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„… sie zogen es vor, mit den Gefühlen der Menschen zu spielen.“

Interview mit einem Mitorganisator des Alternativen Wirtschaftsforums

Feierabend!: Das Europäische Wirtschaftsforum und sein Gegengipfel sind jetzt vorbei. Vielleicht willst Du, bevor wir darauf kommen, etwas über Dich und Deine Intention erzählen bei der Vorbereitung des Alternativen Wirtschaftsforum mitzuwirken.

Jakub: Okay. Mein Name ist Jakub und ich bin Mitglied der Anarchistischen Föderation. Ich bin Mitorganisator des Alternativen Wirtschaftsforums. Damit wollen wir die Idee weiterverbreiten, dass es verschiedene Wege gibt, sich gesellschaftlich zu organisieren, und dass es zum Neoliberalismus ökonomische Alternativen gibt.

FA!: Für viele Globalisierungsgegner ist die Alternative ein starker Staat, der die Wirtschaft kontrolliert. Ist das auch Deine Vorstellung?

J: Natürlich nicht. Wir sind gegen den Staat und alle Lösungen, die auf Hierarchien basieren. Wir unterstützen selbstorganisierte Kollektive von Arbeitern. Das bedeutet, daß alle an der Entschei­dungsfindung teilhaben.

FA!: Was meinst Du, wenn Du von Arbeitern sprichst?

J: Ich meine den aktiven Teil der Gesellschaft, der sinnvolle Arbeit für diese leistet. Speziell meine ich die Leute, die keine Manager sind, die nicht entscheiden können, was sie tun, die die vorgesetzten Pläne erfüllen müssen.

FA!: Was ist die Rolle der Manager? Haben sie nicht ihre eigenen Zwänge?

J: Ja, es ist wahr, daß Manager auch Opfer des Systems sind und ihre Handlungen durch das System determiniert sind. Sehr oft fangen Manager von kleineren Unternehmen an, ihre Angestellten auszubeuten, weil sie schwierige Konkurrenz­bedin­gungen durch multinationale Unternehmen haben. In Ländern wie Polen begegnest Du oft dem Phänomen, dass die Eliten kleiner werden und Menschen der Mittel- oder Managerklasse dazu gezwungen werden für jemand anders zu arbeiten.

FA!: Ausgebeutet zu werden ist etwas anderes, als für jemanden zu arbeiten?

J: Das kapitalistische System basiert immer auf Ausbeutung. Aber natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Familienwirtschaft und Unternehmenswirtschaft. Das Unternehmenssystem übernimmt Bereiche der Familienwirtschaft, wie kleine Geschäfte, und das steigert die Ausbeutung.

FA!: Zu unserem konkreten Thema: dem Wirtschaftsforum. Wie reagierten Regierung und Medien nachdem das libertäre Milieu begann, Gegenaktivitäten vorzubereiten?

J: Sie reagierten mit Hysterie und versuchten Panik zu verbreiten. Sie wollten keine Argumente hören. Stattdessen zeigten sie Bilder von Straßenschlachten. Damit verweigerten sich die Medien einer Debatte über wichtige ökonomische Themen und zogen es vor, mit den Gefühlen der Menschen zu spielen.

FA!: Und während des Gipfels?

J: Während des Gipfels berichteten die Zeitungen ein wenig über die Demonstra­tion. Aber dies ist nicht vergleichbar mit dem Platz, den sie dafür verwendeten, Artikel über Alterglobalisierer zu schreiben, die die Stadt zerstören würden. Am Tag nach der Demonstration fand eine Pressekonferenz statt und nur fünf Journalisten kamen. Weil es nicht zu Straßenschlachten kam, hatten sie auch kein Interesse am Hintergrund der Demonstration. Sie brachten ein paar Bilder und einige schrieben, dass es ein Skandal wäre, dass die Polizei soviel Geld ausgegeben hat.

FA!: Wieviel Polizei war denn da?

J: Die Polizei zog in Warschau Einsatzkräfte aus ganz Polen zusammen, 15.000 Polizis­t­Innen für vielleicht 4000 Demonstran­­tInnen plus nochmal 4000 PassantInnen, die zufällig vorbeikamen.

FA!: Du hast Dich sicherer gefühlt, von so viel Polizei beschützt zu werden?

J. (lacht): Nein, nein! Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie habe ich mich nicht so sicher gefühlt.

FA!: Du hast von Alterglobalisierern (1) gesprochen, nicht von Globalisierungsgegnern. Was ist der Grund? In Deutschland gibt es einen solchen Begriff meines Wissens nicht.

J: Ich denke es gibt ihn nicht nur in Polen. Aber wir verwenden diesen Namen, weil wir damit unterstreichen wollen, dass wir nicht gegen jede Globalisierung sind. Zum Beispiel haben wir nichts gegen kulturelle Globalisierung. Wir sind gegen die Globalisierung des Kapitals. Wir ziehen Alterglobalisierung der Antigloba­lisierung auch vor, weil oft nationalistische Gruppen sich selbst Globalisierungsgegner nennen und wir mit denen nichts gemein haben.

FA!: In anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien werden die großen Events der Antiglobali­sierungs­bewegung von reformistischen Parteien und Organisationen organisiert bzw. dominiert, wie attac, Rifondazione Comu­nis­ta oder hierarchischen NGO’s. Hier in Warschau wurden die Gegenaktivitäten vom „libertären Milieu“ organisiert. Was ist besonders in Polen?

J: Es gibt einen Unterschied zwischen Ost- und West­europa. Das sind historische Gründe. Die radikale Bewegung in Polen hat eine anti­stalinis­tische Tra­­dition, weil Stalinismus offensichtlich eine Form von Herrschaft war, die das Leben der Leute kontrolliert hat. Deshalb vertrauen viele Menschen keiner Bewegung mehr, die von einem Staat spricht, der kommen wird um die Probleme der Menschen zu lösen und ihnen Gerechtigkeit zu bringen.

FA!: Haben linke Parteien oder andere reformistische Organisationen an der Demonstration teilgenommen. Und wer hat noch mitgewirkt?

J: Es nahm eine Partei namens „Neue Linke“ teil, die aus der Polnischen Sozialistischen Partei kommt, dazu die Grüne Partei, die hier etwas Neues ist, und die trotzkistische Organisation „Arbeiterdemokratie“, die von der englischen Socialist Workers Party finanziert wird. Aber keine der mehr oder weniger radikalen Protestbewegungen hat eine große soziale Basis.

Aber es waren einige Farmer da und Bergarbeiter aus Walbrzych (²), die nicht Teil der reformistischen Gewerkschaft sind, sondern ihre eigene Organisation haben. Da waren Leute von der OKP, einem Netzwerk von Arbeiter­protest­komi­tees aus Fabriken in ganz Polen, die umstrukturiert werden sollen: von Oza­row, Cegielski in Poznan, von UnionTex in Lodz.

FA!: Gab es Probleme zwischen AnarchistInnen und diesen Parteien?

J: Natürlich gab es Probleme. Wir wollten verhindern, dass sie aus unserer Arbeit eine Wahlkampagne machen. Zum Beispiel versuchte die „Neue Linke“ den Eindruck zu erwecken, dass sie Mitorganisatoren des Alternativen Wirt­schafts­forums wären.

FA!: Denkst Du, daß diese selbstorganisierten Arbeiterkomitees in Zukunft eine größere Rolle spielen werden?

J: Ich hoffe es! Sie haben gezeigt, dass Menschen aus verschiedenen Fabriken mit ähnlichen Bedingungen zusammenarbeiten können. Aber da sind einige Minuspunkte: oft gehen die Unterstützungs- und Solidaritätsaktionen nicht über Worte und Erklärungen hinaus. Ein richtiger Durchbruch kann kommen, wenn die Leute die Bedeutung des Solidaritätsstreiks wieder entdecken.

FA!: Zurück zum Alternativen Forum. Denkst Du, dass es ein Erfolg war?

J: Es kommt auf die Perspektive an. Eine friedliche Demonstration zu machen, war gut um die Ansässigen, die ängstlich waren, auf unsere Seite zu bringen. Und als sie die Demonstration mit Picknick-Atmosphäre sahen, haben sie sich uns angeschlossen und nach unserer Meinung gefragt. Aber auf der anderen Seite ist eine friedliche Demonstration kein gutes Argument den Ort des European Economic Forum zu wechseln. Eines unserer Ziele war es, zu verhindern, dass das Forum nächstes Jahr wieder in Warschau organisiert wird. Aus dem lokalen Blickwinkel war es ein Erfolg, aus der allgemeinen Perspektive nicht notwendigerweise. Aber für die meisten ist die lokale Betrachtung wichtiger.

FA!: Du sagtest, es gab eine positive Reak­tion der Einwohner. Was wird sich an Deiner alltäglichen politischen Arbeit ändern? Was ist Deine Perspektive?

J: Einige Leute sind jetzt stärker an den Themen interessiert, über die wir reden. Es ist für sie jetzt weniger abstrakt. Aber natürlich braucht es nun eine Menge Arbeit um anhaltende Ergebnisse zu erzielen.

FA!: Ich habe jetzt keine Fragen mehr, aber vielleicht möchtest Du noch etwas sagen, sozusagen die berühmten „letzten Worte“!

J: Das Alternativforum zu organisieren, war sehr interessant, brachte viele Leute zusammen und wir sind sehr froh neue Kontakte zu haben. Aber die wahre Veränderung kommt von der täglichen Arbeit und nicht von einmaligen Großereignissen.

FA!: Danke schön!

(1) alter, lat.: der/die/das Andere
(2) Social Committee in Defence of the Biedaszyby

Nachbarn

Freiräume erkämpfen

Soziale Zentren und Bauwagenplätze für Aachen und überall!

Schon im Vorfeld der unter diesem Motto geplanten Demonstration am 30.10.2004 in Aachen wollten Aktivis­tInnen ihrer politischen Forderung Ausdruck verleihen und gleichzeitig den Druck auf die politisch Verant­wort­lichen erhöhen. Deshalb besetzten sie am Samstag den 23.10. einen alten Stadtpalast in der Schildstraße. Aus diesem mussten sie sich jedoch bereits Dienstag wieder zurückziehen, die Verantwortlichen hatten Ver­handlungs­be­reitschaft signalisiert.

Auch wenn zur De­mons­tration am 30.10. lediglich 100 Demons­trantInnen erschienen und immer noch kein konkretes Objekt in Aussicht steht, war die konstatierte Aktion der Aachener ein Erfolg. Schließ­lich gelang es, das Thema eine ganze Woche lang aktuell zu halten und auf den überregionalen Kontext hinzuweisen: Eben nicht nur in Aachen sondern überall soziale Freiräume zu erobern! Um diesen Aspekt herauszustreichen wurde auf der abschließenden Kundgebung eine Grußbotschaft aus Venezuela verlesen. Es bleibt zu hoffen, daß die Aachener das bekommen, was sie fordern und brauchen: Politische Alternativen und mehr soziale Freiräume!

clov

Freiräume

Studistreik adé – Widerstand olé

Knapp zwar, aber dennoch: die Ent­scheidung ist gefallen. 2200 gegen 1900 Stimmen haben auf der Vollver­sammlung vom 14.4. den einwöchigen Streik mit Ausfall der Lehrveranstaltungen abge­lehnt.

