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Extrem demokratisch

Es dürfte sich langsam rumgesprochen haben, daß Vereine in Sachsen eine sogenannte „Extremismusklausel“ unter­zeichen müssen, wenn sie Fördermittel von einigen landes- und bundes­wei­ten Förder­programmen nutzen möchten (siehe FA! #39). Damit ver­­pflichten sie sich, nur mit demokratisch integeren, also garantiert un­ex­tremistischen Personen und Vereinigungen zusammenzuarbeiten. Als Maßstab gilt dabei die äußerst umstrittene Extremismus-Definition des Verfassungsschutzes (und dessen jeweilige Erkenntnisse), die zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Abweichungen definiert und als demokratiefeindlich bewertet.

Verweigern die Vereine jedoch die Unter­zeichung dieser (neuerdings euphemistisch so genannten) „Demokratieerklärung“, können sie bewilligte Fördermittel nicht abrufen. Das AKuBiZ Pirna wollte der geforderten Bespitzelung seiner Part­ner_in­nen nicht Folge leisten und verweigerte im November 2010 öffentlichkeitswirksam die Unterschrift. Es lehnte so den mit 10.000 Euro dotierten sächsischen De­mo­kra­tiepreis ab und wurde Wegbereiter einer wachsenden „Extremismusstreik“-Bewegung. Neben vielen Solidaritäts­be­kun­dungen, Protestschreiben, einem bundesweiten Aktionstag, einer einzigartigen Vernetzung und unerwartet großem Medienecho folgt nun weiterer Widerstand.

Zwei bedeutende Vereine Leipzigs haben kürzlich angekündigt, ihre Unterschrift unter die Extremismusklausel zu verweigern, auch wenn sie dadurch die gerade bewilligten Fördermittel für Projekte nicht bekommen. Der Projekt e.V. des Conne Island und das soziokulturelle Zentrum Die VILLA gehen in die Offensive und erfahren von einer sich solidarisierenden Öffentlichkeit und auch Teilen der Politik recht breite Unterstützung. Bei Grünen, Linken und SPD lässt sich allerdings das parteipolitische Kalkül nicht ausschließen, während sich solidarisierende Vereine, Initiativen und Privatpersonen zu jener „Zivilgesellschaft“ zählen, deren Unabhängigkeit sie als unabdingbar für die Demokratie propagieren. Sie seien es, die dort wichtige Arbeit gegen Fremdenfeind­lichkeit und Neonazismus leisten, wo der Staat sich schon seit langem zurückgezogen hat. Wobei sie oft vergessen, daß der Staat selbst durch seine Sortierung in Staatsvolk und Ausländer das Fremde erst hervorbringt und durch die Konkurrenz zu anderen Staaten Nationalismus und Fremdenfeind­lichkeit befördert.

Das Conne Island übernimmt in seiner Presseerklärung zur Ablehnung der Klausel (1) auch die viel bemühte Phrase der Verteidigung demokratischer Werte, die sich neben dem Antifaschismus aber nur in der Unterstützung von „Meinungsvielfalt und demokratische[n] Aus­hand­lungsprozesse[n]“ zu erschöpfen scheint. Im Unterschied zur Landesregierung bemüht der Verein dabei nicht den Verfassungsschutz, um zu definieren, was demokratisch ist und was nicht. Der gesellschaftliche antifaschistische Konsens höchstselbst ist es, der hier die Grenzen eines der holden demokratischen Werte, der so genannten Meinungsfreiheit, setzt. Faschismus ist eben keine Meinung, sondern ein Verbrechen (2), da gehen Staat und Conne Island völlig überein. Der Kritikpunkt der Extremismusstreik-Bewegung ist also weniger das Setzen eines Meinungsrahmens und damit das Ausschließen von allen, die sich nicht innerhalb dessen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen, sondern die Gleichsetzung linker und rechter antidemokratischer Bestrebungen in Form der Extremismustheorie, sowie die Befürchtung, aus dem Bekenntniszwang folge ein „Klima des Misstrauens“ und es sei „fast eine Aufforderung zu Spitzeltätigkeit“. Was auch nicht falsch ist, allerdings tragen auch viele staatliche und auch städtische Institutionen zur demokratischen Normierung der Gesellschaft bei, nicht nur der Verfassungsschutz. Dies gilt es zu kritisieren und skandalisieren, statt sich wie im Fall des Conne Island an die „weltoffene, liberale Stadt Leipzig“ anzubiedern. Jene Stadt, welche ihre Mittel für derartige soziale, kulturelle und politische Projekte konsequent zusammenstreicht, daß Häuser wie das Conne Island und Die VILLA nicht nur einmal von der Schließung bedroht waren und sein werden. Jene Stadt, die Asyl­bewerber_innen nicht dezentral in Wohnungen wohnen lässt, sondern sie lieber am Stadtrand in ein Containerlager stecken würde. Jene Stadt, die mit ihrer Ver­drängungspolitik gegen Drogenabhängige und andere vermeintlich asoziale Elemente das weltoffene und liberale Stadtzentrum für Tourismus und Konsum säubert. Bei allem Verständnis für die Abhängigkeit von städtischen Geldern darf die notwendige Kritik an den Verhältnissen nicht einem Demo­kra­tieidealismus weichen, der blind ist für die Ursachen und Wir­kungen der „Gesamtscheiße“ und nur der jeweiligen Projektkohle hinterher rennt.

Hoffen wir also, daß unter den existierenden demokratischen Bedingungen Projekte wie das AKuBiZ Pirna, Die VILLA und das Conne Island weiterhin ihrer Arbeit nachgehen können, sich dabei jedoch nicht auf Werte und Vorstellungen stützen müssen, die einer Herrschaft als Legitimation dienen. Die Verweigerung der Unterschrift ist dabei ein wichtiger Schritt, aber der Protest und die Diskussion um die Demokratie und ihre grundlegenden Fehler ein noch viel wichtigerer.

 

shy

(1) www.conne-island.de/news/86.html
(2) siehe auch: „Warum Demokraten (Neo-)Faschisten nicht kritisieren, sondern nur verbieten können“ (Freerk Huisken) nachzulesen unter: www.fhuisken.de/DemFasch.htm

Lokales

„Hey, wir sind da“

Interview mit dem Leipziger Bündnis gegen die Integrationsdebatte

Im März diesen Jahres drängelten sich ca. 200 Menschen aus verschiedenen politischen Spektren in das RangFoyer des Centraltheaters, um einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Integration=Ausgrenzung?“ beizuwohnen. Für die Ver­an­stalter_innen, das Bündnis gegen die Integrationsdebatte [BgId], war es der erste Aufschlag, um die durch die Sarrazin-Veröffentlichung aufgeflammte Debatte mal ganz anders und breit zu diskutieren. Feierabend! sprach mit dem neuen Leipziger Bündnis über die Veranstaltung, ihren inhaltlichen Ansatz und zukünftige Pläne.

FA!: Ihr habt Euch ja im letzten Jahr im Zuge der durch Sarrazin angestoßenen Integ­ra­tionsdebatte gegründet. Was kritisiert Ihr denn an dieser Debatte?

