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Ein regnerischer heißer Mai

Die Revolte von Melfi und die Mobilisierung bei der Alitalia

Wir haben Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen Gebieten und in zurückgebliebenen Gebieten erlebt: Das Interessante dabei ist, dass die Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen und in zurückgebliebenen Gebieten sich sehr oft gleichen, d.h. dass sie eben tendenziell – und sei es auch nur über gewerkschaftliche Inhalte – das Gesamtverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapital sichtbar machen.“

(Raniero Panzieri “Lotte operaie nello sviluppo capitalistico”, März 1962)

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben zum Ende der alten Arbeiterklasse, Ende der Zentralität des Großbetriebs, Dezentralisierung der Produktion, Auslagerungen, Veränderungen im Arbeitsrecht usw.. Als roter Faden zog sich durch diese, mittlerweile Allgemeingut gewordenen, Überlegungen die Überzeugung, auch der Arbeitskampf bzw. der Klassenkampf sei überholt. In der “postindustriellen” Produktion habe sich die Arbeiterklasse aufgelöst und könne höchstens noch als Verbund von Interessengruppen im “Ver­teilungs­konflikt” agieren.

Man könnte das Thema abhaken mit dem alten Witz von dem Arbeiter, dem jemand erzählt, der Klassenkampf sei vorbei, und der antwortet: “Habt ihr auch den Unternehmern Bescheid gesagt?”

Die soziale Frage wird natürlich nicht in den Medien gelöst. Darüber hinaus sollten wir aber daran erinnern, dass die Bewegung der ArbeiterInnen keine mechanische Antwort auf den Druck auf sie durch Staat und Kapital ist, sondern das Ergebnis einer individuellen und kollektiven Verarbeitung der proletarischen Erfahrung, bei der die ArbeiterInnen die Umbrüche der Gegenwart (teilweise echte Para­digmenwechsel hinsichtlich Produktion und Gesellschaft) zu den Erfahrungen der Vergangenheit in Beziehung setzen.

In Melfi (Basilikata) fand seit zehn Jahren der erste große Kampf von Industrie­arbeiter­Innen in Italien statt, der nicht nur auf Entlassungen oder den allgemeinen Sozialabbau reagierte. Sata (so heißt das Fiat-Werk in Melfi) wurde bei seiner Einweihung vor zehn Jahren als post­fordis­tische Modellfabrik vorgestelltt. Noch vor der Einstellung der ersten ArbeiterInnen wurde ein Tarifvertrag “auf der grünen Wiese” abgeschlossen, von einer Gewerkschaft, die sozialpartner­schaft­lich zu nennen noch eine Beschönigung wäre. Es gab massive staatliche Subventionen, eine „toyotistische“ Arbeitsorganisation, die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in 21 Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nachbarschaft usw.. Melfi sollte Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen im ganzen Fiat-Konzern ausüben (tatsächlich waren schon vor der „Melfisierung Fiats“ die einzelnen Standorte systematisch gegeneinander ausgespielt worden).

Melfi startete von Anfang an mit einer sehr hohen Fluktuation. Die Disziplin wurde mit drakonischen Strafen durchgesetzt. Die ArbeiterInnen (darunter auch zehn Prozent Frauen, eine absolute Neuheit im Fiat-Konzern) verdienten weniger als in anderen Fiat-Werken und hatten deutlich brutalere Schichten, um das Werk 6 mal 24 Stunden am Laufen zu halten. Mitte April 2004 traten die ArbeiterInnen in Streik gegen diese Bedingungen. Nach zehn Tagen Streik hatte Fiat Produktionseinbußen von 16 300 Fahrzeugen (allein in Melfi werden am Tag bis zu 1200 Fiat Punto und Lancia Y montiert und Bleche für andere Fiat-Werke hergestellt), und 95% der italienischen Autoproduktion stand still. Am 26. April griffen die Bullen sehr hart die Streikposten an. Es gab mehrere Schwerverletzte. Daraufhin rief die FIOM* zu einem landesweiten Generalstreik am 28. April auf, der massenhaft befolgt wurde.

Kämpfe, die von zugespitzten Punkten des gesellschaftlichen Widerspruchs ausgehen, bekommen meist eine rasante Dynamik. So auch in Melfi: Sehr schnell haben die ArbeiterInnen zwei präzise Ziele auf die Tagesordnung gesetzt. Die Angleichung der Löhne an die der anderen Arbeiter­Innen im Konzern und die Überwindung einer mörderischen Arbeitsorganisation.

Sie haben außerordentlich hart und entschlossen gekämpft und damit faktisch den Betriebsrat (in dem FIM*, UILM* und FISMIC* die Mehrheit haben) ausgehebelt, der die bisherige Passivität der Belegschaft recht gut widerspiegelte. Aber sie haben nicht nur die Gewerkschaft in Frage gestellt, sondern auch die Anfälligkeit der Just-in-Time-Arbeitsorganisation für sich ausgenutzt. Da die „integrierte Fabrik“ keine Puffer hat, ist sie darauf angewiesen, dass der Produktionszyklus, an dem verschiedene Werke und Unternehmen beteiligt sind, wie am Schnürchen funktioniert. Die ArbeiterInnen haben den Zersetzungsprozess der alten fordis­tischen Fabrik, mit dem ihre Verhand­lungsmacht geschwächt werden sollte, gegen die Unternehmer gewendet und klargemacht, dass auch in der postfordis­tischen Fabrik gekämpft werden kann.

Dem Streik bei Fiat in Melfi gingen im letzten Sommer Mobilisierungen gegen Atommülldeponien voraus: Große Menschenmassen hatten sich an Straßenblockaden beteiligt und ganz Lukanien blockiert. Dabei handelte es sich natürlich um eine klassenübergreifende Volksbewegung, aber sie zeigte sehr deutlich, dass man mit direkten Aktionen gesellschaftlich etwas durchsetzen kann. Bereits im Winter 2002/2003 waren in den Auseinandersetzungen um die Kurzarbeit bei Fiat Straßenblockaden zum Massenphänomen geworden. Auch wenn dieser Kampf mit einer klaren Niederlage zu Ende ging, hinterließ er ein eindeutiges Zeichen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die wilden Streiks der Busfahrer und des Flug­hafenpersonals im Winter 2003/2004 stellten dann einen Quali­täts­sprung dar, weil sie von Blockaden von außen zu Aktionen im Produktionsprozess selbst übergingen.

Alitalia

Der Kampf gegen die Entlassungen bei der Alitalia war so gesehen “klassischer”, aber vor diesem Hintergrund nicht weniger interessant: Straßensperren, wilde Streiks, Druck von unten auf institutionelle Gewerkschaften, zunehmende Verwurzelung der Alternativgewerkschaften haben sich miteinander verflochten.