Ein Blick zurück: Nachdem auf einer VV am 13.12. 2003 der Streik beschlossen wurde, hatte sich ein Komitee konstituiert um den Streik vorzubereiten. Auf einer VV Anfang Januar wurde das Adjektiv „konstruktiv“ hinzugefügt, das zum Synonym dafür wurde, brav zu protes­tieren und nieman­den zu stören. Das Streik­komitee diente als organi­sato­rische Plattform, diesen Streik zu organi­sieren und Entscheidungen fällen zu können. Das Resultat blieb unbefrie­digend: während die meisten ihre Scheine machten, organisier­ten die vielen Aktiven den Streik und konnten durch das „konstruktive“ nicht mal genü­gend Druck erzeugen. Ende Januar wurde der Streik auf einer VV ausgesetzt, ohne daß sich an den Studien­be­dingungen oder an der Bedrohung durch Studiengebühren etwas geändert hätte. Für April wurde zudem das Fallen des Studiengebühren­verbots erwar­tet, dafür eine Telefon­mobi­lisierung und für das Sommer­semester auf einen Voll­streik vorbereitet, der ernsthafter und druck­voller sein sollte. Dieser wurde nun abgelehnt, damit auch der Streik beendet und die wochenlangen organi­satorischen Vorbe­reitungen obsolet. Dement­spre­chend frus­triert fiel die Reaktion des Streikkomitees aus, daß sich aber nach ein paar Tagen Reflektion wieder mit einer Stellung­nahme zu Wort meldete. Neben der Kritik am Fatalismus und Nichter­kennen der Brisanz der Kürzungen und des Umbaus durch die Mehrzahl der Studie­ren­den wurden auch eigene Fehler bei der Mobilisierung thematisiert. Zudem wurde noch einmal deutlich gemacht, daß Bildungs- und Sozialabbau nicht zu trennen sind und einen Angriff auf die Lebensbedingungen vieler Men­schen darstellen. Und da auch nach der Ableh­nung des „Vollstreiks“ keine Verbes­serungen zu erwarten sind, haben die Menschen des Streikkomitees ange­kündigt weiter­zumachen und auch alle anderen Studierenden, Do­zent­­Innen und Mitarbeiter aufgefordert sich basis­demo­kratisch zu organi­sieren, weil man alleine den derzeitigen Entwick­lungen nicht stand­halten kann. Damit hat sich zumindest ein (gar nicht so) kleiner Teil der Studie­renden­schaft aufgemacht längerfristig Widerstand gegen die der­zeitige Bil­dungs- und Sozialpolitik zu leisten und sich nicht wie so oft nach einer Pro­testwelle, in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen.

Von den Streikgegnern, die Demonstra­tionen und Ähnliches vorschlugen, sind derweil keine organisatorische Aktivitäten erkennbar. Hier zeigt sich auch ein Grundproblem: es wird zwar Kritik geübt am Streikkomitee, aber es wird wie natürlich erwartet, daß es alles für einen organisiert und man selbst nicht aktiv werden braucht. Bei der Vollstreik-Alternative „Montagsdemo“ vom 19. April haben sich ganze 25 Studierende eingefunden. Auch die Spontan­demo zur Solidarität mit der drei Tage lang streiken­den FH Zwickau wurde zum Trauerspiel: der Innenhof war relativ gut gefüllt, aber nur wenige konnten sich aufraffen Solidarität zu zeigen. Es zeigte sich eine beängstigende Lethargie. Die wichtigste Hilfe zur Entscheidungs­findung ist anscheinend das Verhalten des Nachbarn und der Nachbarin und nicht der eigene Verstand oder gar das eigene Interesse an einem guten Leben. Das große Gejammer wird erst los­gehen, wenn die Gebühren ein­geführt sind und viele von der Uni geschmissen werden. Dieser Fall ist in Nordrhein-Westfalen bereits eingetreten, wo schätzungsweise 50.000 Studierende ihr Studium ab­brechen müssen, weil sie sich die Lang­zeitstudiengebühren nicht leisten können. Wo waren diese 50.000 bei den Protesten? Wo sind diejenigen, die morgen in Leipzig exma­trikuliert werden, heute?

kater francis murr

ehemaliges Streikkomitee Leipzig
www.leipzig04.de.vu

Bildung

Krieg ist Frieden ist . . .

Einige Eindrücke zu den Wahlkampagnen 2004 . . .

Wieder mal Wahlen . . . . .ob Kommunal-, Landtags- oder Europa­wahlen, der Bürger durfte sich ent­scheiden. Aber wie? Als kleine oder auch größere Ent­scheidungs­hilfen prang­ten an jeder nur erdenklichen Stelle Wahl­werbeplakate. Nach Wählerstimmen heischend lächelten dort Stadträte von Straßenlaternen herunter, einige suhlten sich, Sturm bedingt oder bewusst heruntergerissen, schnell im Straßenmatsch des verregneten Sommeranfangs.

Die CDU setzte mit dem comic-haften Leipziger Löwen auf die junge Wähler­schaft. . . Die FDP blieb ihrer Geld­fixierung treu und war so kreativ, ihrem Programm mit ganzen drei Worten Ausdruck zu ver­leihen: „Geld-Stadt-Wahl“. . . Die SPD machte aus der Einfachheit eine Tugend. Ein Foto und vage Worte sollten überzeugen. Aber schließlich ging es ja auch nur um ein paar Kreuze. . . Die PDS versuchte mit einer „X statt Y-Strategie“ ihr Programm für den sozialen Wirtschaftsstandort zu for­mulieren. Mit den Forderungen „Arbeit statt Almosen“ oder „Aufträge statt Pleiten“ wollen sie für ein „Leipzig gerecht“ einstehen. Die Frage, ob diese Logik nicht letztendlich dazu führt, dass Mensch gelinkt wird, weil die Sachzwänge der Marktwirtschaft immer Ungerechtigkeit hervorrufen, wird an keinem Punkt gestellt.

Aber darum geht es ja auch gar nicht. Egal welches Programm oder welche Ver­sprechen gemacht wurden, die Wahlen dienen zuerst der erneuten Legitimation der par­la­mentarischen Demokratie, die bei der stetig sinkenden Wahlbeteiligung immer frag­würdiger wird. Daher kommt auch der grundlegende Aufruf der PDS, „Wählen statt Resignieren“, als kleinster Konsens aller Parteien, nicht über­raschend. Mit dem moralischen Zeige­finger sollen die Wahlmuffel zurück zur Urne getrieben werden, wo sie zwischen dem größeren und dem kleineren Übel wählen dür­fen. Was bei der Wahl herauskommt ist letztlich nicht so wichtig. Denn am Ende bleiben alle Parteien nur ein Teil der bürgerlichen Demo­kratie­maschine und somit unfähig, den Menschen auf der Straße das Recht auf Selbstbestimmung einzuräumen; weder mit noch ohne Mehrheit im Parlament.

Die Generalsperspektive, aus der der Mensch nur am Wert seiner Nützlichkeit bemessen wird, wohnt dem Stellvertreter­system namens Demokratie inne. Sym­p­tome, wie der tief verwurzelte Büro­kratismus, zeigen dabei nur zu deutlich, wie weit die reale Politik und deren Kommunikation von den konkreten Bedürfnissen entfernt ist.

Europawahlen

Wesentlich schwereres Geschütz wurde vom Bundespresseamt und dem Europä­ischen Parlament für die Europawahl aufgefahren, um die 61,6 Millionen Wahl­berechtigten in Deutschland zu erreichen. Da gab es neben dem Europa­bus, eine alle Medien umfassende Kam­pagne. Abgesehen von einem Werbespot, der im Mai bundesweit durch Kinosäle und über U-Bahn-Moni­­tore flimmerte, präsentierten sich Stars und Sternchen der Promi­welt auf dem Fernsehbildschirm. Im Internet stand ein „Wahl-O-Mat“ dem unentschlossenen Wähler mit 30 Test­fragen zur Seite, an­hand derer ermittelt wurde, welche Partei ihm wohl am nächsten stehe. Das Ziel dieser über­partei­lichen Kampagne war es, die `inno­vative Insti­tution Europa` in den Köpfen der Men­schen als Leitfigur der neuen europäischen Konsu­menten­ge­mein­schaft zu verankern. Nicht umsonst werden, be­sonders von den Grünen, The­men, wie Verbraucherpolitik, Lebens­mittel­sicher­heit oder Verkehr als bürger­nahe Belange des Europäischen Parla­ments hervor­gehoben. Der `Binnen­markt’ Eu­ropa spiegelt unbegrenzte Wirt­schafts­räume (Freihandelszone) vor, obwohl die Grenz­markierungen nur ein wenig ver­schoben wurden. Allein wirt­schaft­lich nutzbare MigrantInnen sind in der Festung Europa erwünscht. Die anderen sollen doch bitte bleiben, wo sie sind und sich Armut, Krieg oder Ver­folgung stellen.

Die Gemeinschaft ist klar definiert.

Die Nationalstaatsbürger erhalten nun ein weiteres Identifikationsmerkmal. Sie werden zu Europabürgern, die jetzt auf einer weiter übergeordneten Ebene für den Erhalt ihrer Ohnmacht wählen dürfen.

Aber haben sie wirklich eine Wahl? Welchen Unterschied macht es, ob CDU, SPD oder gar die Bibeltreuen Christen im euro­päischen Parlament sitzen? Für den Wähler dürfte es nach der Stimmabgabe laufen, wie immer. Die biegsam formu­lierten Versprechen lassen sich schnell noch biegsamer umdeuten, womit die plakative Werbestrategie einmal mehr gute Dienste geleistet hätte. Aber schließlich war es auch nicht ihre Aufgabe, offen und ehrlich über die Möglichkeiten oder Grenzen der Realpolitik zu informieren. Es ging eher darum schlagkräftige Über­schriften mit der eigenen Partei in Verbindung zu bringen und beim Wähler auf eine Ge­dächtnisleistung bis zum 13. Juni zu hoffen.

Inwieweit Wahlkampagnen überhaupt geeignet sind, eine faktenorientierte Aufklärung zu verwirklichen, sei dahingestellt.

Besonders auffällig war im parteilichen Wahl­kampf für Europa das wieder salon­fähig gewordene nationalpatriotische Ideologie­vokabular (1). Gegen den Ver­trauens­verlust der Bürger in die Politik, der nach Johannes Rau, ehemaliger Bundespräsident durch „Ego­ismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der so genannten Eliten“ verursacht wird, sollen starke Worte ein neues nationales Gemein­schaftsgefühl pro­duzieren.

Horst Köhler, neuer „Bundespräsident aller Deutschen“, meint „Patriotismus und Weltoffenheit sind keine Gegensätze, sie bedingen einander“.