BgId: Wir kritisieren v.a. wie sich die Debatte entwickelt hat, dass Sarrazin breiten Zuspruch in der Öffentlichkeit bekommen hat bzw. dass immer gesagt wurde: „Naja, das mit den Genen übertreibt er ja ein wenig, aber sonst hat er ja recht. Das sind Probleme über die man sprechen muss und die von Menschen, die integriert werden sollen, verursacht sind.“ Da stellt sich schon die Frage, in was sollen die Menschen integriert werden? Warum können die nicht so leben, wie sie sind? An was sollen die sich anpassen – steckt da nicht wieder so ein Leitkultur-Gedanke da­hinter? Und auch die linksliberalen Medien haben die Sarrazinschen Thesen verharmlost und gesagt: „Wir brauchen Deutschkurse, wir brauchen mehr Integration“ und abwertende Nütz­lich­keits­lo­gi­ken befördert. Die Menschen sind so ein­ge­ordnet worden in „super integriert“ und „nicht integriert“ und „nützlich“ und „unnütz“.

FA!: Was würdet Ihr alternativ statt der Integration fordern und umgesetzt sehen wollen?

BgId: Es gibt einen ganz guten Aufruf vom Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) mit dem Namen „Demokratie statt Integration“, den auch die meisten von uns unterstützen würden. Der Aufruf fordert die Gleichberechtigung aller Menschen, die hier leben, also keine unterschiedlichen Rechte und Privilegien von Menschen mit oder ohne deutsche Staats­bürgerschaft. Gleiche Rechte und Mitbestimmung für alle, gleiche Chancen und nicht eine Ka­te­go­risierung nach „ethnisch deutsch“ oder diese Einordnung in „integriert“ und „nicht integriert“. Wir möchten uns lieber für die Gleichberechtigung der Rechte einsetzen, statt den Inte­gra­tions­begriff zu befördern. Das macht auch eine demokratische Gesellschaft aus, dass es universelle Rechte gibt, die für alle gleich­er­maßen da sind und nicht ein Unterschied oder eine Zäsur gemacht wird zwischen Inländern und Ausländern.

FA!: Wie wollt Ihr diesem Ziel näher kommen und was wollt Ihr konkret erreichen? Wo verortet Ihr Euer Handlungsfeld im Spannungsfeld von Theorie und Praxis?

BgId: In erster Linie haben wir eine Notwendigkeit ausgemacht, dass dieses Thema – was ganz groß war als wir uns gegründet haben – anders angesprochen werden muss. Dass man statt von Inte­gra­tions­problemen von rassistischer Aus­grenzung reden muss, letztendlich den Spieß umdrehen muss, also nicht sagen, „es gibt Probleme, weil Leute sich verweigern“, sondern „es gibt Probleme weil Leute systematisch aus dem Bildungsweg und Arbeitszusammenhang ausgegrenzt werden“. Und es hat auch eine Verschiebung in der Sprache stattgefunden, die krass war und uns wütend gemacht hat. Also auch Leute, die man vielleicht als Bündnispartner verstehen kann, denen muss man von links Druck machen, weil sie permanent die gleiche Sprache gesprochen haben wie Sarrazin. Ihnen muss man Begriffe in die Hand geben und entgegensetzen, dass das ganze Konzept bullshit ist und dass man eigentlich über was ganz anderes reden muss.

Zudem haben wir von Anfang an beschlossen, dass wir eine Öffentlichkeit schaffen müssen, sei es durch Texte oder Veranstaltungen. Klar, wir werden nicht ganz Deutschland erreichen aber wir wollen zumindest in Leipzig eine Gegenöffentlichkeit schaffen, die kritisch darüber diskutiert und den Leuten, die sich mit der Integrationsdebatte unwohl fühlen und merken, dass das scheiße ist, dazu verhelfen sich dagegen zu positionieren, sich mit uns zu verbünden und eine kritische Betrachtung dessen zu schaffen.

FA!: Wie gestaltet sich eigentlich Eure Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Bündnissen in Leipzig? Gibt es da irgendeine Vernetzung oder Zusammenarbeit?

BgId: Wir haben bis jetzt noch mit keinem Bündnis wirklich kooperiert, aber wir sind als Einzelne auch noch in anderen Strukturen verortet und kommen aus unterschiedlichen Gruppen. Das Problem ist leider nur – wie in so vielen linken Strukturen – dass man viel vor hat, aber wenig Leute Zeit haben. Und dadurch, dass wir selbst auch in anderen Gruppen sind, haben wir auch nicht so viel Zeit für diese.

Zu Beginn des Bündnisses haben wir sehr offen im gesamten Leipziger Spektrum eingeladen und das Thema gesetzt. Da sind ein paar Gruppen gekommen, ein paar sind später wieder gegangen. Am Anfang konnten wir ja noch nicht sagen: wir haben zu spezifischen Themen eine klare Position. Wir können aber sagen, dass wir offen sind und natürlich auch gerne kooperieren.

FA!: Zu Eurer Veranstaltung, die ja ziemlich erfolgreich in der Mobilisierung war: Was wolltet Ihr mit dieser eigentlich erreichen? Und warum habt Ihr sie als Podiumsdiskussion organisiert?

BgId: Das erste Ziel war, uns als Bündnis bekannt zu machen, sozusagen in die Leipziger Öffentlichkeit und Szene einzutreten und zu sagen „Hey, wir sind da und haben den und den Standpunkt“. Natürlich war es eine Podiumsdiskussion, d.h. wir konnten nicht genuin unseren Standpunkt rüberbringen, sondern es sind verschiedene Positionen aufgetreten und jeder der dort hingekommen ist, hat am Ende was anderes mitgenommen. Die Podiumsdiskussion haben wir deshalb gemacht, weil wir dachten, wir können dadurch Leute präsentieren, die sich positiv zum Integrationsbegriff positionieren, aber auch Leute, die sich negativ darauf beziehen und dadurch verschiedene Seiten und Perspektiven auf Integration beleuchten. Und natürlich haben wir auch Menschen ausgewählt, wo wir wissen, dass sie einen kritischen Blick darauf haben, wie Rex Osa, der selbst aus einer Flüchtlingsinitiative kommt und sagt, „das hat nichts mit Integration zu tun, das ist Rassismus und ich muss damit jeden Tag kämpfen“. Das ist natürlich eine Position, die einigen Leuten, die da im Publikum gesessen haben, nicht so bewusst ist. Die aber wollten wir darstellen, dem auch ein Podium bieten.

FA!: Ihr habt ja auch ein inhaltlich sehr breites Spektrum an Referent_innen ausgewählt. Ging es Euch da eher um die Darstellung der Positionen-Bandbreite oder um ein großes, breites Publikum?

BgId: Ja, das hatte ein bestimmtes Ziel, nämlich nicht in dieser linken Szene zu bleiben, wo natürlich sowieso die meisten Menschen sagen, dass die Integrationsdebatte doof ist und wo sich alle relativ einig sind. Sondern eben auch die Menschen zu erreichen, die bspw. linksliberale Zeitungen wie die Zeit lesen. Und deshalb haben wir auch Leute wie Daniela Kolbe von der SPD eingeladen. Wir haben vermutet, dass wir mit ihr z.B. SPD-Wähler erreichen können, die sagen „Sarrazin hat ja teilweise recht“ und fördern, dass die einen kritischen Blick darauf bekommen. Also raus aus dieser jungen linken Szene und mehr in das bürgerliche Publikum rein.