Zunächst haben Regierung und Unternehmen versucht, den Widerstand der Alitalia-ArbeiterInnen damit abzutun, diese hätten die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten »nicht begriffen«. Damit kamen sie aber nicht lange durch, und mußten über ernsthafte Dinge sprechen, nämlich darüber, dass auch die als überflüssig an den Rand Gedrängten das Recht auf ein Einkommen haben. Danach versuchte Alitalia die klassische “spalterische” Schiene: Ein Großteil des Unternehmens sollte an Zulieferfirmen ausgelagert werden – mit den üblichen Folgen für Löhne, Arbeitsbedingungen und Sicherheit der Jobs.

Auch bei diesem Kampf war am wichtigsten, dass die ArbeiterInnen selbst aktiv geworden sind und dabei Aktionsformen benutzt haben, die sich gerade verallgemeinern. Die ArbeiterInnen scheinen sehr gut begriffen zu haben, dass die Auseinandersetzung so geführt werden muss, dass man den Gegner hart trifft und gleichzeitig den Kampf öffentlich vermittelt, weil man sonst gar nichts erreicht.

Abschluß bei Melfi?

Nach 20 Tagen Kampf und etwa 35.000 nicht produzierten Autos (mehr als 1,5% der Fiat-Jahresproduktion) haben FIM*, FIOM*, UILM*, FISMIC* und UGL* eine Einigung mit Fiat erreicht, und der Arbeitskampf wurde zunächst beendet. In Rom wurden die Verhandlungen in der Schlussphase von den nationalen Vorständen der Gewerkschaften geführt, die damit wieder gemeinsam aufgetreten sind, nachdem das Tischtuch kurz vorher noch endgültig zerschnitten schien.

Wenn ein Abschluss aber sowohl von Gianni Alemanno von der postfaschis­tischen Regierungspartei Alleanza Nazio­nale, der das Abkommen als “großen Sieg der Arbeiter des Mezzogiorno” einschätzt, als auch von Rifondazione-Comunista-Chef Fausto Bertinotti begrüßt wird, dann ist er entweder wirklich gut, oder alle beteiligten Institutionen hatten ihn bitter nötig.

Kritik kam von Giorgio Santini, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft CISL*, die wie UIL* und FISMIC* gegen die Blockade von Sata war: “Es ist das eine, eine regierbare Fabrik zu haben, und etwas anderes, zu entdecken, dass die Fabrik unregierbar ist. (…) Ich fürchte, dass das Projekt Melfi jetzt auch von Fiat anders gesehen werden könnte.” (Corriere della Sera, 10. Mai 2004).

Der zwölfseitige Abschluss lässt sich ungefähr so zusammenfassen:

1. Ab Juli wird der sogenannte Doppel­klop­per, d.h. zwei Wochen Nachtschicht in Folge, abgeschafft. Es wird eine 6-Tage-Woche und eine 4-Tage-Woche mit zwei aufeinander folgenden Ruhetagen geben. Gleichzeitig wird die Arbeitszeit von 7:15 Stunden auf 7:30 Stunden verlängert. Die zusätzlichen 15 Minuten ergeben dann 7 zusätzliche arbeitsfreie Tage. Die Nacht­schicht­zulage wird bis Juli 2006 von 45 auf 60,5 Prozent (wie in den anderen Werken) erhöht.

Die ArbeiterInnen haben viel erreicht, aber Samstags- und Sonntagsarbeit und die nur 30-minütige Mittagspause bleiben.

2. Die Löhne der ArbeiterInnen in Melfi werden erst nach und nach an die der anderen Fiat-Beschäftigten angeglichen (die Hälfte der Angleichung kommt ab Juli 2004, ein weiteres Viertel im Juli 2005 und der Rest ab Juli 2006). Das hätte sofort geschehen müssen.

3. Ein weiterer Auslöser des Streiks war das harte Fabrikregime: Im Laufe von 10 Jahren hatte es 7.000 Disziplinarmaßnahmen (Suspendierungen und Lohnabzüge) gegeben. Nun wird eine “Versöhnungs- und Vorsorgekommission” eingerichtet, die die in den letzten 12 Monaten verhängten Sanktionen untersuchen soll.

Hier wird es wirklich heikel. Im Streik gab es nämlich extrem harte Auseinandersetzungen, und die Untersuchung der Disziplinarstrafen einer gemischten Kommission aus Unternehmern und Gewerkschaften zu überlassen, die zum großen Teil gegen den Kampf waren, ist letztlich selbstmörderisch. Dahinter steckt ganz klar der Versuch, die vom Kampf unter­grabene Macht der Unternehmer und Gewerkschaften wiederherzustellen, indem man auf Zeit spielt, auf den Rückgang der Mobilisierung setzt usw..

Wo stehen wir?

• Der Kampf von Melfi zeigt, dass eine starke und entschlossene Mobilisierung nötig ist, um etwas zu erreichen – und dass die ArbeiterInnen das vollkommen verstanden haben.

• Gerade die entschiedensten Feinde der Bewegung im Gewerkschaftslager haben den wesentlichen Punkt begriffen, wenn sie feststellen, dass die Fabrikdisziplin ernsthaft bedroht wurde und dass das bequeme Leben für die Abteilungsleiter und die Gewerkschaftsbürokraten zumindest vorläufig vorbei ist.

• Die ArbeiterInnen von Melfi haben alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte gezwungen, für oder gegen den Kampf Stellung zu nehmen. Sie haben im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes »Politik gemacht«, nämlich die Fragen, die uns alle angehen, in den Mittelpunkt gestellt.

• Von diesen Überlegungen müssen wir ausgehen, wenn wir das Abkommen beurteilen wollen, mit dem der Kampf jetzt beendet werden soll. Es wäre falsch, jetzt nur zu sagen: »Naja, es hätte noch mehr herauskommen können, aber Fiat musste nachgeben, und das ist schon ein außerordentliches Ergebnis«. Für Millionen von ArbeiterInnen war dieser Kampf ein ganz klares Zeichen, das mehr wert ist als tausend Reden, nämlich die Offensichtlichkeit der Tatsache, dass man sich nur mit Stärke durchsetzt.

• Last but not least haben die Arbeiter­Innen in Melfi gezeigt, dass sie den ganzen Produktionszyklus mobilisieren, Fiat und Zulieferfirmen jenseits von Eigentums- und Beschäftigungsverhältnissen vereinheitlichen und durch das Lahmlegen der Produktion an den strategischen Punkten die Flaschenhälse des Zyklus selbst gegen die Unternehmer wenden können.

Die Rückkehr des Klassenkampfs

Wenn wir eine gesellschaftliche Klasse mit einem Konservativen wie Max Weber nicht als statisches Aggregat, sondern als eine Schicksalsgemeinschaft bzw. als menschliche Gruppe definieren, die aus Individuen besteht, die nicht ideologisch, sondern unmittelbar eine gemeinsame Zugehörigkeit empfinden, dann folgt daraus, dass das Selbstverständnis als Klasse ein Prozess, eine Errungenschaft, die Schaffung von sozialen Codices ist, die eben diese Gemeinschaft charakterisieren.