Mit vollem Munde spricht die SPD gar vom „Deutschen Interesse“, dass sie in Brüssel vertreten will. Das Deutsche an sich darf wieder als Wert hoch­gehalten werden. Es ist gar „Zu­kunfts­gerecht“.

Ebenso offensiv prangt der SPD-Slogan „Friedensmacht – Politik mit Ent­schlos­sen­heit“ vor den Farben der Na­tional­flagge. Hier wird nicht mit Ar­gumenten gekämpft, sondern mit Worten. „Frie­densmacht“ ist das Instru­ment der Stimmungsmache.

Die negative Bedeutung des Wortes „Macht“ – viele verbinden es zunächst mit `Missbrauch` – wird umgekehrt. In Verbindung mit dem positiv besetzten Begriff „Frieden“ wird suggeriert, dass die SPD ihre „Macht“, die vom Wähler Zugestandene, nur zu gewaltfreien Zwec­ken verwendet. Das zu glauben, dürfte jedoch schwer fallen, angesichts der bisher betriebenen Außenpolitik. So wurde nicht nur 1999 im Kosovo bom­bardiert, son­dern auch 2003 erstmals unter der Hoheit der EU-In­terventions­truppe in der Demo­kra­tischen Republik Kongo eingegriffen, eben­so, wie 2001 in Afghanistan. Ge­kämpft wird hier nicht nur um die politische Macht, sondern ebenso um die Sprache, die den Menschen doch eigent­lich zur Verständigung dienen sollte, anstatt Gewalt zu legitimieren.

Die erste Wahl sollte daher sein, sich den Krieg nicht für Frieden verkaufen zu lassen und die eigene Stimme zu behalten!

wanst

(1) Ideologievokabular, das sind „Wörter, in denen politische Gruppierungen ihre Deutungen und Bewertungen der politisch-sozialen Welt, ihre Prinzipien und Prioritäten formulieren“. Josef Klein, Sprachwissenschaftler

Wahlen

Für mehr autonome Zentren, (Bau-) Wagenplätze und Kommunen!!!

Die moderne Mietskaserne und die Reste der Überlebens-Einheit: Familie, sind zwei idealtypische Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. In ihnen kommt der Zwangscharakter der gesamten modernen Vergesellschaftung zum Ausdruck, der die Menschen durch die Mechanismen der Hie­rarchisierung, Entsolidarisierung und Isolierung auf die Konkurrenz am Arbeitsmarkt zurichtet. Wenn mensch bei der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft die sozioökonomische Verengung des historischen Materialismus teilt – Menschsein heißt in erster Linie produzieren und reproduzieren – sucht mensch auch folgerichtig das revolutionäre Potential zur Aufhebung dieses Zwangs in den Produktivkräften, das Subjekt eines solchen Umsturzes der Produktionsverhältnisse und damit der Grundlage bürgerlicher Vergesellschaftung in der ArbeiterInnenbewegung – und dementsprechend heute in den absterbenden Resten der gewerkschaftlichen. Aus dieser Perspektive bleibt jeder konstatierte Angriff auf die bürgerlichen Lebensverhältnisse von Vornherein sinnlos, solange nicht „weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen“ [1] (also der organische Zusammenhang von internationaler ArbeiterInnenbewegung und internationaler KP oder Gewerkschaft) die modernen Produktionsverhältnisse umwälzen. Aus dieser Perspektive und dem Abgleich mit den gegenwärtigen Zuständen ergibt sich aber auch der resignierende Rückzug der Aktiven in die Kritik, ins Private, der Austritt aus progressiver Praxis und der Eintritt in Mietskaserne und Familie. Da­bei war es gerade Marx, der sich in seinem Glauben nie erschüttern ließ.[2]

Sind wir also im 21. Jahrhundert in der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft angekommen? Gibt es keine Kräfte mehr, die sich ernsthaft gegen ihre Zwangsverhäl­tnisse wehren? Doch, es gibt eine Praxis neben den ideologiekritischen Debatten – Kontinuitäten, an die die Kommunika­tions­netzwerke, die Organe, die punktuellen Demonstrationen und Manifestationen anknüpfen. Es gibt sie, die (sozialen) Freiräume, die Nischen der bürgerlichen Vergesellschaftung. Und sie sind umkämpft! Diese Freiräume leichtfertig und aus Haarspalterei aufs Spiel zu setzen ist grob fahrlässig gegen jedmög­liche Emanzipation aus den bürgerlichen Verhältnissen. Wo sonst könnte dann noch Alternativen erprobt, Experimente vollzogen, Widerstand geübt werden? Das Scheitern mit inbegriffen!

Der moderne Staat mit seinen aufgerüsteten Polizeieinheiten hat sich zum repressivsten Schutzpatron der bürgerlichen Ge­sell­schaft erhoben, seit sich eine Geschichte bürgerlicher Vergesellschaftung erzählen lässt. Und er ist im Namen des guten Bürgers auf dem Vormarsch, gerade in den deutschverwalteten Territorien. Aktionen, wie die Räumung des Wendebeckens, bezeugen das. Demonstrationen, Widerstand, selbst Protestaktionen sind mit einem nie da gewesenen Aufmarsch der Polizei konfrontiert. Und die „Sicher­heits­kräfte“ der deutschbürgerlichen Gesellschaft haben auch den Zusammenhang von Freiräumen und Aktionen erkannt. Die politische Hausbesetzungs-Szene wurde in den Neunzigern massiv zurückgedrängt – die meisten autonomen Zentren stehen heute mit einem Fuß auf bürgerlichem Recht. Neubesetzungen sind schwerer denn je. Die harte Linie in Hamburg und anderen Städten zeigt: Die politische (Bau-)wagen-Szene steht als nächstes auf der Liste. Einzig die (zugegebenermaßen wenigen) politischen Kommunen scheinen derzeit sicher. Allerdings ist diese Sicherheit schwer erkauft. Ihre Existenz fußt leider oft auf ganz bürgerlichem Eigentum.

Nun kann der gewaltigen Übermacht der Repressionsorgane einzig die Kreativität des Widerstands entgegengesetzt werden und vielleicht ist dieser Kampf aussichtslos. Aber ihn aufzugeben, hieße aus meiner Sicht, einen der letzten Zipfel möglicher Emanzipation aus den bürgerlichen Lebens- und Produktionsverhältnissen für sehr, sehr lange Zeit aus den Händen verlieren. Deshalb plädiere ich für mehr Zusammenhalt und Solidarität zwischen den einzelnen Projekten. Vom Land, über die Vororte, bis ins Zentrum der Städte. Von den autonomen Zentren und Projekten, über autonome (Bau-)Wagenplätze bis zu den autonomen Kommunen. Auch Selbstkritik ist dabei wichtig! Schließlich heißt Emanzipieren immer auch, sich auf dem Weg befinden. Schützt die verbliebenen (sozialen) Freiräume, erobert neue!

clov

[1] Karl Marx u. Friedrich Engels, „Deutsche Ideologie – I. Feuerbach“, in: „Gesammelte Werke Band III“, S. 35
[2] „[Marx] … hatte volles Vertrauen zur intellektuellen Entwicklung der Arbeiterklasse, einer Entwicklung, die sich aus der Verbindung von Aktion und Diskussion notwendig ergeben musste.“ Engels in der Vorrede vom „Manifest der Kommunistischen Partei“ zur englischen Ausgabe 1888, in: Karl Marx und Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, Reclam, Ditzingen, 1997

Freiräume

Viele hatten keine Wahl

Europa-, Landes- und Kommunalwahlen – Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich!

Was andere nur für ein Vermittlungsproblem halten, ist für die demokratische Verfasstheit der europäischen Nationen ein handfestes Problem. Franz Müntefering scheint nach monatelanger Analyse der drastischen WählerInnen­verluste der SPD am Montag nach der Europawahl und den Ergebnissen der Landes- und Kom­mu­nalwah­len ernüchtert. Die SPD hat ein Ver­­ständnis­prob­lem. Soll heißen zwischen Partei und Basis, zwischen Wählerin und Funktionär, zwischen Parteiprogramm und politischer Meinung geht nunmehr nicht nur ein Riß, sondern ein handfester Bruch. Der Niedergang der Sozialdemokratie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts indes hat symbolischen Gehalt. Er steht stellvertretend für die sinkende Legitimität des Parlamentarismus im Allgemeinen. Die Entwicklung der Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament z.B. steht im umgekehrten Verhältnis zur Entwicklung der europäischen Institutionen und den politischen Spielräumen ihrer Macht und Machtausübung. Seit die Wahlen stattfinden, ging die Wahlbeteiligung in Ländern wie Deutschland (22,7)*, Frankreich (17,56), den Niederlanden (18,7), Spanien (22,96) oder Finnland (19,2) um ca. 20 Prozent zurück. In Portugal gar um 33,66 Prozent. Die neuen Beitrittsländer blieben, bis auf die kleinen Länder Zypern und Malta, alle unter 50 Prozent. Die Schlußlichter bilden Polen und die Slowakei, die mit 20,42 und 16,66 Prozent das Wahldesaster komplettieren. Macht Summa summarum einen europa­wei­ten Rückgang der Wahlbetei­ligung seit ihrer Veranstaltung um satte 17,5 Prozent auf nunmehr noch 45,5 Prozent. Mehr als die Hälfte aller wahlberechtigten Bürger also hat sich in der Wahl 2004 gegen die weitere Legitimierung des europäischen Parlamentarismus entschieden.

Ich prophezeie also – daß eine Unzahl von denen, die am 16ten zur Wahlurne laufen, am 17ten, wenn sie die Zeitungen lesen, sich dasselbe sagen, wie vor fünf Jahren: Alter Esel, du hättest ruhig zu Hause bleiben können! …“

Aber auch auf Landes- oder Kommunalebene sinkt die Beteiligung ständig. Bei den Stadtratswahlen in Leipzig sackten die Zahlen unter die 40 Prozentmarke auf 38,6. Von den 3 Prozent ungültigen Stimmen ganz abgesehen. Auch bei den Landeswahlen in Thüringen entschlossen sich mehr WählerIn­nen als sonst, der „Urne“ fernzubleiben. Nach 59,9 Prozent 1999 wählten diesmal nur noch 54 Prozent.

