg“, bei dem Deutschland die Seite des Fort­schritts, die Entente (6) mit Großbri­tan­nien an der Spitze die „Weltreaktion“ verkörperte.

Der preußische Obrigkeitsstaat erschien in den Augen dieser Sozialdemokraten nicht mehr nur als Relikt der Vergan­gen­heit, sondern als Vorform einer höheren Stufe der Organisation der Produktivkräfte, d.h. des Fortschritts der Geschichte auf ihr vorbestimmtes Ziel zu. Diese Ein­schät­zung wurzelte in einem seit den Tagen des Gründervater Ferdinand Lassalles (7) in der SPD vorherrschenden Staatsfetischismus „Sozialismus“ wurde gleichgesetzt mit staatlicher Organi­sation der Wirtschaft und der Gesamt­gesellschaft. Der Krieg ebnete diesem Fortschritt den Weg. Er erzwang nicht nur eine verstärkte staatliche Kontrolle der Wirtschaft (freilich unter Bewahrung des Privateigentums an den Produktions­mitteln), er machte auch eine zeitweilige Befriedung der Klassenkonflikte und die stärkere Einbindung der Arbeiter­schaft in die „Volksgemeinschaft“ mittels sozial­staat­licher Maßnahmen nötig – und lieferte so das Modell für den „nationalen Sozia­lismus“.

Nach dem I. Weltkrieg war diese Idee weit verbreitet und wurde mit gewissen Varia­tionen von Vertretern fast des gesamten politischen Spektrums geteilt. Walther Rathenau (der gemeinhin als Liberaler galt) wäre hier ebenso zu nennen wie etwa die „Nationalbolschewisten“ innerhalb KAPD (8). In der Rechten nahm die NSDAP die Idee in ihr Programm, den Begriff in ihren Namen auf.

Von einer ganz anderen Seite näherten sich auch die italienischen Syndikalisten einer ähnlichen Position. Während die deutsche Sozialdemokraten auf Reformen und den gesetzmäßigen Gang der Geschichte setzten, war für sie nur der Wille zum Umsturz entscheidend. Prägend waren dabei vor allem die Ideen George Sorels (1847-1922).

Sorel hatte es als Theoretiker (vor allem mit der Schrift Über die Gewalt (9)) zu einigem Einfluss in der französischen Abeiterbewegung gebracht. Anfangs dem orthodoxen Marxismus verpflichtet, unterzog er diesen bald einer weitgehenden Neuinterpretation, die außer der Idee des Klassenkampfs kaum etwas übrigließ. Dabei ging es Sorel nicht um eine Über­win­dung des Kapitalismus. Was er kriti­sierte, war die „Dekadenz“ der bürger­lichen Gesellschaft, Rationalismus und Demokratie. Das Proletariat sollte gegen das Bürgertum in Stellung gebracht werden und so die moralische Erneuerung, die Rückkehr des „Heroischen“ einläuten. Das Mittel, um die Arbeiter zu mobili­sieren, sollte dabei nicht die Vernunft, son­dern der „Mythos“ sein. Diesen Mythos, der die Kampf­­be­reitschaft des Prole­tariats ent­fachen sollte, glau­bte So­rel im Ge­neral­streik ge­fun­den zu haben.

Die Hoff­nun­gen, die er in das Pro­leta­riat setzte, er­füllten sich frei­­lich nicht. Ent­täuscht wand­­­­­­­ten Sorel und seine Anhän­ger sich 1912 der natio­nalistischen Ac­tion Francaise zu. Ein Teil der italie­ni­schen Syn­di­­kalisten bewegte sich derweil in eine ähnliche Rich­tung. Nachdem die ver­schie­denen Anläufe zum Umsturz miss­lungen waren, kamen die­se Syndika­listen zu dem Schluss, dass Proletariat sei nicht der geeignete Träger einer Revolution und er­setz­ten es durch die Nation.

Diese Haltung ging nahtlos in den Fa­schismus über. Am 1. Oktober 1914 wurde in Mailand der Fascio rivoluzionario d´azio­ne internazionalista (Revolutionäres Bünd­nis internationaler Aktion) gegrün­det. Im Gründungsmanifest hieß es: „Wir (…) sind überzeugt, dass es unmöglich ist, nationale Revolutionen ins Ausland zu tragen, ohne zuvor das Stadium der eigenen nationalen Revolution durchlau­fen zu haben. (…) Wo ein Volk nicht im Rahmen seiner natürlichen Grenzen lebt, die durch Sprache und Rasse gezogen werden, wo die nationale Frage nicht gelöst ist, kann es das zur normalen Entwicklung der Klassenbewegung notwendige Klima nicht geben.“ (10) Vor der „sozialen“ galt es also die „nationale Frage“ zu lösen – dazu musste nach Ansicht der National­syndikalisten der Krieg gewonnen und so Italien ein angemessener Platz unter den europäischen Nationen gesichert werden.

Benito Mussolini, der bis dahin in der Sozialistischen Partei Italiens (SPI) Karriere gemacht hatte, schloss sich bald dem Bündnis an und übernahm schließ­lich die Führung. Die Revolution, die Mussolini nun forderte, war nationa­listisch, antiliberal und anti­marxistisch. 1917 schrieb er: „Aber das Vaterland darf nicht verleugnet werden (…), besonders wenn es in einen Überlebens­kampf verwickelt ist. Wer Vater­land sagt, sagt Dis­ziplin; wer Disziplin sagt, an­er­­kennt eine Hierar­chie der Autori­tät, der Funk­tionen, der In­tel­ligenzen. Und wo die­se Disziplin nicht frei­willig akzeptiert wird, (…) muss sie aufge­zwungen wer­den (…).“

Und an anderer Stelle: „Die Wörter Republik, Demokratie, Radikalis­mus, Liberalismus haben genau­so wenig Sinn wie das Wort Sozialismus. Morgen wird es einen haben, aber das wird jener sein, den ihm die Millionen Front­heim­kehrer geben. Dieser Sinn kann ein ganz anderer sein, zum Beispiel ein anti­marxistischer, nationaler Sozialismus. Die Millionen Arbeiter, die zu den Furchen der Äcker zurückkehren, nachdem sie in den Furchen der Schützengräben gelebt haben, werden die Synthese der Antithese Klasse und Nation bewerkstelligen.“ (11)

Der unverstandene Kapitalismus

Der Kapitalismus war für die National­syndikalisten ein rein moralisch-psycho­logisches Problem. Der materielle Kern der kapitalistischen Produktionsweise, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die darauf basierende Wertschöpfung durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, wurde so verkannt. Diese Wendung hin zur Psychologie lässt sich z.B. bei Arturo Labriola (12) erkennen, wenn er schreibt: „Das Organisations­prinzip des Kapitalismus lässt ihn [den Kapitalisten] als Chef erscheinen (…). Dies ist der Hauptgrund, der die Arbeiter gegen die Kapitalisten aufbringt.“ (13)

Der Teufel steckt hier im Detail: Das Problem ist für Labriola nicht, dass der Fabrikbesitzer wirklich der Chef ist, der über die Arbeitskraft der Proletarier verfügt und diese gewinnbringend nutzen will –das Problem ist nur, dass der Kapitalist den Arbeitern als Chef erscheint.

Aus solcher Kapitalismuskritik folgt logisch ein Verständnis von Sozialismus, dass es gar nicht mehr für nötig hält, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Lohnarbeit anzutasten. Nur die geistige Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen musste geschlossen werden. Die Trennlinie zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde durch die zwischen „Produktiven“ und „Parasiten“ ersetzt. So forderten die italienischen Faschisten am Ende des I. Weltkrieges eine „partielle Enteignung“ des „parasitären“ Finanz­kapitals. Die „produktiven“ Teile der Gesellschaft (was Fabrikbesitzer, Ge­schäfts­leute usw. einschloss) sollten in nach Wirtschaftszweigen getrennten Korpora­tiven zusammengefasst werden, die in Zusammenarbeit mit dem Staat das organische Ganze der Nation bilden sollten – ein Programm, das nach der Macht­übernahme auch umgesetzt wurde.

