Schlagwort-Archive: 2004

Trouble in Warszawa

Kurz vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union (demonstrativ geplant am 1. Mai, um die Bedeutung dieses Feiertages zu ändern), kommt der europäische Wirtschaftsgipfel – der aufgrund der geplanten Proteste in Dublin abgesagt wurde – nach Warschau. Zu diesem Anlass wollen verschiedene, meist anarchistische Gruppierungen in Polen den Gipfel (28. – 30. April) nicht nur mit Protest, sondern auch mit Kritik und alternativen Visionen begrüßen. Sie rufen unter anderem zur Teilnahme an einem alternativen Wirtschaftsforum auf. Themen sollen Arbeitsmärkte, Strukturreformen, die Situation in Ost- und Westeuropa sein. Weitere Vorschläge sind herzlich willkommen. Die Hauptdemo ist für den 29. April angekündigt. Eine Fahrt von Leipzig nach Warschau wird organisiert werden. Außerdem ist ein Vorbereitungstext geplant.

Kontakt in Leipzig: wawa04@web.de
Aktionsplattform: pl.indymedia.org/pl/2003/11/3076.shtml

Nachbarn

Iran: Protestierende ArbeiterInnen ermordet

Iranische Sicherheitskräfte und Spezialeinheiten der Provinz Kerman attackierten am 23. Januar auf brutalste Weise protestierende ArbeiterInnen der Kupferschmelzhütte Nazkhaton. Dabei töteten sie mindestens vier ArbeiterInnen und verletzten Dutzend weitere. Der Angriff war die blutige Antwort auf ein Sit-In und Protestaktionen der Angestellten und deren Familien, darunter einige ältere Frauen, die gekommen waren, um ihre Kinder zu unterstützen. Die Unternehmensführung hatte beschlossen alle Angestellten zu entlassen, die zumeist aus der kleinen Stadt Nazkhaton kommen, trotz der laufenden Geschäfte und Neueinstellungen. Alle großen iranischen Nachrichtenagenturen und Zeitungen verschwiegen diesen Vorfall und Präsident Khatami war gezwungen, eine Delegation zu Überprüfung zu schicken. Die EinwohnerInnen fahren mit ihrem Protest fort, trotz der massiven Präsenz von Armee und Spezialeinheiten in der ganzen Stadt. Es gab Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften in verschiedenen Teilen von Nazkhaton und unzählige Leute wurden verhaftet. Die halbe Stadt ist abgeriegelt und die Menschen haben sich vor den Häusern der Ermordeten versammelt. Sie fordern die sofortige Identifizierung derer, die für die Toten verantwortlich sind. Niemand scheint Kathamis Delegation zu vertrauen, da sie sich bisher nie verantwortungsvoll und aufrichtig gezeigt hat. Es gibt viele ähnliche Fälle, bei denen solche Delegationen letztlich die Opfer anklagten und die Verantwortlichen des Regimes von jeder Schuld freigesprochen wurden.

Nachbarn

Wie sich Deutschland in Europa wiederfindet

Wir schreiben das Jahr 2010. Die Deutsche Mark heißt mittlerweile Euro und ist offizielles Zahlungsmittel in 25 Europäischen Staaten, sowie Leitwährung in der halben Welt. Der Euro hat den Dollar überflügelt, da die Europäische Zentralbank in Frankfurt gute Arbeit geleistet hat. Der EU-Außenminister Joschka Fischer hat soeben mit Zustimmung des Europa-Parlaments eine humanitäre Intervention zur Rohstoffsicherung in irgendeiner Diktatur der südlichen Hemisphäre angeordnet. Polnische Soldaten kämpfen mit deutschen Gewehren und französischen Flugzeugen unter deutschen Offizieren an der Front, eine deutsch-französische Elite-Eingreiftruppe wartet hinter den Grenzen. Auch US-Truppen sind in der Region, halten sich aber zurück. In den vergangenen Jahren kam es in Afrika, dem Nahen Osten und Asien verstärkt zu Spannungen zwischen den USA und der EU. Deutsche Polizisten werden nach dem Sieg wie zuvor in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak für demokratisches Recht und Ordnung sorgen. In Warschau, in der Immanuel-Kant-Straße, ist man darüber nicht so glücklich. Hier wohnte einer der vor drei Tagen gefallenen Soldaten, die man heute beerdigt. Die Ehrenbrigade spielt aus diesem Anlass die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunken“. An den EU-Außengrenzen sitzen hunderttausende Flüchtlinge und warten darauf, dass die europäische Grenzschutzagentur sie nach Vorgaben aus Berlin abschiebt oder hereinlässt. Bald ist wieder der 9. Mai, europaweiter Nationalfeiertag, denn am Morgen nach dem Jahrestag der deutschen Kapitulation gab sich die EU eine Verfassung. Der Philosoph Habermas lebt immer noch und ist zufrieden mit sich.

Zurück zur Gegenwart: Berauscht von den europäischen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 ergriff Habermas mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida eine Initiative, die darin mündete, dass europäische Intellektuelle und der US-Amerikaner Richard Rorty am 31. Mai 2003 in verschiedenen wichtigen europäischen Zeitungen Artikel veröffentlichten, die dafür warben „Europa [müsse] sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren“. Habermas und Derrida schreiben in ihrem Aufruf „Unsere Erneuerung nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“ in der FAZ, Kerneuropa müsse „in einem ´Europa der zwei Geschwindigkeiten´ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang machen“. Denn in der EU erkennen Habermas und Co. Rechtsstaaten in einem Staatenbund vereinigt, wie ihn Kant als Voraussetzung „zum ewigen Frieden“ sah. Von besonderer Qualität sei dafür auch die europäische Identität, so die Argumentation, die aus ihren andauernden zwischenstaatlichen Kriegen und letztlich dem „Dritten Reich“ gelernt hätte, Konflikte friedlich durch Kooperation und internationales Recht auszutragen.