… Ich wäre auch ohne meine höchsteigene Bemühung fer­nerhin regiert und geschuh­riegelt und mißhandelt worden! Es wäre auch ohne mich ferner­hin jedes sachliche Bemühen um die Förderung der Kultur und das Wohlergehen der einzelnen untergegangen in dem lumpigen Streit herrschwütiger Parteien!“

Gustav Landauer, 1898

Bleibt nur die Hoffnung, daß all die Nicht­wählerInnen neben einem geruhsamen Sonntag noch genug Zeit finden werden, endlich auch an politischen Alternativen mitzuwirken. Denn eins scheint doch klar: Gegen Monarchie und Oligarchen, gegen Götter und die Diktatur, gegen Kapital und Lohnarbeit müssen doch bessere Kräuter als der Parlamentarismus gewachsen sein.

clov

* manche Wahlkreise blieben unter 25 Prozent!
Alle Zahlen aus Berechnungen der Collabora­tion EP – Eos Gallup Europe bzw. von den zuständigen Sta­tistik­ämtern.
Weitere Zahlen unter:
www.destatis.de oder
www.bundeswahlleiter.de

Wahlen

»Tant de bruit pour une omelette!«

„Viel Lärm um nichts!“

Notwendige Vorbemerkungen

‚Au Backe‘ mag der ein oder die andere Feierabend!-RedakteurIn gedacht haben, als uns ein interner (nicht zur Veröffentlichung freigegebener) Brief von „Falco (aus dem conne island)“ erreichte. ‚Wir sollen uns von dem Artikel aus der FA!#14 „Zum Antideutschen Kommunismus“ S. 20-25 distanzieren.‘ Das gab es in über zwei Jahren Redaktionsarbeit noch nicht! Die Vorwürfe gegen unseren Autor v.sc.d. waren hart und scharf. Bis hin zum Antisemitismus! Wir sind noch einmal in Klausur gegangen und haben uns intensiv und ernsthaft damit auseinandergesetzt. Schließlich war unsere Absicht, eine Position neben und in kritischer Differenz zu den diversen kursierenden antideutschen Positionen aufzubauen, und das besondere Anliegen des Autors bestand darin, das unerträglich gewordene Schweigen über dieses Thema (auch persönlich) zu durchbrechen. Nicht jedoch hatten wir die Intention, in Konfrontation zu Leipziger Projekten wie dem conne island zu gehen oder auch Involvierte zu beleidigen. Nun müssen wir eingestehen, daß Sache und Anliegen in dem veröffentlichten Text durch den persönlichen Gehalt und die teilweise starke Polemik überdeckt wurden, das war uns im Vorfeld nicht so bewußt gewesen. Auch haben sich Fehler im Ausdruck eingeschlichen (Korrekturen s. www.feierabend.net.tc) und einige Passagen sind unglücklich argumentiert. Aber auch wenn es zu einzelnen Punkten des Artikels Kontroversen und Kritik innerhalb der Redaktion gegeben hat; was die inhaltliche Ausrichtung des Textes angeht, stehen wir auch jetzt voll vor und hinter unserem Autor v.sc.d und weisen jeden Vorwurf des Antisemitismus bzw. die Behauptung einer wie auch immer gearteten „rechten“ Denkweise entschieden zurück. Wir halten grundsätzlich an unserer antinationalen Position fest – in dem Sinne sind wir genauso antizionistisch wie antideutsch – und teilen nicht das historische Urteil, mit dem antideutsche Ideologeme operieren, allein die Existenz des Staates Israel wäre Indiz der Möglichkeit antikapitalistischer Emanzipation. Darüber hinaus wenden wir uns gegen die unkritischen Feindbildkonstruktionen diverser antideutscher Positionen, deren hauptsächlicher Mangel in ihrem fehlenden Differenzierungsvermögen besteht. Wir halten darüber hinaus auch nichts von Diskursen – von denen es ja mehr als genug gibt – die auf Grundlage staatlichen Handelns argumentieren und damit staatliche Gewalt und nationale Konstrukte legitimieren. Die Reaktionen auf eine Veröffentlichung zu diesem Thema, auch von anderer Seite, geben uns schließlich darin recht, daß das Thema auf den Tisch gehört. Für unsere redaktionelle Arbeit bedeutet das ganz selbstkritisch auch, daß wir uns nicht länger mit einer ignoranten Haltung demgegenüber zufriedengeben können. Deshalb haben wir uns nach langem Überlegen entschieden, in dieser Ausgabe einen Text abzudrucken, der Appetit machen soll auf eine neuerschienene Publikation des Unrast-Verlages („Wir waren die Antideutschesten der deutschen Linken“ ISBN: 3-89771-432-9). Die dort geführte, umfassende, inhaltliche und geschichtliche Auseinandersetzung mit dem deutschen „Antideutschtum“ bietet einen systematischen Einstieg in das Thema und ist deshalb nur zu empfehlen. Eine andere, an uns heran­getragende Leserkritik des in FA!´#14 veröffentlichten Artikels findet sich auf unserer Homepage.

Einen heißen Kopf und viel Vergnügen beim Lesen

Die Redaktion

Es gibt genug Gründe, gegen Deutschland, ja regelrecht anti-deutsch zu sein: da wäre zuallererst das unabgegoltene Ge­schichtsverbrechen, das den Namen Ausch­witz trägt. Die For­mierungs­leis­tungen des barbarischen Nationalsozialismus haben sich in die BRD-Leistungsgesellschaft eingeschrieben und noch heute manifestieren sie sich unter anderem in dem niedrigen Streik- und Rebellionsniveau im Standort Deutsch­land. Wie zur Unterstreichung dieses Zustands machen sich immer wieder so nationalistische wie klassenübergreifende »Die Deutschen als Opfer«-Diskurse breit – die letzten Jahre beispielsweise in den historischen Kon­junktur­themen »Vertreibung« und »Bom­ben­nächten«. Zu dieser Tendenz in der zukunftsweisenden »Vergangenheitspolitik« gesellte sich jüngst noch die Adelung der Reform-Nazis vom 20.Juli zu Widerstandskämpfern – obwohl »Widerstand« in Deutschland ohnehin einem Fremdwort gleichzukommen scheint. Alles gute Gründe, anti-deutsch zu sein. Selbst eine globalisierte Welt verlangt nicht unbedingt die Aufgabe anti-deutscher Positionen. So kann der im Islamismus sich ausdrückende Antisemitismus berechtigten Deutsch­land­hass bei all denjenigen hervorrufen, die die historischen Verbindungslinien von deutscher (Au­ßen)Politik und Djihadismus kennen, ebenso bei denen, die die Begeisterung heutiger Djihadisten für »Deutschland« und vor allem für seine mörderische antisemitische Geschichte anekelt. In ihren positivsten Momenten war die alte und neue Linke – vor und nach dem NS und bei allen sonstigen Irrtümern – anti-deutsch: Wilhelm Weitling, Bakunin, Franz Pfem­fert mochten Deutschland nicht und auch einige Aktionen des SDS zeugten von einem guten Riecher für die postfaschistischen deutschen Verhältnisse. Aber um heutzutage als »antideutsch« zu gelten, muss man zuallererst Fahnen hissen, man muss bedingungslose Solidarität mit Scharon und dem Staat Israel üben, Befreiung an US-amerikanische Konservative delegieren und ohnehin Front machen gegen einen als »deutsch« apostrophierten »barbarischen Antikapitalismus« – dieser droht überall dort sein Haupt zu erheben, wo sich irgendetwas »von unten« artikuliert, wogegen man beim heutigen Hegemon des kapitalistischen Weltsystems Zuflucht nehmen soll. Zu guter Letzt artikuliert sich laut antideutscher Sicht der Dinge in Kapitalis­muskritik und Solidari­täts­be­dürf­nissen nur die Sehnsucht von völkischen Herdentieren. Vereinzelt euch, seid stark, individualistisch und konsumis­tisch, damit auch ihr euch nicht zum deutschen Volksgenossen eignet, lautet das neue antideutsche Motto.

Schaut man sich maßgebliche Teile der deutschen Linken an, liest man ihre Organe und Publikationen, drängt sich so die sicherlich von verzweifeltem Identifi­zie­rungs­wunsch getragene Frage auf: »Ist das noch links?«. Die wichtigen Themen der historischen Linken, wie Ungleichheit, Herrschaft, Ausbeutung, Krieg finden mittlerweile durch Publizisten, Autoren und Ak­tivis­ten, die sich als »links« begreifen, eine ganz andere Beantwortung als erwartet. Nun war der Begriff »links« schon immer ein schillernder, und nicht umsonst lehnen in anderen Ländern radikale aus­beutungs- und herrschaftskritische Aktivisten und Theo­retikerinnen die Bezeichnung »links« ab, weil sie zu sehr an eine parlamentarische und staatliche Tradition gebunden ist. Die­se Tradition des Linksradikalismus, die immer in Opposition zur Sozialdemokratie, zum Realsozialismus und zum Arbeit und Staat­lichkeit affirmierenden Sozialismus stand, ist im deutsch­sprachigen Raum verschüttet und viele Verwirrungen der heutigen, meist aus dem ein oder anderen dogmatischen Fundus schöpfenden Linken wurzeln genau darin.

Unmittelbar mit der Existenz »der Linken« war »die Kritik« verknüpft – affirmativ, das sind die andern. In der deutschen Mainstream-Gesellschaft ist nach wie vor eine historische Tradition vorherrschend, die radikale Kritik als zersetzend diffamiert und alles und jeden auf unbedingte Konstruktivität verpflichten will. So ist ebenfalls die Geschichte der deutschen Linken geprägt vom Konformitäts- und Konstruktivitätszwang. Gerade deshalb ist die Bedeutung der Kritischen Theorie und ihre Entdeckung durch die bundesrepublikanische Revoltebewegung um 68 nicht zu unterschätzen. Da sich radikale Kritik in Deutschland auch auf Grund der post-faschistischen Zustände nicht mit dem historischen Subjekt verknüpfen konnte, geriet sie jedoch des Öfteren zur »kritischen Kritik« (Marx) und zur reinen Selbstbespiegelung vermeintlich kritischer Geister. Den Umstand vor Augen, dass eine fundamentale Umwälzung der Verhältnisse in weite Ferne gerückt zu sein scheint, radikalisierte sich diese Haltung zum distanzierenden Habitus, und Kritik wurde gleichbedeutend mit Denunziation und Polemik. Doch so sehr die innerlinke Diskussion von dieser Schein-Kritik geprägt ist, so sehr fällt ins Auge, wie affirmativ sich Positionen mancher Linker – gerade der antideutschen – ausnehmen, wenn es um welthistorische Ereignisse geht. Selbstkritik war noch nie die Stärke deutscher Linker. Das Versinken in Selbstmitleid übernahm für die meisten Linken die Stelle, die Selbstkritik einnehmen sollte, denn sie hatten Selbstkritik nur als stalinistischen Exhibitionismus und Selbstverleugnung kennen gelernt. In dem Erfahrungsbericht ehemaliger K-Grüppler »Wir warn die stärkste der Parteien…«, 1977 im Berliner Rotbuch Verlag erschien, findet sich larmoyantes Wundenlecken von Individuen, die ihre Individualität in solchen sek­tenartigen Gruppierungen zugunsten einer festen Gruppenidentität eintauschen wollten. »Die Linke« war nicht nur in Form der K-Gruppen oftmals ein obskures Unterfangen und ist es noch. Viele heutige antideutsche Positionen versuchen sich daran, diese Fehler unter Druck und mit sehr viel Hitze auszubügeln.