In der Ideologie der NSDAP verband sich die Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital mit der antisemi­tischen Rassenlehre, die das mittelalter­liche Stereotyp vom wuchernden „Geld­juden“ aufgriff. Die abstrakte Qualität kapitalistischer Herrschaft – die nicht mehr an Personen gebunden ist, sondern an den Besitz – wurde so völlig verkannt, der unsichtbare Zwang des Marktes im „Juden“ personifiziert. Im Rückgriff auf antisemitische Verschwörungstheorien, wie sie u.a. in den „Protokollen der Weisen von Zion“ (14) formuliert worden waren, halluzinierte man sich diesen als teuflische Macht hinter den Kulissen. Der „Jude“ war zum einen Inbegriff des raffgierigen Spekulanten, er trat aber auch in Gestalt des Bolschewismus auf. Zudem bedrohte er die „arische Art“, indem er als parasitäres Anhängsel des „Volkskörpers“ dessen „rassische Reinheit“ untergrub. Die Folgen dieser paranoiden Ideen sind bekannt – sie führten zur Ermordung unzähliger Men­schen in den KZs. (15)

Selbst ohne gleich die Antisemitismus-Keule auszupacken, kann man feststellen, dass auch bei vielen linken „Kapitalismus­kritikern“ dieser Mechanismus der Perso­ni­fizierung wirkt. Dass der Kapitalismus als System, als besondere Form der Organisation, das Problem ist und nicht das moralische Ungenügen einiger Unter­nehmer, geht vielen nicht in den Kopf. Kapitalist ist man nicht dadurch, dass man besonders gierig ist, sondern dadurch, dass man Kapital besitzt und so Produk­tionsmittel und Arbeitskräfte kaufen kann – und auch dann ist man den Zwängen des Marktes unterworfen.

Auch der Arbeitsfetisch, der die „produk­tive“ Seite der kapitalistischen Wirtschaft von jeder Kritik ausnimmt, ist in der heutigen Linken weit verbreitet, sei es bei Attac, der Linken oder der SPD, die, wenn sie überhaupt Kritik am Kapitalismus üben, meist nur das Finanzkapital meinen. Erinnert sei hier an die „Heuschrecken“-Rede von Franz Müntefering, in der er sagte: „Manche Finanzinvestoren ver­schwen­den keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernich­ten. (…) Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschrecken­schwär­me über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Indem das Problem einer bestimmten Personengruppe (Juden, Amerikaner, Spekulanten) zugeschrieben wird, wird die eigene Mitverantwortung verdrängt. Für Müntefering dürfte daraus nur business as usual folgen – noch schlimmer ist es, wenn man meint, zur Lösung des Problems diese Leute ausrotten zu müssen. Emanzipation kann auf dieser Grundlage nicht funktionieren.

Fazit

Diese ideologischen Überschneidungen zwischen „links“ und „rechts“ bedeuten freilich nicht, dass beide letztlich dasselbe seien, wie gängige Extremismus­theorien behaupten. Diese Gemeinsam­keiten kommen nur dadurch zustande, dass die Linke den gesellschaftlichen Normal­zustand von Kapitalismus, Lohn­ar­beit, Nationalstaat usw. als natur­gegeben akzeptiert, wie es die Nazis ohnehin die ganze Zeit tun. Der Kern des Problems liegt in der „poli­titischen Mitte“, in dem Be­streben, die bürgerliche Herrschaft in all ihren Erscheinungsformen als natürli­che Ordnung der Dinge zu le­gi­ti­mieren.

Was es bräuchte, wäre also eine Radi­kalisierung linker Kritik. Volk, Nation, Kapitalismus usw. sind nichts Ewiges, sondern von Menschen geschaffen, lassen sich also auch verändern und gegebe­nenfalls abschaffen. Die Forderung nach einer Gesellschaft­s­ordnung, die es allen Menschen ermög­licht, ihr Leben gemäß ihren Bedürfnissen zu organisieren, ist bis heute nicht erfüllt. Genau das wäre ein Ziel für eine Revolu­tion, die diesen Namen wirklich verdient – eine Umwälzung, die die Ausbeutung der menschlichen Arbeits­kraft ebenso wie die nationalstaatliche Einsortierung von Menschen beendet.

(justus)

 

(1) Deren wichtigstes Publikationsorgan in Deutschland die Zeitschrift Junge Freiheit ist

(2) Zitat aus de Benoist, „Aufstand der Kulturen“, 1999, S. 36

(3) Ebenda, S. 41

(4) Siehe auch FA! #24, „Ihre Papiere bitte!“

(5) Angabe nach Eric J. Hobsbawm, „Nationen und Nationalismus“, 1991, S. 75

(6) Das gegnerische Bündnis von Frankreich, England, Italien, Russland und später den USA

(7) Ferdinand Lasalle war 1863 Mit­be­gründer des Allgemeinen Deut­schen Arbeitervereins (ADAV), aus dem 1869 die Sozialdemo­kratische Abeiterpartei Deutschlands her­vor­ging, deren Führung Lasalle übernahm. Zu Lasalles Staatsbegriff siehe Willy Huhn, „Der Etatismus der Sozialdemokratie“, 2003.

(8) Kommunistische Arbeiterpartei Deutsch­lands, eine rätekommunistisch orien­tierte Abspaltung der KPD

(9) Erschienen erstmals 1906

(10) Zitat nach Zeev Sternhell, „Die Ent­stehung der faschistischen Ideologie“, 1999, S. 259

(11) Ebenda, S. 277

(12) Italienischer Sozialist, 1843-1904, gründete 1902 die Zeitschrift Avanguardia Socialista,an der ab 1903 auch Mussolini mitarbeitete.

(13) Zitat nach Sternhell, 1999, S. 133

(14) Eine Ende des 19. Jahrhunderts vom russischen Geheimdienst fabrizierte Fälschung

(15) Rassistische Ideen spielten aber in allen faschistischen Bewegungen eine wichtige Rolle. So errichteten die italienischen Faschisten z.B. Internierungslager für „Zigeuner“.

Sonderzug ins Tierreich (Teil 2)

Zur Kritik der Soziobiologie

Wie wenig erkenntnisfördernd die sog. „Sarrazin-Debatte“ der letzten Monate auch war, so hat sie immerhin gezeigt, wie verbreitet und akzeptiert biologistische Erklärungsmuster noch immer sind. Dass Sarrazin mit seinen „Thesen“ über den Kinderreichtum der „Unterschicht“ und die angeblich erbliche Dummheit bei Mi­grant_innen an eine gut 200jährige Tradi­tion eugenischen Denkens anknüpft, habe ich im letzten Heft gezeigt.

Hier soll nun die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Denn obwohl nach den Erfahrungen der NS-Rassenpolitik und der Massenvernichtung „unwerten Lebens“ in den KZ´s die eugenische Theorie und Praxis gründlich diskreditiert schien, war damit das biologistische Denken keineswegs aus der Wissenschaft verbannt: Mit der in den 1970er Jahren entstehenden Soziobiolo­gie wurde der Diskurs auf neuer Ebene wieder aufgenommen. Eben diese soll hier genauer betrachtet werden.

Zurück zur Natur!

Soziobiologie ist die Wissenschaft von der biologischen Grundlage jeglicher Form des sozialen Verhaltens bei allen Arten von Organismen einschließlich des Menschen.“ So formulierte es der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson, der den Begriff mit seinem 1975 erschienenen Buch „Sociobiology: The New Synthesis“ populär machte. Die Soziobiologie ist also ein Sonderzweig der Biologie, der (anknüpfend an Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung und Genetik) das Sozialverhalten von Lebewesen unter biologischen Gesichtspunkten untersucht.