Es ging uns auch darum auszuloten, was mit den potentiellen Bündnispartnern möglich ist, die sich mehr in der „Mitte“ verorten und zum Teil krasse Positionen vertreten. Wie verläuft so eine Debatte mit den Leuten? Das war auch ganz interessant und auch gar nicht so schlecht zu sehen, wie z.B. auch Daniela Kolbe argumentiert hat. Und klar macht die es sich ein bisschen einfach, denn wenn sie auf die SPD angesprochen wird, sagt sie „ich bin ja nicht die SPD, ich bin Daniela Kolbe“ und das gleiche mit Gugutschkow, dem Integrationsbeauftragten der Stadt Leip­zig, der sagt „ich kann keine Bundes­po­­­­li­­tik ändern, nur lokal was machen“. Da ver­stecken sie sich eben auch gerne mal. Es bringt aber durchaus etwas diese Leute mit einer anderen Sprache zu konfrontieren und die Thematik umzudrehen, also zu sagen, es gibt ganz andere Probleme, wie rassistische Ausgrenzung und soziale Pro­bleme, die zu Ausländerproblemen gemacht werden und nicht das Problem der Aus­länder, die kein Deutsch lernen wollen.

FA!: Was ist denn Euer Resümee aus der Veranstaltung?

BgId: Wir haben natürlich hinterher gemerkt, dass nicht eine klare Position herausgekommen ist, wie wir uns das so vorgestellt haben. Wir waren aber trotzdem sehr positiv überrascht, dass es eben so voll war und so unterschiedliche Menschen angezogen hat. Wir finden sie auch insofern erfolgreich, weil wir sagen können „Jetzt kann es losgehen und weitergehen, die Men­­schen haben schon was von uns gehört und wenn sie unseren Namen auf dem Flyer lesen, dann kommen sie vielleicht wieder, weil es auch schon eine spannende Diskussion war“. Inhaltlich haben wir uns gesagt, dass wir auch gerne noch eine Veranstaltung zu Fragen machen würden, die in der Podiumsdiskussion offen geblieben sind und nicht beantwortet werden konnten.

FA!: Was wären so offene Fragen, die Ihr gerne in weiteren Veranstaltungen thematisieren würdet?

BgId: Die ganze Integrationsdebatte ist ja so riesig und spricht ja viele Themen an, wie z.B. die so genannte soziale Frage oder auch Leitkultur-Geschichten. Es ging in der Veranstaltung aber v.a. um wesentliche Positionen, wie den Begriff der Integration und die derzeitige Debatte und viel mehr kann man auch nicht von einer Podiumsdiskussion erwarten. Man kann in so eine schwammige Diskussion in diesem Rahmen auch nicht intervenieren und sagen, dass man da auch eine grundsätzliche Kritik hat, auch an den zugrundeliegenden Politikvorstellungen und -modellen und dem zugrundeliegenden Rassismus als politische Realität. Deshalb muss man einzelne Themen noch mal aufgreifen. Und da ist es uns auch noch mal ganz wichtig, zu sagen, dass die deutschen und europäischen „Probleme“ v.a. soziale Probleme sind, die kul­turalisiert werden.

FA!: Würdet Ihr auch zukünftig an der Podiumsdiskussion als Medium festhalten, oder auch mal andere Formen wählen?

BgId: Es ist ganz gut als Anfangsver­an­staltung gewesen, weil man dadurch auch ausloten konnte, wie die Leute, die auch auf dem Podium vertreten waren, und die wir tendenziell ansprechen wollen mit unserer Kritik, reagieren. Zu gucken, wie funktioniert denn so eine Debatte, also was sind die Argumente, die dann letztendlich hängen bleiben. Und auch um eine Öffentlichkeit anzusprechen, die nicht kommen würde, wenn nur Rex Osa kommt.

Also als Anfang gut, aber um eine genauere Analyse vorzustellen, ist es vielleicht nicht die richtige Form. Unsere nächste Veranstaltung wird auch ein Vortrag sein und wir werden dann schauen, mit welcher Form wir unser Ziel erreichen können. Zum Beispiel auch mal einen Text schreiben, um eine politische Fundierung darunter zu legen.

FA!: Wollt Ihr Euch in Zukunft eigentlich thematisch auf die Integrationsdebatte begrenzen, so wie das auch Euer Name suggeriert? Oder wie würdet Ihr Euer gestecktes Themenfeld eingrenzen?

BgId: An dem Themenfeld möchten wir schon dranbleiben. Es ist fraglich ob der Name irgendwann hinfällig ist, weil er veraltet ist, denn die Integrationsdebatte ist abgeflaut, auch wenn die Themen noch aktuell sind und verhandelt werden, nur eben nicht mehr unter dem Stichwort. Aber Rassismus ist in unserer Gesellschaft die ganze Zeit vorhanden und wird auch nicht in ein paar Wochen weg sein. Und deshalb bleiben wir in diesen und ähnlichen Themenfeldern haften. Wir würden auch gerne noch mehr machen, haben aber leider nicht so große personelle Kapazitäten gerade. [nächste Veranstaltung: siehe Anzeige S. 5]

FA!: Gutes Stichwort: Ihr wollt also gerne mehr werden, um mehr zu machen. Wie kann man denn bei Euch mitmachen?

BgId: Wir treffen uns im Moment alle zwei Wochen, Dienstags 20 Uhr im Linxxnet. Alle Leute, die Bock haben, können uns mailen und zu uns kommen und schauen, ob das was für sie ist. Ohne Beschränkungen. [integration.blogsport.de]

Danke für das Interview!

momo

Lokales

Landkreis Wittenberg setzt rassistische Flüchtlingspolitik fort

Im 11. April ging es im Wittenberger Kreistag um die Frage, ob die Asylsuchenden im Landkreis weiterhin in einer ehe­maligen Kaserne der sowjetischen Armee in Möhlau leben müssen oder neu un­ter­gebracht werden. Im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung wurde entschieden, dass das Lager nicht geschlossen wird und die Flücht­linge weiterhin dort leben müssen.

Zur Erinnerung: Das Lager Möhlau ist ein ehe­maliges Kasernengelände, 30 Kilometer von Wittenberg entfernt. Anfang der 90er Jahre lebten in den Gebäuden 1100 Men­schen. Inzwischen sind es weniger als 200, manche leben schon seit bis zu 17 Jahren dort. In vielen anderen Landkreisen kön­nen sich Asylsuchende nach einem halben Jahr, einem Jahr oder auch 5 Jahren eine Wohnung suchen oder zugewiesen be­kommen. Im Landkreis Wittenberg ist dies nicht so. Auch eine Arbeitserlaubnis wird Asylsuchenden in Wittenberg konsequent verweigert – und damit auch das Bleiberecht, weil eine Voraussetzung dafür ist, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Die Verwaltung des Landkreises wollte bei der öffentlichen Ausschreibung im Herbst 2010 nur solche Alternativ-Vorschläge annehmen, die ein neues Lager (zentrale Unterbringung in einer sog. Gemeinschaftsunterkunft) für Asylsuchende ohne Familie, und Wohnungen für Familien vorsehen. Dass die Asylsuchenden sich selbst Wohnungen suchen, wurde ihnen verweigert. Es wurde die bürokratische und teurere Unterbringung bevorzugt. Aber auch diese „Kompromisslösung“ wurde nun im Kreistag abgelehnt.

