Schlagwort-Archive: 2011

Interview: ZineAttack #01

Fanzines? Was´n das?“ Die Antwort auf diese Frage ist scheinbar einfach: Das Wort setzt sich aus „Fan“ und „Magazine“ zusammen. Gemeint ist also ein Heft von Fans für Fans, in Eigenregie produziert, oft per Fotokopie vervielfältigt. Ab da wird’s dann aber kompliziert – denn von Punkrock über persönliche Alltagsgeschichten bis zum Gartenbau gibt es wohl kaum ein Thema, für das sich nicht irgendwo ein entsprechendes Fanzine finden ließe. Wie vielfältig dieses Feld sich gestaltet, konnte man am 10. September im Atari erleben. Dort fand nämlich das ZineAttack statt, ein Treffen für Fanzine-Macher_innen und sonstige Interessierte. Im Vorfeld nutzte der Feierabend! die Chance, ein Interview mit zweien der Organisator_innen zu führen:

FA!: Ich vermute mal, dass Ihr nicht nur das ZineAttack organisiert, sondern auch anderweitig im DIY-Bereich aktiv seid. Könnt Ihr euch mit ein bis zwei Sätzen vorstellen, wer Ihr seid und was Ihr sonst so macht?

Jan: Ich bin Jan, 26 Jahre alt, gebe seit 2002 zweimal im Jahr ein jeweils 80-seitiges Anarcho-Punk-Fanzine namens Proud to be Punk heraus und spiele bei Selbztjustiz Gitarre bzw. bei Doubt Everything Schlagzeug. Darüber hinaus bin ich bei Bon Courage e.V. aus Borna aktiv – hierbei handelt es sich um einen Ende 2006 ins Leben gerufenen Verein, der mit Workshops, Vorträgen, Filmvorführun­gen, Ausstellungen, Bildungsreisen usw. antifaschistische und antirassistische Aufklärungsarbeit betreibt (siehe www.bon­courage.de).

Markus: Ich heiße Markus und schreibe und verkaufe Zines (über das Fill-My-Head-Zine-Distro). Ich höre gerne Toxoplasma und Rites Of Spring und schlafe lange. Außerdem finde ich seit 2002 (da hörte ich zum ersten Mal einen Song von Minor Threat) schnelle, simple Musik voll gut, deshalb gründete ich mit drei anderen Losern vor einiger Zeit die Musikgruppe Morgenthau Plan. Sonst beschränken sich meine Aktivitäten im DIY-Bereich meist nur noch auf den Support von Konzerten mittels Eintrittzahlen und dem Erwerb von Tonträgern.

FA!: Ganz naiv gefragt: Was ist ein Fanzine? Worin unterscheidet es sich von „normalen“ Zeitschriften. Und warum macht oder liest mensch lieber ein Fanzine als einen Blog?

Jan: Das klassische Fanzine ist ein schwarz-weiß kopiertes Heft im A5-Format. Da sich diese Szene recht vielseitig gestaltet, gibt es natürlich auch Fanzines in A6-, A4- oder auch vollkommen ausgefallenen Größen. Ab einer gewissen Auflage lohnt es sich, das Heft zu drucken – so gibt es auch ei­nige vollfarbige Fanzines auf Hochglanz-Pa­pier, wobei für mich jedoch die Do-It-Yourself-Atmosphäre ein stückweit verloren geht. Die inhaltliche Ausrichtung kann sehr unterschiedlich ausfallen und hängt selbst­verständlich von den Interessen der Heraus­geberInnen ab. Musik spielt in Punk/Hardcore-Fanzines zweifelsohne eine bedeutende Rolle. Aber auch Themen wie Politik, Kunst oder Sport sowie persönliche Gedanken bzw. Erlebnisse stellen keine Seltenheit in Fanzines dar – einige HerausgeberInnen nutzen ihr Heft sogar förm­lich als Tagebuchersatz und geben viel über die eigene Person preis. Wie der Inhalt so wird auch das Layout des Fanzines von denjenigen zusammengeschustert, die selbiges veröffentlichen – entweder ganz oldschool mit Schere und Leim oder etwas moderner am Computer.

Fanzines unterscheiden sich von normalen Zeitschriften in erster Linie dadurch, dass sie ohne finanzielle Hintergedanken aus purem Idealismus heraus veröffentlicht werden – so deckt der Preis eines Fanzines in der Regel gerade mal die entstandenen Kopier- bzw. Druckkosten. Dadurch, dass sich die Redaktion meist nur aus einer Hand­voll Leute zusammensetzt, fällt der In­halt häufig sehr subjektiv aus – es wird ein­fach über das geschrieben, was die He­rausgeberInnen selbst interessiert oder bewegt. Zudem erscheinen Fanzines oftmals unregelmäßig und meist nur in einer Auflage von wenigen hundert Exemplaren.

Da ich selbst nur ungern längere Texte am Computer lese und lieber in der Straßenbahn, auf der Wiese im Park oder abends im Bett noch ein bisschen in einem „richtigen“ Fanzine schmökere, hält sich mein Interesse gegenüber Internetblogs spürbar in Grenzen. Ein Fanzine ist einfach klein, handlich, praktisch – um einen Blog zu lesen, muss ich zumindest einen Laptop parat haben. Zudem sind Fanzines von ihrer Optik her oftmals mit wesentlich mehr Liebe zum Detail gelayoutet, als es bei Blogs der Fall ist.

FA!: Und á propos Blogs: Gibt’s so was wie ein Konkurrenzverhältnis zwischen Zines und dem WoldWideWeb? Waren Fanzines früher wichtiger für die Subkultur?

Jan: Zweifelsohne haben E-Zines und Webblogs gedruckte Fanzines in den letzten Jahren ein stückweit verdrängt. Dennoch gibt es immer noch genügend Leute, die sich für Fanzines im Papierformat interessieren, so dass ich nur bedingt von Konkurrenz sprechen würde. Auf mein eigenes Fanzine bezogen hat sich beispiels­weise im Laufe der Jahre ein recht fester LeserInnenkreis etabliert, zu dem immer wieder neue Leute hinzustoßen. Nichtsdestotrotz hat das Internet ungemein dazu beigetragen, dass der Informationsfluss wesentlich zügiger vonstatten geht, als es in den 1980ern oder 1990ern der Fall war. Damals blieben Mundpropaganda, Flyer und eben auch Fanzines oft die einzige Informationsquelle, auf die man zurückgreifen konnte, um auf dem Laufenden zu bleiben – heutzutage genügen einige Mausklicks, um alles nötige zu erfahren.

Markus: Ich glaube schon, dass die Möglichkeiten im Netz die Zinekultur so’n bißken ausgeknockt haben. Zumindest ist der ganze Spaß doch deutlich zusammengeschrumpft. Also klaro, wie Jan schon sagte, es gibt immer noch genügend Leute, die sich für den Kram interessieren. Aber wenn man vergleicht, was es z.B. vor ungefähr 10 Jahren noch an deutschsprachigen Egozines gab (hab erst letztens ´nen guten Einblick bekommen, als ich ein riesiges Paket mit alten Zines aus dem Zeitraum 1985-1995 zugeschickt bekam), was man mittlerweile fast an beiden Händen abzählen kann, würde ich auf jeden Fall behaupten, dass E-Zines, Blogs & Co. dazu beigetragen haben, dass das Printheft nicht mehr so gefragt ist. Einen Blog im Egozinestil aufzuziehen ist auch einfach unkomplizierter: Freier, kostenloser Zugang, Kommentarfunktion, sekundenschnelles Artikel veröffentlichen statt wochenlanges Schneiden & Kleben… Ich persönlich bevorzuge immer noch gedruckte Zines, aus den auch von Jan genannten Gründen, lese aber auch gerne auf Blogs rum. Ich schreibe ja auch auf dem Blog für die Fill-My-Head-Zine-Distro, was für mich aber nicht den gleichen Stellenwert wie das Schreiben eines Printzines hat. Letzteres bedeutet mir dann doch viel mehr, weil mir der ganze Entstehungsprozess „Text schreiben > Layoutideen sammeln > schneiden und kleben > kopieren und tackern“ verdammt viel Spaß bereitet und die alltägliche Langeweile ein wenig wegkillt.

Und deine super-allgemeine Frage, ob Fanzines früher wichtiger waren, kann ich dir super-allgemein beantworten, nämlich mit einem klaren: Ja, auf jeden Fall. Nehmen wir mal das Beispiel Konzertankündigungen: Wie erfuhr ein schwäbischer Dorfpunk in den frühen 90ern vom GG-Allin-Konzert in Königswusterhausen? Eben. Von seiner Brieffreundin aus Flensburg, die den Konzertflyer irgendwo ins Layout ihres Zines einfließen ließ. Heute erledigen das eben Blogs und Konzerteinladungen auf Facebook. Siehe Jans Antwort. Sehr schön auf den Punkt gebracht. GG Allin ist übrigens schon lange tot, hab ich auf Wikipedia gelesen.

FA!: Naive Frage Nr. 2: Warum gibt es Zinefests? Welche Bedeutung haben die für die „Szene“? Und was ist das Motiv für Euch, hier in Leipzig ein Zinefest zu organisieren? Was kann mensch da erwarten?

Markus: Ich denke, jede Zinefest-Orga-Crew hat da ihre eigenen Gründe, je nachdem, wo die persönlichen Prioritäten der Aktiven liegen. Die klassischsten Gründe sind wohl einfach die, das Medium „Fanzine“ einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, neue Zines und die Menschen dahinter kennenzulernen und Eigenes zu verbreiten. Es gibt aber auch Zine­feste, die ein bestimmtes Thema pushen wollen, z.B. von Anarchopunks organisierte Treffen, um politische Aktionsformen zu entwickeln und weiterzuverbreiten, oder Riot-Grrrl-Events, um am männer­dominierten Bierzelt namens Punk ein wenig feministisches Feuer zu legen.