An diesem Minimalprogramm ist noch wenig auszusetzen. Dass alles menschliche Verhalten biologische Grundlagen hat, dass man einen Körper braucht, um sich irgendwie verhalten zu können, ist schließ­lich eine banale Feststellung. Das von Wilson formulierte Maximalprogramm weist aber in eine andere Richtung, wenn er meint: „Der Übergang von einer rein phänomenologischen Theorie zu einer fundamentalen Theorie wird der Soziologie erst möglich sein, wenn das menschliche Gehirn in seinen neuronalen Zusammenhängen vollständig erklärt ist (…) Erkennen und Wahrnehmung werden sich als Schaltkreise verstehen lassen (…) Hat sich die neue Neurobiologie erst einmal die Psychologie einverleibt, wird sie der Soziologie ein dauerhaftes Netz aus übergeordneten Prinzipien bescheren.“ Die Biologie soll also der Soziologie die nötige Basis liefern: Nur so könnte man dazu kommen, nicht mehr nur zu beschreiben, was Menschen tun, sondern auch zu erklären, warum sie es tun – die Gründe dafür seien also im Wesentlichen biologisch. Die Lücke zwischen Minimal- und Maxi­mal­programm wird dabei per Kurzschluss überbrückt: Menschliches Verhalten hat eine bio­logische Basis, also ist es auch nur biologisch zu erklären.

Die Logik hinkt. Schließlich ist die Basis einer Sache noch nicht die Sache selbst. Zudem ist das menschliche Verhalten nicht nur biologisch, sondern auch durch die noch grundlegenderen Gesetzmäßigkeiten der Physik bedingt – erklären lässt es sich mit diesen nicht. Nehmen wir z.B. die Vorgänge bei einer Parlamentswahl: Diese stehen natürlich ganz im Einklang mit den Gesetz­mäßigkeiten der Schwerkraft und der Thermodynamik. Aber auch wenn man noch die Quantenmechanik dazunimmt, lässt sich damit nicht sinnvoll erklären, warum z.B. die FDP bei den letzten Landtagswahlen so schlecht abgeschnitten hat. Anders gesagt: Nur weil menschliches Verhalten physikalische und biologische Grundlagen hat, lässt es sich noch nicht aus diesen ableiten.

Aber eben dies versucht die Soziobiologie, Wilsons Kurzschluss folgend. Lebewesen (so die Ausgangsthese) verhalten sich so oder so, weil sich dieses Verhalten in der Evolution durchgesetzt hat. Die Hauptfrage ist demnach, inwiefern ein Verhalten „adaptiv“ ist, also Vorteile bei der Weitergabe des Erbguts mit sich bringt. Dies setzt voraus, was eigentlich erst noch zu beweisen wäre, dass die betreffenden Verhaltensmuster genetisch bedingt sind. Der amerikanische Biologe Richard Dawkins (der viel dazu beigetragen hat, die soziobiologische Sicht populär zu machen) spricht in diesem Zusammenhang vom „egoistischen Gen“: Die Gene haben kein anderes Ziel, als sich zu reproduzieren, und bringen darum ihre jeweiligen „Überlebensmaschinen“ dazu, sich diesem Ziel entsprechend zu verhalten.

Schwule Moleküle

Nun sollte man den soziobiologischen Begriff von „Egoismus“ nicht mit dem Alltagsgebrauch des Wortes verwechseln. So gilt für Dawkins jedes Verhalten als egoistisch, wenn es dem Überleben der Gene dient: „Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die oben gegebenen Definitionen von Altruismus und Egoismus sich am objektiven Verhalten orientieren und nicht an Intentionen. Ich beschäftige mich nicht mit der Psychologie der Motive (…) Meine Definition fragt nur nach, ob der Effekt einer Handlung darin besteht, die Überlebenschancen des mutmaßlichen Altruisten beziehungsweise des mutmaßlichen Nutznießers zu verringern oder zu vergrößern.“ Dawkins´ These, nur egoistisches Verhalten sei evolutionär erfolgreich, läuft also auf einen Zirkelschluss hinaus – wenn das Verhalten nicht erfolgreich wäre, könnte es ja nicht als egoistisch gelten.

In seinem Buch „The Selfish Gene“ versucht Dawkins nun, anhand idealtypischer Modelle genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen sich die Gene weitervererben oder eben nicht. So will er z.B. erklären, wie altruistisches Verhalten mit dem „Egoismus“ der Gene in Einklang zu bringen ist. Wie das geht, demonstriert Dawkins mit folgender Rechnung: „Ein Gen für das selbstmörderische Retten von fünf Vettern würde in der Population nicht zahlreicher werden, aber ein Gen zum Retten von fünf Brüdern oder zehn Vettern würde dies sehr wohl. Damit ein selbstmörderisch egoistisches Gen erfolgreich ist, muss es mehr als zwei Geschwister (…) oder mehr als vier Halbgeschwister (…) retten und so weiter.“ Schließlich liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschwister das gleiche Gen in sich tragen, bei 1:2, bei Halbgeschwistern bei 1:4 usw. Mindestens so viele müssen also gerettet werden, damit es sich für das Überleben des Gens auszahlt.

Die Rechnung ist zwar hanebüchen, aber Dawkins ist nur konsequent: Schließlich gilt ihm ein Verhalten nur dann als altruistisch, wenn es die Überlebenschancen des Individuums verringert, also wirklich tendenziell selbstmörderisch ist. Das Gen für „selbstmörderischen Altruismus“ bleibt aber dennoch reine Spekulation – auch wenn es sich in dieser Weise durchsetzen könnte, heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich existiert.

Ähnlich spekulativ argumentieren manche Biolog_innen, um andere menschliche Verhaltensweisen zu begründen, etwa in Bezug auf das flapsig so genannte „Schwulen-Gen“. Da sich Homosexuelle bekanntlich nicht fortpflanzen, ist es schwierig zu erklären, wie dieses fiktive „Schwulen-Gen“ trotzdem vererbt werden kann. Darum verweist die Soziobiologie aufs Tierreich: So gibt es bei vielen Vogelarten so genannte „Nesthelfer“, Tiere also, die auf Fortpflanzung verzichten und dafür anderen Gruppenangehörigen bei der Aufzucht der Jungen helfen. So ähnlich, meinen nun die Biolog_innen, sei es auch bei den Homosexuellen: Die würden sich zwar nicht fortpflanzen, sich dafür aber um die Kinder ihrer (ebenfalls das „Schwulen-Gen“ in sich tragenden) Verwandten kümmern, damit die „Gesamtfitness“ der Gruppe steigern und so indirekt dafür sorgen, dass auch das Gen weitervererbt wird.

Das ist zwar Nonsens, aber immerhin ein gutes Beispiel für die Beliebigkeit der soziobiologischen Argumentation. Beginnen wir bei der Behauptung, wir hätten es bei den tierischen „Nesthelfern“ und der menschlichen Homosexualität mit zwei wesensgleichen Phänomenen zu tun: Hier wird einfach ein menschliches Verhalten ins Tierreich projiziert und dann wiederum glücklich aus der Natur „abgeleitet“. Der Erkenntnisgewinn tendiert dabei großzügig gegen Null: So wie man durch die Beobachtung eines Wolfsrudels nichts über Pelikane lernt, so sagt das Verhalten von Vögeln auch nichts über Menschen aus.

An dieses logisch fragwürdige Manöver schließt sich nahtlos ein zweiter Zirkelschluss an, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Lebewesen verhalten sich so und so, weil das Verhalten „adaptiv“ ist – das Verhalten muss adaptiv sein, sonst hätte es sich gar nicht entwickelt. Jede Eigenschaft beweist also schon durch ihre bloße Existenz, dass sie evolutionär vorteilhaft ist. Und mit etwas Mut zur Willkür lässt sich bei jedem menschlichen Verhalten ein solcher Vorteil finden, vor allem wenn man noch so schwammige Konzepte wie die „Gruppenfitness“ ins Spiel bringt.