Dafür sind Kämpfe wesentlich, eben weil sie für die beteiligten Subjekte das Moment darstellen, in dem sie ihre Autonomie erproben und sich selbst als Subjekte und nicht nur als Rädchen der gesellschaftlichen Maschine wahrnehmen.

Es hat sich wieder herumgesprochen, daß diese Gesellschaft auf dem Konflikt basiert und dass man kämpfen muss um Verschlechterungen abzuwehren, oder – wie im Fall von Melfi – um etwas Besseres zu bekommen.

Cosimo Scarinzii

(Der Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus Wildcat Nr.70.)

Aus dem Institutionenzoo:

FIOM: Metallarbeitergewerkschaft der CGIL

FIM: Metallarbeitergewerkschaft der CISL

UILM: Metallarbeitergewerkschaft der UIL

CGIL: linker, d.h. Rifondazione und DS nahestehender Gewerkschaftsverband

CISL: katholischer Gewerkschaftsverband

UIL: rechtssozialdemokratischer Gewerkschaftsverband

FISMIC: klassische »gelbe« Betriebsgewerkschaft bei Fiat

UGL: Den Postfaschisten (Alleanza Nazionale) nahestehender Gewerkschaftsverband

Chronologie

18. April Zuerst streiken einige Zulieferbetriebe und dann sämtliche Auto­mobil­betriebe in San Nicola di Melfi, wo sich Fiats wichtigstes Werk in Italien befindet. Die wichtigsten 3 Ziele sind: Lohnerhöhungen (in Melfi wird 15 bis 20 Prozent weniger gezahlt als in anderen Fiat-Werken), weniger schwere Arbeitsorganisation, Strafsystem. Vor allem die FIOM, aber auch Slai Cobas, UGL und Cisal unterstützen den Streik. Die Mehr­heits­ge­werk­schaften (UILM, FIM und FISMIC) sind dagegen.

In den nächsten Tagen verschärft sich der Ton von Fiat und den geschäftsleitungsfreundlichen Gewerkschaften gegen die Streikposten, die angeblich die Arbeitswilligen am Betreten des Betriebs hindern.

24. April Kundgebung vor der Fiat Sata in Melfi. Die ArbeiterInnen vergewissern sich, dass die Streikposten stehen.

26. April Die Polizei greift die Streikposten an. Mehrere ArbeiterInnen werden verletzt. Regierungsvertreter sprechen der Polizei ihre Unterstützung aus. Zum ersten Mal seit etlichen Jahren gibt es eine direkte Auseinandersetzung zwischen Arbeiter­Innen und Polizei. CISL, UIL und FISMIC kritisieren die Polizei wegen “Exzessen”, vor allem aber die Streikenden.

28. April Italienweiter vierstündiger Streik (in der Basilicata acht Stunden) der MetallarbeiterInnen gegen die Polizeiübergriffe. Riesige Beteiligung von Arbei­ter­­Innen an der Demo in Melfi.

29. April Die FIOM reagiert auf den Druck und sagt zu, die Streikposten abzuziehen und sie in eine ständige Versammlung der streikenden ArbeiterInnen umzuwandeln. Hierbei geht es ganz klar um ein formelles Zugeständnis an FIM, UILM und FISMIC, denn die Arbei­ter­­Innen versperren den Streikbrecherbussen, die im übrigen halb leer sind, weiter den Weg.

4. Mai Demo in Rom. Aufgerufen haben die ständigen Versammlungen mit Unterstützung der FIOM. Interessant ist, wie drei Strukturen nebeneinander bestehen: die RSU, die überhaupt keine Rolle spielt, die Delegierten der Kampfkoordination, die zwar den Arbeitskampf führt, aber organisatorisch schwach ist, die FIOM, die der Bewegung freie Bahn lässt, aber Verhandlungen und Organisation in der Hand behält. (Für die FIOM war der Kampf in Melfi auch aus innerorga­nisa­torischen Gründen sehr wichtig: der FIOM-­Kongress steht vor der Tür und die CGIL unterstützt die rechte Minderheit in der FIOM.)

9. Mai Die Einigung wird unterschrieben, und zwar von einer provisorisch wiedervereinigten Gewerkschaftsfront. Die Slai Cobas, die einzige in Melfi wahrnehmbare alternative Gruppe, wird dabei natürlich ausgegrenzt.

Nachbarn

Wachsamkeit wirkt

Seit Beginn diesen Jahres richtete das Polizeirevier Ritterstraße eine Kamera, die vorgeblich dem Objektschutz dienen sollte, auf alle, die täglich die Straße nutzen, und verletzte damit empfindlich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Anstatt die Hofeinfahrt in den Blick zunehmen, was ihr Bestimmungszweck sein soll, „erfasste sie tatsächlich die Straße in ihrer ganzen Breite“, wie uns Herr Mauersberger (Referent des sächsischen Datenschutzbeauftragten) in einen Schreiben bestätigte. Mündliche Hinweise an Kriminaloberst Uwe Matthias und Polizeisprecher Petric Kleine führten im Frühjahr diesen Jahres nicht zur Behebung der widerrechtlichen Überwachung. Erst als die Initiative Leipziger Kamera auf ihrem ersten (video-)überwachungskritischen Stadtrundgang, am 16. Juni diesen Jahres, vor einem interessierten Publikum auf diesen Missstand hinwies und eine Eingabe an den sächsischen Datenschutzbeauftragten richtete, sahen sich die Verantwortlichen veranlasst, die gesetzwidrige Bespitzlung zu beenden.

Dieser Fall zeigt, dass in Leipzig – entgegen der Beteuerungen der Polizei – mit datenschutz- und grundrechtlich Bestimmung in der Praxis lax umgegangen wird. Das verwundert nicht. Leipzig war 1996 die erste Stadt der BRD, die mit stationärer Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen ein verfassungsrechtlich sehr bedenkliches Mittel zur polizeilichen Alltagspraxis machte.

So täuschen auch heute die Telefonnummern auf den Hinweisschildern an den mittlerweile vier polizeilich videoüberwacht Plätzen nur vor, dass sich besorgte Menschen über die Bedingungen der Videoüberwachung informieren könnten. Seit mindestens zwei Jahren meldet sich niemand unter der dort angegeben Telefonnummer (9662202).