Asylsuchende werden weiterhin in eine Ruinenlandschaft ausgelagert, drangsaliert, bevormundet und isoliert. Die Politik des Landkreises Wittenberg ist gekennzeichnet durch eine kontinuierliche Verweigerung grundlegender Rechte wie Gesundheitsversorgung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Zugang zu Wohnungen. Der Landkreis zielt darauf ab, die Asylsuchenden zu entmutigen und zur „freiwilligen“ Ausreise zu zwingen. Dies gelang z.B. Anfang April 2011 bei einem kurdischen Ehepaar aus Syrien. Die beiden lebten seit 17 Jahren im Lager Möhlau und litten unter Diabetes und Bluthochdruck. Durch die konsequente Verweigerung einer adäquaten medizinischen Versorgung durch die Verwaltung stellten sich Folgeer­krank­ungen ein, laut Aussagen anderer Be­wohner­Innen des Lagers waren die Betroffenen psychisch wie physisch am Ende. Das Ehepaar befindet sich nun wieder in Syrien, obwohl ihre Kinder weiterhin in Deutschland leben. Ihre Lebensumstände dort und ihr gesundheitlicher Zustand sind nicht bekannt.

Mehrmals mahnte bereits das Innenministerium Sachsen-Anhalt die Arbeit der Ausländerbehörde des Landkreises an, da diese sich nicht an Weisungen, z.B. Abschiebestopps, gehalten hatte. Und auch das Landesverwaltungsamt forderte bereits vor 2 Jahren, die Situation in Möhlau zu verbessern. Zudem gibt es im Landkreis kein Integrationskonzept, das eigentlich vorgeschrieben ist. Erneut haben die Verantwortlichen ihr völliges Desinteresse gegenüber der Situation der Asylsuchenden bewiesen, einmal mehr muss die Asylpolitik im Landkreis Wittenberg als das benannt werden, was sie ist – unmenschlich und rassistisch.

Die Entscheidung des Kreistages ist ein Rückschlag für die Betroffenen. Aber sowohl die Flüchtlingsinitiative Wittenberg/Möhlau als auch ihre UnterstützerInnen werden weiter für die Rechte von Asylsuchenden und ein menschenwürdiges Leben kämpfen, bis es grundlegende Verbesserungen gibt.

no lager halle

Lokales

ARBEIT, ARBEIT, ARBEIT

Allgegenwärtig und unvermeidlich wird mensch mit dem Thema Arbeit immer wieder konfrontiert. Hat man welche, plagt sie eine_n, hat man keine, nerven Jobcenter und leere Portemonnaies. Obendrein erinnern Feiertage wie der 1.Mai daran, dass sich die Gesellschaft bereits seit Jahrhunderten kontrovers damit auseinandersetzt. Was früher als „Arbeiterkampftag“ tituliert wenigstens auf den Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital verwies, klingt heutzutage als „Tag der Arbeit“ befremdlich unkritisch und positiv. Wie die doofen 800 Neo-Nazis in Halle, die auf eine „Zukunft durch ARBEIT“ hoffen, sofern man „Fremdarbeiter stoppen“ würde, und dabei die Arbeit bis zum Äußersten idealisieren. Mehr Bodenhaftung haben da noch das Heer der ARBEITslosen, die trotz freier Zeit vornehmlich unglücklich sind, und die durch LohnARBEIT Erkrankten. Die zu alldem passende linksradikale Kritik am ARBEITsfetisch blieb in Leipzig jedoch weitgehend ungehört. Ob dies nun eher am allgemeinen Desinteresse, ihrem fehlenden Praxisbezug oder der unüblichen Datumswahl lag, bleibt offen. Auf jeden Fall aber fand der diesjährige 1. Mai für einige Leipziger_innen gleich vier mal statt: am 28.4.,30.4.,1.5.,2.5. und wurde in neun Begleitveranstaltungen des Mai-Bündnisses (siehe auch S. 12ff) thematisiert.

28. April: Kaputt durch Arbeit

Es war nur eine kleine Gruppe von etwa 20 Leuten, die sich am 28. April auf dem Willy-Brandt-Platz mit Transparenten und schwarz-roten Fahnen vor dem Hauptbahnhof einfanden. Anlass war der Workers Memorial Day, der internationale Gedenktag für die Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

Dieser wurde 1984 von der Canadian Union of Public Employees initiiert. Anlass war damals das 70. Jubiläum eines Gesetzes, dass einen Versicherungsschutz für Betroffene von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten vorschrieb. Ein Jahr später machte der kanadische Gewerkschaftskongress den Workers Memorial Day zum jährlichen Gedenktag – eine Idee, die rasch auch international Anklang fand.

Anders in den USA oder Großbritannien ist der Workers Memorial Day in Deutschland noch kaum bekannt. Ihn auch in Leipzig zu etablieren, war eines der Ziele der von der Freien ArbeiterInnen-Union Leipzig organisierten Kundgebung. Aber nicht nur das: Das Fernziel ist (so der Aufruftext), dass künftig „niemand mehr in Folge der Abhängigkeit von Lohnarbeit zu Tode kommt oder gesundheitlich geschädigt wird.“

Bis dahin ist es unter den derzeitigen Verhältnissen noch ein weiter Weg. Das zeigte auch einer der Redebeiträge mit einer Aufzählung von Arbeitsunfällen, zu denen es in den letzten Monaten und Jahren in Leipzig kam. So war auch der Versammlungsort keineswegs zufällig gewählt. Nur wenige Meter entfernt wurde 1999 eine Kastanie gepflanzt – zum Gedenken an Arbeiter, die beim Bau der Promenaden im Hauptbahnhof ums Leben gekommen waren.

justus

30. April: Fusslahme Arbeitskritik

Leider wenig besucht war die Demonstration am 30.04. unter dem Motto „The future is unwritten – Für eine Perspektive jenseits von Arbeitswahn und Staatsfetisch“. Wohlmeinend geschätzte 200 vorwiegend junge Leute zogen reichlich lustlos und ohne viel Information für Interessierte im Gepäck durch die Innenstadt, um darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen die Lohnarbeit nicht so wichtig ist, wie weiten Teilen der Bevölkerung. Eine Vermittlung dieses Inhaltes blieb aber weitgehend aus und so stellte die ganze Veranstaltung sinnbildlich die Strategie des 1.Mai Bündnis Leipzig in Frage, einerseits wegen des Aufmarsches der Neonazis am 1. Mai in Halle mit der Demonstration auf den 30.04. auszuweichen, und andererseits rund um den 01.05. Diskussionen und Vorträge zum Thema Arbeit anzubieten, die zwar als innerlinke Auseinandersetzung gelten konnten, nicht jedoch als öffentlich wahrnehmbare Intervention in bestehende Diskurse und schon gar nicht der Aufklärung und Agitation weiterer Be­völkerungskreise dienten. Konkrete Forderungen zu den brennenden Fragen von Mindestlohn bis Arbeitszeitverkürzung, von betrieblicher Mitbestimmung bis hin zu direkter Unternehmensbeteiligung, ja selbst eine klare Positionierung zur EU-weit in Kraft getretenen Arbeitnehmerfreizügigkeit, blieben aus. Stattdessen übten sich die Demonstrant_innen an diesem Tag lediglich in der eigenen Selbst­gewißheit, dass Arbeit einfach Scheiße ist. Na und? Das weiß ja nun wirklich jedeR!

clov

1. Mai: „Zukunft durch Arbeit“?

Um rückblickend über den 1.Mai in Halle, die Nazidemo und die Gegenver­an­stal­tungen, zu schreiben, fallen mir spontan mehrere Ansätze ein. Da gäbe es zum Einen den Klassiker, die Erfolgsstory vom couragierten, antifaschistischen Bündnis, das zahlreich, lautstark, ja und natürlich auch mit bunter Vielfalt, die Nazidemo erfolgreich blockiert hat – nicht zu vergessen: friedlich! – ganz so, wie es zuvor auch angekündigt und eigentlich ja im Stadtrat beschlossen worden war. Am Ende klopfen sich alle auf die Schultern und freuen sich, dass sie das so gut hinbekommen haben. Der Klassiker, wie gesagt.