Unbewegte Beweger

So wie in der soziobiologischen Argumentation menschliche Verhaltensweisen aufs Tierreich projiziert werden, so werden auch phänotypische Merkmale auf den Genotyp projiziert: Ein Lebewesen zeigt diese oder jene Merkmale, weil diese – als codierte Information – schon in seinem Genom enthalten sind. In diesem Sinne handelt es sich bei den „Genen“ um eine gedankliche Abstraktion, die man nicht mit der realen DNA als biochemischem Bestand­teil der Zelle verwechseln sollte. Die Gene werden als „unbewegte Beweger“ gedacht, als erste Ursache der Kausalkette, an deren Ende der fertige Organismus steht.

Passend dazu schreibt z.B. Richard Dawkins die gesamte Naturgeschichte als Geschichte der (von ihm „Replikatoren“ genannten) Gene. Nachdem diese im Urmeer durch chemische Prozesse entstanden waren und sich in steter Konkurrenz weiterentwickelt hat­ten, begannen sie irgendwann, so Dawkins, um sich herum Organismen zu produzieren: „Auf diese Weise mögen die ersten lebenden Zellen entstanden sein. Die Repli­katoren fingen an, nicht mehr einfach nur zu existieren, sondern für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr Fortbestehen.“ Die Organismen erscheinen als bloße Anhängsel des Genoms, wenn Dawkins schreibt: „Sie [die Replikatoren] sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und Geist, und ihr Fortbestehen ist der letzte Grund unserer Existenz (…) Heute tragen sie den Namen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen.“

Wenn man sich die Gene als „Ur-Sache“ allen Lebens denkt, ist dieser Schöpfungsmythos nur die logische Konsequenz. Allerdings schreibt Dawkins der DNA damit Fähigkeiten zu, die sie schlichtweg nicht besitzt. Denn diese ist für sich genommen nur „tote Information“ – wirksam werden kann sie nur innerhalb der Zelle, durch ein komplexes Zusammenspiel aller Zellbestandteile. Außerhalb der Zelle „macht“ die DNA gar nichts. Es ist also unklar, wie sie es angestellt haben sollte, aus eigener Kraft Zellwände und Organismen um sich herum zu konstruieren.

Damit erweist sich auch die Vorstellung von der DNA als oberster Steuerungseinheit des Organismus als Fiktion. So müssen die realen Gene, also jene Abschnitte des DNA-Strangs, die an der Produktion von Proteinen beteiligt sind, eine ganze Reihe von Prozeduren durchlaufen, bis am Ende ein Protein entsteht. Zunächst muss der DNA-Doppelstrang zu RNA aufgespalten werden. Dann wird von der RNA eine „Kopie“ (das so genannte Primärtranskript) gemacht. Diese wird weiter bearbeitet, in Stücke zerlegt, manche Teile aussortiert, der Rest neu geordnet und zusammengesetzt, wobei unterschiedliche Varianten der Neuzusammen­setzung möglich sind – das ursprüngliche Gen ist also nicht nur auf die „Mitarbeit“ der anderen Zellbestandteile angewiesen, sondern auch weit davon entfernt dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Protein gebildet wird. Die Zelle wirkt auch aktiv daran mit, eventuelle „Fehler“ des Genoms auszugleichen, wie sich z.B. bei Experimenten zeigte: So wuchsen aus Eizellen, bei denen (am Aufbau vermeintlich lebenswichtiger Enzyme beteiligte) Abschnitte der DNA entfernt worden waren, trotzdem lebensfähige und offensichtlich gesunde Tiere heran.

Die phänotypischen Merkmale sind also nicht als bloße Widerspiegelung einer im Genotyp enthaltenen „Information“ zu begreifen, sondern eher als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, an dem eine Vielzahl von wechselwirkenden Faktoren beteiligt ist. Nehmen wir nur die Fähigkeit schnell zu rennen: Diese scheinbar so einfache Eigenschaft hängt unter anderem vom Knochenbau ab, von den Muskeln, von der Leistungsfähigkeit von Herz und Lungen usw. Es ist also nicht nur ein Gen, ein Protein, ein Organ daran beteiligt, sondern das Ergebnis „Geschwindigkeit“ ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel einer langen Reihe von Genen, Proteinen und Organen. Zutreffend wäre also höchstens, dass ein Tier in Ermangelung eines bestimmten Gens unfähig zum schnellen Laufen würde (weil ihm z.B. alle Knochen brechen würden, wenn es zu rennen anfängt) – was nicht ganz dasselbe ist wie ein Gen für schnelles Laufen.

Gene machen Krieg

Obwohl der „genetische Determinismus“ also auf wackeligen Beinen steht, ist er als Theorieansatz innerhalb der Biologie und Medizin immer noch vorherrschend. Nicht zuletzt werden entsprechende Forschungsprojekte von privater und staatlicher Seite immer noch überpro­por­tional gefördert. Aber auch die Aussicht auf gute Publicity dürfte die Wis­senschaftler_innen mit­­unter leiten: Meldungen über die Entdeckung angeblich genetischer Ursachen z.B. von „Aggression“ oder „Kriminalität“ sorgen eben für mediale Aufmerksamkeit. Berichte dieser Art wurden in den letzten zwei Jahr­zehn­ten immer wieder von der Presse kolportiert. In den entsprechenden Artikeln nahm meist ein Gen eine zentrale Rolle ein, das an der Produktion des Enzyms Monoaminooxidase-A (MAOA) beteiligt ist. Die These lautete nun, eine Mutation dieses Gens – das so genannte MAOA-L-Gen – könnte die Ursache für Kriminalität sein.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie meinten neuseeländische Wissenschaft­ler_innen, Menschen mit dem MAOA-L-Gen hätten eine erhöhte Neigung, sich kriminellen Banden anzuschließen. Nun ist dieses Gen bei ca. einem Drittel aller Männer zu finden, wovon die meisten niemals Mitglied einer Gang waren. Zudem ergebe sich, so die Forscher_innen, die erhöhte Neigung zur Kriminalität erst dann, wenn die betreffenden Personen zusätzlich in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurden. Von der Übermacht der Gene bleibt nur die schöne Schlagzeile.

Es geht hier aber nicht nur um einen Formfehler in der Darstellung der Ergebnisse. Das Problem besteht vielmehr darin, dass komplexe Handlungsmuster wie „Aggression“ oder „Kriminalität“ ebenso als phänotypische Merkmale behandelt werden wie z.B. die grüne oder blaue Augenfarbe eines Menschen. Nur ist „Kriminalität“ kein einheitliches Phänomen – einen Ladendiebstahl und einen Mord verbindet nur, dass es sich bei beiden um sozial unerwünschte und gesetzlich verbotene Verhaltensweisen handelt. Auch „Aggression“ ist keine Eigenschaft, sondern eine Form der Interaktion innerhalb eines sozialen Zusammenhangs. Es ist Unfug, das Ver­halten von Familienvätern, die Frau und Kinder schlagen, mit dem von Streikenden, die mit der Polizei kämpfen, unter den Sammelbegriff „Aggression“ zu packen und dann zu meinen, man hätte ein einheitliches Phänomen vor sich – unter diesem Blickwinkel ließe sich selbst der 2. Weltkrieg als übergroße Kneipenschlägerei verstehen.