GflG

Lokales

NeuBekanntes von der LVB

Wie die LVZ (10. 9. und 11./12.9.) berichtete, gab es Streit um die Verhandlung zwischen den LVB und deren Betriebsrat. Die LVB sind neben den Stadtwerken und den kommunalen Wasserwerken Teil der Leipziger Versorgungs und Verkehrsgesellschaft (LVV), eine Managementholding (Umsatz ca. 700Mio €), die der Stadt Leipzig gehört. Die LVB haben ca. 15 Subunternehmen und sind an anderem Unternehmen beteiligt (z.B. mit 20% am Mitteldeutschen Verkehrsverbund, siehe auch lvv.de). Die LVB will mindestens 20 Mio € Personalkosten sparen. Die Stadt Leipzig hat der LVB mehr Zuschüsse zugesagt, als die LVV tatsächlich an sie zahlt (LVZ 14.9. und 17.9.).

Die Subunternehmen sind ein Mittel, um die Fahrer/innen zu entsolidarisieren und den Lohn zu drücken. Bei den erwähnten Verhandlungen ging es um die Löhne der Kernbelegschaft der LVB. Die Geschäftsführung (der ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär vorsteht) drohte mit der Auslagerung der Fahrer/innen in ein weiteres Subunternehmen. Diese bedienen sich oft vom Arbeitsamt geförderter Fahr/innen mit befristeten Verträgen, die nach Ablauf der Förderung durch neue, geförderte, Fahrer/innen vom Arbeitsamt ersetzt werden.

Der Unmut unter den Fahrer/innen ist groß. So soll es Forderungen an ver.di nach einem Warnstreik und eine Versammlung gegeben haben. Doch es gibt keinen Kontakt zwischen den Fahrer/innen der Kernbelegschaft und den Subunternehmen. Die Strategie der LVB funktioniert. Ein Gespräch des FA! mit Fahrer/innen der Kernbelegschaft ergab, dass die Fahrer/innen, sowohl über Geschäftsleitung als auch über Betriebsrat und Gewerkschaft verärgert sind. Sie beklagen die Entsolidarisierung durch die Teilung der LVB, doch auf Nachfrage, was sie dagegen unternehmen, reagierten sie mit einem Schulterzucken und sagten, wir sollen doch selbst mit den Fahrer/innen der Subunternehmen reden. Abwarten und Teetrinken scheint ihre Devise zu sein. Doch wer soll sich für die Fahrer/innen einsetzen, wenn sie es nicht tun? Wo sie doch selbst sagen, dass von Betriebsrat und Gewerkschaft nichts zu erwarten ist.

Ver.di protestierte gegen die Einigung. Vor allem aus Eigeninteresse. Ihr Ausschluß von den Vorverhandlungen stellt einmal mehr ihre Funktion als Vermittlerin zwischen Arbeiter/innen und Unternehmen in Frage. Selbst konstruktiver Teil der kapitalistischen Gesellschaft, erweist sich ver.di exemplarisch für die Gewerkschaften wie gewohnt als handzahm und verzichtete selbst auf einen Warnstreik.

So zeigt sich einmal mehr das gewohnte Bild: das Kapital drückt den Lohn, Betriebsrat und Gewerkschaft fungieren als bloße Institutionen der Vermittlung und die Arbeiter – obwohl von den Funktionären enttäuscht – wissen nicht was sie machen sollen und hoffen jede/r still für sich, dass es ihnen individuell nicht allzuviel schlechter gehen wird. Von der Einsicht, dass letztlich ihrer einzige Hoffnung im gemeinsamen Kampf gegen das Kapitalverhältnis selbst liegt, und dass dieser Kampf mit der Einmischung in die eigenen Belange beginnt, sind die Fahrer/innen der LVB derzeit weit entfernt.

v.sc.d/AE

Lokales

Romanes eunt domus* – Römer geht nach Hause!

Am 29.10. 2004 unterzeichneten die Regierungschefs und Außenminister der 25 Mitgliedsstaaten sowie die der drei Beitrittskandidaten Türkei, Rumänien und Bulgarien den aktuellen Entwurf für eine Europäische Verfassung. Das Ver­trags­werk tritt am 1. November 2006 in Kraft, wenn es bis dahin von allen 25 Staaten, die der EU angehören, ratifiziert ist, andernfalls zu Beginn des zweiten Monats nach der letzten Ratifikation. Neun Staaten, darunter Frankreich und Großbritannien, haben eine Volksabstimmung zur Ratifizierung angekündigt. In Deutschland ist damit nicht zu rechnen. Daß die Wahl für die historische Unterzeichnung wiedermal auf Rom fiel, sollte wohl zum einen auf die „Römischen Verträge“ von 1957 verweisen, zum anderen wie ’57 auf die Nähe zum antiken Römischen Imperium. Dagegen hat man nur einmal mehr den Gastgeber, italienischen Regierungschef und Neofaschisten Silvio Berlusconi hofiert. „Römische Verträge“ und „Römisches Imperium“ als tragende Säulen der Europäischen Verfassung?

Die „Römischen Verträge“ von 1957 bezeichnen zwei Rechtsschriften: Den EG-Vertrag und den EAG-Vertrag. Der letztere besteht vorwiegend aus Vereinbarungen zum gemeinsamen Umgang mit Atomwaffen und dem dazugehörigen Material. Ersterer ist ein revidierte Fassung des zuvor gescheiterten EVG-Vertrages – der in erster Linie verteidungspolitische (militärische) Vereinbarungen enthielt – und auf dem Hintergrund des aufziehenden „Kalten Krieges“ zu verstehen ist. Eine einheitliche Zollpolitik sollte den Mitgliedsstaaten eine grenzübergreifende marktwirtschaftliche Konkurrenz und damit den entscheidenden Vorsprung (durch größeres Wachstum) vor den anderen europäischen Staaten sichern. Kontrollierter Waffenhandel und eine Wir-gegen-die-Anderen-Mentalität sind also ein Moment der beschworenen Tradition. Die Macht übers Mittelmeer, autonome Provinzen und eine Zentralverwaltung die anderen?

Jenseits des symbolischen Gehalts sollte der Vertragstext der Europäischen Verfassung jedoch nicht überschätzt werden. Neben einigen schwammigen idealistischen Begriffen, enthält die Verfassung vor allen Dingen, Rechtsvorschriften zur Gliederung und Ausdifferenzierung der Europäischen Institutionen und Machtapparate. Mit dieser „Staatsbegründung“ auf Europäischer Ebene vollziehen die involvierten Nationalstaaten lediglich die nachträgliche Legitimation ihres transnationalen politischen Handelns: Grenzübergreifende Zuwanderungskontrolle und Kriminalitätsverfolgung, Zentrali­sierung der Märkte für Arbeit/Ware/Geld, gemeinsame Militarisierung, Synchroni­sierung der Ausbildung – alle diese seit vielen Jahren sich vollziehenden Europäischen Entwicklungen, die 1990 einen enormen Schub erhalten haben, dienen nur dem einen Ziel: Durch verstärkte Konkurrenz innerhalb des so geeinten Europäischen Wirtschaftsraumes ein höheres Wachstum der Wirtschaften zu erzielen, um auf dem „Weltmarkt“ andere auszustechen. Das heißt für den/die EuropäischeN BürgerIn und für die außereuropäischen KonkurrentInnen mehr Druck „von oben“, sprich sinkende Chancen überhaupt seine/ihre Arbeitskraft verkaufen zu können. Dabei war es der parlamentarischen Politik seit je her gleich, dass viele Menschen sich diesem Druck überhaupt nicht gewachsen fühlen, ebenso wie die Erkenntnis, dass ein volkswirtschaftliches Wachstum noch überhaupt nichts über dessen Verteilungsmöglich­keiten aussagt. Eins ist jedenfalls klar: Die Unterzeichnung der Europäischen Verfassung ist der Auftakt einer Geschichte, an deren Ende nur der Reißwolf stehen kann, hoffen wir, dass es eine kurze Geschichte wird!