Dann gäbe es noch die ebenso traditionsreiche Alternative, den empörten Bericht mit einigen Zahlenbeispielen und einer ausgiebigen kritischen Analyse der in jedem Falle ganz grundsätzlich verfehlten Polizeistrategie, dem unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt und all den anderen repressiven Maßnahmen, Einkesselungen, Platzverweisen, Pfefferspray und haste-nicht-gesehen. „Wären die Bullen nicht gewesen, hätte man nämlich!“ Auch hier kollektives Schulterklopfen, schließlich war der Wille da, der Weg nur von Polizei verstellt.

Ein ganz anderer, nichtsdestotrotz stark verbreiteter Ansatz wäre der Vergleich mit ähnlichen Ereignissen. Der macht sich online natürlich besser, da dank fortschrittlicher technischer Errungenschaften gleich Erlebnisberichte vergangener Nazidemos und Gegenveranstaltungen verlinkt werden können. Was war anders als am 16. Oktober, 13. Februar, Leipzig, Dresden, Berlin, usw.? Besonders schön für diejenigen, die aus­nahmsweise nicht dabei sein konnten und so erfahren, dass sie letztlich nichts verpasst haben.

Und last but not least gibt es diese Variante hier, sich mit abgeklärter Alter-Hasen-Attitüde über alle anderen lustig zu machen. Nicht gerade schön, weil gehässig gegenüber denjenigen, die eigentlich doch auch die „Guten“ sind. Und irgendwie haben sie ja auch recht, denn es war natürlich so eine Art Erfolg, dann doch noch eine Blockade hinzubekommen, und ja, die Polizei hat sich mitunter schon daneben benommen. Aber das ist an sich nichts besonderes. Und überhaupt – gab es an dem Tag überhaupt was besonderes? Etwas Erinnerns- und Berichtenswertes? Nicht wirklich. Gruselige Gestalten, dumme Gesänge, ekelerregende Reden von Neo-Nazis, die mir mal wieder einen Sonntag versaut haben. Das ist es, was mir im Gedächtnis bleiben wird. Und vielleicht ist das auch das einzig Wichtige und wenn auch nicht Überraschende, so doch Do­ku­mentationswürdige: Es gibt sie immer noch. Es sind immer noch zu viele. Und wahrscheinlich werden sie mir bald wieder einen Sonntag versauen.

teckla

2. Mai: Keine ARBEIT

„2. Mai – Tag der Arbeit …slosen“ steht auf dem Transparent, das da vor dem Leipziger Jobcenter im Wind flattert. Manche schauen ungläubig, als sie einen kleinen Blumenstrauß mit Banderole „Her mit dem Schönen Leben!“ in der Hand halten. Werden sie schon wieder verarscht? Manche schütteln den Kopf, andere freuen sich. Wichtiger aber als utopische Aufrufe ist für die PassantInnen der Amtstermin, der sie hierher gezogen hat und den Morgen der meisten ver­sauert. Etwa 10 AktivistInnen haben sich am Montagmorgen des 2. Mai vorm Jobcenter getroffen, um mit Blumensträußen, Flyern und Frühstückstisch auf feierliche Weise gegen die alltäglichen Schikanen zu demonstrieren. Unspektakulär, aber die Schwierigkeiten, ins Gespräch zu kommen, illustrieren das Dilemma einer linken Er­werbs­losen­politik: Einen Arbeitsplatz zu haben, verleiht einen Status. Arbeitslos zu sein, ist hingegen ein Manko, mit dem sich folgerichtig niemand gern identifiziert. „Ich bin nicht arbeitslos – ich hab einen 1€-Job“, erklärt denn auch ein Mann auf dem Weg ins Jobcenter, was ihn von „den Anderen“ unterscheidet. Auch wenn alle mit ALG2 zu tun haben – „einer von den HartzIV-Empfängern“ will niemand sein.

Das Dilemma zieht sich bis weit in linke Bewegungen. „Aktivistin“, „Künstler“ oder „Selbstständig“ sind weit attraktivere Selbstbeschreibungen als „ALG2-Em­pfängerIn“. So verständlich das ist, so verschleiert es doch die gemeinsame prekäre Situation. Auch wenn viele nicht direkt Arbeitslosengeld beziehen, so sind doch weite Teile der Gesellschaft direkt von der Höhe der Regelsätze betroffen: auch als wenig verdienende selbständige „Aufstocker“, beim Jobben in prekären Arbeiten oder auch als Festangestellte – überall stellen die HartzIV-Regelsätze den de-facto-Mindestlohn dar. So erklären sich auch die ständigen Angriffe auf die „luxuriösen Verhältnisse mit Hartz IV“ als indirekter Versuch, die Löhne zu drücken. Dieser allgegenwärtige Druck „wie kannst du es wagen, dem Staat auf der Tasche zu liegen“, verbunden mit den kleinen Schikanen des Alltags mag ein Grund für die gedrückte Stimmung der meisten sein, die da am 2. Mai am Frühstückstisch vorbei ins Amt einbiegen.

Ein paar bleiben doch stehen, trinken einen Kaffee, und geraten ins Gespräch. Alle haben üble Erlebnisse mit dem Jobcenter zu berichten, manche schreiben ihre Erlebnisse auch auf Zettel, die an einer Wäscheleine gespannt, die alltäglichen Schikanen dokumentieren sollen. „Geben Sie Ihre Mistpapiere her, sonst kriegen Sie nie wieder Geld von uns!“, bekam sie grad von ihrer Sachbearbeiterin zu hören, berichtet völlig aufgelöst eine Frau. Viele der Erfahrungen sind nicht so plakativ, lange verschachtelte Geschichten endloser Kleinkämpfe mit einer kafkaesken Bürokratie. Am Nachmittag dann, das Amt hat schon lange geschlossen, löst sich die Runde auf, der Frühstückstisch wird eingeklappt, und die Transparente eingerollt.

Und alle Fragen offen: warum ist diese Frage nach dem gesellschaftlichen Existenzminimum nicht zentrales Thema der Linken? Wie organisieren wir uns? Und wieso hat das Amt schon wieder mein Geld gekürzt?

Weil auch innerhalb der Linken viel zu viele mit diesen Fragen allein sind, gibt es seit einiger Zeit einen kleinen Erwerbslosentreff im Hausprojekt „Bäckerei“/Casa­blanca e.V.. Keine professionelle Beratung, eher ein Treffen mit der Möglichkeit, sich gemeinsam in die Materie einzuarbeiten, oder auch politisch diese Fragen zu diskutieren.

Treffen Mo/18Uhr (evtl. Termin nachfragen bei casablanca@riseup.net) / „Bäckerei“/Casablanca e.V. Josephstraße 12. Wer dazu kommen will, ist willkommen.

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Lokales

Der Wert als Wille und Vorstellung

Robert Kurz´ Kritik des Arbeitswahns

Der Hörsaal war gut gefüllt. Mehrere hundert, meist recht junge Leute hatten sich am 19. April eingefunden, um den Vortrag zur „Kritik des Arbeitswahns“ (1) zu hören – eine Veranstaltung im Rahmen der vom 1.-Mai-Bündnis organisierten Kampagne The Future Is Unwritten. Auf dem Podium: Robert Kurz, der sich u.a. als Mitverfasser des 1999 erschienenen Manifest gegen die Arbeit (2) und Autor bei krisis bzw. EXIT! einen Namen gemacht hat. Vor allem aber ist Kurz der bekannteste Theoretiker der sog. Wertkritik, einer post-marxistischen Theorieströmung, die für die bundesre­pu­bli­ka­nische „radikale“ Linke der letzten 20 Jahre prägend war (und nach wie vor ist) wie kaum eine zweite. Es fragt sich nur, was das über den Zustand der hiesigen Linken aussagt.