Dass dies eine eher absurde Sichtweise ist, fällt auch manchen Soziobiolog_innen auf. Sie variieren das Motiv etwa folgender­maßen: Natürlich gibt es auch andere Gründe, aber ein bisschen Schuld hat auch die Natur. So sagt es z.B. der österreichische Biologe Franz Wuketits: „Vielmehr erklärt sich dieses Ereignis [der 2. Weltkrieg] aus einem Komplex von Faktoren, wozu Demagogie, Indoktrinierbarkeit, Ideologie und ökonomische Unsicherheit gehören. Wäre aber der Mensch von Natur aus gut, ohne jede Neigung zu Aggression und Gewalt, dann allerdings wäre dieses schreckliche Ereignis kaum zu erklären.“

Ein interessanter rhetorischer Winkelzug: Im ersten Satz nennt Wuketits einige ökonomische, ideologische und politische Faktoren, die mögliche Motive für aggressives Verhalten sein könnten. Im zweiten Satz macht er dann (mit der „Neigung zu Aggression und Gewalt“) die Aggression selbst zum Motiv, indem er sie in diese Reihe einordnet. Diese „Beweisführung“ läuft auf eine bloße Floskel hinaus: Aggressives Verhalten kommt eben von der Aggression. Das zu erklärende Phänomen wird also einfach nur verdoppelt – das aggressive Verhalten wird der „Aggression“ als einer im Menschen wirkenden Triebkraft zugeschrieben.

Versuchen wir es mal mit Vernunft: Natürlich können Menschen aggressiv werden (sonst gäbe es tatsächlich keine Kriege). Aber sie werden nicht wegen dieser Fähigkeit zur Aggressivität aggressiv, sondern aus bestimmten Ursachen und Motiven. So muss man z.B. ein Rassist sein, um sich von der Hautfarbe eines entgegenkommenden Passanten zu aggressivem Verhalten bis hin zum Totschlag provoziert zu fühlen. Das Motiv kommt an erster Stelle, die Aggression stellt sich erst hinterher ein, und sie ergibt sich nicht aus den Genen, sondern aus dem sozialen Kontext.

Nicht nur Soziobiolog_innen haben dieses Verständnisproblem. So ist es in der so genannten neorealistischen Schule der Politikwissenschaft üblich, zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte aus einer aggressiven „menschlichen Natur“ zu erklären. Diese Argumentation unterstellt nicht nur, dass staatliches Handeln nur den Willen der Untertanen exekutiert. Sie hat damit auch eine eindeutige ideologische Entlastungsfunktion: Wenn Staaten Krieg führen, dann geben sie ihren Untertanen nur Gelegenheit, ihre archaischen Triebe auszuleben, während in Friedenszeiten die staatliche Herrschaft dazu dient, diese (sich etwa in „kriminellem“ Verhalten äußernden) Triebe auf ein sozialverträgliches Maß zu regulieren.

Selbst kluge Menschen wie Albert Einstein und Sigmund Freud konnten sich (in ihrem unter dem Titel „Warum Krieg?“ veröffentlichten Briefwechsel) Kriege nur als Ausdruck eines allgemein-menschlichen Hangs zur Aggression erklären. Auch sie verstanden also nicht, wozu es die Institution der Armee mit ihren Hierarchien, Befehlsketten und harten Disziplinarmaßnahmen braucht: Nämlich um dafür zu sorgen, dass die Soldaten auch dann andere Leute töten, wenn sie selbst gerade nicht wütend sind – also um einen immer möglichen Mangel an Aggression auszugleichen.

Man sieht: Gute Sachkenntnis auf einem Gebiet bedeutet nicht, dass man auch sonst Ahnung hat. Wie Albert Einstein von Physik mögen auch die Soziobiolog_innen viel von Biologie verstehen – das hindert sie nicht, auf gesellschaftlichem Gebiet lieb gewonnene Allgemeinplätze zu reproduzieren und alle möglichen Sachverhalte unhinterfragt einfach als gegeben zu betrachten.

Trennlinien

Solche unhinterfragten Vorannahmen wirken auch auf die vermeintlich „objektive“ wissenschaftliche Arbeit zurück. Sie bestimmen oft genug, welche Gegenstände über­haupt als „interessant“ wahrgenommen werden und mit welchen Fragestellungen mensch sich diesen nähert. So wie wir im Alltag ständig eine Unmenge an Details aus unserer Wahrnehmung ausblenden müssen, um überhaupt etwas Bestimmtes wahrnehmen zu können, steht jede Wissenschaft vor dem Problem, aus den unmittelbaren „Na­tur­gegebenheiten“ alle bloß zufälligen Störfaktoren herauszufiltern, um die eigentlichen Regelmäßigkeiten erkennen zu können.

Mitunter ist es aber schwierig zu entscheiden, was an einem Phänomen wichtig ist. Der menschliche Körper z.B. ist einfach ein komplexes Gebilde, an dem sich durch Wissenschaft und Technik problemlos Millionen von Merkmalen finden lassen – die Frage ist, welche davon irgendwie bedeutungsvoll sind. Rassisten picken sich einfach die Merkmale heraus, die ihnen für ihr Interesse (sich von anderen Men­schengruppen abzugrenzen) nützlich erscheinen. Das heißt nicht, dass sie Recht hätten, sondern nur, dass sie eben Rassisten sind. Es ist z.B. naheliegend, dass sich bei dunkelhäutigen Menschen auch Gene finden lassen, die für ihre Hautfarbe verantwortlich sind. Eine Aussagekraft hat das aber nur, wenn man Rassist ist, also Hautpigmente für eine unheimlich wichtige Sache hält.

Nehmen wir als weiteres Beispiel mal das Sarrazin´sche „Juden-Gen“: Sarrazin berief sich dabei auf eine von der New York University durchgeführte Studie, bei der angeblich große genetische Gemeinsamkeiten zwischen orientalischen, osteuropäischen und aus Spanien und Portugal stammenden Juden festgestellt wurde. Diese Forschungsergebnisse mögen durchaus zutreffend sein – die Frage ist nur, was für Schlüsse man daraus zieht.

So ist es z.B. Unsinn, wenn Professor Harry Ostrer, der Leiter des Forschungsprojekts, meint: „Unsere Befunde zeigen, dass es eine genetische Basis für das Jüdischsein gibt.“ Dabei verwechselt Ostrer leider Ursache und Wirkung: Nicht die Gene sind die Basis des „Jüdischseins“, sondern das „Jüdischsein“ schlägt sich auch in der DNA nieder. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen also nur, was man auch so schon wusste: Dass es die soziale Gruppe der „Juden“ gibt, die durch gemeinsame Religion und Traditionen ebenso wie durch den Druck einer oftmals feindlichen Mehrheitsgesellschaft zusammengehalten wurde, weswegen die Angehörigen dieser Gruppe auch eher untereinander sexuelle Beziehungen eingingen. Daraus ergeben sich die genetischen Gemeinsamkeiten, die also die Folge, nicht Ursache der Gruppenbildung sind.

Solche Unterscheidungen sind mehr als eine bloße Spitzfindigkeit. Denn gerade die angebliche „Natürlichkeit“ der Gruppenzuge­hö­rig­keit dient immer wieder als Begründung, um Menschen entsprechend dieser vermeintlich natürlichen Ordnung der Dinge zu sortieren, für Vertreibungspolitik und Diskriminierung. Dies mag nicht die Absicht der meisten Soziobiolog_innen sein, so wenig wie es ihre Absicht sein dürfte, Kriege oder kapitalistische Konkurrenz zu rechtfertigen. Aber eben dies ist der Effekt, wenn man sich die falschen Verhältnisse mit falschen Mitteln zu erklären versucht – also hinter jedem sozialen Phänomen eine biologische Ursache wirken sieht. Und es ist kein Wunder, dass solche „Erklärungen“ den Sarrazins dieser Welt nur allzu gut in den Kram passen.