Damit werden die deutsche Mega-Aggression und der Holocaust geradezu zu konstituierenden Momenten europäischer Identität und fast möchte man herauslesen, die USA sollten auch mal derart auf die Schnauze fallen wie damals Deutschland, damit sie lernen, sich Länder ohne Krieg einzuverleiben. Seit damit durch ehemalige linke Intellektuelle den Deutschen als Kerneuropäern gegen jede reale Macht- und Militärpolitik ein friedliebender Charakter attestiert wurde und es geradezu als historische Mission formuliert wurde, diesen Charakter und die eigene Kultur („Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoleon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft“) als Grundlage in einer neuen Weltordnung zu exportieren, zelebriert sich Deutschland hemmungslos selbst. In der ZDF-Show „Unsere Besten“ wird Konrad Adenauer zum größten Deutschen gekürt. Im Kino können wir die Heldentaten von Luther, der deutschen Fußballnationalmannschaft („Das Wunder von Bern“) und deutschen Vorzeigearbeitern („Das Wunder von Lengede“) bewundern. Der Spiegel begründet dies mit einem „Hunger nach Geschichte jenseits der Nazi-Zeit“. Den verspürt offensichtlich auch die Pop- Sängerin Mia, die mit ihrem Liebeslied an Schwarz-Rot-Gold „Was es ist“, „neues deutsches Land“ betreten will und für Deutschland, ihre Liebe, was riskiert: „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu ich mir nicht mehr selber leid“. Die Berliner Morgenpost jubelt, Deutschland würde endlich begreifen „dass seine Geschichte große Erzählungen bietet, auch solche, deren Kraft über den Bruch von 1933/45 hinweg trägt“. Die Deutschen in zerbombten Städten und die Vertriebenen stellen sich derweil skrupellos als Opfer dar. Aus dem Trümmerhaufen der Dresdner Frauenkirche als Mahnmal gegen Krieg und die, die ihn angefangen haben, wurde das alte Monument wieder aufgebaut. Nun als Mahnmal gegen deutschen Kleinmut und scheinbarer Beweis dafür, dass dunkle Kapitel der Geschichte auch irgendwann endgültig vorbei sind – oder gar positive Kraft entfalten können.

So eine Scheiße ist natürlich gnadenlos herbeihalluziniert. Nur weil Deutschland nun als stärkster Faktor im Einvernehmen mit Frankreich die EU zusammenschweißt, darf man noch lange nicht argumentieren, es sei doch alles gut ausgegangen und man könne wieder stolz auf sich sein. Wichtiger ist es, auf wahrlich besorgniserregende Kontinuitäten hinzuweisen: Deutschland ist keine Friedensmacht, seit der „Wiedervereinigung“ kämpft es mit, wo es nur kann, in Jugoslawien, Afghanistan, Kongo, selbst der Irak-Krieg wurde logistisch unterstützt. Und Deutschland treibt die Militarisierung der EU-Außenpolitik voran, um zukünftig auch Soldaten aus anderen EU-Mitgliedsstaaten für die eigenen Großmachtinteressen in den Kampf zu schicken. Als Begründung für diese Schlachten müssen eben die europäischen Werte herhalten: Demokratie, Menschenrechte und Säkularisierung. Die deutsche Regierung hat außerdem durchgesetzt, dass ihre Migrationspolitik, die restriktivste in ganz Europa, nun EU-weit gilt. Vor dem Hintergrund eben dieser Kontinuität ist es auch historisch verständlich, dass sich beispielsweise Warschau gegen die Diktate aus Berlin sträubt und den Brüsseler Verfassungsgipfel scheitern ließ. Denn deutsche EU-Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

maria

EU.ropa

Gesucht: Plakatentwürfe

„Biometrische Erfassung“ ist das aktuelle Projekt der kontrollwütigen Innen- und Justizminister der EU, um die Gesellschaft auf bisher nicht da gewesene Weise zu kontrollieren und beherrschen. Als erstes werden die neuen Praktiken natürlich an den Migranten ausprobiert: Seit Beginn diesen Jahres müssen Flüchtlinge in die EU sich Fingerabdrücke abnehmen und das Gesicht elektronisch vermessen oder ihre Augen scannen lassen. Die so gewonnenen Daten werden zentral gespeichert, damit sie es nach Ablehnung ihres Asyl-Antrages nicht etwa an einer anderen Grenze unter einem anderen Namen noch mal versuchen können. Seit Januar können sich Vielflieger am Frankfurter Airport und anderen Großflughäfen als zweifelhaftes „Privileg“ die Augeniris scannen lassen und fortan durch einen separaten Durchgang – ohne lästige Passkontrolle – passieren. Ein Blick in die hochauflösende Kamera genügt. Bei Bierfesten in Nürnberg kann mensch mit dem Fingerabdruck zahlen (so mensch Geld hat) und bei Fußballspielen versuchen Softwareprogramme unter den angereisten Fans, die am Eingang gefilmt werden, polizeibekannte Hooligans auszumachen. Kameras an Autobahnen erfassen bereits jetzt jedes Nummernschild und gleichen deren Halter mit Fahndungsdatenbanken ab. Diese Praktiken sollen an eine zukünftige Normalität gewöhnen, welche eine hocheffiziente Überwachung der Bevölkerung ermöglicht. Mitte letzten Jahres beschlossen die EU-Innen- und Justizminister, dass mit der Einführung der EU-Pässe die gesamte Bevölkerung biometrisch erfasst werden soll. Bislang verhindern technische Mängel, beschränkte Systemressourcen und fehlerhafte Software, dass Kameras, wie sie etwa die Leipziger Innenstadt überwachen, alle Menschen identifizieren können, Bewegungsprotokolle erstellen oder auf sog. „Verdächtiges Verhalten“ reagieren. Aber die milliardenschweren Aufträge der Regierungen und der EU lösen einen Forschungsboom aus, der Überwachungstechnik zu einer rentablen Zukunftstechnologie werden lässt, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft katastrophal sind.

Um die Menschen darauf hinzuweisen, bevor es zu spät ist, wollen wir eine Plakatkampagne gegen biometrische Erfassung initiieren und suchen dafür Plakatentwürfe. Die Entwürfe werden anonym bleiben und nicht dem Copyright unterliegen. Wir haben vor, Ausstellungen zu organisieren und die Plakate breit zu streuen. Plakatentwürfe bitte schnellstmöglich an: no.norm@gmx.net schicken. Wir werden versuchen, alle Entwürfe zu realisieren.