Statt Selbstmitleid herrscht bei älteren anti­deutschen Semestern aggressiver Zynismus vor, der erstaunlicherweise auch unter jugendlichen Antideutschen Anklang findet und Nachahmungsverhalten hervorruft. Besonders in dieser Hinsicht ist das Antideutschen-Phänomen ein Phänomen aggressiver Verdrängung von An­pas­­sungsleistungen. Welche Befreiung muss es für ehemalige Dritt-Welt-Aktivisten sein, das schlechte Gewissen wegen der viel zitierten »privilegierten« Metro­po­len­existenz und die schlechte Verdauung dank Sandino-Dröh­nung gleichermaßen hinter sich zu lassen, um ganz »antideutsch«-lustvoll in der Debatte über linke Kriegs- und USA-Begeisterung zu gestehen: ich würde auch lieber in New York als in Bagdad leben. Wer von Antideutsch-Sein redet, kann folglich vom kapitalistischen Weltsystem schweigen. Das passt gut zusammen mit dem beispiellosen Idealismus vieler neuer linker De­batten. Egal was empirisch-praktisch passiert, nicht nur antideutsche Autoren sehen immer idea­le, übergeschichtliche Prinzipien am Werk. Genau diesen Idealismus, diese »Illusion der Ideologen« nahm Marx in der »Deutschen Ideologie« auseinan­der und beschreibt das unkritische Verfahren fol­gender-maßen: »Man muß die Gedanken der aus empirischen Gründen, unter empirischen Bedingungen und als materielle Individuen Herrschenden von diesen Herrschenden trennen und somit die Herrschaft von Gedanken oder Illusionen in der Geschichte anerkennen.« Wie im Brennglas kommen im »antideutschen Syndrom«, das sich seit einigen Jahren in­nerhalb der deutschen Linken breit macht, diese ganzen Schwächen der deutschen Linken zusammen: der germanische Nonsens, wonach Geist, Idee und Bewusstsein die treibenden Kräfte in der Geschichte sind, das Fehlen bzw. Abreißen einer undogma­tischen, antiautoritären Theorie- und Praxis­tradition in Deutsch­land eben­so, wie die zur reinen diskursiven Machtpolitik sich steigernde Polemik und »Kritik«, die sich in immer absurderen, Wirk­lich­keits­abstinenz übenden Selbst­über­bie­tungs­ritualen gefällt. Die Unfähigkeit zur aufhebenden Selbstkritik linker Irrtümer verbindet sich mit der Aufgabe von Herrschafts- und Kapi­ta­lis­muskritik und endet in der Affirmation der bestehenden globalen Verhältnisse.

Lohnt es sich wirklich, in Zeiten der verschärften Restrukturierung der kapitalistischen Ausbeutung auf eine Gruppe linker oder wahlweise: ehemals linker Autoren und Autorinnen einzugehen, die man durchaus ignorieren könnte? Wären es nur die wenigen antideutschen Publizisten, die in der Freiburger Gruppe ISF und der Ber­liner Zeitschrift Bahamas sich heimisch fühlen, könnte man so verfahren. Auch scheint die Zeit so langsam zu Ende zu gehen, in der ein großer Teil der publizistischen deutschen Linken mit einem nach Berlin oder Freiburg schielenden Au­ge ihre vermeintlich in gesellschaftskri­tischer Absicht verfassten Texte schreibt.

Einige winken ohnehin ab und wollen »die Antideutschen« nur als Teil einer sub­kulturellen Jugendbewegung behandelt wissen. Demnach lägen die »Antideut­schen« in einem internationalen Trend: dem Abdriften ehemals links kodierter Jugend- und Subkulturszenen nach rechts. So findet man in den USA »conser­vative punks«, die für Bush und den »war on terrorism« votieren und die vermeintliche »links-liberale Vorherrschaft« in ihrer Szene wie in der Mehr­heits­gesellschaft attackieren. Auch die adoleszente Selbstins­ze­nierung vieler antideutscher Wortführer scheint darauf hinzudeuten, dass es sich lediglich um ein Phänomen der vom Feuille­ton diagnostizierten jugendlichen Spaßgesellschaft handelt.

Doch diese Zuweisung scheint zu verkürzt zu sein. Wenn ehemalige Antideutsche wie der Publizist Jürgen Elsässer, der Mitte der 90er Jahre noch Luxusleben, Hedonismus, A-Nationalismus und Wilhelm Reich propagierte, heutzutage wieder Antiamerikanismus, Souveränismus, Populismus und hemd­särmeliges Gewerkschaftlertum hoch­­halten, dann lässt sich das nicht nur mit der Beliebigkeit und Durchlässigkeit jugendlicher Subkultur-Szenen erklären, zumal es sich bei solchen Protagonisten auch um ältere Semester handelt. Ebenso wären die nach rechts driftenden, sich antideutsch definierenden Antifa-Gruppen, die den Antifaschismus jeglicher sozialer und subversiver Dimension entkleiden, zwar ein Ärgernis, aber keine eigene Abhandlung wert, dies müsste vielmehr als Fußnote in einer Untersuchung der seit der Volksfront-Politik erfolgten staatlichen Pazifizierung des Antifaschismus erfolgen. Doch hier deutet sich am ehesten das tie­fer­liegende Problem an. Die honestly con­cerned vorgetragenen anti­deut­­schen Positionen der Antifa- und Ver­gan­genheits­po­li­tik-Linken haben jegliche Verbindung zum Linksradikalismus, zur radikalen Aus­beutungs- und Herr­schafts­kritik gekappt. Immerhin stellen die Antideut­schen zusammen mit der Regierungslinken von Rot-Grün die erste Generation nach 1945 dar, die den Krieg wieder unter der politisch korrekten Fahne des Antifaschismus hoffähig machen wollte – Joschka Fischer und Co. 1999 in Jugoslawien, die Antideutschen 1991 und 2003 im Irak, 2001 in Afghanistan. Dem ehemaligen »Vordenker der Antideut­schen« und heutigen launischen Kritiker dieses Phänomens Wolf­gang Pohrt ist nämlich durchaus Recht zu geben, wenn er auf die Frage »Wer sind die überhaupt, diese Antideutschen?« die Antwort gibt: »Vielleicht alle und die Regierung vornedran.« Tatsächlich ist das, was sich in der Linken als radikale Kritik aufspreizt, viel mehr Teil des Mainstream, als man denkt. Gemein!, ruft der Antideutsche und erinnert an die alleinige Frontstellung seines Grüppchens im friedensbewegten Deutschland vor und zur Zeit des Golfkrieges 2003. Wir waren und sind es doch: eine radikale kleine Minderheit! Doch auch die lautstark verkündete Negation bleibt ihrem Gegenstand verhaftet, wie der Satanist Kirche und Gott. Ähnlich verhält es sich mit der Antifriedensbewegungsemphase der Anti­deutschen und ihrer Anrufung der free­dom and democracy bringenden USA. Um die so pazifistischen wie harmlosen Schüler, Lehrer und Pfaffen zu erschrecken, schlüpfte man in die böse Kutte des kriegerischen Belzebubs. Generell sind die Antideutschen ein Syndrom weit verbreiteter Ge­schichtslosigkeit und -ver­gessen­heit innerhalb der Linken. Die Ge­schichts­losigkeit der Antideut­schen kommt gerade in ihrem Kokettieren mit belli­zistischen Positionen und dem Krieg selbst zum Ausdruck. Zwischen Fried­rich Ebert und Rosa Luxemburg verlief die Grenze in der Zustimmung zu und dem Sich-Beugen vor imperialistischer oder kapitalistischer Kriegslogik. Diese Auseinandersetzung sollte sich zwischen den Rechtsbolschewiki und den linken Kommunisten und Sozialrevolutionären in Russ­land wiederholen. Und im Spanischen Bürgerkrieg spitzte sich diese Frontstellung auf die Alternative revolutionärer Kampf oder antifaschistisch-republikanischer Krieg zu. Ist bei den Antideut­schen die Waffe der Kritik zum intellektuellen Querschläger verkommen, so ist ihre Position zu der »Kritik der Waffen« ähnlich verquer. Niemand, der ernsthaft eine radikale Befreiungsperspektive und eine Aufhebung der Verhältnisse anstrebt, kann die Frage der Gewalt mit pazifistischen, frommen Sprüchen beantworten. Doch in den antideutschen Kriegs- und Gewaltphantasien ist die letzten Endes auf den Staat bezogene Kritik des Gewaltmonopols und des Militarismus zum Erlöschen gebracht worden. Mit den Antideutschen steht nicht so sehr »die Linke« auf dem Spiel, die hat schon so einige weitaus folgenschwerere Phänomene hervorgebracht. Kommunisten kennen keine Monster, sie sollten es zumindest nicht, und an einem »Feindbild Antideutsche« kann niemand ein Interesse haben, der die Kritik voranbringen will. Aber die Dumm­­heit auf hohem Niveau, die das antideutsche Ärgernis darstellt, ist Ausdruck eines Verfalls kritischen Denkens im Namen der Kritik. Will von links wieder eine radikale Herrschafts- und Ausbeu­tungskritik formuliert werden, muss zuerst der antideutsche Scheinradikalismus als solcher erkannt werden. […]

Gerhard Hanloser, Freiburg im Breisgau, im Spätsommer 2004

Theorie & …

www.VOTE.global

Meine lieben Damen und Herren, liebe Androgyne, liebe Geschlechtslose, liebe Zwitter. Endlich ist es wieder soweit. Der Vorhang öffnet sich … und hier stehe Ich. Ihr omnipräsenter, über die Grenzen aller Bunker und Festungen bekannter, Ihr Meister der Unterhaltung. Zusammen mit der weltumspannenden, erderschüttern­den Megashow „VOTE“ haben wir hier in den herrlich prachtvollen Hallen des Bunker 13 Quartier bezogen. Sie fragen sich sicher schon voller Erregung: Was?, was wird „VOTE“ heute wohl präsentieren? Und Ich sage Ihnen, Sie wissen es bereits. Jetzt kratzen Sie sich nicht am Speicherstecker. Ich sage es Ihnen ja schon. Es stehen die XIII. Wahlen der Europäischen Konföderation an. Ja! Ob Sie es glauben oder nicht. Die 9 ¾ Jahre sind schon wieder vorbei. Wie schnell die Zeit verfliegt, nicht wahr? Können Sie sich noch an damals erinnern? Alle fünf Jahre? Das kommt einem heute so lächerlich vor. Aber lassen Sie uns nach vorne schauen: „VOTE“ bietet ein nahezu erschöpfendes Programm. „VOTE“ wird Sie lückenlos aufklären. Fak­­ten, Hintergründe und Intrigen. Über die 22 Kandidaten und ihre Programme. Aus allen Monitoren wird es Schlag­lichter geben. „VOTE“ hilft Ihnen bei Ihrer Entscheidung. „VOTE“ wählt sogar für Sie. Und „VOTE“ hat auch etwas Neues! In einem simulierten Wahlgang können Nichtwahl­berech­tigte Ihre Stimme trotzdem abgeben! Ist das nicht phantastisch! Sie haben nicht nur die Wahl, Sie müssen einfach wählen.