clov

*…?…. … ?? Schon klar!
Filmtipp: Monty Python „Das Leben des Brian“

EU.ropa

Kleines 1×1 für’s Amt

Formloser Antrag genügt! Anspruchsberechtigt ist mensch ab dem Zeitpunkt, an dem die Behörde von der Notlage des Betroffenen erfahren hat, d.h. für den Anfrag genügt es völlig, einen formlosen Antrag einzureichen. Drauf gehört der Name und Adresse und dass mensch Arbeitslosengeld beantragt. Die fehlenden Informationen (bzw. das Ausfüllen des Antrages) fordert das Amt dann später.

Nicht alleine auf das Amt gehen Nehmt Euch eine Begleitperson mit, jemanden dem ihr vertraut oder noch besser einen Experten (Sozialarbeiter, jemanden von der Erwerbsloseninitiative etc…)

Vorteil: Ihr fühlt Euch sicherer gegenüber dem Bearbeiter auf der anderen Seite des Schreibtisches; nicht zu unterschätzen: Ihr habt einen Zeugen für das Gespräch; wenn es Euch die Sprache verschlägt, kann Eure Begleitung vielleicht einspringen …

Auf Schriftform bestehen Alle Entscheidungen des Amtes sind der so genannte Verwaltungsakt. Dieser muss in Schriftform erfolgen und mit der Rechtsgrundlage der Entscheidung versehen sein. Nur mit diesem Schriftstück habt Ihr eine Chance, eine Entscheidung des Amtes anzufechten, also Widerspruch einzulegen.

Fristen beachten Achtet auf vorgegebene Termine und Fristen! Habt ihr einen Termin verschwitzt oder fristgemäß einzureichende Unterlagen nicht abgegeben, wird gerne das Mittel der „fehlenden Mitwir­kungspflicht“ angewandt. Im Klartext: Reduzierung oder Sperrung der Leistung.

Wenn Euch eine Entscheidung des Amtes seltsam vorkommt oder Ihr anderer Meinung seid: Widerspruch innerhalb von 14 Tagen formlos einlegen. Und:

Experten fragen! In jedem Stadtteil findet ihr Experten, die sich (kostenlos) eure Anträge anschauen: Sozialarbeiterbüro, Er­werbs­loseninitiative, politische Gruppen…

Lieber weniger Daten angeben Eine Emailadresse oder Telefonnummer sind für die Berechnung des Bedarfes nicht notwendig. Punkt. Außerdem steht ihr so nicht rund um die Uhr zur Verfügung. Wenn mensch mal zwei Tage weg will aus der Stadt und die Einladung zum Amt nur mit dem Postweg kommen kann…

sozialreform

Editorial FA! #15

Bevor ihr euch auf dieses Heft stürzt, lest hier das Letzte der Redaktion. Die Nr. 15 erscheint wieder ein wenig verspätet, doch im Angesicht der miserablen Bezahlung der Redaktionsmitarbeiter/innen und der chronischen Unterbesetzung ist das neue Heft wieder mal eine Glanzleistung. Trotz energischer Bemühungen, die Seitenzahl unter 28 zu drücken, hat auch die Nummer 15 zu unserem (und unseres Finanzmenschen) Leidwesen wieder 32 Seiten. Schuld an der Misere sind nicht nur die Faschos, deren Namen wir hier nicht alle einzeln aufzählen wollen, sondern auch ein VW-Manager, dessen Name wohlbekannt ist. Ferner nervt der Opportunismus des europäischen Sozialforums und die Unwilligkeit der Polizei Wagenplatzbewohner in Ruhe zu lassen. Doch es gibt auch ein Licht am Ende des Tunnels in Form eines Vorschlags zur radikalen Arbeitszeitverkürzung.

Verkaufsstelle der diesjährigen Weihnachtssaison (siehe S. 31) ist das Zeitkaufhaus (www.zeitkaufhaus.de) in Stötteritz. Herr Bayer schaut, entgegen anders lautenden Gerüchten, nicht etwa der Montagsdemo hinterher – weil die hat der Herr Paluttke ja nur geträumt (siehe S. 29) – sondern hält einfach nur Ausschau nach DER Lösung, wie er der Platzprobleme in seinem vor genialen Liebhaberstücken überquellenden Laden Herr wird.

Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, zum wiederholten Male darauf hinweisen, daß Herr Paluttke nicht berechtigt ist, auf Kosten der „Feierabend Umsturz AG“ kitschige Wohnzimmerlampen u.ä. zu erwerben und wünschen ansonsten gutes Gelingen beim Aufräumen.

 

Die Feierabend-Redax

In letzter Minute erreichte uns noch die Meldung, dass LVB-Geschäftsführer Hanss einen „Erfolg“ zu vermelden hat: die Vereinbarungen mit ver.di „führen zu einer Gesamteinsparsumme in Höhe von ca. 26 (sic!) Millionen Euro.“ Für die FahrerInnen heißt das u.a. 60% Abzug von künftigen Tarifergebnissen, einen Tag weniger Urlaub, statt Urlaubsgeld eine Leistungsprämie … so verschlechtert sich nicht nur die materielle Lage der FahrerInnen, sondern auch die soziale. Konkurrenz und Individualisierung verzehren jede Solidarität!