(April 2004)

„…es war auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit…“

Connewitz in den wilden Wendezeiten. Die Reihe geht diesmal mit dem Interview eines Besetzungsveteranen weiter, der auch heute noch gut dabei ist.

FA!: Du warst doch 1990 bei den Leipziger Hausbesetzungen dabei, wie bist du denn mit den Leuten zusammengekommen und was war überhaupt eure Motivation, diese Häuser zu besetzen?

Marc: Das fing damit an, dass ich im Rahmen von Gegenaktionsvorbereitungen zu einer großen Helmut-Kohl-Demonstration Leute kennengelernt habe, die grad in Lindenau ein Haus besetzt haben. Dort bin ich dann eingezogen, im Frühjahr 1990. Ende des Jahres sind dann Leute von da nach Connewitz gezogen, als es anfing, zum Zentrum von Linken und Besetzern zu werden. 1990 gab es da erstmal die Besetzungen in der Stöckartstraße, die waren auch gleich sehr organisiert, als Verein in der „Connewitzer Alternative“ (1). Das hat dem Ganzen eine gewisse Dauerhaftigkeit gegeben. Aber es gab in Leipzig eben auch andere Besetzungen. Wir hatten, wie gesagt, ein Haus in Lindenau. Dann gab´s Leute, die in der Querstraße ein Haus besetzt hatten, oder es gab die Häuser in der Sternwartenstraße. Ich weiß aber nicht, wie viele „stille“ Besetzungen es zu der Zeit gab, das heißt, dass Leute einfach in leere Häuser oder Wohnungen eingezogen sind. Das war damals eine verbreitete Praxis und auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit, da man die Häuser ja damit ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt hat, statt sie vergammeln und leerstehen zu lassen oder sie abzureißen. Das hat es der Besetzerszene, die sich damals in Leipzig und anderen Städten gebildet hat, leicht gemacht, weil sie ja nicht das Stigma hatte, etwas unmoralisches zu tun, sich irgendwas zu nehmen was ihnen nicht gehört oder so. Es war eben sehr viel verbreiteter als es das heute ist, gerade bei jungen Leuten.

FA!: Gab es denn bei den Jugendlichen eher eine positive Aufbruchstimmung oder war es eher die Ablehnung eines Trends, also der „Deutschen Einheit“?

Marc: Von „den“ Jugendlichen zu sprechen, ist sowieso Quatsch. Selbstverständlich waren die Hausbesetzer in Leipzig eine Minderheit, als sogenannte „linke Szene“, die damals anfing, sich als „autonom“ zu verstehen. Für mich und die meisten Leute, mit denen ich damals rumgehangen hab, war das ziemlich stark davon bestimmt, dass man vor diesem neuen Deutschland Angst hatte und dachte, man müsste was dagegen tun. Das war sichtbar und spürbar. Überall gab es diese Nazi-Kids, die anfingen, sich zu organisieren oder organisiert wurden, die auf der Straße Leute zusammengeschlagen haben Und dagegen was zu setzen: Eigene Kultur und eben ein Stück weit auch militante Gegenwehr, war für uns damit verbunden, zusammen zu wohnen. Das war nicht nur die Frage: Hab ich ´ne Wohnung oder hab ich sie nicht, sondern natürlich auch dieses ganze Gefühl, was sich drumherum bewegt hat: Gemeinsame Konzerte oder zusammen kochen, alles das, was mit Hausbesetzungen verbunden ist, hat mit Kollektivität und eben auch mit sich-gemeinsam-gegen-die-feindliche-Umwelt-wehren zu tun. Trotzdem war es natürlich von einer Aufbruchstimmung geprägt, weil für uns erstmal alles erlaubt war. So dass wir zunächst wenig Angst hatten, irgendwo rauszufliegen oder mit Bullen konfrontiert zu sein. Das war erstmal überhaupt nicht die Schwierigkeit. Ich kann mich erinnern, dass ich 1990/91 viel mehr Angst hatte, dass Faschos unsere Häuser überfallen.

FA!: Wie hat denn die Präsenz der Nazis die Bewegung letztendlich beeinflusst? Hat das zu einer stärkeren Militanz geführt, oder mehr zu einem Rückzug?

Marc: Beides. Erstmal hat es natürlich dazu geführt, dass ich Leute aus bestimmten Stadtteilen zurückgezogen und in anderen wieder gesammelt haben. In der Sternwartenstraße gab es mehrere besetzte Häuser, wo circa 40 Leute gewohnt haben und in Connewitz gab´s diese Häuser. Leute sind natürlich aus Grünau verschwunden, aus nachvollziehbaren Gründen. Aus Mockau auch, da gab´s so Gruppen um die FAP, die sich gemeinsam um sechs Uhr zum Frühsport getroffen haben und so ´ne Scheiße. Das war kein Platz, wo man sein wollte. Andererseits gab´s dann in Connewitz so eine Kneipenszene von besetzten, selbstverwalteten Kneipen, was natürlich dazu geführt hat, dass sich da immer mehr Leute angesammelt haben. Hier gab es die Infrastruktur, wo man sich sowieso gerne aufhielt. Wir sind oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad von Connewitz nach Lindenau getourt, was natürlich ziemlich oft eine unangenehme Erfahrung war. Viele haben dann gesagt: Ok, dann ziehen wir gleich nach Connewitz.

FA!: Also waren die Nazis quasi schuld, dass Connewitz sich als linkes Zentrum etabliert hat?

