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Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart

Ich traf mich mit den drei jungen Männern von der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“ im Freisitz vom Conne Island. Hinter uns wurde geskatet, nebenan Sportzigaretten geraucht. Nur hatte ich leider vergessen, mir selbst was zu trinken mitzunehmen und musste entsprechend tief in die Tasche greifen.

?: Ihr wart zuvor im Bündnis gegen den Krieg aktiv und habt nun euren Schwerpunkt auf Überwachung und Repression verlagert. Wie kam es dazu und was für einen Zusammenhang seht ihr zwischen diesen Themen?

A: Es gibt da eigentlich mehrere Linien, die uns dazu gebracht haben. Eine davon war das Dilemma des Bündnis gegen den Krieg, sich gegen Politiken zu wenden, die nicht im Einflussgebiet sind, sprich wenn man was gegen einen Krieg machen will, der in erster Linie von den USA und dem Irak geführt wird, dann hat man natürlich wenige Angriffsmöglichkeiten von Leipzig aus. Daraus sind Überlegungen entstanden, sich vor Ort „Sparring-Partners“ also Ansprechpartner für seine politischen Forderungen zu suchen. Zum anderen ging es auch darum zu zeigen, dass Gewalt und Militarisierung nicht nur Probleme der US-amerikanischen Außenpolitik sind, sondern auch im Alltag greifen. Und Leipzig ist bekannt für seine repressive Stadtpolitik durch das Pilotprojekt der Videoüberwachung. Deshalb wollten wir dort ansetzen. Aber wir beschäftigen uns aber auch noch mit anderen Phänomenen der Militarisierung der Gesellschaft, beispielsweise haben Mitstreiter des Bündnisses gegen Krieg zur 13. Panzerdivision recherchiert, wo in Leipzig, vor Ort, Auslandseinsätze vorbereitet werden.

B: Wir haben damals im Bündnis überlegt, auf welchen verschiedenen Ebenen es wichtig ist, sich mit dem Irak-Krieg oder eben den neuen Weltordnungskriegen auseinander zu setzen und wir haben unseren Schwerpunkt auf die spezifischen Veränderungen der Weltpolitik nach dem 11. September gesetzt und dazu gehört eben auch, dass dieses Datum eine Markierung für eine Welle von anti-freiheitlichen Gesetzen, Verschärfungen und Repression darstellt. Da besteht ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Kriegen und der Verschärfung der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit. Aber natürlich hat das auch mit persönlichem Interesse am Thema Überwachung zu tun.

?: Ist Kameraüberwachung eine Form von Gewalt?

A: Jein. Kameraüberwachung soll soziale Probleme nicht lösen, sondern unterdrücken und verdrängen. Das würde ich schon als Form von Gewalt bezeichnen, wenn auch nicht in erster Linie als „schmerzliche“ Gewalt…

B: Das kann schon schmerzlich sein, im Winter frieren zu müssen, wenn man sich sonst im Bahnhof aufgewärmt hat. Aber es ist schon eine andere Gewalt als beispielsweise Repression gegen Globalisierungskritiker.

C: Es ist auf jeden Fall strukturelle Gewalt und diese wird durch Kameraüberwachung insgesamt gefestigt.

A: Jedenfalls ist es eine repressive Ordnungsmaßnahme, die zeigt, wie eine Gesellschaft ihre BürgerInnen behandelt und ordnet.

?: Wollt ihr euch weiterhin auf Videoüberwachung konzentrieren?

B: Das war ein Einstieg, der in Leipzig Sinn macht wegen der Pionierrolle, die hier polizeilicher Videoüberwachung einnimmt. Außerdem sind das noch sichtbare, – nicht wirklich offene – aber sichtbare Veränderungen, die stattfinden. Deshalb haben wir damit angefangen und diesen Videoüberwachungs-Stadtplan erstellt. Jetzt geht es uns aber darum, dieses Phänomen in die Gesamtheit der Überwachungstechnologien und -praktiken einzubetten.

A: Videoüberwachung fällt den Leuten noch auf und sie sind sensibilisierbar, während Fragen der Rasterfahndung und der biometrischen Erfassung noch ziemlich unbekannt sind. Es ist viel schwieriger, diese abstrakten Phänomene zu vermitteln, und schließlich mit seiner Kritik gehört zu werden. Insofern war Videoüberwachung ein guter Aufhänger für eine Kritik an der Überwachungsgesellschaft.

B: Ich würde nicht den Begriff „Überwachungsgesellschaft“ verwenden, ich bin immer skeptisch, wenn irgendwelche „Gesellschaften“ ausgerufen werden. Überwachung ist eine Art, wie soziale Probleme und Krisen gedeckelt werden, aber sie ist nicht der Kern des Ganzen.

A: Jein. Ein weiteres Problem ist immerhin, dass ständig neue Technologien entstehen, wo noch keine Diskussion geführt wird, inwieweit diese einen Eingriff in das, was wir als Persönlichkeitsrechte wahrnehmen, mit sich bringen. Diese Technologien werden unser Leben und unser Verständnis von Privatheit auf jeden Fall verändern.

?: Womit wollt ihr dieses Thema Verbindung bringen?

A: Wir werden versuchen sichtbar zu machen, was in der Ordnung des Stadtraumes sonst noch wirkt, also Kontrollen von Polizei, privaten Sicherheitsdiensten, Bahnschutz und Ordnungsamt. Über Leipzig hinaus sind die neuen Pass- und Visabestimmungen von Bedeutung

B: Ich würde sagen, es gibt eine globale Entwicklung durch neue Bedrohungsszenarien, politische Konzepte und technische Möglichkeiten, die sich lokal aber dennoch unterschiedlich auswirken. Man muss die Rahmenbedingungen im Auge behalten aber trotzdem an konkreten Punkten ansetzen, wo man Widerstandsperspektiven hat.

?: Angesetzt habt ihr beispielsweise mit diesem Stadtrundgang zur Videoüberwachung. Was war da eure Intention und wie bewertet ihr ihn im Nachhinein?

B: Wir wollten verschiedene Mechanismen der Überwachung hautnah erlebbar machen, wie man gefilmt wird, überwacht wird und Datenspuren hinterlässt, Potentiale für Ausgrenzung und Repression aufzuzeigen aufzeigen. Da kann man auch legalistisch argumentieren, dass in die Grundrechte eingegriffen wird.

A: Diese Potentiale zur rassistischen und sozialen Ausgrenzung werden im Moment zwar wenig wahrgenommen, können aber in Zeiten ökonomischer und sonstiger Krisen schnell ausgeschöpft werden.

B: Zur Einschätzung: Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden, weil es eine Menge positiver Reaktionen gab und erstaunlich viel Medienpräsenz. Das merkt man an diesem Interview, aber auch im ND, der jungen Welt und der LVZ kamen Berichte, wobei wir bei der LVZ gar nicht zufrieden damit sind, was sie geschrieben haben. Aber wir haben es geschafft wahrgenommen zu werden und auch den vielen Lesern der LVZ klarzumachen: „Wir finden das total Scheiße, was da läuft“, das ist schon mal etwas. Wo ich gespalten bin, ist die Tatsache, dass wir bei vielen, die nicht von vornherein kritisch eingestellt waren, es nicht geschafft haben zu überzeugen. Da kam dann immer wieder das Argument: „Aber ich hab doch nichts zu verbergen, dann kann mir das doch egal sein.“ Da ist so ein Grundvertrauen, dass die gesammelten Daten schon nicht gegen einen verwendet werden.

A: Es ist auch viel erwartet, alle in zwei Stunden zu überzeugen. Aber die Stimme der Kritik wurde wahrgenommen und das kann auch einen Prozess des Nachdenkens in Gang bringen. Es lief jedenfalls besser als unsere Veranstaltungen im Vortrags-Format, wo kaum jemand kam. Diese Form scheint mir ein bisschen eingeschlafen zu sein. Es war gut, mal wieder die Kritik in die Stadt zu tragen.

C: Die Vorankündigungen in der LVZ und so waren ja auch offen gehalten, es war nicht klar, dass wir dagegen sind. Es war ein Stadtrundgang mit Information und dadurch konnten wir auch über die Szene hinaus Leute erreichen.

?: Ich habe mich gewundert, dass ihr euch eher positiv auf den Datenschutzbeauftragten bezogen habt, so mit: „Diese Polizeikamera ist nicht genehmigt, wir werfen hier jetzt einen Brief an den Datenschutzbeauftragten ein, und der bringt das dann in Ordnung“.

B: Nie!

A: Ich dementiere. Ich denke, dass der Datenschutz in Deutschland den Weg bereitet hat für Videoüberwachung, eben durch dieses Pilotprojekt, das der damalige, von uns nicht geliebte, sächsische Datenschutzbeauftragte Thomas Gießen genehmigt hat. Er hat später für einen Datenschützer noch eine seltsame Berühmtheit erlangt, als er nach dem Kofferfund im Dresdener Bahnhof mehr Videoüberwachung gefordert hat und kritisierte, das die Kameras nicht 24 Stunden am Tag aufzeichnen.

B: Zu dieser Eingabe, die wir gemacht haben: Ich denke, dass es wichtig ist, auf allen möglichen Ebenen, wo man was machen kann, das auch zu tun. Eine prinzipielle, radikale Kritik zu formulieren und trotzdem eine Eingabe an den Datenschutzbeauftragten zu machen ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Außerdem dachten wir, das wäre eine Handlung, die von den Medien gut transportiert werden kann und Leuten den Einstieg ins „Kritisch-Sein“ leichter macht.

?: Was habt ihr jetzt an weiteren Aktivitäten vor?

C: Also zunächst ist ein sechsteiliges Radioprojekt angedacht, wo wir mit Interviews und so verschiedene Aspekte dieses Themas näher beleuchten wollen.

B: Wir wollen am Beispiel einer Stadt mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigen, wer ausgegrenzt wird und was für Institutionen dabei welche Rolle spielen. Dann gibt es noch ein zweites Konzept, ein Workshop oder eine Podiumsdiskussion, die sich eher auf einer theoretischen Ebene mit den gegenwärtigen Entwicklungen auseinandersetzt. Was gibt es für neue Techniken, was für Anlässe und Vorwände für Repression auch gegen Linke und Globalisierungskritiker. Es soll um die Rahmenbedingungen gehen und um Perspektiven des Widerstandes. Aber beides, Radioprojekt und Workshop klappen nur, wenn sich noch Leute finden die sich beteiligen wollen.

?: Wie kann man euch unterstützen?

B: Man kann natürlich einfach bei uns mitmachen, am besten ist aber, wenn sich jemand für eins unserer Projekte interessiert. Es gibt da ganz konkrete Möglichkeiten: Man kann unsere Kamerakarten aufhängen, man kann für das Radioprojekt recherchieren oder auch selbstverantwortlich oder mit uns zusammen einen Beitrag machen.

A: Wir sind eigentlich für jede Form von Zusammenarbeit offen.

?: Ja, schön. Vielen Dank. Dann stoppen wir mal die Überwachung und ich mach das Tonband aus.

B: Oh, so haben wir das noch gar nicht gesehen…

maria

Kontakt: gflg@gmx.de
www.leipziger-kamera.cjb.net

Interview

STÖRfaktor Milbradt

Zum Pressegespräch „Campus-Neubau“ an der Universität Leipzig

[Montag, 09. August 2004, 15 Uhr. Pressegespräch im Hörsaalgebäude] Geschlossene Veranstaltung. Unileitung und Landesregierung haben eingeladen. Eine Pappmaché-Wüste ist aufgebaut. Ein kleines Buffet. Drei, vier Reihen Stühle. Nervöse Verwaltungangestellte laufen auf und ab. Dann der Auftritt. Grotesk! Milbradt und Rektor Häuser kommen über den Campus. Umringt von einem Schwarm Journalisten und einigen Personenschützern. Dahinter erschallt ein junger Stimmenchor und trällert eine Volkswaise. Der Uni-Chor? Welch Wahn! Aber nein! Es sind Handzettel verteilende BüSos (Bürgerrechtsbewegung Solidarität). Ich kann mir den Zusammenhang der Szene nur mit der Fliegen-Scheiße-Theorie erklären.