Anträge, Anwälte & Aktionen

Tausende zukünftiger Bezieher des Arbeitslosengeldes II – 66.000 sollen es allein in Leipzig sein – haben in jüngster Zeit persönliche Einladungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) erhalten. Das Behördenschreiben ist allerdings genau zu lesen! Fehlt die Rechtsfolgenbelehrung, oder soll es nur um den Antrag gehen, muss man den Termin nicht wahrnehmen. Ansonsten ist man aufgrund der „Mitwirkungspflicht“ gezwungen, im Amt aufzukreuzen … den Antrag muss man aber bis 3. Januar nicht abgeben. Wenn man dann im Büro steht und sie nur eines wollen – die Daten – dann gibt es allerlei Möglichkeiten: man habe noch ein paar offene Fragen; einige Belege würden noch fehlen; oder aber der Antrag liegt zwecks Prüfung noch bei meinem Anwalt – je nachdem, wie man dem/der Sach­bearbeiterIn (SB) gegenüber auftreten will. Ratsam ist es, als Zeugen eine Begleitung mitzunehmen, etwa falls der/die SB mit Sanktionen oder Verschleppung droht… „Sollten Sie diesen Termin nicht einhalten wollen, oder zeitlich verschieben wollen, kann seitens der Agentur für Arbeit Leipzig möglicherweise eine rechtzeitige Auszahlung der zustehenden Leistungen ab Januar 2005 nicht gewährleistet werden. Darüber hinaus werde ich Ihre Arbeitslosenhilfe einstellen, solange Sie Ihre Antragsunterlagen nicht eingereicht haben.“ (Einladung der BA)… solche Maßnahmen haben keine rechtliche Grundlage und dienen allein der Einschüchterung! Sie geben im übrigen auch genügend Stoff für eine Klage wegen Nötigung.

Wenn sich solch sinnlose Vorladungen häufen, ist davon auszugehen, dass die SB noch freie Ressourcen haben – also ruhig noch ein paar Einmalbeihilfen beantragen, dann erledigt sich das „Problem“!

Zudem kann eine übereilte Antragsabgabe mehr schaden als nützen: Ändern sich Einkommens-, Vermögens- oder Wohnverhältnisse bis Anfang 2005, so ist jeder Antragsteller verpflichtet, der BA das unverzüglich mitzuteilen. Wird dies versäumt, bekommen die Betroffenen die starke Hand der Agentur zu spüren – von Kürzungen bis hin zu Betrugsanzeigen. Erfahrungen zahlreicher Erwerbsloseninitiativen zeigen, dass die BA anzweifelt, dass das aktenkundig gewordene Geld aufgebraucht wurde, und Betrug unterstellt, d.h. Sanktionen verhängt. Das ist umso gravierender, da die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs ab 1.1.2005 gesetzlich abgeschafft wird!

Wer meint, der frühe Vogel kriegt zuerst den Wurm, mache sich klar oder frage noch mal beim „Fallmanager“ nach: die heute abgegebenen Anträge sind nicht etwa bearbeitet worden, sondern landeten erstmal auf Halde, Schicht um Schicht. Denn die Software war erst Ende Oktober einsatzbereit – Ende September (LVZ, 29.9.) hatte es noch der 18. sein sollen, Ende August war der 4. Oktober geplant! Der Druck zur Abgabe, den die BA jetzt per Vorladung und über die Medien ausübt, dient der planmäßigen Umsetzung von Hartz IV.

Dem Vorschlag des Arbeitslosensyndikats Köln zu folgen, die Anträge erst am 6.12. abzugeben – und zwar gemeinsam! – wäre eine politische Demonstration und würde klarmachen, dass auch die Erwerbslosen keine bloße Verschiebemasse sind. Ziviler Ungehorsam als Ausdruck des Widerwillens, eine erste kollektive Aktion der Betroffenen, der weitere folgen könnten. Genau das scheint die BA mit den sinnlosen Vorladungen verhindern zu wollen – und das Muffensausen scheint groß zu sein, denn zu einem Treffen des „Erwerbs­losen­syndikats Leipzig“, für das auch vor dem Arbeitsamt Flugblätter verteilt wurden, gesellte sich am 5. Oktober auch der Pressesprecher der BA Leipzig, Hermann Leistner!

Erst versuchte er, sich einzuschmeicheln, denn er habe ja nichts gegen die Aktion und: „Ich wäre der Erste, der den Laden [die Arbeitsagentur] dicht macht.“ Aber die BA sei ja nur Organ der Politik und habe für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen – das ist der Kern der Panikmache, die auch von der LVZ getragen wird! In unserem Interesse ist es nicht, dass die Reform glatt durchgeht – und wenn die Regierung sich selbst ein Bein stellt (Software), wie können wir da abseits stehen? Stellen wir ihr das zweite! Lassen wir uns nicht kirre machen, eine „verspätete Abgabe“ (BA-Chef Leipzig Meyer, LVZ, 6.10.) ist nicht die Abgabe im Dezember. Nicht wir schaden uns mit einer späten Abgabe, sondern die BA gerät in Zugzwang sobald ihr die Notlage bekannt wird – dazu reicht auch ein formloser Antrag. Interne Arbeitsanweisungen geben jedenfalls an, dass im Januar „Abschlagszahlungen“ geleistet werden sollen, wenn die Anträge nicht bearbeitet werden können. Das bestätigte BA-Chef Weise auch gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Es liegt nicht im Ermessen der Agentur, wann sie das Geld auszahlt. Nicht vergessen sollten wir, dass es auch Ziel des Antrags ist, Leute aus der Stütze zu drängen!

Informiere Dich gut, was Du ausfüllen musst – nur das nötigste! (z.B. nicht Telefon/Email) – und was datenschutzrechtlich umstritten ist. Prinzipiell gilt: so wenige Infos wie möglich rausrücken, und: alles schriftlich.

A.E.

Infos im Netz: www.fau.org, www.bag-shi.de (Frankfurt), www.harald-thome.de (Wuppertal), www.machtlos.org (Leipzig)

sozialreform

Wer verloren ist, kämpfe!

„Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht.“ Brechts Lob der Dialektik sollte uns Mut machen, als es Anfang September auf dem Augustusplatz von der Bühne vorgetragen wurde. Aber der erklärte Wille allein reicht nicht hin.

Die vergleichweise Ohnmacht der Mon­tags­­demos hängt auch damit zusammen, dass vor 15 Jahren öffentliche Manifestationen eben nicht das genehmigte Mittel waren, mit dem der Staatsbürger seinen Unmut kundzutun hatte – das hingegen sind Demos heute. Aus der massenhaften Überschreitung der staatlich gesetzten Grenzen erwuchs 1989 ein Gros ihrer Sprengkraft. Wer heute als „Staatsbürger“ auf die Straße geht und gegen den Staat als Institution des Gemeinwohls Reformforderungen erhebt, entfaltet eine solche Sprengkraft nicht. Allein symbolischer Druck, der auf den medialen Diskurs – oder gar auf vernünftige Diskussion – abzielt, reißt keine Mauern ein! Der tatsächliche Schmusekurs, den die soziale Bewegung der letzten Monate „gegen“ die Auto­ri­täten der etablierten Ordnung fuhr, steht in keinem Verhältnis zu der Entschiedenheit, mit der eben jene vorgehen. Beispiellos scheint das hartnäckige Programm, mit dem sich der Staat in die letzten Winkel unserer Leben drängt, scheint der unverhohlene Nationalismus in Wort (3.-Oktober-Debatte) und Tat („Landesver­tei­di­gung auch am Hindukusch“), scheint die offensivere Repression im Innern (Überwachung/Kontrolle). Richtungsweisend aber auch die unkontrollierte Re-Aktion (Bochum) auf vermeintlich „notwendige“ Verschlechterungen. Nur Mut! „An wem liegt es, wenn die Unterdrüc­kung bleibt? An uns. / An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.“

A.E.