Marc: Nicht nur. Die Nazis waren für dieses Gefühl mitverantwortlich, dass man sich zusammenkuschelt und sich gemeinsam gegen die feindliche Umwelt zur Wehr setzt. Aber es lag eben auch daran, dass es hier aktive Leute gab, die dafür gesorgt haben, dass es sich lohnte, hier zu sein, und eben nicht in Lindenau. Obwohl es in Letzsch und Plagwitz immer Leute gab, die da gewohnt haben, und versucht haben, was zu tun. Es war nicht so, dass alle nach Connewitz gezogen wären, aber im Laufe des Jahres 1991 gab es so eine Massierung, wo Leute hierhergekommen sind, weil es hier einfach gefetzt hat und eben sicherer war. Es gab Leute, die sich gar nicht mehr aus dem Kiez rausgetraut haben. Leute sind hier gelandet, haben sich nur noch innerhalb ihrer fünf Straßen bewegt und sich beim Straßenbahn fahren immer zwei Freunde mitgenommen, weil sie Angst hatten. Für uns aus Lindenau war das natürlich immer etwas lächerlich. „Also Leute, was stellt ihr euch vor, wie‘s in der Welt zugeht?“

FA!: Die Häuser waren ja nach den Ereignissen im November `92 und dieser Anti-Besetzungs-Kampagne konkret von der Räumung bedroht. Wie habt ihr reagiert? Eher mit stärkerer Konfrontation oder mit Verhandlungsbereitschaft und Öffentlichkeitsarbeit?

Marc: 1992 wurde erstmal mit Öffentlichkeit reagiert. Nach dem Riot im November und nachdem Thümi erschossen worden war, hat diese Szene erkannt, dass sie ziemlich von der Berichterstattung anderer abhängig war und das, was in den Zeitungen stand, nie das war, was man selber dachte und wollte. Anfang `93 sind dann solche Strukturen entstanden, wie der Ermittlungsausschuss, der zuerst KGB (Koordinierungsgruppenbüro) hieß. Oder eben Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von: Wir machen unsere eigene Zeitung und wir machen das regelmäßig. Deshalb ist im Sommer `93 auch das erste KLAROFIX rausgekommen, um Öffentlichkeit über das herzustellen, was die Szene bewegte und für sie Plattform zu sein. Vorher gab es eben irgendwelche Plena gegeben, oder eine Gruppe hat ihre Flugblätter an irgendwelche Häuserwände tapeziert.

Bei Konfrontation weiß ich nicht, was du dir vorstellst. Sicher gab es Schlägereien mit Nazis, aber es gab keine konfrontativen Aktionen gegen die Stadt.

FA!: Waren die Nazis denn die einzigen Gegner der Szene, oder gab es auch Reibereien mit Nachbarn, die die Leute raus haben wollten?

Marc: Ich würde sagen, solche Nachbarn gab´s immer. 1991, als das ZORO besetzt wurde, gab es ziemlich früh Leute, die dagegen waren, dass das Haus von „solchen Leuten“ bewohnt und bewirtschaftet wird. Da gab es den Besitzer vom Hotel „Alt-Connewitz“, der einen Bürgerverein gegründet hat, um irgendwie gegen die Szene vorzugehen. Und gerade im Laufe des Jahres `92 hat die Kampagne gegen die Besetzungen dann einen Höhepunkt erreicht. Auch diese Spaltungsversuche in die „Guten“ von der Connewitzer Alternative und die bösen, radikalen Autonomen. Diese Spaltung ist von außen rangetragen worden, hat aber zu einem guten Teil auch funktioniert. Es gab da viele Auseinandersetzungen um solche Fragen.

FA!: Es hat sich ja seit Anfang der 90er eine Menge getan. Wie würdest du die Entwicklung denn insgesamt bewerten?

Marc: Naja – klar sind die Zeiten, als in der Stadt viele Leute unterwegs waren, um Häuser zu besetzen, vorbei. Andererseits hat sich die Szene gehalten und ein wenig ausdifferenziert. Seit Anfang der 90er sind ja neben den Projekten und Häusern, die verschwunden sind, auch einige neue dazugekommen, die ja zu einem großen Teil auch von Leuten gemacht werden, die 1992 noch gar nicht in der Stadt oder noch in der Schule waren. Insgesamt ist die Situation in Leipzig also nicht so schlecht.

Ich habe den Eindruck, dass gerade junge Leute, die das damals nicht mitbekommen haben, die Infrastruktur, die es gibt, für viel selbstverständlicher halten, als sie ist. Ich habe oft Besuch aus anderen Städten, der ziemlich überrascht ist, wie viel es hier in der Stadt gibt. Wir haben hier in Leipzig ’ne ziemlich außergewöhnliche Situation, was natürlich vor allem daran liegt, dass es immer Leute gegeben hat, die sich gekümmert haben, die an ihren Sachen drangeblieben sind und hoffentlich auch in Zukunft dranbleiben werden.

FA!: Dann vielen Dank für das Interview, Marc!

(1) zu Gruppen und Strukturen, die zum größten Teil jetzt noch existieren, siehe: www.left-action.de

Wendezeiten

Wer ist hier der Dumme?

Man mag dem rot-roten Senat in Berlin, ob seiner asozialen Kürzungspolitik, allerhand vorwerfen. Zugute halten muss man ihm (bzw. dem verantwortlichen Senator), dass er die Intendanz des Berliner Ensembles dem neuen Eigner verweigerte. Das Theater am Schiffbauer Damm gehört nämlich seit kurzem Rolf Hochhuth. Am 13. Februar 2004 wurde dessen neues Stück „McKinsey kommt“ am Theater Brandenburg/Havel uraufgeführt (Regie: O. Munk). Und es zeugt – zumindest in gedruckter Form (dtv, Dezember 2003) – nicht vom Können Hochhuths, der sich sonst gern als „Dramatiker“ und Vertreter „engagierter Literatur“ bezeichnen läßt.