Aber was will ein CDU-Ministerpräsident in einer SPD-dominierten Stadt mitten im heißen August? Was an einer Universität, an der die aktive Studierendenschaft seit Jahren gegen seine Bildungspolitik und insbesondere auch gegen die Person des ‚Landesvaters‘ selbst opponiert? Mitten in der prüfungsintensivsten Zeit? Milbradt will sich profilieren! Kurz vor den Landtagswahlen am 19. September. Er weiß, die Volksparteien haben Legitimationsprobleme. Auch in Sachsen.

Das Kalkül ist dabei ganz einfach. Der von langer Hand geplante Neubau des Campus an der Universität Leipzig ist eines dieser typischen Bauprojekte, die man so ziemlich jedem als positive Eigenleistung verkaufen kann. Als Bildungsinvestitionen in die Zukunft, als Subvention in die örtliche Bauwirtschaft, direkt in Arbeitsplätze sozusagen, zudem die Eigenwirkung von solch‘ repräsentativen Bauten, sowas zieht quasi direkt Investitionen nach sich. Bei soviel persönlichem Einsatz sollte die Unileitung noch einmal überlegen, ob man nicht die Mensa Georg-Milbradt Mensa nennt oder die Kirche: Milbradt-Kirche.

Es geht alles ganz schnell. Die Aktion ist gut vorbereitet. Durch ein Hintertürchen hinein. Das Transparent ausgerollt. Warten. Milbradt redet. Und los! Mehr als ein Dutzend StudentInnen stürmen das Podium und unterbrechen die Rede. „Inhalte statt Fassaden!“ so die Forderung. Der Landesvater ist pikiert, versteht nichts: Das sei kein guter Stil, man tue doch soviel und hätte gar keine Pläne bezüglich der Studiengebührenproblematik, sei gesprächsbereit. Die StudentInnen wissen es besser. Da nützt auch die gebetsmühlenartige Wiederholung Milbradts nichts. Hier ist derzeit kein Reden möglich.

Die Störung der politischen Routinearbeit ist gelungen, die Presse für kurze Zeit aus ihrem sanften Schlummer aufgeweckt. Der Abzug läuft auch reibungslos. Zum Abschied gibts noch richtig auf die Ohren. Es ist eine Soundanlage vorbereitet, auf der ein Sample aus Baulärm und Phrasen Milbradts über den ganzen Campus schallt. Die StudentInnen sagen laut „Adieu“ und ahnen schon: Der wird wohl wiederkommen!

clov

Lokales

Leit(di)vision

Deutschland führt wieder Krieg…

…und in der „Friedenshauptstadt“ Leipzig sitzt die Einsatz-Zentrale für den Sommer 2004 (1).Um in der neuen Weltordnung mitmischen zu können, baut Deutschland seine Armee radikal um. Seit Jahren wird das Kernstück der neuen deutschen Großmachtambitionen geschaffen: eine mit modernsten Waffensystemen ausgerüstete, global einsatzfähige Interventionstruppe. Wichtiger Bestandteil der Umstrukturierung ist der Aufbau so genannter Leitdivisionen. Eine dieser Divisionen ist die 13. Panzergrenadierdivision mit Sitz in der Leipziger Olbricht-Kaserne. Dort, im Stadtteil Gohlis, werden die Kriege mit deutscher Beteiligung im Sommer und Herbst 2004 vorbereitet und angeleitet. Doch weder die radikale Linke, noch die Friedensbewegung scheren sich bisher sonderlich darum.

Am 15. Mai starteten die ersten 700 SoldatInnen von Leipzig nach Kabul – von der Stadt mit feierlichem Zeremoniell verabschiedet und von keinen KriegsgegnerInnen gestört. Dies wird sich in Zukunft öfter wiederholen, denn hier entstand im letzten Jahr für geschätzte 40 Millionen Euro eines von bundesweit fünf Schulungs- und Koordinierungszentren für Besatzungstruppen, ohne das deutsche Auslandseinsätze über längere Zeit nicht organisiert werden könnten. Da sich bei vergangenen Einsätzen gezeigt hat, dass die auf Blockkonfrontation geschulten deutschen Truppen Schwierigkeiten haben, mit den unübersichtlichen Gemengelagen in Bürgerkriegen umzugehen, werden den Leitdivisionen umfangreiche Schulungsaufgaben auferlegt. In Leipzig bzw. auf dem Truppenübungsplatz Altmark in Sachsen-Anhalt lernen Soldaten, wie man Hausdurchsuchungen durchführt, Demonstrationen auflöst und auch bei tropischer Hitze einen kühlen Kopf behält. Doch die Hauptaufgabe der Leitdivision besteht darin, die Truppe zu koordinieren und mit Personal zu bestücken.

Auslandseinsätze sind mit enormen Stress und Verschleiß der beteiligten SoldatInnen verbunden, weswegen diese halbjährlich ausgewechselt werden. Damit die Dauerrotation von Truppenteilen nicht zum Chaos führt, wurden die beteiligten Einheiten an zentralen Standorten zu Leitdivisionen zusammengefasst, die reihum das notwendige Besatzungspersonal stellen. Im Einzelnen sind das die Panzerdivisionen in Hannover, Düsseldorf und Sigmaringen sowie die Panzergrenadierdivisionen in Leipzig und Neubrandenburg. Von Leipzig aus werden SoldatInnen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern nach Afghanistan und auf den Balkan geschickt. Nach dem „humanitären“ Dienst wird die Truppe die nächsten zwei Jahre für kommende Einsätze geschult, bis die Funktion der Leitdivision wieder an die Pleiße wechselt.

Heute am Hindukusch und morgen in der ganzen Welt

Den Hintergrund dieser Einrichtungen bildet die Bundeswehrreform, die die internationalen Einsatzmöglichkeiten der bis dato noch auf Landesverteidigung ausgerichteten Bundeswehr effektivieren und ausweiten soll. Unter dem Motto „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt“ erfolgt deshalb seit Dezember 2002 die tiefgreifendste Umstrukturierung der Bundeswehr seit ihrer Gründung. Seit Mai 2003 ist dies in neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) verbindlich festgeschrieben: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren (…) stellt Deutschland (…) Streitkräfte bereit.“

Deutschland wird in den VPR v. a. als Opfer von Bedrohungen dargestellt, ebenso deutlich wird aber auch, dass es um Wirtschaftsinteressen geht, die militärisch durchgesetzt werden, denn: „die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen (…) Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen (…) zusätzlich verwundbar.“ Aus der Schlussfassung der VPR wurde zwar das im Entwurf enthaltene Präventivkriegskonzept gestrichen, die gewählte Formulierung lässt aber alle Interpretationen zu: „Die sicherheitspolitische Lage erfordert eine auf Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten zielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen umfasst.“

Die Bundeswehr ist diesen Anforderungen schon nachgekommen, die Reform ist in vollem Gange. 130.000 SoldatInnen sind insgesamt für Auslandseinsätze vorgesehen. Derzeit ist Deutschland mit 7.640 SoldatInnen der zweitgrößte Truppensteller nach den USA. Den Großteil stellt das Heer. Als Eingreifkräfte stehen eine Division für Luftbewegliche Operationen und die Division Spezielle Operationen bereit. Teil der letzten ist auch das Kommando Spezialkräfte, welches in Afghanistan erstmals ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. Die Leitdivisionen, z.Z. also Leipzig, dienen als so genannte Stabilisierungskräfte für längerfristige Einsätze.

Maulhelden? Nicht mal das!

Wie verhält man sich in Leipzig dazu? In der Stadt, die während des Irakkrieges zur Hauptstadt der Friedensbewegung gemacht wurde, herrscht beim Thema „Ausbau Leipzigs zur internationalen Interventionszentrale“ Desinteresse und Schweigen. Ein Großteil der „KriegsgegnerInnen“ sieht in den Stadtoberen die größten Friedensengel. So durfte OBM Tiefensee schon zu Beginn des Irakkriegs auf den Montagsdemos gegen die USA wettern und gleichzeitig das friedliebende Wesen der Stadt preisen. Währenddessen treibt Parteifreund Struck die Aufrüstung der Bundeswehr zur global einsatzfähigen Armee weiter voran. Tiefensee hat auch kein Problem damit, zur Olympiabewerbung und demnächst bei den anstehenden 15-Jahr-Feiern das Phantom der „friedlichen Revolution“ zu beschwören, während sich SoldatInnen in der Olbricht-Kaserne auf die nächsten Auslandseinsätze vorbereiten. In Leipzig stehen Militär und Stadtobere Seite an Seite. ‚Die Olbricht-Kaserne liegt nicht nur im Herzen der Stadt, sie liegt den Bürgern auch am Herzen“, chirurgt der OBM in der Leipziger Volkszeitung.

Doch auch linke Gruppen haben sich bisher kaum mit den Kriegsstrukturen vor ihrer Haustür auseinandergesetzt. Die Zusammenarbeit während des Irakkrieges überstand die inhaltlichen Differenzen nicht lange. Insbesondere über das strategische Verhältnis zur Friedensbewegung, zerbrach das recht breite Bündnis, welches linksradikale Anti-Kriegs-Arbeit leisten wollte. Die beiden Hauptorganisatoren waren das Bündnis gegen Krieg und das Bündnis gegen Rechts. Ersteres fiel unter anderem wegen der enttäuschten Hoffnung auf linke Intervention in die Friedensbewegung in Lethargie und scheiterte jüngst bei dem Versuch, eine Handvoll Leute zur Störung des ersten Truppenauszugs aus Leipzig zu mobilisieren, letzteres macht derzeit in Ideologiekritik und will „Die neue Heimat Europa verraten“. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird also die Bundeswehr in Leipzig beim Kriegführen auch weiter nicht gestört werden.

Matthias Bernt, Andreas March, Torsten Schleip und Peter Ullrich

(1) Dieser Artikel ist eine überarbeitete Variante von „Kriegerische Leitkultur“, jungle world Nr.31, 21.7.2004

Lokales

Editorial FA! #14

Wer hätte das gedacht…

 

…auch dieses Jahr ist Feierabend! im Sommerloch verschwunden und erscheint, etwas aus dem Rhythmus geraten, mit vier Wochen Verspätung. Klar, absehbar war’s … sich das im vorhinein aber einzugestehen, macht ja bloß die Sommerstimmung kaputt.

Vielfältig sind die Möglichkeiten des WorldWideWeb! Vielfältiger noch sind die Probleme, die mensch beim Online-Gehen hat! Nach einem guten Jahr ist Feierabend! nun wieder aktuell virtuell unterwegs auf: www.feierabend.net.tc. Dort können Artikel aus alten Ausgaben nachgelesen werden. Bald immer mehr.

Ausnahmesweise gestatten wir v.sc.d über seine heimlichen Gefühle zur linken Szene zu reden (siehe Seiten 20-25), auch wenn das einem Gutteil unserer LeserInnen Schnuppe sein sollte. Außerdem geht es im Heft um eine lustigere Gegenwart (Seiten 6-7) hier und in Brasilien, d.h. Ohne Sozialdemokratie (Seiten 9-11) und Kirche (Seiten 16-17).

Lazy dog heißt fauler Hund – und genau so heißt auch unsere VS des Monats. Anstelle des verflossenen Martha Focker gibt es nun seit Juli eine neue Wirtschaft in der alten Lokalität. Zähneknirschend mussten die neuen Betreiber Knebelverträge, die u.a. das Belassen von sperrigen Haustieren im Eingangsbereich und den Weiterverkauf von gewissen Zeitschriften enthalten, akzeptieren.