„Capitalism is a virus from outer space“

Man könnte schon beim ersten Satz stutzig werden, mit dem Kurz in seinen Vortrag einsteigt: „Also zunächst mal von den Grundlagen her: Arbeit ist ganz einfach ein abstrakter Begriff“, also ein Denkvorgang, bei dem „ganz Ungleichartiges unter einen Begriff subsummiert“ wird. Eine interessante Definition… Die meisten Erwerbstätigen dürften ziemlich überrascht sein, dass es nur ein Denkvorgang ist, weswegen ihnen zum Feierabend der Rücken wehtut.

Um zu erläutern, was er meint, zählt Kurz nun auf, was landläufig alles als „Arbeit“ bezeichnet wird: Produktion von Maschi­nenteilen, Anbau von Salat, Krankenpflege, Bomben abwerfen… Tatsächlich ganz verschiedene Tätigkeiten also. So einen allgemeinen Oberbegriff habe es in früheren Epochen nicht gegeben. Drum wendet Kurz sich nun den etymologischen Wurzeln des Wortes „Arbeit“ zu. Der Begriff sei ursprünglich sehr negativ konnotiert gewesen, die indogermanische Wortwurzel bezeichne „das, was der Sklave tut“, beinhaltet also eine eindeutig abwertende soziale Zuordnung. Das lateinische „labor“ hätte ursprünglich „Leiden“ bedeutet.

Davon ausgehend versucht Kurz die geschichtliche Genese der Arbeitskategorie zu skizzieren. So sei es im Christentum zu einer positiven Besetzung des Begriffs gekommen. Das „Leiden“ in der Nachfolge Christi wurde idealisiert und im abgetrennten Raum des Klosters auch praktisch umgesetzt. Dass sich der Tagesablauf in den Klöstern nach der Uhrzeit richtete, veranlasst Kurz gar zu dem Ausruf: „Man könnte fast sagen: Das ist das Urbild der Fabrik!“. In der frühen Neuzeit habe sich dann in der „protestantischen Arbeitsethik“ die Leidensmetaphysik verweltlicht und sei vom abgetrennten Raum des Klosters in den Alltag eingedrungen.

Das wäre als ideengeschichtliche Abhandlung schon okay, wenn nicht mit jedem Satz deutlicher würde, dass Kurz eben tatsächlich die Ideen für die Ursache des Problems hält. Das sagt er auch selbst, wenn er erklärt, die „Arbeit“ sei nicht bloß eine „gedankliche Abstraktion“, sondern eine „Realabstraktion“ (3), also ein „abstrakter Gedanke, der sich in der Wirklichkeit geltend macht“. Der Kapitalismus wäre also eine Art fixe Idee, die sich irgendwie in den Köpfen festgesetzt und sich die Menschen unterworfen hat.

Das Problem ist nur: Wenn man jede Veränderung aus den Ideen ableitet, lässt sich eben nicht erklären, warum sich die Ideen verändern – warum es also überhaupt irgendeine Entwicklung gibt. Halten wir uns versuchsweise lieber mal ans marxistische Dogma: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Nicht weil´s ein Dogma ist, sondern weil dann auch die Ideengeschichte irgendwie mehr Sinn ergibt: Dass der Begriff „Arbeit“ irgendwann aufhörte das zu bezeichnen „was der Sklave tut“, könnte etwa damit zu tun haben, dass die entsprechenden Tätigkeiten tatsächlich nicht mehr von Sklaven verrichtet wurden (4). Und wenn die protestantische Arbeitsethik das Anhäufen von Reichtum als Zeichen besonderer Nähe zu Gott interpretierte, dann ließe sich diese Denkweise daraus erklären, dass manche Christen eben tatsächlich enormen Reichtum angehäuft hatten und weiter anhäufen wollten. Um dies mit ihrem Glauben (vor allem mit dem christlichen Armutsideal: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt“ usw.) vereinbaren zu können, musste der Glauben eben modifiziert werden.

Was heißt das für unser Hauptthema, die Arbeit? Kurz stellt richtig fest, dass es die „Arbeit“ als einen Oberbegriff für alle möglichen Tätigkeiten früher nicht gegeben hat, dieser Arbeitsbegriff also das Ergebnis einer historischen Entwicklung ist. Mit seinem idealistischen Ansatz kann er diese Entwicklung aber nur feststellen, nicht erklären.

Unterstellen wir also mal, dass der Begriff eine Veränderung der realen Arbeitsverhältnisse widerspiegelt, und dass der Kapitalismus an allem schuld ist. Denn kapitalistische Produktion ist vor allem industrielle Produktion – und die Arbeit eines Industriearbeiters sieht tatsächlich ganz anders aus als die eines Handwerkers oder Bauern. So ist es egal, ob ein Fabrikarbeiter nun diese drei Handgriffe ausführt oder jene drei Handgriffe. Es ist egal, wer diese Handgriffe ausführt, ebenso wie es egal ist, was für ein Gegenstand am Ende dieser langen Reihe von Handgriffen herauskommt. Die Abstraktion muss dieser Art von Arbeit nicht erst nachträglich übergestülpt werden, indem „ganz verschiedene“ Tätigkeiten zwangsweise unter einen Begriff gebracht werden. Industrielle Arbeit ist schon als solche „abstrakt“, aller besonderen Qualitäten entledigt. Sie lässt sich also auch problemlos rein quantitativ bestimmen, anhand der für die Herstellung eines Produkts notwendigen Arbeitszeit (5).

Aus dieser realen Abstraktheit der Arbeit ergibt sich die Abstraktion des Arbeitsbegriffs ganz zwanglos, und dieser wird dann schrittweise auf alle möglichen Tätigkeiten ausgedehnt – so weit, dass Leute z.B. von „Beziehungsarbeit“ sprechen, wenn sie mit einer geliebten Person mal ernsthaft reden müssen.

Kanonen & abstrakte Arbeit

Diese Industrie ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Aber von den technischen und sozialen Umwälzungen, um die es hier geht, nennt Kurz nur eine: die „militärische Revolution“ durch die Feuerwaffen. Die Produktion von Kanonen hätte eine gewaltige logistische Herausforderung dargestellt und die „frühmodernen Fürsten“ zu enormen Investitionen genötigt. Diese hätten darum den modernen Staat errichtet – laut Kurz eine sich stetig bürokratisierende „gesellschaftliche Maschine“, eine „Instanz, die anfängt, die Gesellschaft diesem Zweck zu unterwerfen, und dafür ein Mittel mobilisiert, das bis dahin randständig war, nämlich das Geld.“ Die staatlich forcierte „Entfesselung des Geldes“ zog dann wiederum eine drastische Änderung der Produktionsgrundlagen nach sich: Der Kapitalismus entstand.