(justus)

Verwendete Literatur:
Richard Dawkins, „Das egoistische Gen“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1994
Steven Rose, „Darwins gefährliche Erben – Biologie jenseits der egoistischen Gene“, C.H. Beck München, 2000
Heinz-Jürgen Voß, „Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“, Trans­cript Verlag Berlin 2010
Franz M. Wuketits, „Soziobiologie – Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1997

Im Unterholz der Moderne (1)

Religion, Vernunft, Ideologie

Gut 200 Jahre ist es her, dass Imma­nuel Kant seine berühmte Forderung, „Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen“, erhob und Auf­klä­rung als den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Schon der Begriff „Aufklärung“ („enligh­tenment“ im Englischen) verweist auf den hehren Anspruch des Unterfangens: Alles soll vom Licht der Vernunft durchleuchtet, die Gesellschaft nach den Regeln der Rationalität umgestaltet werden. Damit ist aber längst kein Zeitalter universeller Vernunft angebrochen. Zwar haben die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen ihr Monopol auf die letztgültige Erklärung der Welt verloren – die Religiosität ist mit dem Verlust des christlichen Monopols aber nicht verschwunden.

Im Gegenteil lassen sich sogar Anzeichen für einen religiösen roll-back, ein erneutes Erstarken des Glaubens ausmachen. Nicht nur in islamisch geprägten Teilen der Welt gewinnen fundamentalistische Be­wegungen an Bedeutung. Auch hier­zu­lande bemühen sich die christlichen Kirchen, verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Wie das ausschaut, konnte man vor kurzem in Leipzig beobachten, in der Debatte über das neugebaute „Paulinum (siehe FA! # 31). Auch die pro-tibetischen Proteste im Vorfeld der Olym­­pi­schen Spie­­le in Peking 2008 dürften nicht nur mit den Lebensbedingungen der tibetischen Bevölkerung, sondern auch mit der kaum von Sachkenntnis ge­trübten Popularität des Dalai Lama zu tun gehabt haben (1).

Die heutigen Erscheinungsformen der Religiosität sind freilich nicht einfach nur irrationale Restbestände in einer ansonsten durch und durch rationalen Gesellschaft – eine solche Sichtweise würde das Statische der Religiosität zu sehr betonen. Selbst wenn die jeweiligen Glaubensinhalte und Praktiken gleich bleiben, kann die Funktion, die sie in einer bestimmten Gesellschaft haben, stark variieren. So wäre es z.B. absurd zu glauben, die religiöse Praxis neuheidnischer Gruppen, die sich auf alte germanische oder keltische Religionen beziehen, sei mit der ihrer Vorbilder identisch, egal wie sehr mensch sich dabei um genaue Rekonstruktion von Riten und Glaubensvorstellungen bemüht. Auch die Selbstwahrnehmung religiöser Gruppierungen, die sich als Hüter einer „ewigen Wahrheit“ begreifen, ist also illusorisch. Im Gegensatz dazu soll hier die Religiosität (bzw. einige ihrer Spielarten) als soziales, sehr „diesseitiges“, zeit- und ortsgebundenes Phänomen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.

Einkaufsbummel im Weltanschaungsladen

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich Form und Funktion der Religiosität in den letzten 100 Jahren gravierend verändert haben: Wie so ziemlich jeder Teil der menschlichen Ex­is­tenz ist heute auch sie zu einer Sache des Marktes geworden. Wer ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sinnstiftung und weltanschaulicher Orientierung hat, kann sich aus dem Sortiment die Ware aussuchen, die ihm oder ihr am ehesten zusagt. Im Zuge der Säkularisierung hat sich neben den etablierten Kirchen eine Marktlücke für ein ganzes Spektrum „parareligiöser“ (2) Strömungen aufgetan. Als Oberbegriff für dieses Spektrum hat sich das Schlagwort „Esoterik“ eingebürgert – gerade weil der Begriff ebenso diffus ist, wie die Sache, die er bezeichnet, soll er auch hier weiter verwendet werden. In ihrer Vermitteltheit über den Markt ist die Esoterik trotz aller Rückgriffe auf ältere Traditionen ein genuin modernes Phänomen, eine in gewissem Sinn wirklich „neue“ Form von Religiosität. Als solche soll sie im nächsten Heft genauer unter die Lupe genommen werden – hier sollen zunächst einige theo­re­tische Vorannahmen geklärt und der ge­sell­schaftliche Kontext dieser neuen Form der Religiosität un­­tersucht werden.

Dieses Unterfangen stößt allerdings auf Schwierigkeiten – zuallererst die Unübersichtlichkeit des zu beackernden Feldes. Bleiben wir noch kurz bei der Esoterik. Dieser Begriff bezeichnet ein loses Bündel von Gruppierungen, Weltanschauungen und Praktiken, dessen kleinster gemeinsamer Nen­­ner der diffuse Glaube an im Ver­bor­genen wirkende „höhere Kräfte“ ist – egal, ob diese nun als personifizierte Mächte (Gottheiten, Engel, Seelen usw.) oder abstrakter als „kosmische Energie“ oder „Schicksal“ begriffen werden. Sonderfälle (z.B. UFO-Gläubige und Weltverschwörungstheo­retiker_innen, deren Literatur in Buchhandlungen ebenfalls unter dem Schlagwort „Esoterik“ einsortiert wird) müssen dabei mitbedacht werden. Von diesem weltanschaulichen Minimalkonsens abgesehen, gibt es aber auch große Unterschiede – die jeweiligen Praktiken können körperzentriert sein oder im Gegenteil auf eine „reine Geistigkeit“ abzielen, in stark individualisierter Form oder in festen Gruppenstruk­turen ablaufen, diese Struk­turen wiederum können flache Hierarchien aufweisen oder um eine autoritäre Gurufigur zentriert sein usw.

Die Schwammigkeit des Gegenstandes ist aber nicht nur durch die Vielzahl der weltanschaulichen Angebote bedingt, sondern verweist auf ein immanentes Problem von Religiosität unter den Bedingungen der Moderne. Um dieses zu erfassen, müssen wir uns das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Rationalität und Irrationalität im religiösen Denken ein wenig genauer ansehen.

Religion als Weltanschauung, als „Theologie“ im weitesten Sinne, als System von Aussagen also, baut sich auf Dogmen, willkürlich gesetzten und rational nicht weiter begründbaren Basisbehauptungen, auf. Logisch lassen sich diese weder widerlegen noch beweisen – man kann höchstens glauben, eine bestimmte Aussage entspräche der Wahrheit. Tut mensch das, kann man allerdings auf dieser Basis durchaus folgerichtig weiterargu­men­tieren. Hat man z.B. die Behauptung „Die Bibel ist Gottes Wort“ akzeptiert, ist es nur logisch, sich z.B. über das Wesen der Engeln Gedanken zu machen – die werden schließ­lich auch in der Bibel erwähnt (was natürlich nicht beweist, dass es Engel wirklich gibt). Eben weil religiöse Gruppierungen zur Vermittlung ihrer Ansichten nicht auf die Sprache als wichtigstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation verzichten können, sind religiöse Weltanschauungen immer eine spezifische Verbindung von Irrationalität und logischer Rationalität (Logik ist schließlich vor allem eine Sache des präzisen Sprachgebrauchs).

Die religiösen Weltanschauungen zugrundeliegenden Dogmen geraten so lange nicht als bloße Behauptungen in den Blick, wie entweder der Kreis der Gläubigen so nach außen abgeschottet ist, dass seine Mitglieder gar nicht erst mit der Möglichkeit anderer Weltsichten konfrontiert werden, oder eine strafende Instanz existiert, die Abweichungen vom „rechten Glauben“ mehr oder weniger gewaltsam unterbindet. Beide Bedingungen sind in den westlichen Industrienationen heute kaum noch gegeben – ein hohes Maß an Mobilität, allgemeine Schulpflicht, neue Kommunikationsmedien usw. machen völlige Abschottung schwierig, und das Verbrennen von Menschen auf öffentlichen Plätzen wird mittlerweile zu Recht als barbarische Praxis angesehen. Zudem ist der Religion mit den Naturwissenschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen, die den großen Vorteil hat, nicht nur vage Versprechungen für das Jenseits, sondern auch praktische Ergebnisse im Diesseits liefern zu können.