Albrecht Paluttke – Folge 3

Block-Schnäppchen

Puh – das wär’s. Jetzt noch den Krempel zur S-Bahn und dann geht’s ab. Früh um 5 is ja auch wirklich ne blöde Zeit um in Urlaub zu fahren, aber ich bin froh, daß wir überhaupt noch ´nen Flieger gekriegt haben. Bulgarienurlaub – Mann, wenn ich mir das früher nur vorgestellt hätte! Da hätt´ ich doch´n Jahr lang Sonderschichten schieben müssen. Heutzutage ist das ja der Billigurlaub schlechthin und dabei gar nicht mal schlecht. Ich krieg´ ja immer feuchte Augen, wenn ich seh´ wie da unten teilweise noch der Osten pur herrscht. Dass die das nicht aus Spaß machen, ist natürlich noch ne ganz andere Geschichte; da geht’s uns noch richtig gut, im Vergleich zu denen. Da würde sogar Dieter das Jammern vergehen. Aach, jetzt bloß nicht mehr an Dieter denken. Da kann ich ja gleich hier bleiben! Was mich das beschäftigt hat die letzte Zeit – und schlafen konnt ich auch wieder nicht! Alles fing an, als wir letzte Woche im Garten saßen. Ich hab ja gleich gemerkt, dass mit dem Dieter was nicht stimmt. Wenn man so lange zusammen den Leipziger Nahverkehr bedient hat, merkt man doch gleich, wenn einer was aufm Herzen hat. Nicht dass ihm das Bier nicht geschmeckt hätte – da war er wie immer Top in Form. Aber ziemlich abwesend und wortkarg halt, und trotzdem, als ob er mir irgendwas zu sagen hätte. Irgendwann als er dann seine Kippe im Geranientopf ausdrückte, ist mir der Geduldsfaden gerissen: „Mensch Dieter hör auf – die Rita macht mich doch rund! …und jetzt lass endlich mal die Katze aus´m Sack – was is´n heute mit dir los?!“

Na ja“, fing er an zu stammeln, „Palluttke, ich wollt´s dir ja schon lange mal erzählen, aber ich weiß ja gar nich´ wie ich’s dir erklären soll – du wirst das eh nich´ so gut finden. Ich kenn ja deine Meinung zu solchen Gegenden. Aber es gibt nun mal driftige Gründe… Na jedenfalls ziehen wir um! Natürlich in was Billigeres – was richtig Billiges. Inge und ich ham´s satt ständig immer nur mit so paar Kröten in der Tasche rumzuhängen und ab nächstes Jahr soll´s ja noch enger werden mit der Stütze. Natürlich sind wir dann nicht mehr in Stötteritz, sondern… in Grünau halt. So, jetzt isses raus Pallutke… jetzt kannste von mir denken, was de willst, aber wir geh´n demnächst in einen von diesen Billigblöcken, die erst abgerissen werden sollten und jetzt unsaniert angeboten werden.“

Ich dacht ja erst mir bricht der Gartenstuhl weg, (nun gut, die alten Alu-Teile sind zwar noch ausreichend, bei solchen Hiobsbotschaften, kann man aber mittlerweile schon mal kurz die Orientierung drin verlieren) „Mensch Dieter“, fing ich an zu stammeln, „doch nicht etwa diese ollen Blöcke, wo die LWB jetzt an sozial schwachen Leuten Kohle verdienen will, wenn nächstes Jahr mit dem Hartz IV, dieses Arbeitslosengeld 2 eingeführt wird. Da kommt doch nichts Gutes bei raus – das wird doch´n einziges Elends-Getto! …und da wollt ihr hin?“

Problemkind war er ja schon immer unser Dieter. Aber bei uns in der Brigade war das damals nie´n Thema; der Dieter der gehört zu uns, haben wir letztendlich immer gesagt, wenn´s mal wieder schlecht lief mit ihm. Irgendwie haben wir´s immer geschafft ihn mit durchzuschleifen und seine kleinen und großen Eskapaden zu deckeln. War ja auch sonst ´n feiner Kollege und irgendwie hat er´s ja fast immer wieder ausgebügelt. Klar war´n wir manchmal sauer, aber wer konnte dem schon lange böse sein? Wenn ich nur an Geschichten, wie Dieter als steppender Straßenbahn-Entertainer, denke… Der hat´s mal drauf gehabt, mitten in der Hauptverkehrszeit total besoffen die Fahrgäste mit Showeinlagen zu Klassikern aus dem Kofferradio zu unterhalten, anstatt die verdammte Bimmel endlich Richtung Taucha zu bewegen. War natürlich nicht so toll für den Fahrplan…, aber die Massen haben getobt und geklatscht und so mancher hat dabei seinen Alltagsstress vergessen und mitten im öden Feierabendtrott mal wieder ein Leuchten in die Augen gekriegt.

Ich meine, er hat sich ja nun ganz schön gefangen im Laufe der Jahre. Vor allem Inge hat da auch ´ne große Rolle gespielt. Aber von diesem schmalen Grat kurz vorm sozialen Absturz, da isser irgendwie nie ganz weggekommen. Die letzten Jahre, nachdem wir alten Säcke alle abgewickelt worden waren, ging’s ihnen dann wohl eh ´ne Weile nicht so gut, aber dass es schon so weit ist, hätt ich ja nun nicht gedacht. Und wenn gerade der jetzt noch in so ´ne Gegend kommt… Vor allem ist ja dann abzusehen, dass dann dort massenhaft richtig verkrachte Existenzen landen – da kriegt der doch gar nichts mehr auf die Reihe!

Ich hab ihm dann versucht klar zu machen, dass ich ja nicht grundsätzlich gegen Grünau bin. Klar, wer dort wohnen möchte – wäre ja auch blöd, wenn alle nach Stötteritz gehen würden. Aber ich weiß doch auch, dass er sich dort auf keinen Fall wohlfühlen würde und letztendlich werden ihm die paar gesparten Kröten wohl kaum sein vertrautes Umfeld ersetzen. Na ja, wir haben uns dann noch ziemlich lange unterhalten, was man sonst so machen könnte und auch paar gute Ideen gehabt. Irgendwie schien er dann schon bisschen erleichtert zu sein und hat mir dann versprochen noch mal drüber zu schlafen und auch mit Inge zu reden.

So, jetzt muss ich noch mal kucken, ob hier auch alles aus ist. Na ja, Olaf wird schon mal nach dem rechten schauen kommen. Der ist doch eh froh, wenn er die Bude mal für sich und seine „Revoluzzer-Freunde“ hat. Solange die hier alles wieder aufräumen… Bloß dass mir hinterher nicht noch mal irgendwelche komischen Kekse rumliegen und Rita kichert wieder die ganze Nacht.

Was? Nein nein, ich träume nicht rum. Klar hab ich die Pässe… und die Tickets auch, ja. Jawoll Rita – kann losgehen!

lydia

früh um 5 in stötteritz

Wie wollen wir leben?

Stellen wir uns diese Frage noch? Wer ist dieses Wir? Sind wir es, die betäubt durch Konsumwelten schweifen, erstickt von Regelwerken, sprachlos gegen die körperliche und psychische Gewalt? Sind wir es, die uns in der Masse ohnmächtig und isoliert fühlen? So nur dabei statt mittendrin. Hat dieses Wir den Jugendträumen abgeschworen, dem Schicksal sich anheim gestellt? Ist es durch Unterwerfung, Angst, Verzweiflung ausgeprägt? Spätestens im tristen Arbeitsleben wird dieses Wir real, der Zwangscharakter der Gesellschaft deutlich.

Wo sind nur Visionen? Wo die echten Utopien? Was bietet uns die Zukunft, mir und dir? Was verbirgt sich schließlich hinter jenem Wörtchen: Politik?

Das Fragen allein bleibt müßig, wenn nicht auch Taten folgen. Das ist trotz aller negativen Aspekte deutscher Wendezeit – trotz Volksgeheul und Bananenrausch – herhorzuheben: Daß nur Gemecker und Wählengehen zu wenig ist; daß Organisierung, Solidarität, Protest und Widerstand hingegen wichtig sind. Diese Erkenntnis pflanzt sich fort. Nicht nur auf Demos, aber auch … montags und dienstags, ‘89 und auch heute. Zuletzt: Der Widerspruch ist offensichtlich. Die einen Menschen auf der Straße, die anderen weit, weit weg und abgeschirmt. Das alles auch noch demokratisch nennen, da biegen sich die Balken des Begriffs von Politik. Wir schließlich müssen wissen, wie wir leben wollen. Darüber streiten, diskutieren und verhandeln. Die Frage nach dem Wir wird über jede gesellschaftliche Alternative entscheiden!

rezi

Kommentar

Multiplikatoren der Arbeit

Arbeit / Faulheit und Sozialisation in einer entmenschlichten Gesellschaft. Beobachtungen und Schlüsse aus dem Alltag

Kreislauf der Zurichtung

In Jahrhunderten kapitalistischer Produktionsweise hat sich der um seiner Arbeitskraft willen Ausgebeutete an den Zustand des Ausgebeutetseins gewöhnt. Früher mußte der kapitalistische Unternehmer noch Druck und Zwang ausüben, damit der Arbeiter respektive die Arbeiterin auch begreife, daß mensch pünktlich zur Arbeit zu kommen hat und Kranksein eine Sünde ist.

Inzwischen hat sich dieser direkte Zwang in eine alles durchdringende Arbeitsideologie transformiert, d.h. ein Großteil der Ausgebeuteten hat den Arbeitszwang integriert und scheinbar zu ihrem eigenen Anliegen gemacht. Die Folge davon ist, daß die meisten denken, sich für das Kranksein, den Müßiggang und das Ausschlafen, also für einen nicht normgerechten Lebensrhythmus, rechtfertigen zu müssen. Und daß nicht zuerst vor Behörden und Arbeitgebern, der letzten Kontrollinstanz, sondern vorher noch vor Nachbarn, Mitbewohnern, Verwandten und Bekannten. So tiefgreifend hat sich das Unterwerfungsverhältnis in uns sozialisiert, daß jemand der lange schläft mit Faulpelzwitzen traktiert und kranken Kollegen Simulantentum und Drückebergermentalität unterstellt wird. Diese Kontrolle zeichnet sich durch Subtilität aus, oft scheint sie nicht ernst gemeint. Hinter dem Witz verbirgt sich allerdings nicht selten ein (auch unbewußter) Neid, daß Andere etwas tun können, was einem selbst verwehrt bleibt: Wenn mensch selbst sich früh um halb sieben zur Arbeit, Schule oder Uni aus dem Bett quälen muß, soll das der Nachbar, der gemütlich (oder auch ungemütlich, wer weiß es?) bis um elf oder auch um drei pennt, gefälligst auch tun. Dabei ist die Unschuld des Anderen am eigenen Zwang egal. Man bestraft ihn für das eigene Leben, dafür, sich selbst freiwillig (wie sich gerne eingeredet wird) unter fremdes Diktat werfen zu müssen. Weil der Andere nichts weiter als die Projektionsfläche des Hasses auf Grund eigener unterdrückter Träume und Sehnsüchte darstellt, ist das sonstige Tun und Lassen der für faul Befundenen irrelevant. Um den Neid im Zaum zu halten, wird oft zum Hilfsmittel des Witzes oder der gespielten Empörung gegriffen.