Dabei ist Hochhuth ebenso langweilig wie borniert. Seine Ansatzpunkte, ob in gesellschaftlicher oder in ökonomischer Hinsicht, sind oberflächlich. Das „Theaterstück“ um das Problem der Arbeitslosigkeit spielt im Zug, in Büros und Umkleidekabinen, Vorstandsetagen und im Gericht. Die Orte sind allerdings so belanglos wie die Figuren. Anders als das, was man gemeinhin Drama nennt, sei es tragisch oder komisch, kennt „McKinsey kommt“ keine Handlung, keinen Spannungsbogen. Die Dialoge der Figuren sind der Monolog Hochhuths – die einzige Verbindung zwischen den fünf Akten und Orten. Nirgends werden die Figuren zu Charakteren, sie sprudeln nur die gesammelten Fakten, Zeitungsschnipsel des Autors hervor … keine Stromschnellen finden sich im Erzählfluß. Hochhuth wiederholt sich unaufhörlich, versucht dies hinter schier endlos aneinander gereihten Fakten zu verstecken, die nur spärlich mit Moral verputzt, aber immer auf Skandal angelegt sind. So findet sich in dem Theaterstück nicht das, was Literatur ausmacht: der besondere Umgang mit dem Alltagsmaterial Sprache.

Nicht nur in dieser Hinsicht entbehrt es jeder Grundlage, Hochhuths Namen mit Dichtern wie Miller, Shakespeare und Goethe, mit Philosophen wie Hegel und Voltaire zu assoziieren wie Verlag und Autor selbst es tun. Wenn über einen Artikel in der Basler Zeitung auch die Forderung nach Demokratie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, ins Stück kommt – sie steht allein. Hochhuth konzentriert sich auf den Arbeitsplatz, das „Recht auf Arbeit“. Nur darum dreht es sich in den Wortwechseln der Figuren: Wenn sie denn zwischen den Regieanweisungen zu Wort kommen und von Zeiten schwärmen, als „die Geldsäcke noch Schiß“ hatten, und schlussfolgern, man müsse mal ‘nen „Molli schmeißen“. Wenn der Autor pausiert von seiner nationalen Elendsklage über: die vielen „Musikkonsumenten“ und die wenigen Leser; über das Schweizer Bekenntnis zum „Heimatidiom“, „wie kein Deutscher das wagte“; über den „für uns Deutsche“ leider unmöglichen „Nationalstolz“, seit „die Engländer 1945 die Nazi-Schinderhütte Bergen-Belsen […] fotografiert haben“; und über „feindliche Übernahmen … wenn Ausländer einheimische Arbeitsplätze killen“. „Im Affekt wird jeder Mensch rassistisch,“ meint Hochhuth, und beklagt bitter die moderne „Treulosigkeit des Herrn gegen den Knecht.“

Nach derart national-sozialistischer Weinerlichkeit verwundert es kaum, dass Hochhuth im Interview (mdr, Kulturcafé, 22.2.) betont: „die Dinge müssen geregelt sein, sonst gibt es eine Revolution.“ Der Präsident des Bundes der Deutschen Industrie, Rogowski, zeiht ihn also zu Unrecht des „Klassenkampf[es]“. Was ist es schon im Vergleich, einen der „Geldsäcke … platt[zu]machen“, wenn es gilt sich gegenseitig Hilfe zu leisten und gleich und frei miteinander umzugehen, weder Knecht noch Meister sein! Was bringt es, in „Banken und Konzerne“ einen „Molli [zu] schmeißen“, statt zu streiken: statt was die „Hydra“ braucht, ihr zu verweigern? Aber Hochhuth – der nach eigenem Bekunden „von Haus aus gar nicht sozialrevolutionär“ (1) ist, und es also auch in dem Stück „McKinsey kommt“ nicht wird – ist nicht am Problem interessiert, nicht an dessen Lösung, sondern nur am Thema. So geht er denn, mitsamt Nationalismus und Chauvinismus, Bismarck und 1000 deutschen Jahren und sozial verbrämten Antiamerikanismus im seichten Wasser eines in der Verfassung garantierten „Recht[s] auf Arbeit“ vor Anker. Absurd geradezu, und zynisch, seine Argumentation, wenn der Staat Erwerbslose schon jetzt finanziell aushalte, solle er ihnen doch gleich ‘ne Arbeit verpassen. Da ist sich der Autor mit Schröder, den er als „Jenosse der Bosse“ bloßzustellen sucht, einig: „jede Arbeit ist besser als keine“.

Nochmal Brecht studieren, Herr Hochhuth; „das Volk ist nicht dümmlich“!

A.E.

(1) www.3sat.de/kulturzeit/themen/62389/

Rezension

Wer nicht kämpft, hat auch nichts zu lachen!

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich an die parlamentarische Demokratie, so unerschütterlich wie ich an die Allwissenheit meiner Eltern glaubte. Ich wuchs. Und mit jedem Zentimeter sammelten sich Zweifel. Skepsis gegenüber den Konventionen, den Normen, Regeln und gegenüber den Gesetzen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Widerspruch zwischen dem Idealismus meiner Jugend und den Erfahrungen, die ich zwischen Gesellschaft und Staat lebte, schwoll langsam und grub eine erste Falte in meine Stirn. Mißtrauen geriet mit zwischen Selbsteinschätzung und elterliches Wissen. Ich emanzipierte mich von ihrer Autorität.

Kein Verdruss, denn ich konnte ja bald wählen gehen. Ja was? Was eigentlich? Meine Lebensform in ihrem Verlauf? Die Rahmenbedingungen meiner Projekte und Taten, meines Handelns? Nein. Die Möglichkeiten meiner Wünsche, Träume und Bedürfnisse? Nein. Spielräume und ihre Sanktionen? Territorien und ihre Verfassung? Zeiten und ihre Gesetze? Nein. Nein. Nein. Nicht mal Staat und Status konnte ich wählen. Sondern lediglich eine der dutzend konkurrierenden Parteien und ihre ListenkandidatInnen. Von denen lediglich zwei überhaupt in der Lage (also mit der Macht ausgestattet) schienen, die Durchsetzungsgeschichte meiner Ideen zu schreiben. Die Autorität dieser Gegenüber wirkte wie ein Anachronismus, ein Überbleibsel einstiger Frontlinien, wie ein zahnloser Dinosaurier. Eher lächerlich denn ernst zu nehmen. Mein junges Blut stürzte sich in das Getümmel und kochte dann sehr schnell über. Jedes Kreuz stimmte verdrießlicher. Die Tatenlosigkeit bewirkte schlechtes Gewissen. Die Pandemie* des Parlamentarismus.