Die fundamentalen Dogmen verlieren damit an Verbindlichkeit, die sorgfältig konstruierten religiösen Aussagensysteme geraten ins Wanken. Eben das ist der Grund, warum die religiösen Vorstellungen heute zunehmend abstrakter werden, sich religiös denkende Menschen immer seltener zu klaren Aussagen bezüglich des Wesens des „Göttlichen“ hinreißen lassen – die Religiosität zieht sich im Zuge der Säkularisierung und der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften auf weniger angreifbare Positionen zurück. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der im Zorn gelegentlich mit Blitz und Donner dreinhaut, wird z.B. ersetzt durch die Idee einer abstrakten höheren Macht. An eine solche unpersönliche „höhere Macht“ glauben laut der Shell-Jugendstudie von 2006 19% der Jugendlichen in Deutschland, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 33% (an einen persönlichen Gott glauben dagegen nur noch 22%). So ließe sich Esoterik auch definieren: als Religiosität von Leuten, die aus einem säkularisierten Milieu stammen, aber trotz fehlender oder geringer Bindung an eine Kirche ein vages Bedürfnis nach „Spiritualität“ haben. Es fragt sich nur, woher dieses Bedürfnis kommt.

Dafür müssen wir uns den gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem diese neue Form der Religiosität steht. Denn ob mensch sich den Schöpfer der Welt nun als etwas grantigen älteren Herrn oder als fliegendes Spaghettimonster vorstellt, ist zunächst mal beliebig – nachprüfen lässt sich die Behauptung im einen wie im anderen Falle nicht. Wenn sich jemand für die eine oder die andere Art des Glaubens entscheidet, ist diese Entscheidung in erster Linie sozial bedingt, z.B. dadurch, dass die entsprechende Religion ein hohes Ansehen genießt, die eigenen Eltern dieser anhängen oder dass sie bestimmte individuelle Bedürfnissen bedient. Wäh­len wir ein anderes Beispiel: Wenn ich behaupten würde, Gott wäre mir er­schie­nen und hätte mir befohlen, kleine Kin­der zu töten und aufzufressen, so würde mir wohl jeder(r) entrüstet widersprechen – widerlegen ließe sich die Aussage nicht, aber weil sie anerkannten gesell­schaft­lichen Normen zuwider läuft, würde niemand sie überzeugend finden.

Wir sollten also die Esoterik in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen einordnen, um zu erklären, warum bestimmte Dogmen trotzdem weiterleben, in immer neuen Zusammenhängen zum Vorschein kommen, obwohl sie nicht mehr von einer kirchlichen oder staatlichen Gewalt gestützt werden.

Dabei kommen wir nicht umhin, von Herrschaft zu sprechen. Meiner These nach beruht Herrschaft nicht nur auf einer bestimmten Verteilung materieller Güter (Lebensmittel, Geld, Waffen usw.) beruht, sondern komplementär dazu auf einer entsprechenden „gesellschaftlichen Mythologie“. Herrschaft wird nicht nur durch rohen Zwang durchgesetzt – sie ist auf die Mythologie angewiesen, um sich zu legitimieren, d.h. die Leute dazu zu bringen, die über sie ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren. Entgegen einem vulgärmarxistischen Ideologiebegriff wäre diese gesellschaftliche Mythologie also nicht nur ein „Überbauphänomen“, etwas der ökonomischen „Basis“ Nachgeordnetes und aus dieser Ableitbares, sondern als konstituierenden Bestandteil eines Ge­samt­zusammenhangs von Herrschaft – die kapitalistische Ordnung der Dinge stützt die gesellschaftliche Mythologie und wird ihrerseits von dieser gestützt. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft schlägt sich diese Mythologie nicht nur in Religion und Esoterik, sondern auch im „Alltagsverstand“ (3) und im wissenschaftlichen Diskurs nieder.

Kritik der Religionskritik

Um diese doch etwas dreiste Behauptung zu stützen, greifen wir noch einmal auf ein (willkürlich gewähltes, aber hoffentlich erhellendes) Beispiel zurück. Denn unhin­terfragte Vorannahmen spuken auch dort herum, wo mensch sich auf größtmöglicher Distanz zum Glauben wähnt, in den di­versen Formen von naturwissenschaftlich fundierter Reli­gionskritik. Eine Or­ga­nisation, die sich dafür stark macht, sind die Brights Deutschland, laut Selbstdarstellung „eine basisdemokratische Bewegung, die für die Gleichberechtigung von Naturalisten eintritt“. Schauen wir uns einen ihrer Texte mal genauer an (4).

Der Artikel trägt den Titel „Gottlos auf der Suche nach Wahrheit“ und enthält durchaus sinnvolle Argumente: Der Verfasser erklärt, dass es Adam und Eva nachweislich nie gegeben hat, er zitiert einige blutrünstige Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und geiselt die „homo­phobe, sexistische, barbarische und primitive Unterdrückermoral“ der christlichen und mus­li­mischen Religion – viel­leicht etwas platt, aber nicht falsch. Sein Motto beschreibt er am Ende so: „Nichts glauben. (…) Wenn man lange ge­nug alles in Frage stellt, stehen die Chancen gut, dass man sich irgend­wann Naturalist nennt oder Bright. Ein Bright ist jemand, der nicht an Übernatürliches glaubt, nicht an Gott, den Teufel, nicht an Elfen oder den Weihnachtsmann.“

So weit, so gut – aber welchen Begriff von „Natur“ führt der selbsternannte „Naturalist“ da gegen das Übernatürliche ins Feld? Schauen wir noch mal genauer hin: So beruft sich der Autor auch auf Greg Graffin (Biologie-Professor und Sänger der Punkband Bad Religion) als Zeugen. In positivem Bezug auf einen von diesem verfassten Essay heißt es da unter anderem: „Graffin verurteilt die Leugnung der menschlichen Natur, wie sie sowohl von der Linken, etwa von Gender-Feministinnen und anderen Postmodernisten, als auch von der Rechten, vor allem der religiösen Rechten und von Rassisten, betrieben wird.“

Das ist, kurz gesagt, Nonsens – und eben deshalb aufschlussreich. So leugnen Gender-Feministinnen nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen ist, sie bestreiten bloß, dass soziales Verhalten von der Biologie determiniert ist. Nur weil Mann z.B. einen Penis hat, muss er nicht unbedingt jeden verprügeln, der einen komisch anschaut – wenn er sich so verhält, dann eher um einem bestimmten gesellschaftlichen Ideal von „Männlichkeit“ zu entsprechen (z.B. aus Angst, man würde sonst für schwul gehalten). Im Gegenzug berufen sich Rassisten stän­dig auf die „menschliche Natur“ und führen dabei exakt den Kurzschluss von Biologie und sozialem Verhalten vor, den Gender-Feminis­tin­nen kri­ti­sie­ren: So meinen Rassisten, dun­­kel­­häu­tige Men­schen wären sexuell be­son­­ders trieb­haft und könnten gut trommeln, während z.B. Juden von ihrer rassischen Veranlagung dazu getrieben würden, besonders gierig zu sein und ständig Welt­ver­schwö­­run­gen anzuzetteln.

Die ursprüngliche Argumentation Greg Graffins mag komplexer gewesen sein, als unser Religionskritiker sie wie­­dergibt (5). Dass Graffin auch der Meinung ist, die Strophe-Refrain-Form in der Musik hätte sich deshalb durchgesetzt, weil sie „eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur“ erfülle (6), zeigt jedenfalls, dass auch er offenbar Probleme hat, biologische Evolution und Kulturgeschichte auseinander zu halten. Die Neigung zu soziobiologischen Kurzschlüssen scheint er also mit den Rassisten zu teilen – seine Rassismuskritik dürfte auf den Vorwurf hinauslaufen, Rassisten würden nicht genug von Biologie verstehen.