„VOTE“ ist nicht irgendeine alternative Wahlshow, „VOTE“ ist die Alternative. Beginnen wir doch gleich mit einem Knaller. Begrüssen Sie mit mir den Männer­chor der Sektion der X. Internationale, präsentiert von der Partei für Soziale Gleichheit:

Drei ältere Männer treten ins Licht und tragen die Internationale in einem glänzend gearbeiteten dreistimmigen Kanon vor. Der Bunker tobt. Verneigung. Ab.

Ja. Wunderbar. Nicht? „Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.“ Ich persönlich … nein! Aber vielleicht finden Sie ja Gefallen an dem Gedanken. Wussten Sie eigentlich, dass die Maßnahmen zur Hebung der Wahlteilnahme endlich greifen. Unsere Analysten erwarten das Durchbrechen der 50%-Hürde schon in den nächsten zehn Jahren. Gerade im Osten soll ein ent­schei­dender Wi­der­­stand gebrochen wor­den sein und dann die Fortschritte im Büro­kra­tischen, im Erziehungswesen und in der vermittelnden Unterhaltung. Ich sa­ge Ihnen, Ich glau­be den Experten lang­sam. Bringen wir gleich die Tier­­schutz­partei zwi­­schen­­durch. Von ihr haben wir nur eine Annonce bekommen:

Suchen Tiere jeder Art. Raum ist vorhanden. Chiffre: ???

Naja, ich weiß nicht. Man darf die Welt auch nicht zu eng sehen. Tiere? Da gibt es doch Wichtigeres. Haben Sie eigentlich schon das Neueste aus Japonesien gehört. In einem der unterirdischen Labore soll es gelungen sein, Wachstumshormone von Eintagsfliegen in aufgetaute Dinosaurierzellen zu implantieren. Das Vieh hat wohl die ganze Einrichtung zerschlagen! … Doch zurück zu Europa. Jetzt halten Sie sich fest. Keine Partei kann soviel Wahlperioden auf sich vereinen. Rekordteilnehmer und mehrjähriger Regierungsverteidiger. Brutal und sanft, diese Partei kann einfach alles. Und hier ist sie, mein heimlicher Favorit, die Zentrumspartei:

Das Licht geht aus. Ein Spot tastet sich durch das Dunkel der Bühne. Plötzlich wird von oben ein riesiges Spruchband entrollt. Eine butterweiche Stimme liest aus dem Lautsprecher: Wir wollen die Monarchie zurück! Alle staunen. Der Meister der Unterhaltung kreischt vor Ergötzen. Das Licht geht wieder an…

Können Sie das glauben? Welche Provokation. Ich bin erschüttert. Überrascht. Ist das der Coup dieser Wahl? Ist das schon der Sieg? Wenden wir uns gleich dem Beitrag von einem der härtesten Konkurrenten zu. Hier ist sie, die Politparade der CDU:

Eine Polonaise immer kleiner werdender Funktionäre tritt von links auf die Bühne und zieht schweigend einen riesigen Mühlstein hinter sich her. Einzig der erste, größte, älteste hebt die rechte Hand zum geraden Gruß. Ab.

Das ist das neue Selbstbewusstsein der Christdemokraten? Diese symbolische Kraft. Diese Religionsmetapher. Einfach umwerfend. Die CDU hat wiedereinmal bewiesen, sie ist gleichwertig mit der Zentrumspartei. Na, haben Sie sich schon entschieden? Egal! Glauben Sie mir. Jeder Kandidat ist hier genauso gut wie der andere. Jedem können Sie Ihre Stimme geben. Jeder kann Sie vertreten. Aber nur zwei werden letztlich zugelassen. Was? Das haben Sie vergessen! Die Sperrklausel existiert doch schon seit den IX. offiziellen Europäischen Wahlen. Falls Sie sich nicht entscheiden können, vertrauen Sie Ihrem individuellen Prognose-Assistent gleich neben den Empfangskonsolen. Und jetzt kommen wir zu einem wirklich spektakulären Kandidaten. Diese Partei hat es wirklich geschafft, den Super-Gau vorherzusagen. Scha­de nur, dass ihr Ausstiegsprogramm zu langfristig angelegt war. Begrüßen Sie mit mir die alte und neue Koalition aus den GRÜNEN und der ödp:

Ein Redner tritt auf die Bühne und verliest die Bekanntmachung der neuen Koalition, die sich ab jetzt die LILANEN nennen wolle, da sich auch die Natur erheblich verändert hätte und man mit der Zeit gehen müsse. Danach folgt eine modernistische Performance einer handvoll in buntem Rausch grunzender Juppies, die mit der Zeit langweilen. Der Meister der Unterhaltung geht dazwischen und treibt sie von der Bühne.

Aber genug. Sehen Sie, unser Hilfspersonal beginnt gerade, den Beitrag der Partei Bibeltreuer Christen zu verteilen. Eine in Recycle-Leder eingebundene Bibel für jeden Besucher unserer Show. Ist das nicht wahrhaft mildtätig? Da machen wir doch hier vorn auf der Bühne gleich mit der Christlichen Mitte weiter. Bitte schön:

Ein Reigen hippiesker Gestalten mit einigen Trommeln und Gitarren taumelt auf die Bühne und bildet einen Sitzkreis. Während das musikalische Wirrwarr immer weiter harmonisiert, verwandeln sich jene in Mittelständige und Kleinfabrikanten (Reißen sich Toupets herunter, drehen die grauen Innenseiten ihrer Jacken nach außen etc.). Als die Musik wie ein Ton, ein Fanal, im Raum steht, gehen sie gesenkten Hauptes ab.

„Für ein Europa nach Gottes Geboten.“ – Wie aufregend. Wie modern. Und im Vertrauen. Gegen kleine Parteispenden spricht man Sie sogar von Ihren Sünden frei. *Geräusche hinter dem Vorhang*

Was ist das? Kommen da schon? Hallo, kann mir mal jemand sagen …

Mit lautem Gebrüll stürzt eine Fraktion aus Freikorps der DP, BÜSOs und AUFBRUCH-Leuten auf die Bühne und jagt hinter der Solistin der FRAUEN hinter­her. Eine Rotte REPUBLIKANER und NPD-Anhängerinnen springt von ihren Sitzen im Publikum auf und brüllt bierlallend: Schützt die Frau! Schützt die Frau! Während von der anderen Seite sechs Schwangere der FAMILIEN-Partei sechs in ihren Stühlen wütende Rentner und Rentnerinnen der GRAUEN auffahren. Ein Spezialagent der DKP mit Spezialausbildung seilt sich im Tarnfleck von der Schein­wer­fer­traverse. Er springt auf die beleibte Frau zu und will sie mit einem Spezialgriff an der Hüfte packen und dann hinter die Rollstuhl­fahrerInnen-Phalanx schleudern. Die Frau jedoch bewegt sich keinen Millimeter. Während der Agent mit diversen anderen Griffen versucht, die massive Stellung doch noch auszuhebeln, merkt er nicht, wie zwei Kader der PDS direkt neben ihn beamen. Er wird überwältigt und re­nationalisiert. Die Szene beruhigt sich gerade, als eine Schar junger pausbackiger Rotzlöffel lauthals trällernd auf die Bühne tritt. „GEGEN ZUWANDERUNG INS ‚SOZIALE NETZ’“ singen sie und die AKTION UNABHÄNGIGE KANDIDATEN gibt, spontan berührt, jeden Anspruch auf Wahlteilnahme auf. Chaotische Bilder spielen sich jetzt ab. Der ganze Bunker brodelt. Plötzlich knallen Schüsse. Rotuniformierte mit blauen Helmen von der SPD laufen überall auf und gehen zwischen die Men­schen­trauben. Aus einem der Hauptlaut­sprecher tönt die greise Stimme eines Regie­rungs­funktionärs, der sich niemals die Haare färbt: „Hier spricht die durch Wahlen legitimierte Regierung der Bunkerverwaltung. Halten Sie Ordnung. Den Anweisungen der Exekutivkräfte ist Folge zu leisten. Dies ist ein friedenssichernder Einsatz. Verhalten Sie sich ruhig.“ Nachdem die Ordnung wieder hergestellt scheint, wird ein Pult auf die Bühne getragen und ein aalglatter Typ im Nadelstreifenanzug beginnt eine Predigt auf den freien Markt und über diverse Einschnitte bei der Wasserversorgung, den Ausgangszeiten und der Lebensmittelverteilung. Auf seinem Revers blinkt ein schmales, gelbes Schild mit drei Buchstaben: FDP. Die Versammlung zerstreut sich. Als der Meister der Unterhaltung schließlich alleine bleibt, putzt er sich die letzte Frustträne vom Gesicht und moderiert, trotzig aber durch und durch Profi, „VOTE“ noch ab.

Wieder ist ein unvergleichlicher Wahl­abend zu Ende gegangen. Wen interessieren schon die Kandidaten?! Wen die Ergebnisse bei soviel Unterhaltung auf höchstem Niveau! „VOTE“ meldet sich bald wieder. Aus den Bunkersystemen Amerikas oder den Festungen des Russischen Reichs. „VOTE“ kennt keine Grenzen. Und eins ist sicher. Sie werden es sehen!

Was bleibt also nach dem ganzen Chaos? Die Europäer haben letztlich den gleichen Bunkerkoller wie wir alle, nicht wahr?

Der Meister der Unterhaltung geht melancholisch singend und leicht irr ab:

Bunker-Koller jeah-jeah Bun­ker­­koller jeah, jippie, jippie jeah … BUUUNKER­KOOOLLER …! …! … !!!“

clov

Wahlen

Soldaten sind Gärtner?

Eines morgens erreichte die bestürzte Feierabend!-Redax eine wütende Postkarte: Abo-Kündigung! Und alles wegen einer ‘harmlosen’ Überschrift: „Mörder zum Anfassen“, FA!#13, S.1.

Gemeint waren wahrscheinlich die uniformierten Damen und Herren der Bundeswehr-Show „Heer on tour“, die in dem Artikel auch sonst nicht besonders gut wegkommen. Die Begründung der Kündigung klingt genial: „Nicht alle Soldaten werden zum Töten ausgebildet, schon garnicht in unserem Land.“ Gut zu wissen, dachte sich die Redaktion, dann gibt es also doch keinen qualitativen Unterschied zwischen Soldaten und, sagen wir, Gärtnern? Beide machen ja nur ihren Job für die Gemeinschaft. Aber muss mensch denn wegen einer philosophischen Kontroverse gleich zum finalen Mittel (Kündigung) greifen?? Es ist wohl am besten, an dieser Stelle noch­mal laut über einen der einfachsten und gleichzeitig umstrittensten Vergleiche nachzudenken.

Als Kurt Tucholsky 1919 sein populäres Zitat „Soldaten sind Mörder“ auf einer Antikriegs-Kundgebung in die Welt setzte, war es eine Antwort. Eine Antwort auf die Frage, wie das millionenfache Morden der Jahre 1914-18 denn zustandekommen konnte. Schuld war nicht ein „Volk“, ein Kaiser, ein Generalstab. Schuld war das System der kapitalistisch-nationalen Kriegsmaschinerie, soviel stand für damalige Antimilitaristen fest. Und doch braucht ein Mord immer einen Mörder. Was liegt also näher, als die Schuldigen in den ausführenden Organen der „Maschine“, also in den Soldaten, vom General zur Rekrutin, zu suchen? Massenhaftes Sterben von Menschen im Krieg entsteht ja nicht nebenbei durch ein System, sondern durch Menschen, die Waffen zum Töten anderer Menschen bedienen. Und dazu werden Soldaten zielgerichtet ausgebildet.