Welche Bedeutung das für die Szene hat? Ich kann da nur mutmaßen. Es ist halt erstmal „nur“ ein nettes Vernetzen, welches im real life, von Aug zu Aug, stattfindet. Ob das irgendwie großartig bedeutend für eine Szene ist, glaube ich kaum, und ich sage das auf keinen Fall jammernd oder klagend. Ich glaube, die Bedeutung beschränkt sich meist auf die eh schon Aktiven, die sich dann halt nach jahrelangem Mail­verkehr und Zinetausch endlich mal ken­nenlernen. Im besten Falle entsteht da­raus etwas, z.B. ein neues gemeinsames Zine oder, noch besser, die eine oder der andere wird angefixt und ins­pi­riert, ein eigenes Heft zu starten. Aber auch hier kann man sagen: Ver­netzung findet mittlerweile hauptsächlich digital statt.

Zu unserer eigenen Motivation, so was mal in Leipzig zu versuchen: Es ist im Grunde so, dass wir alle in irgendeiner Weise aktiv im Zine-Business drinhängen und immer wieder die Erfahrung machen, dass gar nicht mal so wenige diese Zine­kultur überhaupt nicht kennen, oft nicht mal den Begriff „Fanzine“ zuordnen können. Kurz gesagt ist das Hauptmotiv also erstmal „nur“ aufzuzeigen, was sich dahinter verbirgt. Nämlich nicht nur schmuddelige Nischenblättchen für Punker, nöö, das alles kann ziemlich facettenreich und inhaltlich verdammt abwechslungsreich daherkommen. Positive Nebeneffekte könnten auch sein, dass wir neue spannende Zines und Schreiber_innen kennenlernen und irgendwen irgendwie inspirieren. Mal schauen.

Was wir uns konkret für das Leipziger Modell ausgedacht haben: Neben dem üblichen abendlichen Konzert mit 3 Punk/Hardcore-Bands als Ausklang und einem bestimmt voll leckeren Brunch zu Beginn kann man sich diverse Lesungen reinziehen, Filme zum Thema anschauen oder in einer Leseecke in alten und aktuellen Zines blättern. Wir konnten Christian Schmidt (ehemaliger Mitarbeiter im Archiv der Jugendkulturen Berlin) als Referenten zum Thema „allgemeine Geschichte des Fanzines“ gewinnen, sicherlich vor allem für Zine-Unkundige interessant. Verkaufsstände bieten für wenig Geld Fanzines aus den unterschiedlichsten Bereichen feil. Außerdem würden wir gerne vor Ort ein ZINEFESTZINE gestalten. Jede_r kann sich einbringen, Material zum schreiben und gestalten ist vorhanden.

FA!: Fanzines sind, soweit ich sehe, vor allem mit der DIY-HC/Punk-Szene verbunden. Gibt es so was wie eine eigenständige Zine-Subkultur oder eine Verbindung zu anderen Subkulturen durch das Medium Fanzine? Die ersten Zines, die ich vor gut zehn Jahren in die Hände bekam, waren (Death-)Metal-Zines, in den letzten Jahren gab´s drei-vier deutschsprachige Zines aus der Gothic-Ecke. Wie´s in anderen Bereichen (HipHop usw.) aussieht, weiß ich nicht. Also, gibt es eine Kooperation von Fanzine-Macher_innen aus verschiedenen Subkulturen, oder beschränkt sich das doch auf den DIY-Punk-Bereich?

Jan: Ein beachtlicher Teil der hiesigen Fanzinekultur dürfte durchaus in der Punk- und Hardcore-Bewegung verwurzelt sein, da gerade diese durch den Do-It-Yourself-Gedanken seit jeher besonders stark geprägt wurde. Laut Aussage einiger FreundInnen von mir scheint die Metal- und Gothic-Szene in dieser Hinsicht eher dünn besiedelt zu sein. Und auch mein Bruder, der sich intensiv mit HipHop beschäftigt, äußerte vor einiger Zeit leicht beeindruckt, dass er es schade findet, dass es in der HipHop-Szene scheinbar gar keine Ambitionen gibt, eigene Fanzines herauszubringen. Eine recht breit gefächerte Fanzine­kultur gibt es meines Wissens noch in der Ultra-Szene unter Fußballfans. Ein szenenübergreifender Kontakt lässt sich bei mir jedoch nur selten feststellen. Letztlich entstammen alle HerausgeberIn­nen anderer Fanzines, mit denen ich in Kontakt stehe – und das sind über die Jahre recht viele geworden – mehr oder weniger der Punk- und Hardcore-Szene, auch wenn sich der Inhalt der einzelnen Hefte sicher recht facettenreich gestaltet.

FA!: Welche Zines (aus Leipzig und darüber hinaus) würdet Ihr empfehlen, und warum gerade die?

Jan: In Leipzig ist nach einigen eher tristen Jahren glücklicherweise wieder etwas Leben in die Fanzine-Landschaft eingezogen. Zu erwähnen sind hierbei der Kiezkicker (alles rund um den antirassistischen Fußballverein Roter Stern Leipzig), Nairobi Five Degree (ein Mix aus Musik, Politik und Ego-Zine), MÜell (eine Wagenladung Gossenliteratur und anderer kranker Scheiß) und Utopia Now (eher musik­lastige Gazette, wobei der Schwerpunkt eindeutig im Hardcore-Sektor liegt). Nimmt man noch unsere beiden Fanzines Kalter Kaffee und Proud to be Punk hinzu, so ergibt sich ein recht facettenreiches Bild der Leipziger Fanzine-Szene, die nunmehr für jeden Geschmack etwas bieten dürfte.

Ich persönlich lese gern Fanzines, die eine ausgewogene Mischung aus Musik und politischen Themen bieten – z.B. Commi Bastard (Redskin-Fanzine aus Berlin), (R)Ohrpost (persönliches wie auch politisch motiviertes Punk-Fanzine von der Nordseeküste), Romp (klasse Anarcho-Punk-Fanzine aus der Schweiz) oder Underdog (sehr gut recherchiertes, tiefgründiges Fanzine aus Wildeshausen, das sich in letzter Zeit immer wieder einem Schwerpunktthema pro Ausgabe, z.B. Homophobie, widmet). Aber auch Human Parasit, Ketten und Ketchup, Randgeschich­ten oder Young and Distorted geben spannende Einblicke in das Leben der Heraus­geber­Innen, beziehen politisch klar Stellung und beweisen gutes Gespür, was coole Punk- und Hardcore-Bands betrifft.

Markus: Hm, ehrlich gesagt hat mich schon länger kein Zine mehr wirklich mitgerissen. Die meisten Zines, die ich erbarmungslos abfeiere und immer wieder lese, sind eigentlich alles irgendwelche alten Dinger, die es längst nicht mehr gibt. Was mir bei den meisten Zines irgendwie fehlt, ist eine eigene Meinung und ein gesundes Maß an Rücksichtslosigkeit. Wenn ich mich zurückerinnere, sind die Zines, die mich am meisten gekickt haben, meistens die gewesen, die mir in ir­gend­einer Art und Weise vor den Kopf gestoßen haben, die vielleicht widersprüchlich geschrieben waren oder sogar meinen eigenen Lebensstil angegriffen haben, aber so wenigstens irgendetwas mit mir gemacht haben. Das kann ich von den wenigsten Zines behaupten. Das meiste ist halt leider nur mittelmäßig.

Es gibt einige aktuelle Zines, die ich ganz okay finde, z.B. das Seven Inches To Freedom (klassisches Punk/HC-Zine aus den USA), Glamour Junkies (Egozine aus Berlin), Three Chords (mittlerweile schon recht professionell gestaltetes A4-Punk/HC-Zine aus Münster, langweilige Bandinterviews und superunterhaltsame Kolumnen), Nairobi Five Degree (Conne­witzer Punkkid von umme Ecke macht ‘nen Mix aus Egozine, Bandinterviews und Politartikeln) Trouble X (Queer Comixxx aus Berlin). Sinnvoll fand ich auch die von Sebastian in die Wege geleitete Wiederveröffentlichung eines Comiczines von idrawescapeplans und black zero. Ist´n schönes Teil geworden und gibt´s u.a. in der Fill-My-Head-Zine-Distro zu kaufen. KAUFEN! Anti-Everything gibt´s wieder, ist leider nicht so anti wie der Name vermuten lässt, aber trotzdem top. Das Nur über meine Leiche #02 aus Dresden find ich ziemlich cool, das kam vor ein paar Monaten raus. Schön rotziges Egozine, guter Schreibstil, nur viel zu schnell durchgelesen. Hoffentlich kommt da noch mehr. Das Scumbag Summer aus Berlin ist auch zu empfehlen, das sind vor allem Bildcollagen, aber trotzdem kein steriles, lebloses Kunststudentenblatt.

Was ich noch kurz loswerden will: Zurzeit scheint einiges zu laufen, denn neben unserem Zinefest ist für Ende diesen Jahres/Anfang nächsten Jahres noch was in Berlin geplant (checkt zine­festberlin.com), und laut unbestätigter Info dem­nächst auch in Hamburg. Danke an justus (aber auch die anderen) für die Interviewchance und die Geduld. We love you.

FA!: Danke für das Interview!

Glossar (für junge Spatzen, die noch nix kennen):
Distro = Distribution, Versand
DIY = Do It Yourself, mach´s selber…
Egozine = Ein-Personen-Heft mit entsprechend persönlichen Texten
GG Allin = legendärer Asselpunk, vor allem für seine fäkalienhaltigen Liveshows berühmt (aber leider schon tot)
Redskins = linke/kommunistische Skinheads
Rites Of Spring = großartige Mitt-80er-Hardcore/Emocore-Band aus Washington DC

Blatt.Rausch

Ein Heimblock für Nazis

Fußballbegeisterte Leipziger Neonazis können aufatmen. All jene, die sich beim 1. FC Lok nicht mehr so wohl fühlen, seit dort gegen einige offen rechts agierende Fangruppen Stadionverbote ausgesprochen wurden, die zwar nicht konsequent durchgesetzt werden, aber trotzdem die befreite Stimmung mitunter vermiesen, all jene also, die seit langem nach einer neuen Vereinsheimat suchen, können jetzt endlich jubilieren: bei der Sportgemeinschaft Leipzig Leutzsch (SG LL) sind sie herzlich willkommen. Hier gibt man sich laut Vereinssprecher Jamal Engel zwar unpolitisch („Politik hat beim Fußball nichts zu suchen“) aber eben auch rechtsoffen („Bei uns stehen Linke, Rechte und Menschen aus der Mitte zusammen im Block. Nur Extreme bleiben draußen“).