Aus der Perspektive der Anderen ist das ganze nicht so witzig, vor allem (aber nicht nur dort) wenn es sich um willkürlich zusammengeworfene Arbeitsplatzkollektive handelt, die mittels Verleumdungen ihre Rang- und Hackordnung aushandeln (auch ein Ventil den Frust der institutionalisierten Unterordnung abzubauen). Ihnen wird ein schlechte Gewissen eingeredet: Es sei falsch länger oder zu anderen Zeiten als der Norm entsprechend zu schlafen, oder gar krank zu sein. Der Druck durch die dritte (Zwang in Arbeit, Uni und Schule, durch Staats- und Unternehmensstrukturen) und zweite Kontrollinstanz (soziales Umfeld) führt zur primären Instanz der Selbstzurichtung. Dem subtilen ideologischen Wirken des eigenen sozialen Umfeldes, ohne das der Mensch als soziales Wesen nicht leben kann, lässt sich viel weniger entgegensetzen als Staat und Unternehmen, da es nicht als fremd sondern als zu einem zugehörig empfunden wird. Kollegen, Bekannte und Verwandte werden so zu Multiplikatoren der eigenen Zurichtung. Bei diesem Prozess, der sich permanent und überall wiederholt, findet menschliche Sozialisation statt. Man fühlt sich dann schuldig, weil man zu lange schläft oder einen Tag länger krank ist als geplant. Man übernimmt die Zwänge und gibt sie als eigenen freien Willen aus. Hier schließt sich der Kreis.

Wie können wir ausbrechen?

Das Mindeste ist es sich die Muße beim Kranksein nicht nehmen zu lassen. Erstaunt denkt man, daß man erst krank werden muß, um die Gedanken frei zu bekommen von Zwängen, Forderungen und Selbstverpflichtungen. Alles wird abgesagt, alles wird gut? Wenn man nicht krank wäre! Denn sobald man wieder gesund ist, geht es zurück in die Tretmühle, bis man wieder krank wird. Absurd! Genauso sollte man sich das längere Schlafen nicht madig machen lassen. Witzemacher und Neidhammel sind entschieden in die Schranken zu weisen,die subtile Arbeitsideologie ist im Alltag zu bekämpfen. Wir haben ein Recht, das wir uns selbst geben, auf ein Leben ohne Fremd- und Selbstzurichtung zum Arbeitszwang. Und für dieses Recht können wir jeden Tag in unserem persönlichen Umfeld kämpfen, ohne dabei in Gruppen, Projekten oder Basisgewerkschaften organisiert zu sein. Eine Organisierung macht es allerdings weit einfacher, weil mensch dann einen positiven Rückhalt erfährt. Greifen wir aktiv in die Sozialisation unserer Mitmenschen ein, zugunsten von Muße und einem schönen Leben! Genau wie rechte Parolen bei Bekannten bekämpft werden müssen, müssen Versatzstücke der Arbeitsideologie problematisiert werden. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum wir uns an einen unreflektierten Arbeits- und Leistungsethos und ein schlechtes Leben gewöhnen sollten.

Der geschilderte ideologische Kreislauf am Beispiel von Arbeit und Faulheit ist das Haupthindernis einer Entwicklung hin zu einer selbstorganisierten, emanzipatorischen Gesellschaft. Eine Möglichkeit der Intervention wäre, emanzipatorische Inhalte zu anderen Menschen zu tragen und die überlieferten Gewißheiten in Frage stellen, d.h. aktiver Teil der Sozialisation werden. Es geht hier um nicht mehr und nicht weniger, als die selbstorganisierte Alternative denkbar zu machen. Dafür braucht es wiederum eine Kultur, keine vorgesetzte sondern selbstgestaltete. Mit Kultur ist nicht gemeint jeden Tag zwei Punkbands spielen zu lassen, Theaterstücke aufzuführen oder klassische Konzerte zu veranstalten, sondern vielmehr eine Kultur des Lebens, in dem es nicht als faul gilt, länger zu schlafen und in der lieber die eigenen Zwänge angegriffen werden als die Nachbarn. Eine Kultur, die sich offensichtlich und resolut von den Zwangsideologien der kapitalistischen Gesellschaft absetzt, soweit wie es möglich ist und die bestrebt ist, den Bereich dieser Möglichkeit auszuweiten.

Die janusköpfigen Besen

Den verselbständigten Arbeitsethos anzugreifen, wird auf längere Sicht natürlich nur dann erfolgreich sein, wenn die realen Zwangsverhältnisse genauso angegriffen werden. Sonst wird das Individuum permanent auf diese zurückgeworfen und der Arbeitsethos reproduziert sich von neuem. Dazu ein Beispiel um die Absurdität von Arbeit haben oder nicht haben deutlich zu machen. Stell Dir vor, Du fegst das Streikcafé an der Uni nach dessen Abbau. Das tust Du nicht nur für Dich, sondern auch für andere. Und ihr wechselt euch ab, also Du mußt nicht jedes Mal fegen. Am Anfang habt ihr nur einen Besen und Du brauchst dafür eine halbe Stunde. Nun bekommt ihr von den Leuten, die die Besen herstellen einen Größeren mit stabileren Borsten und braucht nur noch eine Viertelstunde. Was hältst Du davon? Ist es nicht toll jetzt eine Viertelstunde mehr Zeit zu haben für die schönen Dinge im Leben? Der gesunde Menschenverstand sagt uns also, daß es gut ist, die Arbeitszeit so kurz wie möglich zu halten. Nun bist Du gezwungen Deine Arbeitskraft an ein Unternehmen oder an den Staat zu verkaufen und beispielsweise eine Schule zu fegen. Nehmen wir an mit dem kleinen Besen braucht ihr 80 Stunden dafür, das heißt zehn Leute arbeiten daran die Schule sauber zu machen. Nun bekommt ihr die großen Besen und es wird nur noch 40 Stunden Arbeitszeit benötigt. Jede und jeder müßte nur noch vier Stunden arbeiten. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch anstatt sich zu freuen, jammern die Medien über den Arbeitsplatzabbau und die Regierung verspricht Sofortmaßnahmen zur Schaffung von Arbeit. Wo wir doch vorhin festgestellt haben, daß eher die Abschaffung von Arbeit anzustreben ist. Absurd!

Doch dem nicht genug – was passiert? Sechs Leute werden entlassen und die anderen vier müssen weiter acht Stunden arbeiten und zwar schneller! Anstatt für alle das Leben zu erleichtern werden die einen in Existenzangst gestürzt und die anderen müssen in der gleichen Zeit mehr arbeiten. Nur weil die Unternehmen die Gunst der Stunde nutzen, um mit der Umstellung auf neue Besen die Ausbeutungsrate der Verbliebenen zu erhöhen. Warum? Das Unternehmen handelt nicht nach dem Prinzip der Menschlichkeit und Bedürfnisbefriedigung, sondern danach, den eigenen Gewinn zu maximieren und zu expandieren. Die hauptsächliche Gewinnquelle ist die Ausbeutung der Arbeitskraft derer, die zum Verkauf derselben gezwungen sind, um überleben zu können. Nun können wir auch die Aufregung der Massenmedien verstehen. Da die Masse der Leute zur Existenzsicherung darauf angewiesen ist, mindestens acht Stunden zu arbeiten, erleben sie den Abbau der benötigten Arbeit als persönliche Bedrohung und reagieren darauf mit dem Ruf nach mehr Arbeit! Um überleben zu können, rufen die Ausgebeuteten nach ihrer Ausbeutung und beten die eigene Ausbeutung an. Nicht weil sie ausgebeutet werden wollen, sondern weil sie überleben wollen und keine Alternative kennen. Die Massenmedien übernehmen diesen Ruf, weil sie von den Massen gekauft werden, und bestätigen damit die, die noch unsicher waren. (1)

Dabei ist es doch schön, mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens zur Verfügung zu haben! Je weniger Arbeit, desto besser! Die beiden Szenarien – Fegen für sich und das soziale Umfeld vs. Fegen zum Geldverdienen bei einem Unternehmen – machen deutlich, daß die Abschaffung von Arbeit zu begrüßen und der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu bekämpfen ist. LASST DIE SOZIALISATION DER ZURICHTUNG ZUR SOZIALISATION DER EMANZIPATION WERDEN!

kater francis murr

(1) Die BILD-Zeitung als Prototyp des Massenmediums ist nicht umsonst Vorreiter beim Ruf nach mehr Arbeit.
Was heißt janusköpfig? Bild eines zweigesichtigen Mannes, Sinnbild des Zwiespalts, des Ja und Nein

Theorie & Praxis

Briefpakete aus Bologna!?

Anarchismus und bewaffneter Kampf in Italien

Als um die Jahreswende mehrere Briefpakete mit der Sprengkraft von Tischfeuerwerken in den Poststellen verschiedener EU-Institutionen eingehen, ist die Verbindung mit zwei brennenden Mülltonnen und einem präparierten Brief an die Privatadresse Romano Prodis schnell hergestellt. In der allgemeinen Presse werden die Konstrukte der italienischen Behörden kritiklos übernommen. Italienische AnarchistInnen sollen hinter der Briefserie stecken, organisiert, aber schwer zu kriegen, flexibel und dezentral. Die Regierung Berlusconi scheut sich nicht, Verbindungslinien von el Qaida bis zu attac, von den alten und neuen Roten Brigaden bis zu Europposition zu ziehen, um die europäische Öffentlichkeit auf die Gefährlichkeit der AnarchistInnen, insbesondere der italienischen und sardinischen, einzuschwören.

Und allen schlottern die Knie. Kaum eine/r fragt, was eigentlich das Interesse der Berlusconi-Regierung an einer derartigen Kampagne ist, wenige wagen den Blick in die italienische Geschichte – ich meine, was ist nicht alles allein in Bologna passiert! Nö, da latscht die Journaille lieber dpa-Meldungen aus, kommentiert die Phrasen der italienischen Politiker im Stile eines mode-moderierenden Sportreporters und ist dabei nicht mal in der Lage, die einfachsten Fakten zusammenzutragen. Aber auch in der kritischen und emanzipatorischen Presse werden weithin nur die eigenen Vorurteile bestärkt, alte Verschwörungstheorien gepflegt und letztlich kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung geführt. Da redet mensch vom Wiederaufleben der „Strategie der Spannung“ und den „bleiernen Jahren“ (s. unten). Als wenn Tischfeuerwerke mit Bombenanschlägen, Morde mit Ermittlungen zu verwechseln wären. Unbestritten, die italienische Regierung nutzt die Vorfälle, wo sie nur kann, ideologisch, politisch, strategisch. Ist deshalb alles fingiert? Vielleicht sind wirklich nur die brennenden Mülltonnen das Werk der bekennenden FAI. Auf dem zweiten Schreiben, das sich zeitlich nur noch auf das Briefpaket für Prodi beziehen läßt, ist ja nicht mal die Stellungnahme der ausführenden Gruppe (in Schablonenschrift s. Kasten) zu finden und damit fehlt der einzige direkte Bezug zu der Aktion. Ich glaube dennoch, die schriftliche Bekennung ist echt, wegen dem lokalen Bezug zu Bologna, dem spezifischen Milieu, der taktischen Wahl von Ziel und Mitteln, der Art und inhaltlichen Tiefe des Bekennungsschreibens, der historischen Kontinuitäten im bewaffneten Kampf Italiens und auch wegen der absichtlichen Abkürzungsverwechslung mit der „offiziellen“ Anarchistischen Föderation Italien (FAI.), die das angefügte PS ironisch entschuldigt (alle mit Kürzel erwähnten Gruppierungen sind auf S. 22 näher erläutert).