Der Traum war aus. Keine dieser Parteien und Koalitionen war willens und mächtig, meine Vorstellungen ins Werk zu setzen. Im Gegenteil! Ein neuer Widerspruch erwachte. Der zwischen den Versprechen der parlamentarischen Politik und der Wirklichkeit derselben. Ich rieb mir einen zweiten Faltenberg auf die Stirn und überlegte lange, bis ich mich entschloss, dieses Spiel nicht mehr weiter mitzumachen – mitzuwählen, als ginge es darum, den neuen Superstar des allerneusten Hollywood-Streifens zu bestimmen. Nein Schluß! Ich war reif genug, für mich selbst zu stehen. Der Weimarer Putsch wär wohl auch gelungen, hätten noch mehr gewählt. Das war einfach nicht das Problem. StammwählerInnen und Überzeugungstäter hielten den Status quo.

Doch konnte ich denn allein Rahmenbedingungen setzen, Möglichkeiten ausschöpfen – Territorium und Spielraum, Verfassung und Verlauf meiner Lebensform bestimmen? War ich überhaupt allein? Ich schaute mich um, in Geschichte und Gegenwart und musste nicht lange suchen. Überall lebten Menschen, die so dachten und fühlten wie ich. Mein Vertrauen wuchs mit dem Tatendrang. Wir machten gemeinsame Sache, direkt und gegenseitig. Wir verzichteten auf Päpste und Könige, Politiker, Bürokraten und Polizisten. Wir setzten Rahmen, griffen nach Möglichkeiten und bestimmten deren Verlauf. Insoweit es gelang, fühlte ich mich frei und mir war wohl. Doch ich musste auch feststellen, dass der Parlamentarismus mit all seinen Organen viel viel mächtiger war als wir, die WählerInnen weit in der Überzahl. Die süße Verführung der parlamentarischen Versprechen umspielte immer wieder meine Sinne und Gedanken, benebelte sie. Ich blieb standhaft gegen diese Altersschwäche, auch wenn meine ganze Generation zu kippen schien. Meine Freunde gaben mir Kraft. Auf meiner Stirn indes entstand eine dritte Hautverwerfung, die von dem Widerspruch rührte, nicht mit der größten verfügbaren Macht zu kooperieren (und deren Versprechen zu glauben), um meine Ideen durchzusetzen, sondern mit der sehr kleinen (der nicht institutionalisierten). Daß zudem sich beide Mächte nicht nebeneinander durchsetzen ließen, ohne alle Vorstellungen besserer Verhältnisse aufzugeben. Und trotzdem! Die Hoffnung wurde stets durch die kleinen Erfolge der Selbstbestimmung genährt. Durch symbolische Siege und handfeste Feiern, durch gelungene Aktionen und erreichte Ziele. Durch ernsthafte Kritik, Ironie, Sarkasmus und auch heilsamen Zynismus.

So fahre ich im hohen Alter selbstbewusst über meine dritte Falte auf der Stirn, streiche sie liebevoll in Richtung der Grübchen über meinen Mundwinkeln und beginne in glücklicher Erinnerung still zu lächeln. Kämpfe!

clov

* Pandemie – weitreichende Epidemie

Politik & Prosa

Die GroßstadtIndianer (Folge 10)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland I