Kommentar

Aufruf „Agenturschluss“

Wenn am 1. Januar 2005 die neuen Hartz-Gesetze in Kraft treten sollten, rufen wir dazu auf, die »Arbeitsagenturen« und »Personal Service Agenturen« (PSA) bundesweit zu schließen. Am ersten Werktag des neuen Jahres, am Montag, den 3. Januar 2005, werden wir den Start von »Hartz IV« stoppen.

Wir werden in Form von Besetzungen, Blockaden oder Versammlungen in den Ablauf der Erwerbslosenbürokratie eingreifen. Wir wollen die Nötigung und Beschneidung unseres Lebens anhalten und einen Raum schaffen für den Ausdruck unserer Ängste, unserer Wut und unserer eigenen Vorstellungen von einem würdigen Leben. Ob wir mit den jetzt stattfindenden Demos, Kundgebungen und Aktionen die notwendige gesellschaftliche Kraft entfalten, damit die Regierung die »Hartz-Gesetze« zurücknimmt, wissen wir nicht. Unsere Wut und unsere Phantasie sind aber noch lange nicht aufge­­braucht. Wir rufen besonders zur Teilnahme an der Arbeitsagentur-Aktions­woche vom 2. bis 5. November und zur bundesweiten Großdemon­stration an der Zentrale der »Bundesagentur für Arbeit« am 6. November in Nürnberg auf.

Selbst wenn die »Hartz-Gesetze « Alltag werden, wird der soziale Protest und Widerstand dagegen nicht zu Ende sein. Es sind schon andere Gesetze wieder gekippt worden. Weisen wir das gesellschaftliche Elend, das uns jetzt versprochen wird, zurück. Erinnern wir uns an die erfolgreichen Proteste gegen die Einführung einer Kopf-Steuer in England Anfang der 90er Jahre. Die massenhafte Aufkündigung des »sozialen Friedens« brachte das Gesetzesvorhaben seinerzeit zu Fall.

Viele Menschen begreifen, dass der Angriff auf uns und unsere Bedürfnisse gleichermaßen für Erwerbslose wie für Lohnarbeitende gilt.

Für diejenigen, die lohnarbeiten, als Erpressung zu Mehrarbeit und Lohnverzicht.

Für diejenigen, die erwerbslos sind, als Leistungskürzung und Zwang in Billigjobs. Immer mehr Aufwendungen für Renten- und Krankenversicherung kommen für alle dazu. Dass ausgerechnet die großen Sozialverbände wie Caritas, Diakonie oder AWO von der Einführung der nur symbolisch entlohnten Zwangsarbeit für »Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen« profitieren wollen, macht sie zu klaren Gegnern im Widerstand gegen die »Hartz-Gesetze«. Im gemeinsam und gleichzeitig erlebten Alltag der Bedrohung mit Arbeit und Arbeitslosigkeit gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen. Darin liegt aber auch die Möglichkeit, im Protest und Widerstand, nicht nur gegen die »Hartz-Gesetze «, zusammen zu kommen.

Im aktuellen Umbau des Sozialstaates verschiebt sich die Aufgabe der neuen »Agenturen für Arbeit«. Im Leitbild der »Verfolgungsbetreuung« tritt die Zielrichtung der Kontrolle und Ausübung von Zwang gegenüber den erwerbslosen »KundInnen « deutlich hervor und die Förderung und Beratung in den Hintergrund. Wenn die »Arbeitsagenturen« zur »Arbeitspolizei« werden, stellen wir ihre Existenzberechtigung in Frage.

In diesem Sinne soll die Schließung der »Arbeitsagenturen« durch unsere Aktionen auch die Forderung nach der Auflösung dieser Behörde ausdrücken. Was konkret am 3. Januar 2005 in den »Arbeitsagenturen« und »PSAs« passieren wird, ist abhängig von den Menschen vor Ort, von ihrem Zorn und von dem, was sie sich zutrauen. Unser Ziel ist es, uns in den Ämtern zu versammeln, den Betrieb lahm zu legen und dort zu protestieren und zu diskutieren. Dabei können die Beschäftigten der Arbeitsämter mit einbezogen werden. Sollten wir vor verschlossenen Türen stehen, haben wir ein Teilziel erreicht und können uns überlegen, ob und wie wir uns Zutritt verschaffen. Wir haben mehr vom Leben – als von der Arbeit!

www.labournet.de

sozialreform

Montagabend, nichts zu tun?

Die Sommerwelle der Montags­de­mons­­trationen ist nun schon seit zwei Monaten vorbei. Sie endete, ohne sonderlich viel erreicht zu haben. So konnten die Ma­ni­festationen weder die Agenda 2010 kippen noch erreichen, dass allein Hartz IV zu­rückgenommen wird.

Der Druck der Straße hat nicht ausgereicht, auch wenn Regierung, Opposition, bürgerliche Medien und etablierte Verbände anfangs ratlos oder gar panisch reagierten und auf die massiven Proteste mit einer massiven Propagandakampagne antworteten. Allein schon, daß die Regierung ein eigenes Lagezentrum einrichtete, macht deutlich, daß die Demonstrationen im Auge der Regierenden eine gewisse Brisanz besaßen. Ein Punkt dürfte da auch die proklamierte Kontinuität zu den 89er Demonstrationen und die damit implizierte Andeutung des „Regimewechsels“. Spontan und vorerst unkontrol­liert durch die Institutionen zur Integration sozialer Unruhe (DGB-Gewerkschaften, Parteien, Sozialverbände, Attac, Wahl­alternative etc.pp) manövrierten sich die Betroffenen ins Rampenlicht bundesrepublikanischer Realitäten. Verschüchtert, demonstrationsunerfahren und wo­mög­lich von sich selbst überrascht, standen viele am Rande des Nikolaikirchhofs und angelten sich begierig die Flugblätter auf der Suche nach Ursachen und Erklärungen. Wie aus dem Nichts materialisierten sich Tausende auf den Straßen ostdeutscher Städte, auch im Westen sollte es bald Demonstrationen geben, die aber selten die Größenordnung wie in den „neuen Bundesländern“ erreichten. „Wir sind da und wir haben die Macht“, mögen sich einige gedacht haben.