Fragt sich nur, wie die bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in England bzw. Frankreich in dieses Bild passen. Wieso wurden dort Könige geköpft, wenn doch der ganze Prozess unter strikter Kontrolle des absolutistischen Staates ablief? Und was ist mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, die ja erst die nötigen Arbeitskräfte für die entstehende Industrie freisetzte? Vor lauter Geldgier scheinen die Fürsten nicht bemerkt zu haben, dass sie sich mit solchen Maßnahmen selbst den Boden unter den Füßen wegzogen…

Der Fehler steckt vermutlich an der Stelle, wo Kurz die Entwicklung der Produktionsverhältnisse aus der Entfesselung des Geldes ableitet. Immerhin bezeichnet Kurz seine Theorie als „Wertkritik“. Der „Wert“, wie er sich im Geld ausdrückt, scheint also ziemlich wichtig für ihn zu sein.

Und Geld ist in unserer Wirtschaftsordnung ja auch wirklich ziemlich wichtig. Jeder nützliche Gegenstand kostet Geld, ist also nicht einfach ein nützliches Ding, sondern eine Ware – er hat nicht nur einen Gebrauchs-, sondern vor allem einen Tauschwert. Und der muss bezahlt werden. Das Geld ist in dem Sinne eine Ware, deren besonderer Gebrauchswert darin besteht, dass sie den Tauschwert schlechthin repräsentiert: Für Geld lassen sich alle anderen Waren eintauschen, also kaufen.

Diesen Wert nun rückt Kurz ins Zentrum der Kritik. Denn in der kapitalistischen Produktion ist allein der (vom Geld repräsentierte) Tauschwert der Ware von Bedeutung. Der Tauschwert trennt sich ge­wissermaßen vom Gebrauchswert, er unterwirft sich diesen. So wie der Begriff der „Arbeit“ die verschiedensten Tätigkeiten gleichmacht, so macht der Tauschwert die unterschiedlichen Gebrauchsgegenstände gleich: Soweit sie Waren sind, erscheinen diese nun als austauschbar, soweit sie gleichwertig sind, sind sie letztlich auch gleichgültig – vom Tauschwert her ist es z.B. egal, ob man Medikamente oder Giftgas verkauft. Für sich betrachtet erscheint der „Wert“ also wirklich als ziemlich verrückte Idee.

Von dieser Warte her kritisiert Kurz auch die Arbeit: Die Arbeit ist abstrakt, weil sie Lohnarbeit ist, weil sie nur eines abstrakten Zwecks, des Geldes wegen getan wird. Im von Kurz mitverfassten Manifest gegen die Arbeit (Abschnitt 5) wird das so gesagt: „In der Sphäre der Arbeit zählt nicht, was getan wird, sondern dass das Tun als solches getan wird, denn die Arbeit ist gerade insofern ein Selbstzweck, als sie die Vermehrung des Geldkapitals trägt – die unendliche Vermehrung von Geld um seiner selbst willen. Arbeit ist die Tätigkeitsform dieses absurden Selbstzwecks.“

Kurz leitet also die „abstrakte Arbeit“ aus dem Wert ab. Dieses Verfahren führt allerdings zum alten Problem: Wenn der Wert als Erklärung für alles andere (die Arbeit, die Industrie, den Kapitalismus) herhalten muss – wie lässt sich dann der Wert erklären? Daraus ergibt sich auch der idealistische Ansatz von Kurz: Weil er auf diese Frage keine Antwort weiß, kann er sich den Wert nur noch als fixe Idee denken, deren Ursprung irgendwo in grauer Vorzeit verschwindet. Gucken wir also mal, was herauskommt, wenn wir die Gleichung umdrehen – vielleicht lässt sich dann erklären, wo diese Wahnvorstellung herkommt. Damit uns aber im wüsten Niemandsland des reinen Geistes nicht plötzlich eine fixe Idee anfällt, sollten wir uns zunächst mal ideologische Rückendeckung besorgen: Schauen wir mal, was der alte Marx zum Thema sagt.

Auf den ersten Blick scheint dieser voll mit Robert Kurz überein zu stimmen. Auch Marx geht schließlich von der Analyse der Ware aus. So schreibt er z.B. in Zur Kritik der Politischen Ökonomie gleich im ersten Satz: „Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein“ (MEW Bd. 13, S. 15). Genaues Lesen lohnt sich aber: Die Ware erscheint als die elementare Grundlage des Kapitals, aber eben nur auf den ersten Blick. Marx geht von der Ware aus – aber wo geht er hin?

Schon ein paar Seiten später stellt Marx die Sache nämlich schon ganz anders dar. Der Tauschwert, die Ware ist nicht das Primäre, sondern die Arbeit muss selbst schon in besonderer Weise organisiert sein, damit ein Tauschwert herauskommt: Die Warenproduktion setzt „unterschiedslose Einfachheit der Arbeit“, eine „tatsächliche Reduktion aller Arten auf gleichartige Arbeit“ voraus (S. 19). Es ist hier also ähnlich wie beim Arbeitsbegriff: Die Arbeit muss erst einmal selbst abstrakt und gleichförmig werden, damit sich die abstrakte Gleichförmigkeit des Tauschwerts daraus ergibt.

In den vorbürgerlichen Agrargesellschaften diente die Produktion vor allem der Subsistenz, dem eigenen Bedarf. Geld spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Mit der industriellen Produktion ändert sich das: Die Arbeit dient nicht mehr vorrangig der Selbstversorgung, sondern wird zur Arbeit für andere – d.h. in erster Linie für den Unternehmer, in zweiter Linie für den Markt.

Der erste Schritt in diese Richtung ist die um 1700 in England einsetzende ´agrarische Revolution´: Durch neue Methoden können die Ernteerträge beträchtlich gesteigert werden. Zugleich wird der Boden immer mehr in den Händen weniger Grundbesitzer konzentriert. Dadurch wird ein großer Teil der Landbevölkerung ´freigesetzt´. Der ´freie Lohnarbeiter´ entsteht, der nur über sich selbst als Eigentum verfügt und darum zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen ist. Dem folgt als zweite Phase die ´industrielle Revolution´, die Verdrängung des Handwerks durch die industrielle Arbeit (wozu die Erfindung der Dampfmaschine entscheidend beitrug).

Die Produzent_innen wurden dabei von ihren Produktionsmitteln getrennt und der entstehenden Industrie eingegliedert. Der Kapitalismus konstituiert sich so als Klassenverhältnis zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Zur Steigerung der Produktivität wird die Arbeit in Einzelschritte zerlegt, jede_r Arbeiter_in wird auf eine Tätigkeit, ein Produkt, einen Teilbereich im Prozess festgelegt. Eben diese Zerteilung der Arbeit, die „Vielseitigkeit der Bedürfnisse des Einzelnen in umgekehrten Verhältnis zur Einseitigkeit seines Produkts“ (Marx, S.74) liefert die Voraussetzung, damit wirklich Waren produziert werden: Wer den ganzen Tag Schrauben in eine Autokarosserie dreht, kann eben kein Gemüse mehr anbauen, braucht aber trotzdem was zu essen. Die einzelnen Arbeiten müssen also wechselseitig auf­einander bezogen werden – in der Warenzirkulation. Erst dadurch, als Arbeit für den Markt, erhalten die drei Handgriffe, die eine einzelne Arbeiterin ausführt, einen gesellschaftlichen Charakter.