Was Soldaten von Mördern unterscheidet, ist ihr fehlendes, individuelles Motiv, diesen oder jenen Menschen umzulegen. „Sorry, war nicht persönlich…“ Soldaten handeln grundsätzlich unter „Befehlsnotstand“. Ein Begriff, der Prozesse gegen Kriegverbrecher aller Art nahezu unmöglich macht. Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl. Da kann man nix machen. Menschen die während der Ausführung einer staatlichen Maßnahme (Krieg) ums Leben kommen, fallen unter die Vollstreckung des staatlichen Gewaltmonopols, das die Vernichtung menschlichen Lebens in Kauf nimmt oder bewusst plant. Innerhalb einer solchen Maßnahme als Soldat zu töten, kann juristisch also kein Mord sein.

Bleibt jedoch der Unterschied zwischen individueller und kollektiver Motivation. Bei ersteren entscheiden Juristen zwischen Gründen wie Notwehr oder wechselseitigen Gewalttätigkeiten, die irgendwann zur Tötung führen, und „niederen Beweggründen“, wie Habgier, Eifersucht, Sexualmorden. Anders beim Soldaten, in dessen Rücken ein autoritäres Kollektiv („Staat“) steht, in dessen ideologischem Auftrag er handelt und das seine Gemetzel an der „Front“ legitimiert. Hier ist das Gewaltmonopol des Staates Grund genug, das systematische Töten nicht mehr zu hinterfragen. Mörder und Soldaten zu trennen liegt also in der Logik von Institutionen, die eben dieses Monopol an Gewalt verteidigen.

Wie immer mensch aber zum Gewaltmonopol steht – genügend Studien belegen den Zusammenhang von berufsmäßigem Töten von „Feinden“ und der anschließenden Tendenz der Soldaten, Morde (diesmal illegal) aus „niederen Beweggründen“ zu begehen. Die Grenze zwischen Mörder und Soldat lässt sich auch für MilitaristInnen im Krieg immer schwieriger ziehen. Übrig bleibt am Ende nur Gewalt.

Dass in diesem Kontext die Behauptung, „Nicht alle Soldaten werden zum Töten aus­gebildet, schon gar nicht in unserem Land“ ein Feigenblatt ist, scheint klar zu sein. Sie folgt der Tendenz, Morden im Namen des eigenen Kollektivs als nicht weiter schlimm zu betrachten. Letztlich ist das delegiertes Töten mit dem Vorsatz, dafür nicht die Verantwortung übernehmen zu wollen. Und den Dreck räumen die Soldaten weg. Deren physische wie psy­chische Verstümmelung wird da­­bei noch billigend in Kauf genommen. Nach dem Motto: „Die kriegen ja fette Pensionen!“ Doch die Wirklichkeit im Arbeitsleben eines Soldaten sieht anders aus: Drill, Erniedrigung und geringer und ausbleibender Sold gehören fast überall auf der Welt zu den Machtinstrumenten der Offiziere. Die Existenz einer moralisch überlegenen „Nation“ und die Eingliederung in eine militärische Befehlskette scheinen für den Menschen hinter der Waffe also ein guter Grund zum Töten zu sein. Und wem das nicht reicht, der spürt den Stiefel!

Unserer Meinung nach genug Argumente, sich gegen eine wie auch immer getünchte Kriegsmaschine zu wenden. Der Satz „Soldaten sind Mörder“ appelliert an den autonomen Verstand der Uniformierten, sich nicht länger das Gehirn vernebeln zu lassen. Nur, wenn Mörder nicht glauben, Mörder zu sein, ist morden für sie einfach. In diesem Sinne: Tucholsky hat recht! – Soldaten sind keine Gärtner!

soja, clov, A.E.

Leseecke

Ein regnerischer heißer Mai

Die Revolte von Melfi und die Mobilisierung bei der Alitalia

Wir haben Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen Gebieten und in zurückgebliebenen Gebieten erlebt: Das Interessante dabei ist, dass die Arbeiterkämpfe in fortgeschrittenen und in zurückgebliebenen Gebieten sich sehr oft gleichen, d.h. dass sie eben tendenziell – und sei es auch nur über gewerkschaftliche Inhalte – das Gesamtverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapital sichtbar machen.“

(Raniero Panzieri “Lotte operaie nello sviluppo capitalistico”, März 1962)

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben zum Ende der alten Arbeiterklasse, Ende der Zentralität des Großbetriebs, Dezentralisierung der Produktion, Auslagerungen, Veränderungen im Arbeitsrecht usw.. Als roter Faden zog sich durch diese, mittlerweile Allgemeingut gewordenen, Überlegungen die Überzeugung, auch der Arbeitskampf bzw. der Klassenkampf sei überholt. In der “postindustriellen” Produktion habe sich die Arbeiterklasse aufgelöst und könne höchstens noch als Verbund von Interessengruppen im “Ver­teilungs­konflikt” agieren.

Man könnte das Thema abhaken mit dem alten Witz von dem Arbeiter, dem jemand erzählt, der Klassenkampf sei vorbei, und der antwortet: “Habt ihr auch den Unternehmern Bescheid gesagt?”

Die soziale Frage wird natürlich nicht in den Medien gelöst. Darüber hinaus sollten wir aber daran erinnern, dass die Bewegung der ArbeiterInnen keine mechanische Antwort auf den Druck auf sie durch Staat und Kapital ist, sondern das Ergebnis einer individuellen und kollektiven Verarbeitung der proletarischen Erfahrung, bei der die ArbeiterInnen die Umbrüche der Gegenwart (teilweise echte Para­digmenwechsel hinsichtlich Produktion und Gesellschaft) zu den Erfahrungen der Vergangenheit in Beziehung setzen.

In Melfi (Basilikata) fand seit zehn Jahren der erste große Kampf von Industrie­arbeiter­Innen in Italien statt, der nicht nur auf Entlassungen oder den allgemeinen Sozialabbau reagierte. Sata (so heißt das Fiat-Werk in Melfi) wurde bei seiner Einweihung vor zehn Jahren als post­fordis­tische Modellfabrik vorgestelltt. Noch vor der Einstellung der ersten ArbeiterInnen wurde ein Tarifvertrag “auf der grünen Wiese” abgeschlossen, von einer Gewerkschaft, die sozialpartner­schaft­lich zu nennen noch eine Beschönigung wäre. Es gab massive staatliche Subventionen, eine „toyotistische“ Arbeitsorganisation, die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in 21 Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nachbarschaft usw.. Melfi sollte Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen im ganzen Fiat-Konzern ausüben (tatsächlich waren schon vor der „Melfisierung Fiats“ die einzelnen Standorte systematisch gegeneinander ausgespielt worden).

Melfi startete von Anfang an mit einer sehr hohen Fluktuation. Die Disziplin wurde mit drakonischen Strafen durchgesetzt. Die ArbeiterInnen (darunter auch zehn Prozent Frauen, eine absolute Neuheit im Fiat-Konzern) verdienten weniger als in anderen Fiat-Werken und hatten deutlich brutalere Schichten, um das Werk 6 mal 24 Stunden am Laufen zu halten. Mitte April 2004 traten die ArbeiterInnen in Streik gegen diese Bedingungen. Nach zehn Tagen Streik hatte Fiat Produktionseinbußen von 16 300 Fahrzeugen (allein in Melfi werden am Tag bis zu 1200 Fiat Punto und Lancia Y montiert und Bleche für andere Fiat-Werke hergestellt), und 95% der italienischen Autoproduktion stand still. Am 26. April griffen die Bullen sehr hart die Streikposten an. Es gab mehrere Schwerverletzte. Daraufhin rief die FIOM* zu einem landesweiten Generalstreik am 28. April auf, der massenhaft befolgt wurde.

Kämpfe, die von zugespitzten Punkten des gesellschaftlichen Widerspruchs ausgehen, bekommen meist eine rasante Dynamik. So auch in Melfi: Sehr schnell haben die ArbeiterInnen zwei präzise Ziele auf die Tagesordnung gesetzt. Die Angleichung der Löhne an die der anderen Arbeiter­Innen im Konzern und die Überwindung einer mörderischen Arbeitsorganisation.

Sie haben außerordentlich hart und entschlossen gekämpft und damit faktisch den Betriebsrat (in dem FIM*, UILM* und FISMIC* die Mehrheit haben) ausgehebelt, der die bisherige Passivität der Belegschaft recht gut widerspiegelte. Aber sie haben nicht nur die Gewerkschaft in Frage gestellt, sondern auch die Anfälligkeit der Just-in-Time-Arbeitsorganisation für sich ausgenutzt. Da die „integrierte Fabrik“ keine Puffer hat, ist sie darauf angewiesen, dass der Produktionszyklus, an dem verschiedene Werke und Unternehmen beteiligt sind, wie am Schnürchen funktioniert. Die ArbeiterInnen haben den Zersetzungsprozess der alten fordis­tischen Fabrik, mit dem ihre Verhand­lungsmacht geschwächt werden sollte, gegen die Unternehmer gewendet und klargemacht, dass auch in der postfordis­tischen Fabrik gekämpft werden kann.

Dem Streik bei Fiat in Melfi gingen im letzten Sommer Mobilisierungen gegen Atommülldeponien voraus: Große Menschenmassen hatten sich an Straßenblockaden beteiligt und ganz Lukanien blockiert. Dabei handelte es sich natürlich um eine klassenübergreifende Volksbewegung, aber sie zeigte sehr deutlich, dass man mit direkten Aktionen gesellschaftlich etwas durchsetzen kann. Bereits im Winter 2002/2003 waren in den Auseinandersetzungen um die Kurzarbeit bei Fiat Straßenblockaden zum Massenphänomen geworden. Auch wenn dieser Kampf mit einer klaren Niederlage zu Ende ging, hinterließ er ein eindeutiges Zeichen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die wilden Streiks der Busfahrer und des Flug­hafenpersonals im Winter 2003/2004 stellten dann einen Quali­täts­sprung dar, weil sie von Blockaden von außen zu Aktionen im Produktionsprozess selbst übergingen.

Alitalia

Der Kampf gegen die Entlassungen bei der Alitalia war so gesehen “klassischer”, aber vor diesem Hintergrund nicht weniger interessant: Straßensperren, wilde Streiks, Druck von unten auf institutionelle Gewerkschaften, zunehmende Verwurzelung der Alternativgewerkschaften haben sich miteinander verflochten.