Spätestens bei dem Spiel im Wettbewerb um den Sächsischen Landespokal zwischen der SG LL und dem Roten Stern Leipzig am 4.9.2011 haben der Leutzscher Verein, der die Nachfolge des insolventen FC Sachsen Leipzig angetreten hat, und seine Fans recht deutlich gezeigt, was man hier unter ganz normal, rechts und gar nicht extrem versteht. Da wurden per Sprechchor und Wechselgesang allerlei traditionelle Variationen des Leutzsch/Deutsch-Reimschemas bemüht: „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“ und „Wenn das der Führer wüsst´, was Chemie Leipzig ist, dann wär er auch in Leutzsch, denn Leutzsch ist deutsch!“. Aber auch andere, in der deutschen Fußballwelt durchaus manch­mal als rechts und diskriminierend verpönte und sanktionierte Gesänge fanden hier wieder einmal Anklang. Im „U-Bahn-Lied“ baute man die schnelle Verbindung von Connewitz nach Auschwitz oder forderte verkürzt „Sterne in den Zug“ denn „Roter Stern – Juden, Juden, Juden!“. Dagegen kam der Reim „Teutonisch, barbarisch, wir Leutzscher, wir sind arisch!“ dann fast drollig daher. Begleitet wurde dies von einer breiten Palette von Gesten und Armbewegungen, die keiner gesehen haben will. Der Schiedsrichter griff trotz Meldungen durch Sicherheitsbeauftragte und Spieler nicht ein. Im Spielbericht steht: „Den Hinweisen des Mannschaftskapitäns gegen Gesänge im Stadion vorzugehen, konnte der SR nicht folgen, da diese vom SR-Team nicht wahrgenommen wurden“. Jamal Engels Kommentar: „Ich befasse mich nicht mit Politik. Im Spielberichtsbogen steht nichts dergleichen drin, also muss ich mich nicht damit befassen.“ So einfach ist es. Das neue Paradies für Nazis. Entschuldigt: nur für unpolitische Nazis natürlich. Alles andere wäre zu extrem.

teckla

Ein Link mit dem Soundtrack zu diesem Artikel: www.vimeo.com/28640380

Leipziger Powi-Institut bedroht

Seit Jahren steckt das Institut in einer ernsthaften Stellenkrise. Dem Andrang und Studieninteresse der Studierenden steht ein radikaler Stellenabbau gegenüber. Von den fünf regulären Professuren sind aktuell nur zwei konstant besetzt. Über die Berufungsverfahren wurde jüngst von der neuen Uni-Leitung ein Moratorium verhängt, die Hoffnung auf ein Ende der Krise zunichte gemacht. Laut Rektorat sollen damit zwar keine unausgesprochenen Schließungspläne des Instituts umgesetzt werden. Was der Zweck des Moratoriums stattdessen sein soll, ist jedoch selbst bei Einsicht in die sächsischen Kürzungsbestrebungen nicht ganz nachvollziehbar.

Die Stellenstreichungen sind Bestandteil des Sächsischen Hochschulentwicklungsplans. Vor etwas über 10 Jahren wurde in einem Bericht der Sächsischen Hochschul­entwick­lungs­kommission (SHEK) ein Weg vorgegeben, der auch heute konsequent verfolgt wird: Stellenstreichungen und Profilbildung, Kürzungen und Konzentration. Das Festhalten an der Idee einer „Volluniversität“, wie in Leipzig, im Gegensatz zu den Technischen Unis in Dresden und Chemnitz und den zahlreichen Fachhochschulen, ist in diesen Plänen nicht vorgesehen. Das Ideal der Bündelung von Bildung und Forschung aus allen Wissen­schafts­be­reichen an einer Hochschule hat keine Gültigkeit mehr. Der Zugewinn des inter- und transdisziplinären Austauschs gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist nicht berechenbar und erfährt keine Anerkennung.

Die Sorge um den Bestand der Politikwissenschaften in Leipzig ist somit nur eine von vielen, wenn es um die Zukunft der Wissenschaften, der Bildung und Forschung in Sachsen und Deutschland geht. Dennoch sollte in Leipzig diese Sorge nicht nur den Studierenden der Politikwissenschaft und einer Handvoll Do­zent_innen überlassen werden. Von einer Schließung des Instituts und dem Wegbrechen des Studiengangs wäre weit mehr betroffen, nicht zuletzt zahlreiche Bereiche politischer, linker, kriti­scher, emanzipatorischer Kultur und Lebenswelt. Leipzig ohne „Powis“ – auf keinen Fall!

teckla

Lokales

Freiwillig dem Staat verpflichtet

Über die problematische Nutzlosigkeit des neuen Bundesfreiwilligendienstes

 

Ein Hoch auf den Erfindungsreich­tum der Bundesregierung, genauer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)! Dank der Bundeswehrreform (siehe FA!#40) bekam auch Kristina Schröder im BMFSFJ nun die Möglichkeit sich zu beweisen und die langen staatlichen Finger in ein neues Experimentierfeld zu stecken. Denn da den Wohlfahrtverbänden nun die Zivildienstleistenden abhanden kommen, mussten neue Strukturen geschaffen werden, um den sozialen Sektor möglichst billig mit willigen Arbeitskräften am Leben zu erhalten. Unter dem Motto „Nichts erfüllt mehr als gebraucht zu werden“ wird deshalb jetzt für den Bundesfreiwilligendienst (BFD) geworben. Der einstige Zwangsdienst soll damit also auf freiwilliger Basis fortbestehen. Doch was auf den ersten Blick als innovative zivilgesellschaftliche Engagementförderung daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als äu­ßerst problematische Neustruktu­rierung, auf die selbst Wohlfahrtsverbände, freie Träger und Gewerkschaften schimpfen.

Doch von vorn: Seit dem 1. Juli können Menschen jeden Alters in der Bundesrepublik zum sog. Bufdi werden und einen freiwilligen „Dienst an der Gesellschaft“ leisten. Stein des Anstoßes war hier das Sparpaket 2010, das nicht nur die Bundeswehrreform, sondern mit der Wehrpflichtaussetzung nun auch die Zivildienstreform nach sich zog. Statt jedoch dies als Chance zu nutzen und ganz neue Wege im maroden Sozialdienstleitungssystem zu beschreiten, wurde der – für manche Wohlfahrtsverbände exis­tenz­bedrohliche – Wegfall des zivilen Dienstes lediglich durch die Umwandlung in einen freiwilligen Dienst kompensiert. So schob man das ehemalige Bundesamt für Zivildienst dem BMFSFJ zu, das es zum Bundesamt für Familie und zivilgesell­schaftliche Aufgaben machte, die Beamtenschaft übernahm und mit dem BFD betraute. Doch so einfach geht die Rechnung dann leider doch nicht auf.

Großer Käse

In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Eindruck, das größte Problem mit dem BFD bestünde in der fehlenden Anzahl von engagierten Menschen, die auch ohne Zwang gern Gutes tun. Denn für den BFD bewarben sich bis zum 1. Juli lediglich 3.000 Jugendliche. Rechnet man noch die 14.300 Männer hinzu, die ihren Zivildienst freiwillig verlängert haben, stehen den 35.000 freien BFD-Stellen lediglich 17.300 Bufdis gegenüber. Und das könnte zahlreichen Einrichtungen mit Zivi-Tradition, wie Krankenhäusern, Pflegeheimen usw., schnell zum Verhängnis werden. Auch wenn das tatsächlich ein aktuelles Problem ist, greift die gerne bemühte Unterstellung, dass die Jugend kaum mehr Interesse am Gemeinwohl hege, hierbei viel zu kurz. Denn sie blendet nicht nur ökonomische Zwänge und die im kapitalistischen Ellbogenkampf erforderlichen zielstrebigen Lebensentwürfe aus, sondern lässt vor allem die Art der Tätigkeiten außer Acht. Denn mit dem Wechsel vom Zivi zum BFD änderte sich bei den allermeisten Stellen nur das Etikett, nicht das Profil. Viele der noch freien Stellen sind in relativ unbeliebten Bereichen angesiedelt und reichen von Krankenhaus- über Altenpflege bis hin zu stupiden Fahrdiensten. Sie sind also entweder recht anstrengend, freudlos und undankbar, oder aber gähnend langweilig und ohne Herausforderung. Zwar soll der BFD laut Papier jetzt als „Lerndienst“ und „wohl­fahrt­licher Hilfsdienst“ verstanden werden, al­ler­dings sieht die Realität eben ganz an­ders aus. Die künftigen Bufdis sollen als billige Arbeitskraft lediglich die Lücken, die durch die fehlenden Zivis entstehen, stopfen. Die Spannbreite der Arbeit in diesen Lücken reicht da­bei von tatsächlichen Hilfstätigkeiten bis hin zu sehr anspruchsvoller Arbeit, die eigentlich einer beruflichen Qualifikation bedarf. Während erstere Jobs wenig mit einem „Lerndienst“ gemein haben, sind letztere vor allem arbeitsrechtlich fragwürdig. In beiden Varianten wird zudem oftmals gegen die BFD-Richtlinie, ‘reguläre Arbeitsplätze nicht zu verdrängen’, verstoßen. Nicht nur das wurde von Gewerkschaften am BFD kritisiert, sondern auch das damit beförderte Lohndumping und die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Bei einem monatlichen Taschengeld von maximal 330 Euro für die Bufdis, scheint die Kritik an­gesichts des Tätigkeitsprofils berechtigt – auch wenn es sich ansonsten vortrefflich darüber streiten ließe, inwiefern Ehrenamt vergütet werden sollte (… und aus kapitalismuskritischer Sicht die Schaffung von Arbeitsplätzen ohnehin ganz anders zur Debatte stünde). Die neue Arbeitssituation unterscheidet sich also insgesamt nicht von der alten zu Zivi-Zeiten. Dass es dadurch an Freiwilligen fehlt, ist mehr als verständlich. Wer will sich schon freiwillig zu etwas verknechten lassen, was ihm selbst wenig bringt? Leider wurde hier die historische Chance verpasst, lange bestehende Missstände in den Ex-Zivi-Arbeitsfeldern endlich zu beheben.