Etwas kitzelt mir die Nase, ‚verdammt‘, ich muß niesen. Ganz kurz, aber der Moment reicht und mein Traum hat sich verkrochen. Da hilft auch kein Suchen mehr. Durch meine verquollenen Augen blinzelt mich der Tag an. Ich zwinkere zurück: ‚Auch noch nicht so alt, Bursche‘. Meine großen Zehen tasten nach den Latschen. ‚Und so schön bist du auch wieder nicht!‘ Mißmutig schiebt er sich eine handvoll Wolken vors Gesicht und macht einen sehr unentschlossenen Eindruck. Morgentoilette – alltäglich, unaufgeregt. Erst als ich über den Platz zum Frühstück trotte, spüre ich, wie einer meiner Lebensgeister aus seiner Flasche kriecht. Aber die anderen, die sind dann echt das Morgengrauen. Finn nagt versunken an einem Kanten Schwarzbrot, Kalle ist früh morgens sowieso kaum ansprechbar und Moni und Schlumpf kann ich an den Augenringen ablesen, wie wenig sie letzte Nacht geschlafen haben. Beim genauen Auszählen der Falten trifft mich Monis Blick, etwas vorwurfsvoll. Ich sehe verlegen zu Schmatz, der im Moment nur Augen für seinen Napf hat. ‚Na wenigstens einer ist heut gut drauf‘, als ich über sein Fell fahre, knurrt er versunken, aber bestimmt. ‚Der will also auch nicht gestört werden!‘ „Na, guten Morgen!“ Der Gedankenfetzen rutscht mir einfach so raus und meine Zunge ist sein williger Helfer. Plötzlich sitze ich im Kreuzfeuer. Alle starren mich an, als würde ich ihnen gleich erklären, warum ihr Tag so scheiße begonnen hat. Ich lasse das aber lieber und entscheide mich stattdessen für einen positiven Ausblick. „Mensch Leute, mit der Einstellung, da kann die Demo ja nur ein Reinfall werden!“ Finn winkt zwar ab, scheint mir jedoch etwas dankbar für den Versuch der allgemeinen Aufmunterung. Kalle macht eine Mundbewegung wie ein Karpfen und will gerade ansetzen, mir auseinanderzunehmen, warum er diese Demo gerade so blöd und unsinnig findet, aber Moni schneidet ihm aber erstaunlich geistesgegenwärtig das Wort ab. „Laß mal gut sein, Kalle, das hatten wir doch gestern schon alles.“ Schlumpf nickt. „Wir ziehen das jetzt einfach durch. Die anderen verlassen sich schließlich auf uns.“ Kalle verzieht sein Gesicht: „Ja, ja und kuscheln sich jetzt noch in ihre Betten. Das ganze Pack von Meuterern. Und auf welchen Schultern lastet wieder die ganze Verantwortung? Na, na?“ Aufreizend blickt er in die Runde. „Steck den Muffel wieder weg, du Seeräuberhauptmann.“ Tatsächlich, Finn grinst ein wenig. „Freibeuter, bitte!“ Alle nicken verständnisvoll. Wenig später sind wir dann auch schon unterwegs: Finn und Moni vorneweg, das Transparent geschultert, ich und Schlumpf hinterher – er hatte Schmatz aus technischen Gründen, mit den Worten: „Streunender Hund von Polizei totgetrampelt, nein Schmatz, das ist denen keine Schlagzeile wert. Du paßt hier auf und sicherst uns den Rückzug.“ gebeten, auf dem Hof zu bleiben – und Kalle trabt etwas abseits, von Zeit zu Zeit einen Kieselstein traktierend. Er hat ja auch Recht, eine Demonstration gegen die Kürzungen und Sparpläne von oben, initiiert von ein paar Bürgervereinen, den Gewerkschaften und der Kirche ist nicht gerade das, von dem sich unser jugendlicher Idealismus eine substanzielle Veränderung der Verhältnisse erwartet. Und schließlich werden wir allenorten wieder den naiven Nationalismus zu hören kriegen, nach dem Motto: „Deutschland muß es wieder besser gehen.“, die banale Logik, den eigenen Landstrich als wirtschaftliche Einheit, als Standort in Konkurrenz mit anderen zu sehen. Aber es werden auch sicher einige Leute mehr kommen als sonst und diese Möglichkeit, auf der ohne Zweifel politischen Veranstaltung, für unsere Ideen, Aktionen und Projekte zu werben, vielleicht die eine oder den anderen aus seinem Taumel zu reißen, dies durften wir uns nicht entgehen lassen, eben wegen unserer politischen Verantwortung. Auch wenn es schwerfallen wird. Ein Sixpack kommt den Berg hinaufgeknattert. Schlumpf pfeift betont und rammt mir den Ellenbogen in die Seite. „Die hatten den Kofferraum voll! Was meinst du, wie die heute drauf sind? Ich hab gestern von Puschel und Locke gehört, daß die Polente schon den ganzen Abend angereist ist. Hamburg, München, Stuttgart, Rostock, Frankfurt Oder, Leipzig, von überall. Die haben angeblich ein Flugblatt abgefangen, in dem zum schwarzen Block aufgerufen wird.“ Ich kratze mir das Haupthaar, „Naja, soviele Militante gibt‘s in unserem Städ‘le ja nun auch nicht. Hoffentlich sind die nicht gestern schon angereist, in den selben Autos wie die Polizei, meine ich.“ „Scheiß Strategie!“ flucht Schlumpf und versucht grimmig dreinzuschauen. Ich muß lachen, „So bist du aber noch einfacher zu provozieren.“ Er starrt mich leicht irritiert an, läßt sich dann aber von meinem Grinsen anstecken. „Du hast recht.“ und beginnt eine tiefergehende Konversation über die Geschichte der Provokateure, einen Monolog eher, den ich nur mit einem Ohr verfolge. Ich blicke zu Kalle. Der doziert, einen Stein mit kleinen Tritten vor sich her treibend, wahrscheinlich eben jenem, noch einmal ausführlich seine Gründe gegen die überhobene Vorstellung nationaler Kollektive und Borniertheit der Standortideologie. Hofft er in dem jahrtausendealten Stein einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben? Ich verwerfe den Gedanken und laufe prompt auf Finn und Moni auf. „Autsch.“ Beide drehen sich um. Während der Schmerz aus Finns Gesicht huscht, lächelt Moni mich an. Das Licht hat die Müdigkeitsfalten geglättet und frische Farbe in ihre Wangen getrieben, „Nicht so stürmisch. Du kannst wohl die Demo kaum erwarten, wie?“ Ich muß einem gezielten Schlag von Finns Transparentstange ausweichen und ziehe mich „sorry, sorry“ murmelnd hinter Schlumpf zurück. Der plustert auch sofort seine schmale Brust auf und geht in Kampfhaltung, bereit seinen Kumpel gegen den Angriff zu verteidigen. Doch bevor die Situation überhaupt die Chance hätte zu eskalieren, ist es Kalle, der ruft: „Hey seht mal, da laufen die ersten mit Transparenten. Kennen wir die nicht?“ Ja sicher, es sind die Leute vom Wohnprojekt und wenig später biegt auch noch ein Dutzend vom Jugendclub um die Ecke. Moni und Finn entrollen unser Spruchband. „Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland“ …

(Fortsetzung folgt.)

clov

Lyrik & Prosa

Freundliche Helfer

Nach Informationen aus Regierungskreisen besteht kein Grund zur Beunruhigung.

„Es wäre doch schade, wenn das jetzt hier eskalieren würde. Bisher waren eure Proteste doch so schön friedlich.“ * – Eine banale Beschreibung dessen, worauf es der herrschenden Politik im Umgang mit der Studibewegung ankommt. Alles soll möglichst schön konstruktiv ablaufen. Symbolischer Protest ist okay, solange nichts „eskaliert“. Misstrauisch beäugt die Polizei die vielschichtige und spontane Streikbewegung bei der jede Kriminalisierung durch die überwiegend positive Berichterstattung der Medien erschwert wird. Studierende genießen durch ihre Vorzeigefunktion als zukünftige Elite anscheinend mehr Narrenfreiheit als andere protestierende Gruppen, wie beispielsweise AntifaschistInnen, die oft von vornherein zu „Chaoten“ gestempelt werden.

Mehr und mehr studentische Aktionen machen aber deutlich, dass der zugestandene Rahmen symbolischer Proteste zu eng ist, für Leute, die etwas bewegen wollen. Gleich zum Streikauftakt wird das Rektorat besetzt und anlässlich des Schröder-Besuchs Polizeisperren durchbrochen. Auf den ersten Blick wirken die Bewahrer der öffentlichen Sicherheit und Ordnung konzeptlos. Wie ist mit so einer heterogenen Masse jung-dynamischer Leute bloß umzugehen? Mit den laufenden Aktionen offenbart sich von Seite der Obrigkeit allerdings ein interessantes zweigleisiges Konzept.