Die große Masse ahnt natürlich nichts von den Diskussionen, welche in unserem Lager geführt werden. Da sie keine andere Ansicht vernimmt als die Verleumdungen der Tagespresse ist sie auch der Ansicht, der Anarchismus sei nichts anderes als Mord und Bomben, Anarchisten seien eine Art von blutrünstigen Tieren, die von nichts als Mord und Zerstörung träumen.“ (1)

Errico Malatesta (1918)

Zweifel indes hege ich ebenfalls gegenüber der europäischen Dimension der ganzen Aktion. Der Zusammenhang mit den Briefpaketen an die EU-Institutionen ist weder zeitlich noch durch das BekennerInnenschreiben gedeckt. Mittel und Zielwahl sind anders. Niemand bekennt sich, weiterhin. Alles beruht auf den spärlichen Aussagen der italienischen Ermittlungsbehörden und verantwortlichen Minister, die außer der gleichen Bauweise der Pakete und dem Aufgabeort Bologna, außer der Behauptung von unbekannten personellen Verbindungen zu verschiedenen europakritischen Gruppen eigentlich nichts in der Hand haben. Wenn mensch dann noch bedenkt, daß die Briefpaketeserie schon ein günstiger Anlaß war, eine lang geplante europäische Antiterrorrunde unter italienischem Vorsitz durchzuführen, prompt die anarchistische Bewegung auf die Agenda zu setzen2 und dann eine Sondereinheit unter italienischer Führung zu bilden, die sich mit allgemeinen Ermittlungen gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa richtet. Das riecht förmlich nach einer politischen Strategie der italienischen Regierung und ihrer Helfershelfer, schmeckt zumindest mach einer Taktik, um dieses Gremium zu dominieren. Und ehrlich gesagt, wäre das auch keine historische Neuheit.

Wir konnten uns die Freude nicht vorenthalten, aktiv Kritik an dem ausgehenden italienischen Präsidentschaftssemester auszuüben …“

*FAI

Aber auch ohne die Reichweite der Aktion und eventuelle Einflußnahmen genau bestimmen zu können, erscheint es mir als richtig und wichtig, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bekennungsschreiben zu wagen, dessen zweiter Teil einen „offenen Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“ enthält. Eine Auseinandersetzung, die auch lohnt, weil sie Fragen der Organisierung, mit der nach dem bewaffneten und militanten Kampf, die anarchistische Idee der Revolution mit historischen wie aktuellen Taktiken zur Erreichung derselben verbindet. Ein Anfang liegt hier vor. Der spezifisch italienische Hintergrund mußte aus Platzmangel leider größtenteils in die Kästchen wandern, wie auch die zwei historischen Exkurse.

FAI. – Operation Santa Claus

So hat das bekennende Bündnis aus mehreren Gruppen den ersten Teil ihres Schreibens überschrieben. Titel der „ersten Kampfkampagne der Informellen Anarchistischen Föderation“ (alle folg. Zitate aus eben dem). Gegen wen sich diese Kampagne richtet, wird nach einer kurzen Analyse der Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union deutlich. Ihre Konsolidierung (Verfassungsvertrag) bedeute den Ausbau von Herrschaft und Macht, durch intensivierte Repression nach Innen (Sicherheitspolitik) wie Außen (Migrationspolitik). Eine weitere Stärkung der Zentralgewalten mit neuen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung anstelle der Zersetzung derselben (vgl. auch Feierabend! #10 S. 17 bzw. in diesem Heft S. 1/8). Als taktische Ziele jenes Kampfes gelten deshalb die verschiedenen Polizeien, das europäische Heer, das Haftsystem und die Bürokraten und PolitikerInnen, die diesen Institutionen das Überleben sichern. Eine Zielwahl, die sicher auch eng mit den historischen Erfahrungen der Gruppen insbesondere der spanischen wie italienischen C5 verknüpft ist. Dann erklären die BekennerInnen, daß die Aktionen in Technik, Zeit und Modalität so ausgerichtet sind, daß sie das „zu Schaden kommen“ Unschuldiger möglichst ausschließen. Sie betonen ihre Entschlossenheit, weiter gegen die „.Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Menschen über die Natur“ zu kämpfen, und enden mit der vorsichtigen Hoffnung, daß die „destruktive/konstruktive Spannung für eine bessere Welt“ auf den Straßen wächst. Angefügt ist – zumindest im ersten Brief an die Tageszeitung La Repubblica – ein kurzer Teil in Schablonenschrift, offenbar von der direkt ausführenden Gruppe handwerkliche Genossenschaft für Feuer und Ähnliches, die hierin Romano Prodi und seiner Familie ziemlich niveaulos droht, sich auf einige tote, anarchistische Aktivisten in Italien (allesamt durch Polizeigewalt Getötete) bezieht und letztlich Anarchie und FAI. hochleben läßt.

Unsere Mittel sind diejenigen, die uns die Umstände gestatten und aufzwingen. Gewiss möchten wir niemandem ein Haar krümmen; wir möchten gern alle Tränen trocknen, ohne eine vergießen zu lassen. Doch andrerseits müssen wir in dieser Welt, wie sie ist, kämpfen, wenn wir nicht unfruchtbare Träumer bleiben wollen.“ (4)

Errico Malatesta

Die Aktion (Kampagne), ob sie sich nun auf die zwei Mülltonnen für sich oder/und auf den präparierten Brief an Prodi beschränkt oder doch alle Briefpakete an die EU-Institutionen mit umfasst, ist sicher in der Tradition des bewaffneten Kampfes der außerparlamentarischen Strömungen in Italien zu sehen, eine Nähe, die das Schreiben auch an verschiedenen Stellen suggeriert. Nichtsdestotrotz läßt der Text die Wahl der Mittel prinzipiell offen, und nicht unberechtigt ist die Frage, inwieweit brennende Abfalltonnen und verschicktes Tischfeuerwerk überhaupt zum bewaffneten Kampf zu zählen wären. Auch wenn Analyse, Kritik und auch Ziel- und Mittelwahl durchaus anarchistischen Idealen folgen, zeigt doch gerade die Ermangelung solidarischer Bekundungen innerhalb und außerhalb von Italien, die tendenzielle Isolation der involvierten Gruppen und ihrer „Kampfkampagne“. Der Rechtfertigung über die Freiheit jedes/R Einzelnen, seiner/ihrer Empörung gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung im Hier und Jetzt Ausdruck zu verleihen, stehen dabei die Einvernahme durch die staatlichen Behörden (die darauf nur gewartet haben!) und die jetzt einsetzende Repression gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa entgegen. Mildernd bleibt da nur: Niemand kam bis jetzt ernstlich zu Schaden.

Wer wir sind. – FAI.

Nur ein dummer Bubenstreich, verübt von einer handvoll Leuten, die einmal zu oft in der Geschichte des italienischen Widerstandes geblättert haben? Nein. Gerade der zweite Teil des Schreibens, der „offene Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“, zeugt von einer tiefen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Fragen der Organisierung in idealistischer und historischer Dimension und kann so gesehen als kurze Programmatik verstanden werden. Während unter den Schlagwörtern ‚Föderation‘ und ‚Anarchistisch‘ weitestgehend Gemeinplätze der historisch anarchistischen Diskussion berührt werden – die freie Assoziation von Gruppen und Individuen in horizontalen Strukturen zum Zwecke der Auflösung von Staat und Kapital, die Wirksamkeit der „direkten Aktion“ und ihrer „Propaganda durch die Tat“ – bereitet doch gerade der informelle Charakter dieser Art der Organisation – ja auch im Bündnisnamen FAI. Ausschlaggebend – einige Kopfschmerzen. Informell – weil nicht demokratisch, ohne Delegierte, Komitees oder Plena samt ihren Organen, um das Entstehen von charismatischen WortführerInnen zu vermeiden. Informell – weil gestützt auf eine weitestgehend anonym geführte Debatte allein durch die Propaganda der Tat (+Bekennung und evtl. Kampagnenaufrufe). Informell – weil die Erfahrungen der Roten Brigaden gezeigt haben, wie angreifbar eine Organisationsform ist, die mit festen Strukturen aus dem Untergrund heraus agiert (Reguläre/ Irreguläre KämpferInnen). Informell – um der staatlichen Repression besser ausweichen zu können.

Nur die globale Revolution, nach anarchistischen Prinzipien, kann garantieren, dass Terrorismus auf den Platz verwiesen wird, der ihm innerhalb der menschlichen Zivilisation zukommt – in den Abfalleimer der autoritären Ideen.“ (4)

Falls der revolutionär anarchistische Ansatz geteilt wird, kann prinzipiell jede Gruppe oder Einzelperson unter Wahrung der Anonymität zur FAI. gehören, indem sie durch Aktionen „revolutionäre Solidarität“ übt mit Inhaftierten oder von staatlicher Willkür Betroffenen bzw. „revolutionäre Kampagnen“ startet, die nach dem Vorbild des vorliegenden Textes und der dazugehörigen Aktionen gestaltet sind. Kritik innerhalb der FAI. könne sich ebenfalls über „Aktionen/Communiqués konkretisieren“. Ganz nebenbei werden „Informationsinstrumente der Bewegung“ erwähnt, die ebenfalls an der Verbreitung von Theorie und Kritik mitwirkten. Informelle Gegenseitigkeit? Die Kulturfrage bleibt unbeantwortet.

Auch wenn ich viele organisatorische Bedenken der BekennerInnen der FAI. teile, ziehe ich doch den direkten Kontakt, das Gespräch, dem anonymen vor. Auch liegt mir, wie der sich distanzierenden Anarchistischen Förderation Italiens, der Transparenzgedanke näher als der der Informalität, jeder Repression zum Trotz. Und schließlich respektiere ich zwar die historische Dimension der bewaffneten Kämpfe in Italien, wie die prekäre Situation von politischen AktivistInnen speziell der italienischen, wage aber dennoch die Frage, ob nicht die ein oder andere Diskussion, so mancher kritische Gedanke, dazu beigetragen hätte, eine Aktion zu konzipieren, die in ihrer Art und schließlich auch in ihrer Zielwahl nicht so kläglich ausgefallen wäre, wie die „Operation Santa Claus“. Dabei müßte zuförderst geklärt werden, ob der bewaffnete Widerstand zum jetzigen Zeitpunkt und überhaupt ein Mittel darstellt, die Bevölkerungen für den Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse, für anarchistische Ideen und die Möglichkeit einer anderen Vergesellschaftung zu gewinnen. Sowohl durch die Propaganda der Tat als auch durch direkte Aktionen kann heute subversiv viel erreicht werden, wenn sie klug gesetzt und vermittelbar sind. Waffen und Konfrontationen dagegen, bleiben den Beweis ihrer dauerhaften Wirksamkeit in der Geschichte des weltweiten Kampfes gegen Staat und Kapital bis heute schuldig.

clov

*Die Übersetzung des BekennerInnenSchreibens unter: www.de.indymedia. org/2004/01/71608. shtml
Dementi der FAI unter: www.de.indymedia.org/2004/01/72208. shtml
Zu den alten und neuen Roten Brigaden: www.geocities.com/aufbaulist/Zeitung/Artikel_26/Nachrichten.htm oder antifa.unihannover.tripod.com/rote_Brigaden.html
Zur P2-Loge und Gladio: zoom.mediaweb.at/zoom_4596/italien.html
Zur parlamentarischen Geschichte Italiens ab 1989: www.uni-duisburg.de/AL/BASTA/b1-96-5.htm
Zur Strategie der Spannung: www. malmoe.org/artikel/top/494

(1) aus Errico Malatesta, „Anarchismus und Gewalt“ (1918), Edition Anares, 1987, www.Anares.org
(2) die gerade in Italien so manche Regierung unter Druck setzte, durch Militanz und ihren Rückhalt in der Bevölkerung
(3) zit. n. Hector Zoccoli, „Die Anarchie“, Kramer, Berlin 1976
(4) Anarchistisches Kollektiv „Slobodna Krajina“ (Banjaluka-Bosnia and Herzegovina) ab_useyu@yahoo.co.uk
(5) Max Nettlau, „Geschichte der Anarchie“, Bd. 3, Impuls Verl.

Was geschah? Chronik der Ereignisse:

SON 21.12.2003

Zwei Mülltonnen in der Nähe von Romano Prodis Familienhaus in Bologna gehen in Flammen auf.