Geschichte wiederholt sich nicht

Die Hoffnung, noch zusätzlich genährt durch anfängliche Korrekturen beim Kin­der­frei­betrag und beim Auszahlungs­ter­min, die Regierung ähnlich wie 1989 schnell zum Einlenken zu bringen, schwand dahin, je mehr Montage ins Land gingen. Es reichte offenbar nicht aus, einfach jeden Montag auf die Straße zu gehen, vor allem wenn zwischendurch sieben Tage aktionslos ins Land gingen. Diese sieben­tägige Untätigkeit bedeutete auch sieben Tage Propaganda auf allen Kanälen: Vereinnahmungs- und Spaltungsversuche, Diffamierungen, Demora­lisierung. Mit der Dominanz von Demonstrationen und Proklamationen und dem Fehlen von Diskussionsprozessen und Initiativen zum Aufbau eigener basisdemokratischer Kommunikations- und Organisationsstrukturen lieferten sich die Demonstranten den etablierten Integrationsstrukturen, den bürgerlichen Propagandaangriffen und dem internen Hickhack von Protestorganisatoren- und managern wehrlos aus. Ohne den Aufbau selbstorganisierter Stukturen, ist eine Bewegung von unten zum Scheitern verurteilt. Sie wird dann nur neue selbsternannte Führer und bezahlte Funktionäre hervorbringen, die das Ruder übernehmen, um das in sie gesetzte Vertrauen schließlich zu enttäuschen. Das tief gehegte Misstrauen gegen Parteien und Gewerkschaften, das durch die Realität ja permanent unterfüttert wird, weiß noch keine organisatorische Alternative. Und ohne diese wird es auch keine inhaltliche Alternative geben. Denn die Forderungen doch pragmatische Alternativen zu liefern, zielen darauf sozialen Protesten den Stachel zu ziehen und unschädlich zu machen. Denn im Diskurs sitzen Regierung und Co am längeren Hebel, nicht die Betroffenen von ALG II oder Entlassungen, Arbeitslose und Arbeitende können nur durch ganz konkreten Druck Regierungen oder auch Unternehmen zum Einlenken zwingen. Demonstrationen alleine, so hat sich diesen Sommer gezeigt, können diesen Druck nicht erzeugen.

Libertäre Interventionen

Die Impulse aus den libertären Zusammenhängen in Richtung Selbstorganisation, Solidarität und Antifaschismus wurden zwar durchaus positiv aufgenommen, die Verteilung der Flugblätter war vor allem bei den ersten Demonstrationen eine wahre Freude, der Redebeitrag aus der Aktionsplattform Leipziger Libertäre heraus stieß auf Jubel und starken Applaus (1), stießen aber auf kaum praktisch erfahrbare Konsequenzen. Hier muß sich wohl auch die Frage gestellt werden, inwieweit die libertären Zusammenhänge fähig sind Menschen anderer Altersgruppen als den unter 30jährigen und von sozialen Schichten außerhalb des studentischen Milieus aufzunehmen und inwieweit sie fähig sind mit der durch unterschiedliche Sozialisation unterschiedlichen Wahrnehmung von gesellschaftlichen Zusammenhängen fruchtbar umzugehen. Auch wenn durchaus einige positive Ansätze zu verzeichnen sind, wie die Initiative des Erwerbslosensyndikats (2), die Bestrebung des libertären Zentrums Libelle auch für Menschen außerhalb des studentischen oder subkulturellen Milieus offen zu bleiben oder auch der Ansatz dieser Zeitung eine Sprache zu sprechen, die auch von Nichtakademikern und Nicht-Szene-Gurus verstanden wird, die prinzipielle Offenheit reicht anscheinend noch nicht aus. Auch die inkonsequente Teilnahme an den Montagsdemons­tra­tionen, das Schwan­ken zwischen Mobilisierung der linken Szene und Organi­sierung eines linken Blocks auf der einen und inhaltlicher Intervention und Impulse zur Selbstorganisation auf der anderen Seite. Beides wurde versucht und beides nicht konsequent umgesetzt, was wohl vor allem daran lag, daß beide Konzepte sich teilweise im Weg standen. Wie können inhaltliche Positionen vermittelt werden, ohne in eine elitäre „Ich erklär Euch jetzt mal wie der Hase läuft“ – Haltung abzugleiten? Diese Frage müssen sich gesellschaftskritische Menschen stellen, wollen sie nicht unter sich bleiben. Eine andere Frage ist die, wie eine libertäre Alternative attraktiv sein kann. Die Erfahrung der Antisozialabbaudemonstrationen in Berlin zeigt, daß ein kämpferischer, offener und lebendiger schwarz-roter Block durchaus Menschen integrieren kann und innerhalb einer größeren Demonstration durchaus auf das Doppelte anwachsen kann. Und letztendlich liegt es auch an der Stärke libertärer Ideen und Bewegungen welche inhaltliche Färbung eine Montagsdemonstration annimmt. Und dahingehend ist es den libertären Zusammenhängen zwar gelungen Akzente zu setzen, aber es konnte keinen stärkeren Block auf der Demo aufgebaut werden. Offensichtliche Nazis konnten zwar blockiert und abgedrängt werden, dadurch waren die Kräfte jedoch gebunden, so daß gegen die harmlos sich gebende rechte Sekte BüSo nichts auszurichten war. Jedoch war es auch wichtig sich nicht nur auf Anti-Nazi-Aktionen zu versteifen. Schließlich ist das Verhindern der Teilnahme von Nazis genauso wichtig, wie die Vermittlung emanzipatorischer Inhalte. Die Thematisierung der sozialen Frage unter Hinblick einer grenzüberschreitenden Solidarität und einer basisdemokratischen Organisierung, kann eine wirksamerere antifaschistische Arbeit sein, als die Diffamierung und Homogenisierung der Arbeitslosen und anderen Montagsdemons­trantInnen als „völkisch“ und das Skandieren von „Bomber Harris – do it again“ (3) am Rande der Demo. Eine gesellschaftliche Veränderung kommt nicht ohne Menschen aus, die diese tragen. Deshalb sind die eigene Organisierung im Alltag, die Intervention in soziale Bewegungen mit libertären Ideen und die Stärkung einer selbstorganisierten Bewegung für ein schönes Leben ohne Staat und Kapital unerlässlich für alle, die es satt haben, ihr ganzes Leben im kapitalistischen Laufrad zu rotieren.

kater francis murr

(1) siehe www.fau.org/ortsgruppen/leipzig/art_040817-160550 Es gab auch Reden der Wertkritischen Kommunisten Leipzig und der Linken StudentInnengruppe.
(2) Das Erwerbslosensyndikat ist über fau-leipzig@gmx.de zu erreichen und trifft sich donnerstags17:00 in der Libelle, Kolonnadenstr. 19
(3) Angekündigte Blockade des Bündnis gegen Realität „… der völkische Ruf nach Arbeit schließt das Bündnis mit den Nazis“; Harris war Oberkommandierender der britischen Luftwaffe, die im 2. Weltkrieg auch Dresden bombardiert hat.

Lokales