Während auf der einen Seite dem symbolisch-konstruktiven Protest öffentlicher Raum gegeben wird, sollen ihm aber ganz klar Grenzen gesetzt werden. Schließlich erkennt man bei den Studis auch durchaus Potential, das sich radikalisieren könnte – spätestens seit `68 ist bekannt, wie sich Bewegungen, die mit vergleichsweise harmlosen Forderungen anfangen, zu einem Generalangriff aufs Herrschaftsgefüge ausweiten können. Eine solche Entwicklung muss auf jeden Fall vermieden werden und so ganz ohne Repression soll es jedenfalls nicht abgehen: Leute, die etwas länger das Megafon in Händen halten, werden (möglichst) diskret zur Seite geführt: Personalienfeststellung. Andere, die sich in kleiner Gruppe vorwagen, um über den 08-15-Protest hinauszugehen, werden festgehalten – es gibt Platzverweise mit dem Hinweis, sich „nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen“, man „kenne Sie ja schon“. Während im Allgemeinen ein kollegial-kumpelhafter Ton gegenüber den Protestierenden gepflegt wird, versucht die Polizei mit umfassender Überwachung der Proteste, „Rädelsführer“ und „Extremisten“ ausfindig zu machen, gegen die mit Einschüchterung oder Anzeigen vorgegangen werden kann, wie neuerdings gegen die StörerInnen des Dresdner Landtags.

Einer sozialen Bewegung klare Grenzen zu setzen, ohne den Polizeistaat zu offensichtlich werden zu lassen, ist theoretisch nicht möglich, praktisch aber anscheinend schon. So „eskaliert“ nichts und alles bleibt „schön friedlich“. Natürlich nach der Definition der grundfriedlichen Polizei.

soja

* „Einsatzleiter“ der Polizei bei der angedrohten Räumung des Regierungspräsidiums, 28.1.

Bildung

Streit um den Synagogenbau im Waldstraßenviertel

Anwohner klagen gegen den Bau eines jüdischen Gemeindezentrums im Waldstraßenviertel. Sie argumentieren, der Bau eines solchen Zentrums stelle ein Sicherheitsrisiko sowie eine Wertminderung für ihr Eigentum dar.

Seit dem Jahr 2002 plant die israelitische Religionsgemeinde Leipzig den Neubau eines Gemeindezentrums mit integrierter Synagoge im Ariowitsch-Haus. Das Haus ist ein ehemaliges jüdisches Altenheim und wurde nach der Zwangsräumung in der Nazizeit bis in die 90er Jahre als städtisches Seniorenwohnheim genutzt. Seit 1996 steht es leer und wurde der Israelitischen Gemeinde Leipzigs zurück übertragen. Diese wuchs in den letzten Jahren stark an, so dass größere Räumlichkeiten benötigt wurden.

Daher stellte sie einen Bauantrag zum Umbau des Ariowitsch-Haus. Die Baupläne sehen einen unterirdischen Versammlungs- und Synagogenraum vor. Das gesamte Projekt kostet etwa vier Millionen Euro. Davon übernehmen die Stadt Leipzig und das Land Sachen den größten Teil, 800.000 muss die jüdische Gemeinde selbst tragen, wovon sie schon 200.000 erbracht hat.

Der Bauantrag wurde trotz Widersprüchen der Anwohner genehmigt, welche daraufhin Klage gegen die Baugenehmigung erhoben. Doris Benner, Vorstandsmitglied des Fördervereins für den Synagogenbau, sagte hierzu: „offenbar befürchten die Anwohner einen Wertverlust ihrer Objekte durch religiöse Nutzung nebenan“. Außerdem wird in der Klageschrift argumentiert, dass die Sicherheit der Anwohner nicht mehr gewährleistet werden könne, wenn sich in der Nachbarschaft eine jüdische Gemeinde befände. Die Klagen bedrohen nun unabhängig vom Ausgang des Verfahrens das gesamte Projekt. Denn ein Großteil der zugesagten Förderungen verfallen, wenn nicht bis Ende 2004 mit dem Bau begonnen wird. Ob die Klage bis dahin schon entschieden ist, erscheint aber ungewiss.

Die jüdische Gemeinde Leipzig äußerte sich zu den Anklagen nicht. Ebenso wenig berichtete die Leipziger Lokalpresse über den Streit. Erst der Leipziger Pfarrer Christian Wolff machte die Sache öffentlich. Wolff wirft den Klägern vor, sich mit ihren Argumentationen in der „trüben Tradition des Antisemitismus“ zu bewegen. Es sei ein Unding, Juden als Sicherheitsrisiko zu bezeichnen, nur weil deren Einrichtungen vor möglichen Angriffen geschützt werden müssten. Reaktionen auf die öffentliche Kritik gab es nur in den überregionalen Medien und vom „Bürgerverein Waldstraßenviertel“. Dieser kritisierte die öffentliche Stellungnahme des Pfarrers.

freitag

Kommentar

Hier werden Opfer zu Tätern gemacht. Nicht die jüdische Gemeinde ist das Sicherheitsrisiko, sondern die antisemitischen Schläger! Auch die Förderung des Neubaus durch Stadt und Land ist zu begrüßen, profitieren sie doch bis heute von den illegalen Enteignungen jüdischen Eigentums in der Nazizeit. Das beste Beispiel ist das Haus Ariowitsch selbst. Es wurde in der Nazizeit enteignet und diente der Stadt Leipzig bis in die 90er Jahre als Seniorenwohnheim. Stadt und Land haben sich bei den bisherigen Planungen als sehr kooperativ erwiesen. Um so erstaunlicher erscheint da die deutliche Zurückhaltung der Lokalpolitik, was die jetzigen Klagen betrifft. Auffällig ist auch das Schweigen der LVZ und anderer Lokalmedien zum Thema. Wo ein klarer Aufschrei nötig wäre, herrscht gähnende Leere. Will man sich die Chancen für die Olympiabewerbung durch eine öffentliche Antisemitismusdebatte nicht noch weiter erschweren? Hat hier der lokalpatriotische Mief gesiegt?

freitag

Lokales