Struktursalat

Ein weiteres Kernproblem, das vorzugs­weise hinter verschlossenen Türen am Runden Tisch mitunter heftig diskutiert wurde, betrifft die „Konkurrenzgefahr“ zwischen dem BFD und dem Freiwilligem Sozialen bzw. Ökologischen Jahr (FSJ/FÖJ). Diese bereits seit den 60er Jahren bestehenden Dienste werden zwar vom Staat finanziell unterstützt, aber zu 100% von Wohlfahrtsverbänden und freien Trägern organisiert und erfreuen sich im Gegensatz zum BFD recht großer Beliebtheit. Auch hier gibt es ca. 35.000 Plätze, allerdings ca. 60.000 Bewerber_innen jährlich. Das weckt sicherlich nicht nur Neidgefühle im Familienministerium, sondern offenbart auch die Parallelstruktur dieser als innovativ gepriesenen BFD-Reform (die eine Sinnfrage unweigerlich nach sich zieht).

Umso notwendiger waren daher Verhandlungen zwischen dem BMFSFJ und den Trägern des FSJ/FÖJ, die dann auch bis in die Sommerpause hinein miteinander um eine gemeinsame Ausrichtung und Gleichstellung rangen und stritten. Hierdurch sollte zum einen verhindert werden, dass sich tatsächlich die durch Doppel­struk­turierung drohende Kon­kurrenz­situation als solche etabliert, und zum anderen sollte eine „Aufteilung“ der Freiwilligen erreicht werden, so dass auch die freien BFD-Stellen eine Besetzung finden. Letzteres wurde zwischenzeitlich zum größten Streitpunkt, da das Ministerium eine 3:2 Quote forderte, d.h. die freien Träger verpflichten wollte, für je drei FSJ-Stellen auch zwei BFD-Stellen einzurichten. Als der Bund auch noch drohte, die bestehenden FSJ/FÖJ-Stellen nicht weiter finanziell zu unterstützen, wenn diese Forderung nicht erfüllt würde, war der Aufschrei und Ruf von „Erpressung“ und „Wortbruch“ auch bei den großen Verbänden wie DRK, Caritas, AWO und dem Paritätischen Bund sehr groß. So wurde am Ende ausgehandelt, dass eine feste Kopplung oder Quote nun nicht eingeführt wird. Die Gelder für die angenommenen FSJ­ler_innen fließen und im Gegenzug werden die Wohl­fahrts­verbände und Träger aber freiwillig bis Ende Oktober 8.000-10.000 Verträge über den BFD abwickeln. Bis 2013 soll es dann ein Verhältnis von 1:1 zwischen BFD und FSJ-Stellen geben.

Ansonsten wurde der BFD in vielerlei Hinsicht mit den FSJ/FÖJ-Richtlinien abgeglichen, so dass die Unter­schie­de nun marginal sind. Grund­sätz­lich aber kann man in jeder Altersklasse den Bufdi machen (auch in Teilzeit), während das FSJ/FÖJ auf Jugendliche bis 27 Jahren beschränkt ist. Die Entlohnung bei den Älteren und das Verhältnis zu anderen Modellen wie Bürgerarbeit und allgemeinen HartzIV-Zwängen sind aber weitere, noch im Detail zu klärende Baustellen im Ministerium (siehe Kasten). Auch kann ein BFD zu jeder Zeit begonnen werden, während das FSJ/FÖJ immer zum 01.09. des Jahres beginnt. Ein großer Unterschied zwischen FSJ/FÖJ und BFD besteht aber noch in der inhaltlichen Ausrichtung der freien Stellen: Während das FSJ/FÖJ tatsächlich immer als Lerndienst begriffen wurde, bei dem die Freiwilligen weniger Arbeitsplätze füllen, sondern eher wachsen, ihre Persönlichkeit und verschiedene Kompetenzen ausbilden sollten, wurde der Zivi als Alternativdienst zum Waffengebrauch eingeführt und – wie bereits erläutert – als Hilfsdienst an der Gemeinschaft konzipiert. Das eigene Lernen und Entwickeln stand dabei im Gegensatz zum FSJ/FÖJ nicht im Vordergrund.

Staatskompott

Das neue Nebeneinander von staatlicher und freier Trägerschaft im Bereich der freiwilligen Dienste stellt ein weiteres ernstzu­nehmendes Problem dar: Denn mit der Einführung des BFD geht auch eine gewisse Verstaatlichung zivil­gesell­schaft­lichen Engagements einher. Auch wenn die FSJ/FÖJ-Stellen schluss­end­lich mit aus der Staatskasse finanziert werden, lag die inhaltliche Ausrichtung und Durch­führung dieses Diens­tes sowie die Weiterbildung der Jugendlichen bisher vollkommen in den Händen der freien Träger und Wohl­fahrts­ver­bän­de. Das ermöglichte nicht nur Tätigkeiten in regierungsfernen, zivilgesellschaftlichen Sektoren, sondern v.a. auch die kritische Distanz zu manchen staatlichen Regelungen und Handhabungen und die Möglichkeit, dies auch in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Im Gegensatz dazu gehen die im BFD organisierten Freiwilligen mit dem Staat einen Vertrag ein und verpflichten sich ihm gegenüber zum Dienst an der Gemeinschaft. Mit den bisherigen Verhandlungser­geb­nissen zwischen BMF­SFJ und den Trägern von FSJ/FÖJ wird die Trennung zwischen staatlich und zivilgesell­schaft­lich organisierten Bereichen jedoch erheblich aufgeweicht. So werden künftig drei der für FSJ/FÖJ und Bufdis obligatorischen fünf Weiter­bildungs­semi­nare von den Zivil­dienst­schulungs­heimen inhaltlich und organisatorisch ausgerichtet. Ob die dortige Beamtenschaft, die vorher unter der Obhut des Verteidigungsminis­teriums stand, ihre Seminarinhalte grundlegend verändern wird, ist jedoch fraglich. Auch mit der Verpflichtung der Träger, BFD-Stellen im ähnlichen Umfang zu organisieren, verschwimmt diese Trennung. Schluss­­endlich ist die Gefahr auch groß, dass der in Verantwortung der freien Trägerschaft liegende Freiwilligendienst langfristig durch den staatlich organisierten BFD verdrängt wird und sich die staatliche Einmischung auch auf diesen bisher relativ freien Bereich der Jugendbildung erstrecken wird.

Bittere Pille

Bei all diesen mit dem BFD einhergehenden Problemen stellt sich die Frage nach der Sinn- und Zweckhaftigkeit dieser neuen staatlichen Struktur ganz besonders. Statt mit dem Ende des Zivildienstes über wirkliche Reformen und Alternativmodelle im sozialen Bereich nachzudenken und bspw. die freiwerdenden Gelder zu nutzen, um sowohl mehr FSJ/FÖJ-Stellen schaffen zu können, als auch den Wohlfahrtsverbänden die Neueinstellung von Mitarbeiter_innen mit angemessener Bezahlung zu ermöglichen, wurde hier eine sinnentleerte aber problematische Doppelstruktur geschaffen, die zum Ersten alte Zivi-Missstände mit neuem Logo fortschreibt, zum Zweiten den bereits bestehenden und sinnvoller konzipierten Freiwilligendiensten Konkurrenz macht und zum Dritten auch einen ernstzunehmenden staatlichen Eingriff in einem vorher unabhängig geregelten Bereich bedeutet. All das wiegt jedoch im Bundesministerium nicht so viel wie eine mög­lichst unkomplizierte Umstrukturie­rung, die eine weitere Beschäftigung der Beamten im Bundesamt für Zivildienst und den Erhalt der dazugehörigen Einrichtungen ermöglicht. So wurde ein neues bürokratisches Monstrum geschaffen, für den sich die freien Träger auch noch zur Schützenhilfe freiwillig zwangsverpflichten lassen. Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich damit langfristig nicht selbst ins Bein schießen und dem staatlichen BFD nicht gänzlich das Feld überlassen bleibt.

momo

Exkurs: Vom Hartzer zum Bufdi?

Auch als Hartz IV-Empfänger_in kann ein BFD in jedem Alter absolviert werden. Analog zu den Jugendfreiwilligendiensten können bisher aber nur schlappe 60€ pro Monat anrechnungsfrei hinzuverdient werden. Vielfacher Protest und die Einsicht, dass man einen Anreiz braucht, um die freien BFD-Stellen schnellstmöglich aufzufüllen, führte dazu, dass der anrechnungsfreie Satz voraussichtlich auf 175 € aufgestockt wird. Eine Gesetzesinitiative soll es dazu im Spätsommer geben. Ob dann auch alle jugendlichen BFD/FSJ/FÖJler_innen anfangen, sich ihren Unterhalt vom Jobcenter zahlen zu lassen, wird sich noch zeigen. Ungeklärt ist auch, wie sich das frisch eingeführte Modell der „Bürgerarbeit“ inhaltlich vom BFD unterscheiden soll. Denn die Bürgerarbeit umfasst ebenso gemeinnützige Tätigkeiten – die natürlich keine regulären Arbeitsplätze verdrängen – und soll ca. 34.000 neue Stellen schaffen. Bei einer 30 h/Woche (wahlweise auch 20 möglich), würde der/die Beschäftigte nach Abführung von Sozialbeiträgen (außer der Arbeitslosenversicherung) mit ca. 730 € netto monatlich nach Hause kommen. Abgesehen davon, dass Hartzer­_­innen zur Bürgerarbeit verpflichtet werden können, während beim BFD die Freiwilligkeit ja schon auf dem Etikett steht, gibt es so wenig Unterscheidungsmerkmale, dass auch hier der Verdacht einer sinnlosen Doppelstruktur mit Konkurrenzcharakter recht nahe liegt. Doch etwas nützliches hätte auch der BFD: Gesetzlich betrachtet gibt es keine Verpflichtung, während der Bufdi-Zeit reguläre Arbeit aufnehmen zu müssen und die Freiwilligen sind auch von der Vermittlung befreit. Denn analog zur FSJ/FÖJ-Regelung wird der Freiwilligendienst als „wichtiger persönlicher Grund“ gewertet, der der Arbeitsaufnahme entgegensteht. Andersherum kann man jedoch als Bufdi jederzeit selbst fristlos kündigen, um einen anderen Job anzunehmen.