DIE 23.12.2003

In der örtlichen Redaktion der Tageszeitung La Repubblica geht mit Poststempel CMP 21/12/2003 ein zweiteiliges BekennerInnenschreiben der FAI – Informelle anarchistische Föderation ein.

SAM 27.12.2003

Ein präparierter Brief geht in den Händen des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi mit einer Stichflamme in die Luft. Der auf Verdacht vorsichtige Prodi kann das an seine Frau adressierte Buchpaket noch rechtzeitig von sich schleudern. Leicht Verletzte: ein Möbelstück und ein Teppich.

SON 28.12.2003

Die FAI – Italienische Anarchistische Föderation dementiert jeden Zusammenhang mit dem BekennerInnen-Schreiben und den Briefen.

MON 29.12.2003

Mit Poststempel Bologna CMP 22/12/2003 trifft ein weiteres Schreiben der Informellen anarchistischen Föderation ein. Diesmal bei der mailändischen Redaktion der Tageszeitung Libero. Das Gleiche wie in Bologna, bloß ein Zusatz in Schablonenschrift fehlt. Ein entzündliches Briefpaket wird in der Poststelle der EZB abgefangen. Adressat: Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Niemand wurde verletzt.

In einer Einrichtung von Europol in Den Haag wird ein Brief entschärft. Adressat hier: Jürgen Storbeck, Chef der Polizeibehörde Europol. Verletzte: Niemand.

DIE 30.12.2003

Die EU-Agentur für grenzüberschreitende Kriminalität Eurojust in Den Haag erhält ebenfalls ein Briefpaket. Experten können es entschärfen, bevor es seine stichflammenartige Wirkung entfaltet.

MON 05.01.2004

Im Abstand weniger Stunden gehen zwei präparierte Briefe in Flammen auf. Einmal im Brüsseler Büro des deutschen EU-Parlamentariers Hans-Gert Pöttering (Europäische Volkspartei [EVP]) und zum anderen im Büro des britischen EU-Parlamentariers Gary Titley (Sozialdemokratische Partei Europa [SPE]) in Manchester. Verletzt wurde dabei niemand.

Ein drittes Briefpaket, das an den konservativen spanischen Abgeordneten Jose Ignacio Salafranca adressiert war, wurde im Europaparlament rechtzeitig abgefangen. Keine Verletzten. Am selben Tag treffen sich in Rom mehrere Anti-Terrorexperten aus europäischen Ländern. Die bereits seit längerem geplanten Runde steht unter der Leitung des italienischen Polizeichefs Gianni De Gennaro. Sie beschließen die Einrichtung einer „Sondereinheit zur Aufklärung anarchistisch aufständischer Gewalt“. Diese soll innerhalb von zwei Monaten das Phänomen untersuchen und die Ermittlungsergebnisse der verschiedenen Länder zusammenbringen. Geleitet wird die Ermittlungsgruppe vom Chef der italienischen Antiterroreinheit, Gianni Luperini.

Exkurs: Direkte Aktion

Aber der Kongress betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten in

den Organisationen das revolutionäre Element zu bilden und nur

jene Arten von ‚direkter Aktion‘ zu propagieren und zu unterstützen

(Streik, Boykott, Sabotage etc.), die in sich selbst einen

revolutionären Charakter im Sinne der sozialen Umgestaltung

tragen.“

Internationaler anarchistischer Kongreß in Amsterdam,

25.-31. August 1907

Diese taktische Bezeichnung ist innerhalb des revolutionären Syndikalismus bzw. Anarcho-Syndikalismus entstanden, der um die Jahrhundertwende durch das verstärkte politische Interesse und den wachsenden Organisierungsgrad der ArbeiterInnenbewegung vermehrt anarchistische Ideen in die Fabriken tragen konnte. Alle wesentlichen Elemente der „Propaganda durch die Tat“ kehren mit der „direkten Aktion“ wieder. Allerdings wurde heftig über das Ziel solcher Aktionen diskutiert, die sich in ihrer Reichweite auf einen einzelnen Arbeitskampf beschränkten. Wie revolutionär oder reformistisch konnten sie sein? Schließlich gab es unter den AnarchistInnen auch einige Skepsis darüber, inwieweit sich die anarcho-syndikalistische Bewegung vom Marxismus, den Gewerkschaften abheben könnte; nicht den Kampf einer Klasse zu führen, ihr gar zur Diktatur zu verhelfen.

Die Anarchisten betrachten die syndikalistische Bewegung und

den Generalstreik als mächtige Kampfmittel, aber nicht als Ersatz

der sozialen Revolution.“ Ebenda.

Die Spannungen zwischen Anarchismus und Syndikalismus haben viele Früchte getragen. Direkte Aktion – heißt seinen Arbeitsplatz als einen ausgezeichneten Raum politischer Aktion wahrzunehmen, heißt die unmittelbare, individuelle oder kollektive Intervention gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung an dem Ort, wo sie ursächlich beginnt, und mit dem Ziel jene Machtformen von Menschen über Menschen für immer zu beseitigen.

Propaganda durch die Tat…

Die italienische Förderation glaubt, daß die insurrektionelle [aufständische] Tat, die dazu bestimmt ist durch die Tat die sozialistischen Prinzipien zu verkünden, das allerwirksamste Propagandamittel ist, und das einzige, das ohne die Massen zu korrumpieren oder zu betrügen, bis zu den allertiefsten sozialen Schichten eindringen und die lebendigen Kräfte der Menschheit für den Kampf gewinnen kann, der von der Internationale geführt wird.“ (5)

Die ital. Delegierten Carlo Cafiero und Errico Malatesta auf einem internationalen Kongreß im Oktober 1876.

…bezeichnet eine spezifische Taktik der anarchistischen Bewegung, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jh. heftig diskutiert wurde. Sie zielt darauf ab, anarchistischen Ideen, der Aufklärung über die Verhältnisse und ihre Angreifbarkeit, der anarchistischen Gesellschaftlichkeit den Weg zu den Menschen zu bahnen. Und zwar nicht nur in Wort und Schrift, sondern durch die direkte Tat. Gemäß dem Ideal der Handlungsautonomie jedes/r Einzelnen und der Freiheit von Jedem, sich auch im Hier und Jetzt zur Wehr zu setzen, anstatt das individuelle oder kollektive Bedürfnis nach Revolte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertrösten. In der konventionellen Geschichte ist diese Taktik leider nur im bewaffneten Kampf aufgefallen (Attentate gegen Monarchie u. Polizei/Militär), während die ethische Dimension der tätigen Teilhabe am Anderen, der Versuch Freiräume zu erobern und zu schützen, die Selbstorganisierung und handgreifliche Solidarität, die wesentlich stärkeren Facetten „der Tat“ waren. Der Beschluß der IAA (Internationale ArbeiterInnen Assoziation) 1881 in London – er fußt auf den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre unter dem allgemeinen Eindruck des Erstarkens der ArbeiterInnenbewegung und der zunehmenden Repression durch die Behörden – bringt die taktische Diskussion zu einem vorläufigen Ende:

In Erwägung, daß die IAA. es für notwendig erkannt hat, der mündlichen und schriftlichen Propaganda die Propaganda durch die Tat anzuschließen, in fernerer Erwägung, daß die Zeit eines allgemeinen Ausbruchs nicht fern ist und daß die revolutionären Elemente aller Länder berufen sein werden all ihre Aktionskraft zu entfalten, spricht der Kongreß den Wunsch aus, daß die sich der IAA. anschließenden Organisationen folgende Vorschläge beachten: Es ist von strikter Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, durch Taten die revolutionäre Idee und den Geist der Empörung in dem Teil der Volksmassen zu propagieren, der sich noch abseits von der Bewegung befindet und Illusionen über die Legalität und die Wirksamkeit der legalen Mittel hegt.“ (5)

Exkurs: Strategie der Spannung…

Die Rechten stellen sich selbst in den Dienst des Staatsapparates, in dem sie eine Strategie unterstützen, die man als Strategie der Spannung bezeichnet. Dreißig Jahre lang bis in die achtziger Jahre wurde die Bevölkerung absichtlich in Unruhe und Angst vor einem Ausnahmezustand gehalten. Bis sie bereit war, einen Teil ihrer persönlichen Rechte im Austausch für größere Sicherheit aufzugeben, für die alltägliche Sicherheit, die Straße entlang zu gehen, mit der Bahn oder dem Flugzeug zu reisen, in eine Bank zu gehen. Die Menschen in diese Haltung zu zwingen, das ist die Logik, die hinter den Verbrechen steckt. Und da der Staat dahinter steht, der sich nicht selbst belasten wird, werden diese Verbrechen unaufgeklärt bleiben.“

Vincenzo Vinciguerra, wegen der Morde von Peteano 1972 zu lebenslanger Haft verurteilter Neofaschist und Gladiator.

…bezeichnet eine Taktik, die in den Siebzigern von faschistischen und neofaschistischen Zellen (MSI u.a.) im Umfeld der Gladio-Strukturen, unter Mithilfe von CIA und Federführung von P2- Mitgliedern gegen die historisch starke Linke in Italien forciert wurde. Die PCI konnte absehbar nicht mehr an einer Regierungsteilnahme gehindert werden. Ein klarer „Bündnisfall“. Der bewaffnete Kampf der Roten Brigaden wurde instrumentalisiert, wie entfacht, um die AkivistInnen von der Bevölkerung zu trennen und das allgemeine Sicherheitsbedürfnis zu erhöhen. In Italien brechen die „bleiernen Jahre“ an:

28. Mai 1974, Brescia, Piazza della Loggia. Während einer antifaschistischen Demonstration der Gewerkschaft explodiert eine Bombe, die 9 Tote und 90 Verletzte fordert …

4. August 1974, „Italicus“-Express. Die Explosion einer Bombe in einem Schnellzug auf der Strecke Florenz-Bologna tötet 12 Fahrgäste und verletzt 48 …

2. August 1980, Bologna, Bahnhof. Eine Bombe tötet 85 Menschen und verletzt 200 weitere …

Faschisten und Geheimdienst sind fast immer verwickelt. Gleichzeitig startet eine ungeahnte Repressionswelle gegen die linke und außerparlamentarische Bewegung und ihre Strukturen. Hunderttausende wandern hinter Gitter, während die katastrophalen Ermittlungen und Prozesse gegen die Attentäter und ihre Helfershelfer fast immer mit Freisprüchen enden. Ein Gruselkapitel der italienischen Staatsgeschichte. Zu dessen Alt-Mimen gehört auch, mensch höre und staune, der Silvio …

Nachbarn

Erinnerung an die Gegenwart

Der vergessene Krieg in Tschetschenien

„Die russische Armee sperrt Menschen, darunter viele alte Leute, in sogenannte Filtrationslager, wo sie bei jeder Witterung in Erdhöhlen kauern müssen. Ihre einzige Hoffnung: Vielleicht können Verwandte sie freikaufen. 14-jährige Kinder werden mit Elektroschocks gefoltert, um ihnen Informationen abzupressen. Gegen die Zivilbevölkerung werden Streugeschütze eingesetzt, die nach allen internationalen Konventionen geächtet sind und die verheerende Zerstörung im menschlichen Körper anrichten…“ (2)

Diese Zeilen beschreiben den Krieg, den die russische Armee, auf Geheiß Putins und des Kremls gegenwärtig gegen Tschetschenien und vor allem die dortige Zivilbevölkerung führt. Dieser Krieg findet zwar offiziell in Tschetschenien statt, betrifft aber auch die Bevölkerung in Rußland. Hier wie da kann man leicht zwischen die Fronten geraten, als SchauspielerIn in einem Moskauer Theater, als tschetschenischer Flüchtling oder einfach nur, indem man in diesen Staaten lebt.