Zunächst haben Regierung und Unternehmen versucht, den Widerstand der Alitalia-ArbeiterInnen damit abzutun, diese hätten die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten »nicht begriffen«. Damit kamen sie aber nicht lange durch, und mußten über ernsthafte Dinge sprechen, nämlich darüber, dass auch die als überflüssig an den Rand Gedrängten das Recht auf ein Einkommen haben. Danach versuchte Alitalia die klassische “spalterische” Schiene: Ein Großteil des Unternehmens sollte an Zulieferfirmen ausgelagert werden – mit den üblichen Folgen für Löhne, Arbeitsbedingungen und Sicherheit der Jobs.

Auch bei diesem Kampf war am wichtigsten, dass die ArbeiterInnen selbst aktiv geworden sind und dabei Aktionsformen benutzt haben, die sich gerade verallgemeinern. Die ArbeiterInnen scheinen sehr gut begriffen zu haben, dass die Auseinandersetzung so geführt werden muss, dass man den Gegner hart trifft und gleichzeitig den Kampf öffentlich vermittelt, weil man sonst gar nichts erreicht.

Abschluß bei Melfi?

Nach 20 Tagen Kampf und etwa 35.000 nicht produzierten Autos (mehr als 1,5% der Fiat-Jahresproduktion) haben FIM*, FIOM*, UILM*, FISMIC* und UGL* eine Einigung mit Fiat erreicht, und der Arbeitskampf wurde zunächst beendet. In Rom wurden die Verhandlungen in der Schlussphase von den nationalen Vorständen der Gewerkschaften geführt, die damit wieder gemeinsam aufgetreten sind, nachdem das Tischtuch kurz vorher noch endgültig zerschnitten schien.

Wenn ein Abschluss aber sowohl von Gianni Alemanno von der postfaschis­tischen Regierungspartei Alleanza Nazio­nale, der das Abkommen als “großen Sieg der Arbeiter des Mezzogiorno” einschätzt, als auch von Rifondazione-Comunista-Chef Fausto Bertinotti begrüßt wird, dann ist er entweder wirklich gut, oder alle beteiligten Institutionen hatten ihn bitter nötig.

Kritik kam von Giorgio Santini, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft CISL*, die wie UIL* und FISMIC* gegen die Blockade von Sata war: “Es ist das eine, eine regierbare Fabrik zu haben, und etwas anderes, zu entdecken, dass die Fabrik unregierbar ist. (…) Ich fürchte, dass das Projekt Melfi jetzt auch von Fiat anders gesehen werden könnte.” (Corriere della Sera, 10. Mai 2004).

Der zwölfseitige Abschluss lässt sich ungefähr so zusammenfassen:

1. Ab Juli wird der sogenannte Doppel­klop­per, d.h. zwei Wochen Nachtschicht in Folge, abgeschafft. Es wird eine 6-Tage-Woche und eine 4-Tage-Woche mit zwei aufeinander folgenden Ruhetagen geben. Gleichzeitig wird die Arbeitszeit von 7:15 Stunden auf 7:30 Stunden verlängert. Die zusätzlichen 15 Minuten ergeben dann 7 zusätzliche arbeitsfreie Tage. Die Nacht­schicht­zulage wird bis Juli 2006 von 45 auf 60,5 Prozent (wie in den anderen Werken) erhöht.

Die ArbeiterInnen haben viel erreicht, aber Samstags- und Sonntagsarbeit und die nur 30-minütige Mittagspause bleiben.

2. Die Löhne der ArbeiterInnen in Melfi werden erst nach und nach an die der anderen Fiat-Beschäftigten angeglichen (die Hälfte der Angleichung kommt ab Juli 2004, ein weiteres Viertel im Juli 2005 und der Rest ab Juli 2006). Das hätte sofort geschehen müssen.

3. Ein weiterer Auslöser des Streiks war das harte Fabrikregime: Im Laufe von 10 Jahren hatte es 7.000 Disziplinarmaßnahmen (Suspendierungen und Lohnabzüge) gegeben. Nun wird eine “Versöhnungs- und Vorsorgekommission” eingerichtet, die die in den letzten 12 Monaten verhängten Sanktionen untersuchen soll.

Hier wird es wirklich heikel. Im Streik gab es nämlich extrem harte Auseinandersetzungen, und die Untersuchung der Disziplinarstrafen einer gemischten Kommission aus Unternehmern und Gewerkschaften zu überlassen, die zum großen Teil gegen den Kampf waren, ist letztlich selbstmörderisch. Dahinter steckt ganz klar der Versuch, die vom Kampf unter­grabene Macht der Unternehmer und Gewerkschaften wiederherzustellen, indem man auf Zeit spielt, auf den Rückgang der Mobilisierung setzt usw..

Wo stehen wir?

• Der Kampf von Melfi zeigt, dass eine starke und entschlossene Mobilisierung nötig ist, um etwas zu erreichen – und dass die ArbeiterInnen das vollkommen verstanden haben.

• Gerade die entschiedensten Feinde der Bewegung im Gewerkschaftslager haben den wesentlichen Punkt begriffen, wenn sie feststellen, dass die Fabrikdisziplin ernsthaft bedroht wurde und dass das bequeme Leben für die Abteilungsleiter und die Gewerkschaftsbürokraten zumindest vorläufig vorbei ist.

• Die ArbeiterInnen von Melfi haben alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte gezwungen, für oder gegen den Kampf Stellung zu nehmen. Sie haben im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes »Politik gemacht«, nämlich die Fragen, die uns alle angehen, in den Mittelpunkt gestellt.

• Von diesen Überlegungen müssen wir ausgehen, wenn wir das Abkommen beurteilen wollen, mit dem der Kampf jetzt beendet werden soll. Es wäre falsch, jetzt nur zu sagen: »Naja, es hätte noch mehr herauskommen können, aber Fiat musste nachgeben, und das ist schon ein außerordentliches Ergebnis«. Für Millionen von ArbeiterInnen war dieser Kampf ein ganz klares Zeichen, das mehr wert ist als tausend Reden, nämlich die Offensichtlichkeit der Tatsache, dass man sich nur mit Stärke durchsetzt.

• Last but not least haben die Arbeiter­Innen in Melfi gezeigt, dass sie den ganzen Produktionszyklus mobilisieren, Fiat und Zulieferfirmen jenseits von Eigentums- und Beschäftigungsverhältnissen vereinheitlichen und durch das Lahmlegen der Produktion an den strategischen Punkten die Flaschenhälse des Zyklus selbst gegen die Unternehmer wenden können.

Die Rückkehr des Klassenkampfs

Wenn wir eine gesellschaftliche Klasse mit einem Konservativen wie Max Weber nicht als statisches Aggregat, sondern als eine Schicksalsgemeinschaft bzw. als menschliche Gruppe definieren, die aus Individuen besteht, die nicht ideologisch, sondern unmittelbar eine gemeinsame Zugehörigkeit empfinden, dann folgt daraus, dass das Selbstverständnis als Klasse ein Prozess, eine Errungenschaft, die Schaffung von sozialen Codices ist, die eben diese Gemeinschaft charakterisieren.

Dafür sind Kämpfe wesentlich, eben weil sie für die beteiligten Subjekte das Moment darstellen, in dem sie ihre Autonomie erproben und sich selbst als Subjekte und nicht nur als Rädchen der gesellschaftlichen Maschine wahrnehmen.

Es hat sich wieder herumgesprochen, daß diese Gesellschaft auf dem Konflikt basiert und dass man kämpfen muss um Verschlechterungen abzuwehren, oder – wie im Fall von Melfi – um etwas Besseres zu bekommen.

Cosimo Scarinzii

(Der Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus Wildcat Nr.70.)

Aus dem Institutionenzoo:

FIOM: Metallarbeitergewerkschaft der CGIL

FIM: Metallarbeitergewerkschaft der CISL

UILM: Metallarbeitergewerkschaft der UIL

CGIL: linker, d.h. Rifondazione und DS nahestehender Gewerkschaftsverband

CISL: katholischer Gewerkschaftsverband

UIL: rechtssozialdemokratischer Gewerkschaftsverband

FISMIC: klassische »gelbe« Betriebsgewerkschaft bei Fiat

UGL: Den Postfaschisten (Alleanza Nazionale) nahestehender Gewerkschaftsverband

Chronologie

18. April Zuerst streiken einige Zulieferbetriebe und dann sämtliche Auto­mobil­betriebe in San Nicola di Melfi, wo sich Fiats wichtigstes Werk in Italien befindet. Die wichtigsten 3 Ziele sind: Lohnerhöhungen (in Melfi wird 15 bis 20 Prozent weniger gezahlt als in anderen Fiat-Werken), weniger schwere Arbeitsorganisation, Strafsystem. Vor allem die FIOM, aber auch Slai Cobas, UGL und Cisal unterstützen den Streik. Die Mehr­heits­ge­werk­schaften (UILM, FIM und FISMIC) sind dagegen.

In den nächsten Tagen verschärft sich der Ton von Fiat und den geschäftsleitungsfreundlichen Gewerkschaften gegen die Streikposten, die angeblich die Arbeitswilligen am Betreten des Betriebs hindern.

24. April Kundgebung vor der Fiat Sata in Melfi. Die ArbeiterInnen vergewissern sich, dass die Streikposten stehen.

26. April Die Polizei greift die Streikposten an. Mehrere ArbeiterInnen werden verletzt. Regierungsvertreter sprechen der Polizei ihre Unterstützung aus. Zum ersten Mal seit etlichen Jahren gibt es eine direkte Auseinandersetzung zwischen Arbeiter­Innen und Polizei. CISL, UIL und FISMIC kritisieren die Polizei wegen “Exzessen”, vor allem aber die Streikenden.

28. April Italienweiter vierstündiger Streik (in der Basilicata acht Stunden) der MetallarbeiterInnen gegen die Polizeiübergriffe. Riesige Beteiligung von Arbei­ter­­Innen an der Demo in Melfi.

29. April Die FIOM reagiert auf den Druck und sagt zu, die Streikposten abzuziehen und sie in eine ständige Versammlung der streikenden ArbeiterInnen umzuwandeln. Hierbei geht es ganz klar um ein formelles Zugeständnis an FIM, UILM und FISMIC, denn die Arbei­ter­­Innen versperren den Streikbrecherbussen, die im übrigen halb leer sind, weiter den Weg.

4. Mai Demo in Rom. Aufgerufen haben die ständigen Versammlungen mit Unterstützung der FIOM. Interessant ist, wie drei Strukturen nebeneinander bestehen: die RSU, die überhaupt keine Rolle spielt, die Delegierten der Kampfkoordination, die zwar den Arbeitskampf führt, aber organisatorisch schwach ist, die FIOM, die der Bewegung freie Bahn lässt, aber Verhandlungen und Organisation in der Hand behält. (Für die FIOM war der Kampf in Melfi auch aus innerorga­nisa­torischen Gründen sehr wichtig: der FIOM-­Kongress steht vor der Tür und die CGIL unterstützt die rechte Minderheit in der FIOM.)

9. Mai Die Einigung wird unterschrieben, und zwar von einer provisorisch wiedervereinigten Gewerkschaftsfront. Die Slai Cobas, die einzige in Melfi wahrnehmbare alternative Gruppe, wird dabei natürlich ausgegrenzt.

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