Musikalischer Militärprotest

Am 4. September erlebten Urlaubsstarter, Beschäftigte und andere Besu­cher_in­nen den Flughafen Halle/Leipzig in ungekann­ter Atmosphäre. Nicht nur, weil der Abflugterminal kurzerhand zum Schauplatz einer politischen Protestaktion gegen den Militärflughafen Halle/Leipzig wurde, sondern v.a. weil diese als Klassikkonzert daherkam. Unter dem Motto „Piano und Forte statt Kriegstransporte“ produzierten über 60 mit verschiedenen Instrumenten ausgerüstete Musiker_innen samt Chor und Theaterduo ca. 2 Stunden lang unangemeldete, wohlklingende, klassische und kriegskritische Töne. Als Lebenslaute zusammengeschlossen, vermittelten diese jungen und älteren Menschen auf kreative Weise wogegen sie protestieren: Militarismus, Waffenexport und ganz konkret die militärische Nutzung des Flughafens (siehe auch FA!#41). Unterstützt wurden sie dabei von weiteren Aktiv­ist_innen, die das Flughafenfoyer mit Transparenten und plakatierten Koffern zur politischen Litfaßsäule umfunktionierten und Flyer verteilten.

Die Lebenslaute ist eine offene, basisdemokratisch organisierte Gruppe, die jährlich Konzerte an ungewöhnlichen, politisch brisanten Orten gibt, um verschiedene Probleme, von Militarisierung über Flücht­lings­po­litik bis hin zur Atomkraft, in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Ihren Ursprung hatte sie in der Friedensbewegung mit dem Protest gegen die Atomraketen­statio­nierung in Mutlangen im Jahr 1986. Inzwischen taucht die Lebenslaute seit nunmehr 25 Jahren immer mal irgendwo auf: am AKW Biblis oder in Gorleben, im Abschiebeflughafen Frankfurt, der Ausländerbehörde in Bielefeld oder wie zuletzt am Militärtruppenübungsplatz in der Colbitz-Letzlinger Heide. Dass ziviler Ungehorsam gepaart mit Hartnäckigkeit und Ausdauer auch zu Erfolg führen kann, haben viele der aktiven Lebensläuter zuletzt selbst erlebt, als der Truppenübungs- und Bom­ben­ab­wurfplatz „Bombodrom“ bei Witt­stock nach siebzehn Protestjahren geschlossen wurde. Vier mal kam die Lebens­lau­te mit Geige und Cello auch bei der dor­tigen Bürgerini „FREIe HEIDde“ vorbei.

Doch der Erfolg der Aktionen ist in den seltensten Fällen so deutlich messbar – schließlich werden sich die Flughafeneigner und -betreiber in Halle/Leipzig nach dem diesjährigen Auftritt wohl nicht ihrer Militärtransporte entledigen. Trotzdem war die Aktion sehr gelungen, denn die ca. 150 angereisten Musiker_innen und Sympathisant_innen erzeugten Aufmerksamkeit, rückten die Problematik einmal mehr ins Bewusstsein und brachten den ein oder anderen Fluggast zum Nachdenken. So kann die Lebenslaute durch ihre Musik, gekoppelt mit Redebeiträgen erreichen, wovon viele Aktiv­ist_innen sonst träumen: Menschen sensibilisieren, denen es vorher egal war, dass bspw. jeder vierte Fluggast in Halle/Leipzig ein Soldat ist, der meist in Afghanistan landet.

momo

www.lebenslaute.net

www.nein-zum-kriegsflughafen.de

Editorial FA! #42

"Ich hatte noch irgendeine Idee, was dieses komische Vorwort betraf, aber leider eine von denen, die sich hinter­listig aus dem Staub gemacht ha­­ben, wenn man endlich Zeit findet, sich hinzusetzen und sie auf­zu­schrei­ben."

(Douglas Adams 1985)

Keine Panik! Wir sind nicht vom Sommerloch verschluckt worden. Unsere gemächliche Arbeitsweise sollte ja allgemein bekannt sein, und nach etwas mehr als dreimonatiger Wartezeit ist auch diese Ausgabe in trockenen (Hand-)Tüchern. Die ultimative Antwort auf die ultimative Frage nach dem Leben, dem Universum und Allem können wir mit unserer #42 leider auch nicht beantworten. Denn das Universum ist eben groß und „alles“ bekanntlich ganz schön viel. Das dann in ein Heft von 32 Seiten zu quetschen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Es gibt daher logischerweise eine Menge Dinge im Universum, über die wir nicht geschrieben haben: Der gescheiterte NPD-Aufmarsch am 20. August zum Beispiel und das damit verbundene Verbot aller Gegendemons­trationen… Oder das Konzert der rechten Neofolk-Band Blood Axis, das am selben Tag in der Theaterfabrik ungestört über die Bühne ging… Die achterbahnartige Talfahrt der Finanzmärkte, die Schuldenkrise der USA ebenso wie die sogenannte Euro-Krise, und natürlich die Protestcamps, die sich in Spanien, Griechenland und Israel auf öffentlichen Plätzen ausbreiteten… Die Anschläge in Norwegen und ihren Bezug zur derzeit gängigen „Islamkritik“ in ihrem emanzipatorischen oder rassistischen Gehalt… Auch zur großen Deutsch­land­tournee von Joseph Ratzinger aka Benedikt XVI. hätten wir gern unseren Senf gereicht… Oder einen würdevollen Nachruf auf Loriot geschrieben… Und dann noch die ganzen Jubiläen! Vor zehn Jahren Genua und 9/11, vor 20 Jahren das Pogrom von Hoyerswerda, vor 30 Jahren 9/11 in Chile, 50 Jahre Mauerbau, und vor 75 Jahren begann die spanische Revolution… Ganz zu schweigen von den vielen auf die Erde stürzenden Satelliten…

Egal! Denn wenn 42 die Antwort auf Alles ist, haben wir zumindest für dieses Heft jetzt das Nichts mal konkretisiert – und damit seiner Unsichtbarkeit entledigt. Douglas dankt. Der oder die geneigte Leser_in kann darüber hinaus im Heft viele weitere Antworten und Anregungen zum Leben und Allem erhalten. Der Vollständigkeit halber sogar zur Verkaufsstelle des Monats: der Schicken Schnitte! Hat noch wer Fragen?

Eure Feierabend!-Redaktion

Work in progress

Arbeitskämpfe in Ägypten

„Demokratiebewegung“, „friedliche Revolution“ oder auch „Facebook-Revolution“ – das sind nur einige der Vokabeln, mit denen die westlichen Medien den Aufstand in Ägypten in den Griff zu kriegen versuchten. Dabei lässt sich bei bisher 850 Todesopfern (die meisten auf Seiten der Protestierenden) kaum von einer friedlichen Revolution reden. Und obwohl der Ruf nach Demokratie und freien Wahlen gerade bei den viel beachteten Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo eine zentrale Forderung darstellte, war der Aufstand nicht nur vom idealistischen Wunsch nach Freiheit, sondern auch von handfesten ökonomischen Interessen motiviert.

Vor allem ignorierten die meisten westlichen Medien, dass nicht nur junge, akademisch gebildete Leute aus der Mittelschicht auf die Straße gingen, sondern auch die ägyptischen Arbei­ter_innen. Und gerade diese waren es, die mit einem landesweiten Streik dem Protest den nötigen Nachdruck verliehen. Der Streik begann am 9. Februar, zwei Tage später trat Präsident Mubarak zurück – auf Drängen der Armeeführung, der die Unruhe nun einfach zu viel wurde. Ein Militärrat übernahm die Regierung.

Mahalla 2008

Bei aller Begeisterung für die Facebook-Aktivist_innen der „Jugendbewegung des 6. April“ fand manch ein_e Journalist_in immerhin noch Platz, um in einem Nebensatz zu erwähnen, worauf sich der Name dieser Gruppe bezieht: auf einen Streik der Textilarbeiter_innen, der 2008 in der Stadt Mahalla al-Kubra von der Polizei verhindert wurde.

Die im Nildelta gelegene Stadt Mahalla und insbesondere die dort angesiedelte Misr Spinning And Weaving Company, mit etwa 22000 Beschäftigten die größte Fabrik Ägyptens, bildete den Ausgangspunkt einer Welle von wilden Streiks, die sich nach und nach über das ganze Land ausweitete. Von 2004 bis 2008 gab es fast 2000 Arbeitsniederlegungen, etwa 2 Millionen Lohnabhängige beteiligten sich. Der bedeutendste Streik fand 2006/2007 in Mahalla statt.

Die Ereignisse vom 6. April 2008 standen im Kontext einer Kampagne der Textil­arbeiter_innen, deren wichtigstes Ziel die Anhebung des landesweiten Mindestlohns war. Denn trotz drastisch gestiegener Lebenshaltungskosten war der Mindestlohn seit 1984 nicht mehr erhöht worden. Weitere Forderungen war die Erhöhung der Subventionen für Lebensmittel, die Strafverfolgung von korrupten Managern und bessere medizinische Versorgung.

Für den 6. April war ein Generalstreik geplant. Zum angekündigten Datum wurde die Misr Spinning and Weaving Company jedoch von Sicherheitskräften besetzt. Ein Protestmarsch der Arbeiter_innen wurde von der Polizei angegriffen, es kam zu Stra­ßen­schlachten, die zwei Tage lang andauerten. Das Datum ist nicht nur darum bedeutsam, weil es zum ersten Mal seit den Brot­unruhen von 1977 in Ägypten zu Riots dieses Ausmaßes kam. Die Kampagne zeigte auch, dass die Arbeiter_innen fähig waren, landesweite Aktionen zu koor­dinieren. Und erstmals kam es zu einer Ko­ope­ration von Arbeiter_innen und Grup­pen, die politische Reformen anstrebten.