Um die UN und die Weltöffentlichkeit dazu zu bewegen, sich mit dem Krieg im Nordkaukasus zu befassen, befindet sich seit dem 18. Januar 2004 der Abgeordnete des EU-Parlaments Olivier Depuis (International Radical Party) im Hungerstreik. Was geschieht dort? Es herrscht seit 10 Jahren Krieg zwischen den russischen und tschetschenischen Machthabern. Tschetschenien hatte vor dem Krieg ca. 1 Million EinwohnerInnen und liegt im Nordkaukasus, südlich der russischen Grenze. Die Gründe für diesen Krieg sind vor allem eins: verwirrend vielschichtig. Das verwundert nach 10 Jahren, in denen sich eine eigene Kriegsinfrastruktur entwickeln konnte, nicht sehr. Da Informationen über die tatsächlichen Ereignisse so gut wie nicht zu bekommen sind, weder von der russischen Seite, die davon spricht Terroristen zu bekämpfen, noch von tschetschenischer Seite, über die eine Informationsblockade verhängt wurde, ist es nicht möglich zu sagen, welche Seite wofür verantwortlich ist. Man kann lediglich abwägen, welchen Interessen die Entwicklung dient.

Krieg lohnt sich für Herrscher, weil er die Aufmerksamkeit der BewohnerInnen Russlands von sozialen und ökonomischen Problemen ablenkt. In einer Welle allgemeiner Kriegsbegeisterung und Hetze ist es leichter, militaristische und chauvinistische Hysterie zu verbreiten, repressive Institutionen zu stärken und unpopuläre Reformen zu verabschieden. Der ehemalige Geheimdienstchef Wladimir Putin wurde von Jelzin 1999, kurz vor Beginn des zweiten Teils des Tschetschenienkriegs, als Ministerpräsident eingesetzt und in den darauf folgenden Wahlen, nicht überraschend, bestätigt. Putin erklärte sogleich die Bekämpfung der Islamisten und Separatisten in Tschetschenien zu seiner wichtigsten politischen Aufgabe. Im Sommer 1999, also kurz vor Putins Einsetzung war u.a. Bassajew, Kriegsherr einer islamistisch-fundamentalistischen Gruppe, nach Dagestan (3) einmarschiert, wo islamisch-fundamentalistische Gruppen gegen die von Moskau unterstützten Klans rebellierten. Bassajew steht für den Kampf für ein islamistisches Tschetschenien. Auf tschetschenischer Seite herrscht nicht weniger Chauvinismus und Nationalismus unter den verschiedenen Anführern. Es wird vermutet, dass tschetschenische Führer mit einer Abspaltung von Rußland den Grundstein für eine „Föderation Kaukasischer Völker“ legen wollen. „Nach“ dem ersten Krieg, als der Krieg mit verminderter Intensität fortgesetzt wurde, war das Land politisch unter verschiedenen Warlords (nichtstaatliche Kriegsherren) aufgeteilt, die sich wie Feudalherren benahmen und eine Willkürherrschaft ausübten.

Innerhalb Tschetscheniens gibt es außerdem einen Machtkampf zwischen dem Präsidenten Maßchadov und den Warlords. Maßchadov, ist Nachfolger Dudajews, der für die nationale Unabhängigkeit eintritt. Solange der Krieg anhält, behalten auch die Warlords ihre Anhänger und damit Macht. Ein weiterer Grund liegt wohl im Öl. Zwar gibt es keine großen Erdölvorkommen und die vorhandenen Vorkommen sind eher von niedriger Qualität, aber es verliefen zwei wichtige Ölpipelines vom Kaspischen Meer durch Tschetschenien, was die Kontrolle der nordkaukasischen Republik interessant macht. (4)

Der Krieg, oder wie Jelzin es ausdrückte, die „Zerstörung von Banditen, Halsabschneidern und Terroristen“ begann 1991. Damals erklärte der gewählte Präsident Dudajew die Unabhängigkeit Tschetscheniens und den Austritt aus der UdSSR. Der Kreml verhängte daraufhin den Ausnahmezustand. Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein. Der Krieg dauerte offiziellen Angaben zufolge bis 1996 (5), woraufhin es bis 1999 Frieden gegeben haben soll. Dies ist jedoch zu bezweifeln. Man kann davon ausgehen, dass die Bombenexplosionen, Überfälle und Verschleppungen höchstens vermindert fortgeführt wurden. Anders ist es schwer zu erklären, dass einige Tschetschenen immer wieder davon sprechen, dass es eine Generation gibt, die nichts als Krieg kennt und besonders aufgeschlossen gegenüber dem Fundamentalismus ist. Hinzu kommt, dass diese Generation, auch ohne fundamentalistisch zu sein, allzu leicht in einen Fatalismus verfällt, der die ganze restliche Welt als Feind betrachtet, da man von ihr nur Gleichgültigkeit oder Feindschaft erfährt.

Personen, die in der Stadt Grosny bleiben, werden als Terroristen und Banditen betrachtet. Sie werden von den Luftstreitkräften und Artillerie vernichtet……. Alle, die die Stadt nicht verlassen, werden vernichtet.“ (1)

1999 begann der offiziell zweite, bis heute andauernde Teil des Krieges. Als Anlässe gelten der Einfall tschetschenischer Truppen in Dagestan, wo eine islamische Republik ausgerufen wurde und Anschläge in Moskau. Am bekanntesten wurde die Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Oktober 2002. Ein tschetschenisches Kommando forderte mit quasi militärischen Mitteln den sofortigen Abzug des russischen Militärs und die Beendigung des Krieges in Tschetschenien. Die Antwort der russischen Regierung war der Einsatz von geheimen Chemiewaffen, mit denen 117 Geiseln und 50 Tschetschenen (darunter 18 Frauen) getötet wurden. Inzwischen gab das Antiterroristische Zentrum Tschetscheniens bekannt, dass es Dokumente gäbe, in denen Putin den Geheimdienst FSB anweist, in kürzester Zeit Material zu fabrizieren, welches die tschetschenische Führung als Initiatoren der Geiselnahme darstellt. Des weiteren sollen alle Fakten geheim gehalten werden, die auf die Verwicklung hoher russischer Beamter in die Ereignisse hinweisen. Derzeit ermittelt der US-Geheimdienst FBI zu der Moskauer Geiselnahme, da auch US-amerikanische BürgerInnen durch den Einsatz von verbotenem Giftgas ums Leben kamen, so dass Putin aufgrund der größer werdenden Zweifel an der alleinigen Täterschaft von tschetschenischen Kämpfern unter Druck gerät. (6) Insgesamt kamen bei Anschlägen in Moskau seit 1999 mindestens 300 russische ZivilistInnen ums Leben. (2000 wurde der von Jelzin eingesetzte Putin in Wahlen „bestätigt“. (7)

Bei all diesen Vorfällen ist bis heute unklar, wer dahinter steckt. Es gibt Vermutungen und Anklagen sowohl der Russen, die die Tschetschenen beschuldigen und mit diesen Vorfällen den Krieg rechtfertigen, wie auch umgekehrt. Inzwischen wurden mindestens 100.000 Menschen ermordet, das ganze Land zerstört, mindestens die Hälfte der tschetschenischen Bevölkerung lebt im Exil und zurückgekehrte Flüchtlinge leben in Ruinen und Kellern. Die Repressionen gegen die Zivilbevölkerung sollen aus Sicht der russischen Regierung „die soziale Basis des Widerstands unterminieren“. (8)

In diesen zehn Jahren hat sich eine eigene Kriegswirtschaft entwickelt, aus der die Militärs, wie auch die pro-russische Regierung unter Kadyrov ihre Einkünfte beziehen. (Kadyrov wurde im Oktober letzten Jahres mit Putins Hilfe zum tschetschenischen Präsidenten „gewählt“. (9) Täglich wird Erdöl lastwagenweise aus Tschetschenien nach Rußland transportiert, woran die Förderunternehmen, wie auch die Militärs (russische wie tschetschenische), die die LKWs passieren lassen, gut verdienen. Ein weiteres blühendes Geschäft ist der Frei-/ Verkauf von lebenden oder getöteten Gefangenen und der Dienst an Checkpoints.

Der jüngste Anschlag fand am 6. Februar 2004 in der Moskauer U-Bahn statt. In einer Rede am darauf folgenden Tag, erklärte Putin, Untersuchungen zu den Hintergründen des Anschlags, bei dem 50 Menschen starben und 150 verletzt wurden, seien nicht notwendig, da es sicher sei, dass „Maßchadov und seine Gangster“ dahinter steckten. Damit verweigerte sich der russische Präsident auch jegliche Verhandlungen mit den „Terroristen“. (10)

Es ist derzeit Wahlkampf in Rußland. Wie schon 1999 scheint Putin seine Wahlkampfstrategie beizubehalten: Um die Bevölkerung aus ihrer Wahlapathie zu reißen, explodieren Bomben und Menschen sterben. Hinterher werden „tschetschenische Terroristen“ als Schuldige bezichtigt und der zu wählende Präsident erklärt, er werde Ordnung schaffen. (11) Die Witwe des sowjetischen Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, Jelena Bonner, bezichtigt die russische Führung, mit dem neuen Tschetschenienkrieg innenpolitische Probleme zu überdecken. Sie sagte am 4.11.1999 vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats: „Der erste Krieg wurde gebraucht, damit Präsident Jelzin wieder gewählt wurde. Dieser [zweite] Krieg wird gebraucht, um die Popularität des jetzigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin in den Meinungsumfragen zu erhöhen, den Boris Jelzin als Nachfolger ausgewählt hat. Für die russische Armee ist der Krieg attraktiv, weil er den Generälen die Möglichkeit gibt, Rache zu nehmen für die Niederlagen in Afghanistan und im ersten Tschetschenienkrieg. Sie meinen, dass Alexander Lebed (5), die freie Presse und die öffentliche Meinung Schuld haben an der Niederlage. Das Regime hat keinen anderen Weg gefunden als den Krieg, um die Öffentlichkeit hinter sich zu scharen, von ein Drittel von 51 Millionen unter der Armutsgrenze lebt.“ (12)

Doch dieser Krieg wird nicht nur von Rußland und Tschetschenien geführt, sondern auch von all jenen hingenommen, die nichts zu seiner Beendigung tun. Auf internationalem Parkett versucht man mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Putin Polka zu tanzen. Zwar kritisieren die westlichen Regierungen den Krieg, der auch gelegentlich Genozid genannt wird, beeilen sich aber zu erklären, dass ihnen die Hände gebunden seien, da es sich um eine innere Angelegenheit Rußlands handele.

Doch hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Verhandlungen diesen Krieg nicht beenden. Welchen Sinn können Verhandlungen haben, die von den Profiteuren des Leidens geführt werden? Derweil bemüht sich Putin und mit ihm der ganze russische Informationsapparat, keine Informationen nach außen dringen zu lassen. Ließ das russische Fernsehen schon in den Jahren 1994 bis 1996 nur regierungstreue Meldungen in die Nachrichten, hört man nun so gut wie gar nichts mehr über die eigentlichen Zustände in Tschetschenien. Nicht selten werden ReporterInnen vom russischen Geheimdienst verfolgt und bekommen Morddrohungen. Von russischen anarchistischen Kreisen wird die Bevölkerung als passiv beschrieben. Trotzdem dieser Krieg auch der ihre ist, können sich nur die wenigsten vorstellen, mit ihrer Stimme Einfluß zu nehmen. Der sich verbreitende Nationalismus tut ein übriges.