Es fragt sich, wie weit man mit einem solchen Ansatz bei der Religionskritik kommt: Was sagt es bspw. aus, wenn man bei meditierenden buddhistischen Mönchen Veränderung in den Hirnströmen feststellt? Am Ende landet mensch noch bei der Idee eines „religiösen Gens“, welches der Schöpfer selbst uns vorsorglich eingepflanzt hat (wie clevere Theologen argumentieren könnten) bzw. uns dazu bringt, allen möglichen Unfug zu glauben (wie Rationalisten sagen würden). Im einen wie im anderen Fall stünde die Religionskritik blöd da – sie wäre dann ein ähnlich sinnloses Unterfangen wie z.B. eine Kritik des Verdauungssystems.

Mit einem biologistischen Begriff von „menschlicher Natur“, wie unser Re­ligons­kritiker ihn hier gegen die Religion ins Felde führt, stecken wir schon tief im Sumpf der gesellschaftlichen Mythologie. Es geht hier nicht bloß um eine „selbstverschuldete“, sondern um eine „fremdverschuldete Unmündigkeit“, die gesellschaftlich produziert wird. Auch wissenschaftliche Theoriebildung findet schließ­lich nicht im luftleeren Raum statt – wie bei der Religion lassen sich hier „interessierte Irrtümer“ und unhinterfragte Voraussetzungen finden.

Metaphysik der Macht

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge von Trennungen, von Ein- und Ausschlüssen. Nationalstaaten trennen zwischen Staats­bürger_innen und „Ausländern“. Die Staatbürger_innen werden ihrerseits nach biologischem Geschlecht, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben usw. sortiert. Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schließt die Verlierer von bestimmten Erwerbsmöglichkeiten aus. Das Bildungssystem selektiert Menschen je nachdem, ob sie es innerhalb einer bestimmten Zeit schaffen, sich eine vorgegebene Menge an Wissen anzueignen oder eben nicht. Das Eigen­tumsrecht trennt die Erwerbstätigen von den Produktionsmitteln, die warenproduzierende Wirtschaft trennt Menschen von den Gütern, die sie vielleicht brauchen, aber nicht bezahlen können. Staatliche und nichtsstaatliche Herrschaft trennt zwischen denen, die Entscheidungen treffen, und denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind.

Kein besonders vernünftiges System, sollte man meinen – jedenfalls kein besonders angenehmes. Dieses System von Trennungen ist nicht nur von Menschen produziert und bedarf fortwährenden menschlichen Handelns, um sich zu reproduzieren. Es erzeugt auch fortwährend Konflikte, die für die Gesellschaftsordnung potentiell bedrohlich sind und deshalb kontrolliert werden müssen. Diese Kontrolle findet dabei nur in Ausnahmefällen durch gewaltsame Unterdrückung statt (auch wenn Herrschaft darauf nicht verzichten kann), sondern eben mit Hilfe der gesellschaftlichen Mythologie. So sehr es bei genauerer Betrachtung unübersehbar ist, dass die gesellschaftlichen Trennungslinien auf menschlichem Handeln und sozialer Interaktion beruhen, so heikel ist diese Erkenntnis für diejenigen, die meinen, ein Interesse am Fortbestand dieser Trennungen zu haben. Hier kommen die oben beschriebenen „interessierten Irrtümer“ wieder in´s Spiel – wer Angst vor Veränderung hat, hat eben ein Interesse an einer Weltsicht, in der die Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse ihre Grundlage in einer ewigen „Natur“ oder „göttlichen Vorsehung“ haben.

So mögen militante Nationalisten viel­leicht gerade mit handfester Gewalt daran arbeiten, ein homogenes „Volk“ zu schaffen, indem sie diejenigen vertreiben oder umbringen, die ihrer Meinung nach nicht dazugehören (wie es z.B. in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war) – aber sie werden dabei der festen Überzeugung sein, nur das wiederherzustellen, was „schon immer“ so war. Ein anderes Beispiel: Die Rolle des Mannes als „Familienernährer“ mag ein Produkt des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts sein – dennoch werden sich genug an Geschlechterfragen uninteressierte Historiker finden, die diese gesellschaftliche Arbeitsteilung schon in der frühen Steinzeit wiederzufinden meinen, und genug Soziobiologen, die diese mit der biologischen Ausstattung des „Mannes“ bzw. der „Frau“ erklären.

Die „interessierten Irrtümer“ müssen dabei nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Komplementär dazu gibt es auch eine „interessierte Wahrheitsproduktion“. Ein Wirtschaftswissenschaftler mag vielleicht insgeheim dem liberalen Glauben an die „unsichtbare Hand des Marktes“ anhängen – er kann dennoch durchaus wahre Aussagen über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft produzieren. Der grundlegende „Irrtum“ muss in der Theorie nicht formuliert werden, er wird aber dennoch insgeheim den Lauf der Theorieproduk­tion beeinflussen. Dabei funktioniert der wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität und „Interesselosigkeit“ oft genug als subtile Ver­schleierungstaktik: Wer von sich behauptet, kein Interesse zu haben, will in der Regel, dass alles so bleibt wie es ist.

Da das wissenschaftliche Denken die beobachtbaren Fakten freilich nicht gänzlich ignorieren kann, gerät es dabei auch immer wieder in potentiell produktive Widersprüche: Es stellt sich heraus, dass die Realität sich anders verhält, als sie es der Theorie nach tun sollte – also muss nach einer Theorie gesucht werden, die die neu ins Blickfeld geratenen Fakten besser erklärt.

Dies wäre eine produktive Reaktion auf zum Vorschein kommende Widersprüche. Es gibt freilich auch eine unproduktive Art der Reaktion: die Produktion eines neuen „interessierten Irrtums“ eben.

Und hier kommt wieder die Esoterik in´s Spiel. So ist der Glaube an Verschwörungstheorien völlig folgerichtig, wenn mensch z.B. daran festhält, Eigentum und kapitalistische Konkurrenz als naturgegeben anzusehen, aber gleichzeitig den Fakt, dass dieses Wirtschaftssystem ständig unerfreuliche Folgen nach sich zieht, nicht ignorieren kann. Der Widerspruch zwischen zwei in einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbaren Aussagen wird nicht gelöst, indem mensch seine bisherigen Erklärungsmodelle hinterfragt und verbessert – wenn mensch sowohl an Aussage a („Kapitalismus ist gut und normal“) als auch an Aussage b („Irgendwas läuft hier falsch“) festhält, bleibt als Ausweg nur der Sprung in´s Irrationale: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern eine im Verborgenen wirkende Macht, eine Verschwörung finsterer Hintermänner.

Aber Verschwörungstheorien sind nur ein Beispiel esoterischen Denkens – und nicht einmal dessen populärste Spielart. Im nächsten Heft soll anhand einiger konkreter Beispiele der Zusammenhang zwischen Esoterik und Gesellschaft, ökonomischem „Unterbau“, gesellschaftlicher Mythologie und esoterischem Denken näher untersucht werden.

(justus)

 

(1) siehe dazu u.a. Colin Goldner, „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ Alibri Verlag 1999

(2) „para-“, lat. für „halb“. Die Grenzlinie zwischen solchen parareligiösen Phänomenen und „echten“ Religionen ist relativ willkürlich, entscheidend sind dabei Kriterien wie gesellschaftliches Ansehen und Alter einer religiösen Weltanschauung, innere Systematik der jeweiligen „Theologie“ und die organisatorische Festigkeit einer Gruppe.

(3) vgl. dazu z.B. Theo Votsos, „Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci“, Argument Verlag 2001, S. 122-130

(4) Trust Magazin # 125, August/September 2007. Weitere Infos findet ihr unter www.brights-deutschland.de

(5) Graffins Essay „A Punk Manifesto“ könnt ihr unter punkhistory0.tripod/punk/id2.html nachlesen

(6) Testcard # 12, 2003, S. 107