Möglicherweise war gerade das der Grund für das harte Vorgehen der Polizei. Denn während die politische Opposition mit harter Hand unterdrückt wurde, waren die Streiks von der Regierung bis dahin geduldet und viele Forderungen der Streikenden erfüllt worden. Dies entsprach der Logik des staatlichen Klientelsystems: Wie die meisten arabischen Staaten finanzierte das Mubarak-Regime sich vorrangig über Renteneinkünfte z.B. aus dem Erdölexport, und nicht über Steuereinnahmen. Es war also finanziell weitgehend unabhängig von der eigenen Bevölkerung und konnte dieser darum auch getrost die Mitbestimmung verweigern. Legitimität wurde weniger durch Wahlen hergestellt. Vielmehr nutzte der Staat seine Renteneinkünfte, um wichtige Gruppen durch finanzielle Zuwendungen an sich zu binden. Diese Doppelstrategie von Repression und Bestechung wurde auch auf die Kampagne von 2008 angewandt: Nach der Niederschlagung des Streiks erhöhte die Regierung tatsächlich den Mindestlohn.

QIZ & Privatisierung

Neben Mahalla war vor allem die Stadt Suez von zentraler Bedeutung. Die Initiative für den Streik, der Mubarak zum Rücktritt zwang, ging vermutlich von dort aus. Auch sonst stellten die dortigen Stahl-, Werft- und Textilarbeiter_innen den militantesten Teil der Bewegung dar: Vom 25. Januar 2011, also vom ersten Tag der Proteste an, kam es in Suez zu heftigen Straßenschlachten. Die Demonstrant_innen stürmten nicht nur die örtliche Parteizentrale der NDP (National Democratic Party), sondern auch Polizeistationen, und erbeuteten dabei u.a. Schußwaffen, die sie bei den folgenden Kämpfen gegen die Polizei einsetzten. Die Region ist aber auch deshalb wich­tig, weil der Schiffsverkehr durch den Suez-Kanal (nach dem Handel mit Erdöl und -gas und vor dem Tourismus) die zweit­größte Einnahmequelle des ägyptischen Staates ist – der Streik traf hier also ei­nen neuralgischen Punkt. Von Suez aus ver­­läuft auch eine Ölpipeline nach Israel, die dem ägyptischen Staat hohe Ein­­nahmen beschert (und in letzter Zeit wie­derholt Ziel von Sabotageakten wurde).

Ebenso wie Mahalla hat auch Suez den Status einer Qualified Indus­trial Zone (QIZ, industrielle Sonderzone). Auf einer Website der ägyptischen Regierung (1) wird das Konzept so erklärt: “In solchen Zonen angesiedelte Unternehmen haben zollfreien Zugang zum US-Markt, vorausgesetzt, dass sie einen bestimmten Anteil von israelischen Zuliefe­rungen verarbeiten (…) Anfang 2005 begannen die QIZ ihre Arbeit in sieben ausgewählten Indus­trie­standorten in Ägypten. Mit anfangs 397 Unternehmen (…) haben die QIZ rasch expandiert und um­fas­sen nun 15 Standorte mit fast 700 Unternehmen, zu denen jedes Quartal neue hinzukommen, und Einnahmen, die sich auf mehr als 1 Milliarde $ belaufen. Da sich der globale Wettbewerb verschärft, bieten die ägyptischen industriellen Sonderzonen den Investoren beachtliche langfristige Vorteile…”

Ganz so glänzend fällt die Bilanz nun doch nicht aus: So arbeiten in der Textilindustrie etwa 1 Mio. Menschen (zum Großteil Frauen), etwa ein Drittel der ägyptischen In­dustriearbeiterschaft. Wegen der veralte­ten Technik werden in die­sem Sektor aber nur etwa 3% des Brut­to­inlands­produkts er­wirtschaftet. Die Re­gie­rung hat in den letz­ten Jah­ren Milliarden US-Dollar investiert, um die Anlagen zu modernisieren – mit mäßigem Erfolg. Manager von Textil­fa­briken klagen zudem über die schlech­te Ar­beitsmoral der ägyptischen Beschäftigten und den Mangel an erfahrenen Arbeitskräften. Es gibt eine hohe Fluktuation in den Fabriken, 10-15% der Belegschaft wechseln pro Monat (2). Angesichts der schlechten Bezahlung und der harten Ar­­beitsbedin­gun­­gen kaum ver­wun­derlich: Arbeitszeiten von 12 Stunden am Tag sind vielerorts die Norm. Hinzu kommt die gesundheitliche Belastung, etwa durch den bei der Arbeit freigesetzten Faserstaub, der bei vielen Textil­ar­beiter_innen zu chronischer Bronchitis führt.

Zur Frustration trug auch bei, dass viele der ausländischen Unternehmen gehobene Stellen lieber mit importierten Arbeitskräften besetzten: philippinische Vorar­bei­terinnen, chinesische Ausbilder, deutsche Ingenieure… Die Beschäftigungsverhältnisse der ägyptischen Arbeitskräfte waren und sind dagegen prekär, die meisten haben keine festen Verträge und können jeder­zeit entlassen werden. Ohne­hin herrscht hohe Arbeitslosigkeit, seit Beginn der Finanzkrise wurden etwa 800 Fabriken geschlossen.

Weiteren Zündstoff lieferte die Privati­sie­rungspolitik Mubaraks. 1991 wurde in Zusammenarbeit mit dem IWF und der Weltbank ein neoliberales „Reform- und Struk­tur­­anpas­sungs­pro­­gramm“ beschlossen. Konkret ging es dabei um die Liquidierung der staatssozialisti­schen Restbestände, die aus der Amts­zeit von Gamal Abd al-Nasser noch übrig waren. So waren unter Nasser alle Betriebe mit mehr als 200 Beschäftigen verstaatlicht worden – bis 2002 wurden nun 190 Unternehmen privatisiert. Ebenso wurde die staatliche Regulierung der Pacht­verhältnis­se und Mieten (die von der Nasser-Regierung auf dem Stand der 60er Jahre eingefroren worden waren) beendet, die Subventionen für Grund­nahrungsmittel wurden eingeschränkt. Diese Politik brachte zwar ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 6 Prozent in den letzten Jahren, führte aber auch zu vermehrter Armut. 40 Prozent der ägyptischen Bevölkerung müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen.

Autonomie vs. Kontrolle

Genug Gründe zum Aufruhr also. Die sozialen Kämpfe der letzten Jahre gingen dabei auch mit einer wachsenden Selbstor­ga­nisierung der Arbeiterschaft einher. Denn von der Egyptian Trade Union Federation (ETUF), dem offiziellen Gewerkschaftsverband, war keine Unterstützung zu erwarten. Die ETUF, 1957 unter Nasser gegründet, war in ihrer Funktion mit den Gewerkschaften des ehemaligen Ostblocks zu vergleichen, d.h. sie war ein Instrument des Staates, um die Arbeiter_innen unter Kontrolle zu halten. So wurden die Arbeitsniederlegungen meist von unabhängigen Streikkomitees koordiniert, mitunter kam es auch zu Abspal­tungen von den lokalen Gewerk­schafts­verbänden, wenn deren Mitglieder die Streikenden unterstützten.

Ein Wendepunkt beim Aufbau unabhängiger Organisationen war der Protest der kommunalen Beschäftigten der Grund­steuerbehörde. Nach monatelangen De­monstrationen konnten diese 2007 mit ei­nem kurzen Streik ihre Forderungen durch­­setzen (die wichtigste davon war die nach gleichem Lohn wie die direkt beim Fi­­nanzministerium angestellten Kol­leg_in­nen). Wichtiger war aber, dass das Streik­komitee sich nach Ende des Pro­tests fak­tisch in eine unabhängige Gewerkschaft umwandelte. Ähnliches geschah bei den Streiks in Mahalla. Und noch in der ers­ten heißen Phase der Proteste, am 30. Ja­nuar, gründete sich auf dem Tahrir-Platz als unabhängiger Dach­verband die Fede­ration of Egyptian Trade Unions.

Mit dem Sturz Mubaraks brechen aber keineswegs goldene Zeiten an. Dass die neue Militärregierung vor allem das Interesse hat, die Ordnung im eigenen Sinne wieder herzustellen, zeigte sich schon am 9. März, als die immer noch andauernde Besetzung des Tharir-Platzes brutal beendet wurde. Rund 200 Menschen wurden dabei verhaftet, im Anschluss gefoltert und von Militärgerichten zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Ebenfalls der Aufrechterhaltung der Ordnung dient ein am 23. März verabschiedetes Gesetz, das alle Streiks und Proteste untersagt, wenn sie das reibungslose Funktionieren von Wirtschaft und öffentlichen Institutionen behindern – in diesem Fall drohen Haft- und schwere Geldstrafen. Es ist klar, dass dieses Gesetz sich vor allem gegen die unabhängigen Gewerkschaften richtet. Denn die Armee ist seit 1952 (als Nasser sich an die Macht putschte) nicht nur die wichtigste Instanz im Staat, sondern auch einer der größten Wirt­schaftsakteure Ägyptens. Zehntausende Beschäftige sind in den von ihr be­trie­benen Hotels, Bäckereien und Fabriken tätig. Die Armee hat also auch ein öko­­nomisches Interesse, Streiks zu verhindern.

Um gegen die Politik des Militärs zu demonstrieren, versammelten sich am 8. April mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Tahrir-Platz. Auch 40 Soldaten und Offiziere unterstützten den Protest. Trotz der Ausgangssperre blieben rund 5000 Menschen auf dem Platz. Wenig später wurde dieser vom Militär umstellt. Bei der Räumung wurde in die Menge geschossen, die Versammlung löste sich in wilder Flucht auf. Das Gesundheitsministerium meldete am nächsten Tag einen Toten und 71 Verletzte, Men­schen­rechtsorgani­sa­tionen dagegen min­des­­tens acht Tote. Wie dem auch sei: diese offene Konfrontation war ein Wendepunkt.