Kritische Stimmen kommen vor allem von Menschenrechtsorganisationen und den Soldatenmüttern. Dies sind Mütter russischer Soldaten, die in diesem Krieg keinen Sinn sehen und ihre Kinder, die oft 18/19-jährig als Wehrdienstpflichtige in den bewaffneten Konflikt geschickt werden, schützen wollen. Die Soldatenmütter beklagen vor allem die Informationsblockade, die seit 1999 eine totale ist und dass die russische Regierung sich nicht zum Verbleib der Soldaten und der rechtlichen Grundlage, auf der dieser Krieg geführt wird, äußert. (13) Eine Möglichkeit wie das Blutvergießen beendet werden könnte, beschreibt Usmanow (14): „Um den Krieg zu beenden, braucht man nur eine oder zwei Wochen. Einfach über das zentrale Fernsehen Rußlands, welches Putin völlig untergeordnet ist, die Leiden der tschetschenischen Frauen und Kinder zeigen! – Das reicht! Genau in einer Woche würde sich in Rußland die öffentliche Meinung ändern…“ (15)

Was bleibt, ist einmal mehr die Notwendigkeit von unten Druck auf die Regierungschefs auszuüben, damit diese wenigstens aufhören zu morden. Ob der Hungerstreik des EU-Abgeordneten Depuis ausreicht, das Wegsehen der Mehrheit der Menschen als einen ersten Schritt zum Frieden zu beenden, bleibt fraglich. Selbst wenn die russische Armee abziehen würde, was eine Voraussetzung für Frieden ist, gibt es genug innertschetschenische Probleme, die zu neuen Auseinandersetzungen führen könnten. Nur indem die Menschen aufhören, sich von anderen regieren zu lassen, kann es Frieden geben. Die, die unter dem Krieg leiden, müssen ihn beenden.

volja

Ständig aktualisierte Informationen auf Englisch unter: www.chechenpress.com
(1) www.uhn-online.de/tschetschenien.htm
(2) Anna Politikowskaja, in ihrem Buch „Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“, Dumont 2003, 16,90 Euro.
(3) Nachbarepublik, die zu Rußland gehört. Dagestan ist die östliche Nachbarrepublik von Tschetschenien. Es besitzt eine lange Küste am Kaspischen Meer und ist wichtig für den Transitverkehr von Russland nach Aserbaidschan und in den Iran.
(4) Eine war eine Pipeline, welche durch Dagestan und Tschetschenien die reichen Ölfelder des Kaspischen Meeres mit dem russischen Schwarzmeer-Hafen Noworossijsk verbindet. Diese Pipelines gibt es nicht mehr. (www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege/243ak_tschetschenien.htm).
(5) Bezieht sich auf das Abkommen von Chasavjurt, dass der damalige Chef des russischen Sicherheitsrates, General a.D. Alexander Lebed, am 22. August 1996 mit dem tschetschenischen Stabschef Maßchadov ausgehandelt hatte. Die Kernpunkte des Abkommens bestanden in dem vollständigen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, sowie in der Bestimmung, eine Entscheidung der Statusfrage erst Ende 2001 zu fällen. Der eigentliche Konfliktpunkt aber wurde weder durch das Übereinkommen, noch durch den am 12. Mai 1997 unterzeichneten Friedensvertrag gelöst. (www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege/210_tschetschenien.htm).
(6) www.chechenpress.com: „On situation about act of terror in „Nord-Ost“ Theatre“.
(7) Entgegen den Voraussagen von Wahlforschern wurde er schon im ersten Wahlgang am 26. März 2000 zum Präsidenten gewählt. Nach umfangreichen Recherchen der regierungskritischen Zeitung „The Moscow Times“ war dies nur durch massiven Wahlbetrug möglich. So wurden in vielen Regionen säckeweise gefälschte Wahlzettel in die Wahllokale geschleppt oder die Gouverneure massiv angehalten, für Putin Stimmen zu sammeln, um an der Macht zu bleiben. The Moscow Times, 14.10.2000. (Statement of Elena Bonner for the Senate Foreign Relations Committee, 4.11.1999, verbreitet durch Institute for Democracy in Eastern Europe, Washington, www.idee.org).
(8) Adlan Beno, Chechenpress, 30 January 2004.
(9) Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2003 schaffte es Putin, der diese Wahlen angeordnet hatte, seinen Kandidaten durchzusetzen, indem er die Nichtkandidatur aller, die in den Umfragen vor Kadyrov lagen erwirkte. A. Alsachanow bekam als Gegenleistung einen Posten als Putins Beauftragter in Tschetschenienfragen, M. Saidullajews Kandiatur wurde gerichtlich für ungültig erklärt. Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien. Aus vertraulicher, teils zuverlässiger Quelle heißt es, bei diesen Wahlen hätten 90% der Wahllokale gebrannt.
(10) Mayrbek Taramov, for Chechenpress, 9. February 2004 www.chechenpress.info/english.
(11) www.livejournal.com/users/stilo, 10.02.04.
(12) www.gfbv.de/voelker/europa/tschetschenien/t_background_1.htm.
(13) magazine.orf.at/report/int/sendungen/000223/000223_4.htm.
(14) Lema Usmanow, ständiger Vertreter der tschetschenischen Regierung in den USA.
(15) Zitat aus einem Interview mit Lema Usmanow, vom 2. Juli 2002.

Nachbarn

Konferenz der ArbeiterInnenbewegung

Am 8. November 2003 fand in Poznañ die Konferenz der ArbeiterInnenbewegung in Polen statt, zu der die ArbeiterInnen-Initiative (IP) der Anarchistischen Föderation (FA) eingeladen hatte. Der Zweck dieses Treffens war es, so viele der radikalen ArbeiterInnenprotestkomitees wie möglich zusammen zu bringen, Informationen über die aktuelle Situation in den jeweiligen Betrieben auszutauschen, Erfahrungen der lokalen Kämpfe zu vergleichen und nach Wegen einer Einigung und einer gemeinsamen Strategie für die Zukunft zu suchen. Etwa 50 Personen aus 15 verschiedenen Fabriken – darunter Mitglieder kleiner, unabhängiger Gewerkschaften, wie Solidarnosc’80, Sierpieñ’80 und Konfederacja Pracy (gegründet 2001) – und auch Mitglieder der IP/FA nahmen an der Konferenz teil. Viele hatten in ihren Betrieben im vergangenen Jahr Arbeitskämpfe, Streiks und Proteste durchgeführt, waren gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Entlassungen aufgestanden oder haben innerbetriebliche Unterstützung organisiert. So wurde die FSU, ein DAEWOO-Zulieferer, bestreikt während sich KollegInnen in Südkorea im Ausstand befanden. In den Krankenhäusern von Wroclaw finden fast ununterbrochen Proteste statt, weil Betriebsvereinbarungen immer wieder gebrochen werden. Die offiziellen Gewerkschaften indes hatten sich schon vor zwei Jahren aus den Protestkomitees zurückgezogen. Im Medizinischen Zentrum in Poznañ kommt es unterdessen nach Protesten zu Repressionen gegen AktivistInnen: sie werden gegängelt und bei der Ausstattung mit Arbeitsgerät benachteiligt. In ganz Polen läßt sich bei Neueinstellungen und Änderungskündigungen eine Tendenz zu leistungsorientierter Entlohnung beobachten. Vertraglich garantierte Prämien werden aber kaum ausgezahlt. Was bleibt, ist eine Lohnsenkung auf breiter Front.

Das Treffen beschränkte sich hauptsächlich auf den Informationsaustausch, es blieb kaum Zeit für konstruktive Diskussionen und weitere Schlussfolgerungen. Nichtsdestotrotz machte die ganze Veranstaltung einen positiven Eindruck auf mich. Denn die meisten Delegierten, egal wie erfolgreich ihr eigener Kampf bisher gewesen sein mag, erklärten ihre Bereitschaft und Entschlossenheit, den Kampf fortzuführen. Sie erklärten einstimmig, eineR nach dem/der anderen, ihre Missbilligung des Verhaltens der großen polnischen Gewerkschaften (insbesondere von „Solidarnosc“ und „OPZZ“) und befürworteten, einen neuen Weg der Einigung der ArbeiterInnenbewegungen in Polen zu gehen, abseits dieser arbeiterfeindlichen Gewerkschaftsstrukturen – konkrete Ideen dazu waren aber seltener. Es war klar, dass die polnischen ArbeiterInnen aus bestimmten Gründen noch immer nicht bereit sind, den anarchosyndikalistischen Weg zu beschreiten: Inbesitznahme der Fabriken durch Besetzung, Abbau alter Strukturen und Fortsetzung der Arbeit unter neuen, nicht-hierarchischen Bedingungen, basierend auf Solidarität und Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse. Das rührt vor allem daher, dass die Protestkomitees in den meisten Fällen aus nur sehr wenigen Leuten bestehen. Sie haben zwar großen Zuspruch unter ihren KollegInnen, das Potential ist groß, aber bis heute ist es mangels einer breiten aktiven Basis noch nicht möglich, radikale Schritte zu ergreifen. In solch einer Situation ist die weitere Entwicklung der Ereignisse nicht die schlechteste: man versucht, mehr und mehr Kontrolle und Einfluss in den Fabriken zu gewinnen, indem direkte Repräsentanten der ArbeiterInnen in die entscheidungstragenden Gremien gebracht werden. In einigen Fabriken führt diese Taktik zu konkreten Veränderungen vor Ort.

Gleichzeitig bereiten die AnarchistInnen der IP für Anfang nächsten Jahres eine landesweite Kampagne vor: Hilfe beim Aufbau von ArbeiterInnenprotestkomitees in ganz Polen, verbunden mit Bildungsarbeit. Das heißt in erster Linie, ArbeiterInnen in Workshops darauf vorzubereiten, Proteste und Aktionen so effektiv als möglich auszuführen. Dazu gehört die Gestaltung von Flugblättern und Plakaten, Umgang mit der Presse, aber auch die Organisation von Nahrungsmitteln und rechtlicher Unterstützung. Die junge Generation ArbeiterInnen in Polen scheint kaum Ideen und wenig Erfahrung zu haben, wie man das machen soll, und es werden sehr simple Fehler gemacht. Die deutschen AktivistInnen von der FAU unterstützen diese Kampagne und mit 500 Euro für die Vorbereitungen gespendet. Dazu hieß es: „Dieses Geld soll als Grundstock für ein Bildungswerk dienen, das die Bildungsarbeit der IP und der Solidarnosc 80 in polnischen ArbeiterInnenbewegung unterstützen wird (…) Uns Gästen von der FAU bleibt ein beeindruckendes Bild von Gewerkschaftsaktivisten der frühen 80er im Gedächtnis, die an ihrem Arbeitsplatz das libertäre Erbe der polnischen Arbeiterbewegung verteidigt und fortgeführt haben, ohne jeweils immer Anarchist oder libertär zu sein. Syndikalismus pur, auf polnisch: schmeckt gut und macht Hunger auf mehr!“

Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Protestkomitees im ganzen Land wurden gestärkt und der Traum von wachsendem Widerstand, der zu Generalstreik und wahren gesellschaftlichen Veränderungen führt, bleibt lebendig. Die Zusammenarbeit der FAU mit polnischen Anarchosyndikalisten und indirekt mit ArbeiterInnenprotestkomitees ist eines der wichtigsten und vielversprechendsten Resultate dieser Konferenz.

Am darauffolgenden Tag fand ebenfalls in Poznañ ein Treffen der Anarchistischen Föderation (FA) statt. Hier drehte sich die Diskussion vor allem um eine bessere Kommunikation innerhalb der FA. Der Vorschlag eines zentralen „Büros“, das regelmäßig ein Bulletin zusammenstellen solle, wurde zugunsten einer dezentralen Organisation verworfen: Informationen werden im Internet gesammelt und vor Ort ausgedruckt und verbreitet.

(Dieser Text ist zu großen Teilen eine Übersetzung des Artikels von Veronica Sinewali in Abolishing the Borders from Below, #13, Dezember 2003. Ein Bericht zum Hüttenwesen, der von einem schlesischen Zinkwerkarbeiter, vorgestellt wurde, findet sich unter www.fau.org)

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