Die Macht der Armee ist also das größte Hindernis, dem sich die Revolution gegenüber sieht. Das Militär versucht derweil, das angeschlagene Image durch PR-Maß­nah­men und Zensur zu verbessern – ein im April verabschiedetes Gesetz schreibt z.B. vor, dass Berichte über die Ar­mee vor Veröffentlichung von dieser ge­neh­migt werden müssen. Der Blogger Maikel Nabil Sanad wurde eines kritischen Ar­tikels wegen zu drei Jahren Haft verurteilt, und eine neuge­gründete Kampagne, die sich gegen die Ver­urteilung von Zivilisten durch Militär­tri­bunale richtet, sieht sich harter Repression ausgesetzt.

Oppositionelle Gruppen riefen deshalb für den 27. Mai zu einem zweiten „Tag des Zorns“ auf, um gegen die Politik des Militärs zu demonstrieren. Obwohl sich die größeren Parteien, ebenso wie die islamis­tische Muslimbru­der­schaft, von dem Aufruf distanzierten, kamen einige zehntausend Menschen auf dem Tahrir-Platz zusammen, auch in anderen Städten gab es Protestaktionen. Die Armeeführung erklärte zuvor demonstrativ, sie würde nicht eingreifen. Befürchtungen, es würde stattdes­sen zu Angriffen von „thugs“ (bezahlten Schlägern, die auch von der Mubarak-Regierung gegen die Protestierenden eingesetzt wurden) kommen, bewahrheiteten sich zum Glück nicht.

Fazit?

Die Lage ist also unübersichtlich und lässt viele Fragen offen. Die ägyptischen Arbeiter_innen konnten einige Erfolge erringen, und sie haben in den Kämpfen der letzten Monate gelernt, welche Macht sie haben. Es fragt sich nun, wie sich die Gewerkschaften weiterentwickeln. Denn so wichtig unabhängige Organi­sie­rung ist, so besteht doch die Gefahr, dass die Spontaneität und Militanz der Arbeitskämpfe in institutionelle, systemkonforme Bahnen gelenkt wird. Ein ähnliches, noch höheres Risiko birgt der Aufbau von Arbeiterparteien wie der Workers Democ­ratic Party, die bei den für Sep­tember geplanten Wahlen antreten soll. Für viele ägyptische Linken und Lohnabhängige scheint dabei ein staats­sozial­isti­sches System das einzig denkbare Ziel zu sein. So ist die Forderung nach Verstaatlichung der Industrie einer der zentralen Pro­­gramm­punkte der neu gegründeten Partei.

Möglich also, dass die ägyptischen Arbei­ter_innen die Fehler der westlichen Arbeiterbewegung wiederholen. Auch sonst ist unklar, wohin sich die Revolution entwickelt. In der jetzigen Phase ist, anders als in den ersten Wochen, nicht mehr mit schnellen, spektakulären Erfolgen zu rechnen. Eher ist es eine zähe Kleinarbeit, etwa Vertreter der alten Eliten von ihren Schlüsselpositionen zu entfernen. Eben das ist ein zentraler Punkt vieler Kämpfe, etwa des seit Mitte Mai andauernden Streiks der Ärzte, die u.a. die Absetzung des Gesund­heits­ministers fordern. Immerhin, trotz des Verbots und der Einschüchterungsversuche durch die Armee gehen die Streiks und Proteste weiter. Wohin die Reise auch gehen mag – ein Anfang ist gemacht.

justus

(1) Siehe www.qizegypt.gov.eg/
(2) www.telegraph.co.uk/news/wikileaks-files/egypt-wikileaks-cables/8326839/IS-THE-EGYPTIAN-GARMENT-INDUSTRY-HEADED-FOR-FAILURE.html

Nachbarn

Leipziger Drogengespräche

Man kennt die Situation aus der Kneipe: Eigentlich will mensch nur gemütlich sein Glas austrinken. Aber der Typ nebenan am Tresen hört einfach nicht auf zu reden. Zusammenhangslose Sätze. In ohrenbetäubender Lautstärke. Ohne sich drum zu kümmern, dass es keine_n interessiert. Das eigene Glas ist noch halbvoll. Also muss mensch sich notgedrungen mit dem Typen auseinandersetzen. Verbal und so weit es geht vernünftig. In der Politik passiert so was ständig und nennt sich dann „Debatte“. Eine Debatte, die gerade besonders eifrig geführt wird, ist die Leipziger „Drogendebatte“. In der Hauptrolle als Typ am Tresen: Landespolizeipräsident Bernd Merbitz (CDU). Spitzen wir mal die Ohren, denn gerade haben sich ein paar jugendlich-naive LVZ-Journalisten mit ihm auf ein Interview eingelassen… Eben hat Merbitz noch halblaut und grimmig in sein Bierglas gemurmelt, als ihn die Burschen mit besorgter Miene von der Seite ansprechen: „Herr Merbitz, müssen die Leipziger Angst haben?“*

Diese Frage kann Merbitz nur mit „Ja“ beant­worten. Ja, sie müssen, denn „schon morgen kann jeder das Opfer sein.“ Opfer von fiesen Rauschgiftkriminellen: „Seit geraumer Zeit hat Leipzig im Freistaat die meisten Straftaten, und einer der Schwerpunkte ist die Rauschgiftkriminalität. Gerade in diesem Bereich haben wir auch eine sehr hohe Dunkelziffer.“ Dunkelziffer, genau. Das macht die Rauschgiftkrimi­na­li­tät ja so gefährlich, dass man sie meist gar nicht bemerkt.

Noch schlimmer ist es, wenn sie doch mal an die Oberfläche schwappt. Dann ist sie allerdings genau genommen keine Rauschgift-, sondern so genannte Beschaffungskriminalität: „Die Täter, die wir gerade bei Einbrüchen und Raubüberfällen stellen, das sind fast alles Drogenkonsumen­ten.“ Es geht also um Einbrüche und Raub­über­fälle, und nicht direkt um Drogen. Aber egal, denn Einbrüche und Überfälle gibt es laut Merbitz immer öfter: „Überfälle un­ter Anwendung von Waffen gab es in diesem Jahr bislang 251, davon 55 auf Geschäfte.“

Da kann man natürlich nicht nur Däumchen drehen: „Wir sind als Polizei gezwungen, härter dagegen vorzugehen.“ Bisher dachte mensch immer, die Polizei müsste schon von Berufs wegen gegen Kriminelle vorgehen. Aber wenn sie jetzt dazu gezwungen ist, dann ist das natürlich auch nicht schön… Für Merbitz ist es sogar noch schlimmer. Ihn verletzt es tief, wenn seine Beamt_innen so zu Bütteln des staatlichen Gewaltmonopols herabgewürdigt werden: „Wenn versucht wird, die Polizei zu kritisieren nach dem Motto: ´Kümmert euch um eure Sachen!´, dann tut mir das auch als Landespolizeipräsident weh.“ Das ist natürlich traurig, wenn es wehtut. Aber was will Merbitz eigentlich?

Vor allem weniger „Wohlfühlpolitik“ für die Drogenabhängigen. So hält er es für grundverkehrt, wenn manche Leute in der Stadtverwaltung meinen, Sozialar­bei­ter_innen sollten vor allem Sozialarbeit machen und keine Verbrecher jagen. Denn eben weil die So­zial­arbeiter_innen so viel Sozialarbeit ma­chen, kommen doch die ganzen Abhängigen nach Leipzig! Und wenn sie erst mal da sind, dann rauben sie zwangsläufig irgendwann auch Tabakläden aus! Und die Polizei muss dagegen vorgehen – das geht doch nicht!

Ganz besonders schlimm findet Merbitz die Leipziger Drug Scouts**. Die haben nämlich eine Broschüre herausgegeben, wo Tipps für das Verhalten bei Polizeikontrollen drinstehen: „Solche Flugblätter (…) empfinde ich als Kampfansage. Es bedeutet doch nichts anderes als dass Leuten, die etwas Strafbares getan haben, geholfen werden soll, sich gegen jene zu schützen,  die für Recht und Ordnung sorgen. Ich halte das für äußerst kritisch.“ Das muss man sich mal vor­stellen: Da postieren sich Poli­zist_innen z.B. bei Open-Air-Festivals an den Zufahrtsstraßen, um die hohe Dunkelziffer der Rauschgiftkriminalität ein wenig aufzuhellen. Und dann kommen Leute, die etwas Strafbares getan haben oder noch tun könnten, ohne Strafe davon! Das ist doch wirklich gemein von den Drugs Scouts. Findet Merbitz: „Wir müssen deshalb darüber nachdenken, und haben dies auch schon teilweise getan, ob dies überhaupt ein Projekt ist, das förder­wür­dig ist.“

Und überhaupt sei die Leipziger Drogenpolitik „eine tickende Zeitbombe“. Es müssten also endlich „Taten“ her, man müsse „Probleme lösen“, „konkrete Schritte“ einleiten, also ganz konkret „gute Pläne schmieden, diese dann aber auch mit aller Konsequenz umsetzen“. Also irgen­dwie jetzt aber mal richtig hart durchgreifen: „Die Stadt muss wissen: Drogenprävention sollte auch Bekämpfung sein.“ Recht hat er! Am Besten wäre es, man würde diese ganze Kriminalität einfach verbieten.

Die andern Gäste verdrehen derweil genervt die Augen. Ja, ja, it´s a never ending story, der ewige Streit zwischen schwarz und rot, Dresden und Leipzig, CDU-Landesregierung und SPD-Bürgermeister: Wenn die nächsten Wahlen anstehen, versucht die CDU sich gegenüber der angeblich zu liberalen Leipziger SPD mit „Law-and-order“-Parolen zu profilieren. Dass Merbitz selbst CDU-intern als hoffnungsvoller Kandidat für den Posten des Leipziger Oberbürgermeisters gilt, passt da nur zu gut. So durchsichtig das Manöver ist, so wenig wundert es, dass nun alle Merbitz widersprechen: Der Sozialbürgermeister, die Suchtbeauftragte der Stadt, Abgeordnete von Grünen, der LINKEN und SPD, die Leipziger Liberalen… So ist das eben in solchen Debatten. Der Typ am Tresen redet einfach weiter. Also muss mensch sich notgedrungen mit ihm auseinandersetzen. Verbal und so weit es geht vernünftig.

justus

* Die Zitate stammen aus einem Interview, aus der Leipziger Volkszeitung vom am 14. 5. 2011.
** www.drugscouts.de

Lokales

„Eolo“

Leben und Schicksal eines italienischen Anarchisten 1918-1945

Ein neues Buch ist auf dem Markt – ein Roman, in dem das Leben des italienischen Anarchisten Eolo beschrieben wird. Das Leben eines Partisanen also, der gegen das faschistische Mussolini-Regime kämpfte. „Oh, das klingt lesenswert“, kommt mir in den Sinn – und ich freu mich auf ein Buch, das mir Hintergründe zum italienischen Anarchismus in faschistischen Zeiten vermittelt und dabei nicht als schnöde biographische Abhandlung, sondern als leichtfüßige Prosa daherkommt. „Genau das Richtige für Wissensdurst in müden Abendstunden“, denk ich mir… und werde eines Besseren belehrt.

Das dünne Büchlein im Hardcover, mit beschichtetem Papier und 19 integrierten zeithistorischen Fotos, wirkt seriös, geschichtlich und unpolitisch. Der Klappentext verspricht den gelungenen Spagat zwischen historischer Abhandlung und romanhafter Erzählung und verweist bereits auf die zentrale Message: „Ein ‘Roman’ darüber, wie Gewalt die Menschen verändert, zu neuer Gewalt führt und das Wertesystem menschlichen Zusammenlebens außer Kraft setzt“. Der Autor und Geschichtslehrer Gianni Sparapan, der wie sein Protagonist Eolo Boccato aus der italienischen Provinz Rovigo kommt, bleibt diesem Fokus immer treu. In nüchternen, wenig ausschmückenden oder ausschweifenden Sätzen, führt er durch die Lebensgeschichte des Eolo, der zusammen mit 13 Geschwistern als Sohn des Anarchisten Amerigo heranwächst. Dieser lehrt seine Kinder von Kleinauf das kritische Hinterfragen der Gegebenheiten und den begründeten aktiven Widerstand. So wie Amerigo trotz zunehmender Konflikte mit dem Regime seinen Standpunkt und seine Widerständigkeit behält, so wächst auch Eolo als willensstarker und mutiger Querkopf auf, der für seine Ideale streitet. Als Italien 1940 in den Krieg eintritt, ist der inzwischen junge Mann sogar erfreut, denn er glaubt, dass der nun folgende Widerstand das Regime zu Fall bringen würde. Selbst sein Einzug als Soldat für den Balkankrieg stört ihn da scheinbar wenig. Doch die Teilnahme am Krieg und die damit verbundenen Erlebnisse gehen an Eolo wohl nicht spurlos vorüber. Zurück in der Provinz und von den Faschisten gedemütigt, fühlt er sich erst wieder nützlich, als ihm während der politischen Unruhen um die zeitweilige Absetzung Mussolinis von Untergrundkämpfern die Waffe in die Hand gedrückt wird. Nun kommt die Gewaltspirale richtig in Fahrt. Eolo macht sich zum Chef einer kleinen Widerstandsgruppe und bekämpft die Faschisten. Frei nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ kommen auf jeden Tod eines Faschisten mehrere Vergel­tungungs­­morde. Unzählige Ereignisse folgen, in denen Menschen, egal ob Zivilist oder nicht, äußerst brutal gefoltert und getötet werden. Als Eolo schließlich Zeuge am Übergriff auf seinen Bruder wird, kennt auch sein Hass keine Grenzen mehr. Nun aber wird auch sein Kampf ein recht einsamer…

Ein Roman voller Brutalität, der wahrlich bewegt. Ein Buch, das man öfters weglegen muss und doch gleich wieder zur Hand nimmt, um mehr zu erfahren. Der kurzweilige, nüchterne Erzählstil passt zu den geschilderten Grausamkeiten: Die knappe Darstellung macht die Brutalität erträglich und ermöglicht gleichzeitig die schonungslose Schilderung vieler historischer Ereignisse auf wenigen Seiten. Das wiederum erschüttert, auch ohne dass der Autor den moralischen Zeigefinger erhebt. Der_die Leser_in wird immer wieder angeregt, über Ursachen und Eskalation von Krieg und Gewalt nachzudenken. Die Botschaft wird so nicht verfehlt. Doch hat der knappe Stil auch seine Nachteile: Wer nicht im italienischen Widerstand belesen ist, der versteht recht wenig den Kontext der Geschichte. Denn die historischen und politischen Hintergründe und Entwicklungen werden nicht erklärt, man erfährt auch wenig über die Unruhen um 1943, die wieder im Faschismus endeten, oder die Balkanoffensive. Bei letzterem stellt sich vor allem auch die Frage, wie Eo­lo mit dem Widerspruch umgeht, Seite an Seite mit den Faschisten kämpfen zu müssen. Generell fehlt es auch an grundsätzlichen Erläuterungen zum antifaschistischen Widerstand, der sicher nicht nur aus Anarchist_innen bestand. Auch wenn man dies mit dem Fokus des Autors auf die Mikroperspektive um Eolo und andere Einzelschicksale begründen kann, so fällt selbst dort auf, dass notwendige Erläuterungen zu Eolos Idealen ausgespart werden. Die Andeutungen zum anarchistischen Verständnis des Vaters, wirken da eher dürftig. Der Titel weckt hier Erwartungen, die unbefriedigt bleiben. Anderer­seits kann dem Autor so auch nicht vorgeworfen werden, den Anarchismus mit dem Faschismus gleichzusetzen, obgleich Eolo ja den Faschisten in seiner Gewaltbereitschaft schlussendlich nicht nachsteht. Diese Bilanz kann, sollte und wird nicht gezogen, da die Lupe nur ein Urteil über Eolo erlaubt. Und dieser verändert sich durch zunehmende Brutalität und hat schlussendlich nicht mehr irgendwelche (ohnehin nicht erläuterten) Ideale, sondern nur noch Hass zur Triebfeder. So richtet sich der Blick auf das Individuum und dessen (Re-)Produktion von Hass und Gewalt im Krieg, bei dem dann auch jegliche vermeintlichen Ideale in den Hintergrund treten.

Nein, als Gute-Nacht-Lektüre eignet sich der Roman nicht, wenn man Wert auf ruhigen Schlaf legt. Obgleich der Spagat zwischen Roman und Realität gelingt, eignet er sich ebenso wenig, um allgemeine Hintergründe zur italienischen anarchistischen Bewegung zu erfahren. Dennoch ist es ein gelungener, an den Realitäten orientierter Roman, der sehr eindringlich die Grausamkeiten des Krieges verdeutlicht und auch all jenen die Augen öffnet, die noch glauben, mit Mitteln der Gewalt für eine bessere Gesellschaft streiten zu müssen.

momo

Rezension

Eine Alternative für die Provinz

Der westsächsische Ort Zwickau legt großen Wert darauf, keine Klein-, sondern eine Großstadt zu sein. Um sich diesen Status zu bewahren, werden schon seit Jahren immer wieder umliegende Dörfer in die Kommune eingegliedert. Aber von der Einwohnerzahl abgesehen, könnte Zwickau gar nicht kleinstädtischer sein. Eine kulturelle Einöde, wo selbst in der Kommerzzone der Innenstadt um 21.00 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden.

Ein trostloser Zustand. Aber gerade deswegen regt sich Widerstand. So fanden sich am 14. Mai etwa 150 Menschen zusammen, um ihren Unmut über die städtische Politik auf die Straße zu tragen. Unter dem Motto „Stürmt das Schloss!“ demonstrierten sie für ein Alternatives Jugendzentrum in Zwickau. Denn so ein Ort für selbstbestimmte, linksalternative Kultur ist dringend nötig. In den 90er Jahren hatte es mit dem Bunten Zentrum noch einen solchen Treff- und Anlaufpunkt für alternative Jugendliche gegeben. Nachdem dieses vor zehn Jahren in ein neues Domizil umzog, hat es diesen Charakter als Treffpunkt zugunsten eines normalen Veranstaltungs- und Cafébetriebs weitgehend verloren. Seitdem herrscht Flaute.

Der Verein Roter Baum Zwickau verhandelte schon seit längerem mit der Stadt über ein geeignetes Objekt. Ein solches schien schon im Sommer 2010 gefunden zu sein. Bis das Liegenschaftsamt plötzlich abblockte und verkündete, bei dem betreffenden Gebäude müssten noch 200.000 Euro investiert werden, damit der Verein es nutzen könne. Wofür diese Summe nötig sein sollte, ließ das Amt allerdings im Unklaren.

Die weiteren Gespräche zogen sich ergebnislos in die Länge, und wurden von der SPD-Oberbürgermeisterin Pia Findeiß schließlich ganz beendet – begründet wurde dies mit mangelnder Gesetzestreue mancher Ver­eins­mit­glie­­­der. Är­ger mit Polizei und Ord­­nungs­­amt hatte es u.a. wegen illegaler Partys in leerstehenden Häusern gegeben. Aber die Stadtoberen suchten wohl nur nach einem geeigneten Vorwand, um nicht weiter über legale Räumlichkeiten verhandeln zu müssen.

Wie wichtig solch ein Ort für linksalternative Jugendliche wäre, zeigte sich durch die Präsenz von örtlichen „Nationalen Sozialisten“, die mit Böllerwürfen die Demo zu stören versuchten. Sie konnten zwar von der Polizei in Schach gehalten werden, begleiteten jedoch den De­mons­trationszug auch auf dem weiteren Weg durch die Innenstadt. Schon im Vorfeld war es mehrfach zu Angriffen und Drohungen seitens der Rechten gekommen. Das Auto eines Vereinsmitglieds wurde beschädigt, am Vortag der Demo wurde eine Person aus dem Unter­stützer_innenkreis zusammengeschlagen, sie erlitt einen Nasen­bein­bruch und eine Gehirnerschütterung.

Trotz dessen war die Demonstration ein kleiner Erfolg und ein Hoffnungsschimmer – die westsächsische Ein­öde ist offensichtlich doch nicht so alternativlos, wie sie mitunter scheinen mag.

justus

Mehr Infos: baumhaus.blogsport.de

Lokales