Das „Gesetz des Wertes“, so Marx, setzt also „zu seiner völligen Entwicklung die Gesellschaft der großen industriellen Produktion und der freien Konkurrenz, d.h. die moderne bürgerliche Gesellschaft“ voraus (S. 46). Die Landwirtschaft muss z.B. die nötigen Lebensmittel für die Leute liefern, die in der Industrie mit dem Zusammenschrauben von Autos beschäftigt sind. Umgekehrt produziert die Industrie z.B. Traktoren oder Dünger, damit die Erträge der Landwirtschaft gesteigert werden können. Erst in dieser verallgemeinerten Warenproduktion und -zirkulation erhält das Geld die zentrale Rolle, die es heute spielt.

Der „Wert“ stellt sich dabei nicht als Gegenstand, sondern wesentlich als Prozess der Verwertung dar. Einerseits als Produktion von Mehrwert, d.h. der Marktwert der Waren, die eine Arbeiterin an einem Arbeitstag produziert, ist höher als der Lohn, den sie braucht, um weiterarbeiten zu können. Andererseits wird ein Großteil des so erwirtschafteten Gewinns wieder in die Produktion investiert und dient so der weiteren Akkumulation.

Der klassenlose Kapitalismus

Kurz wirft also Wirkung und Ursache durcheinander, indem er das Geld an den Anfang setzt und dann versucht, die „abstrakte Arbeit“ daraus abzuleiten. Damit geraten ihm nicht nur die geschichtlichen Abläufe ein wenig durcheinander (bzw. muss er sehr weit zurückgehen, um den vermeintlichen Punkt zu finden, von dem das Übel seinen Anfang nahm). Letztlich verflüchtigen sich ihm auch die realen Verhältnisse zu Ideen und Begriffen. Nach seinem ungelenken Schwenk zu den Kanonen bzw. zur realen Ökonomie muss Kurz folglich erst mal weiter „Realabstraktionen“ kritisieren, genauer gesagt die Aufklärungsphilosophie. Denn auch die hätte sich positiv auf die Arbeit bezogen, und damit wiederum die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts angesteckt.

Die Arbeiterbewegung sei nämlich keines­wegs und niemals irgendwie revolutionär gewesen. Nein: „Die Arbeiterbewegung hat sich (…) auf dem Boden dieser Arbeitsabstraktion, des Geldes, der Geldvermehrung einrichten wollen, die wollte hier anerkannt werden!“ Mit ihrer Forderung nach „gerechtem Lohn für gerechte Arbeit“ sei sie ein „Kampf um Anerkennung auf dem Boden dieser Verhältnisse und nicht gegen sie“ gewesen.

Kurz macht es hier ähnlich wie die „Arbeitsabstraktion“: Er subsummiert ganz Ungleichartiges unter einen Begriff – was sich so nicht fassen lässt, existiert für ihn schlichtweg nicht. Zum Beispiel revolutionäre Bewegungen jenseits von Sozialdemokratie und Staatssozialismus (den Anarcho­syndikalist_innen der 30er Jahre ging es in der spanischen Revolution also nur um „Anerkennung“?). Oder ein Unterschied zwischen Funktionären und Basis: Wenn etwa die SPD-Regierung 1919 die revoltierenden Arbeiter_innen von der Reichswehr zusammenschießen ließ, könnte man darin schon einen gewissen Gegensatz von Führung und Basis sehen… Und wieso musste denn zu so drastischen Mitteln gegriffen werden, wenn die Leute doch nur „gerechten Lohn“ wollten?

Widerstand gegen die Arbeit erwähnt Kurz nur an einer Stelle: So habe es im 18. Jahrhundert noch Menschen gegeben „die alles wollten, bloß nicht sich diesem neuartigen, monströsen Zwangsverhältnis abstrakter Arbeit zu unterwerfen“. Nachdem auch die unters Joch gezwungen waren, gab keine Kämpfe gegen die Arbeit mehr, sondern nur noch „Arbeiterbewegung“.

Das hat durchaus seine Logik: Nur indem Kurz alle Bewegungen abseits von Sozialdemokratie und Staatssozialismus ignoriert, kann er seine eigene Theorie als radikalst­mögliche Kritik darstellen. Die Alternative ist allerdings falsch, denn Kurz teilt mit der von ihm geschmähten „Arbeiterbewegung“ die Ignoranz gegenüber den Produktionsverhältnissen. Während der sozialdemokratische und leninistische Umverteilungssozialismus die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft beibehalten und nur das Endprodukt ´gerecht´ verteilen will, beschränkt sich die Kurzsche Wertkritik auf ein letztlich hilf- und begriffsloses Anprangern der Verhältnisse: Kapitalismus ist schlecht, weil er alles kaputt macht und den Menschen ihre Menschlichkeit raubt.

Die Pointe der Marxschen Kritik liegt freilich nicht in der bloßen Feststellung, dass die Verhältnisse schlecht sind, sondern vielmehr in dem Nachweis, dass wir selbst es sind, die diese Verhältnisse produzieren. Für Marx versteckt sich unter der „dinglichen Hülle“ der Ware keine fixe Idee, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis. Der auf rätselhafte Weise in der Ware steckende „Wert“ ist tatsächlich nur der Ausdruck der dafür aufgewandten Arbeitskraft – was uns im Kapital entgegentritt und uns unterwirft, ist das verdinglichte, enteignete Produkt unserer Tätigkeit. Und weil die kapitalistische Produktion auf der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft beruht, steckt schon im System selbst der Konflikt, der es potentiell sprengen könnte.

Dies entgeht Kurz bei seinem angestrengten Starren auf die Ware, den „Wert“. Statt die Ware als vergegenständlichten Ausdruck menschlicher Tätigkeit zu entziffern, gerät sie ihm zur transzendentalen Zwangsgewalt. Indem er den Wert als „Götzen“ attackiert, erhebt er ihn tatsächlich zur finsteren Gottheit, der alle dienen müssen: Ob Putzfrau oder Vorstandsvorsitzender, irgendwie sind alle nur Opfer. Einen Interessensgegensatz von Aus­beuter_innen und Ausgebeuteten gibt es für Kurz nicht, alle handeln nur als „Charaktermasken“, als bloße „Personifikationen ökonomischer Verhältnisse“.

Das ist insofern nicht falsch, als die Arbeiter_innen ja wirklich nicht zum Spaß arbeiten, sondern weil sie Geld brauchen. Da Kurz das reale Zwangsverhältnis aber nur als Zwangsvorstellung begreifen kann, ist der bloße Fakt, dass die Arbeiter_innen arbeiten, für ihn schon der Beweis, dass sie auch arbeiten wollen – dass auch sie dem „Arbeitswahn“ verfallen sind.

Die Krise & die kritische Kritik

Eine Selbstbefreiung der Menschen ist für Kurz damit kategorisch ausgeschlossen. Die Leute sind eben einfach viel zu blöd dafür, so gibt er mit sublimer Arroganz zu bedenken: „Jetzt kann man natürlich sagen: Ja, wenn der Alltagsverstand, die Milliarden von Normalos, die sich nicht mit den Hintergründen (…) des Ganzen befassen, sondern einfach da drin existieren, wenn die nichts anderes wollen als Kapitalismus, das heißt Arbeit haben, Geld verdienen, Waren kaufen… dann müsste es doch ewig so weitergehen können!“

Aber zum Glück gibt es noch einen Ausweg: Die Krise, den endgültigen, unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems. Denn gerade jetzt stößt der Kapitalismus an seine „objektive historische Schranke“. Um diese These zu begründen, beruft Kurz sich auf den „tendenziellen Fall der Profitrate“ – ein Marxscher Begriff, der ungefähr dies meint: Im Laufe der Entwicklung ändert sich die organische Zusammensetzung des Kapitals. Das heißt, der Anteil des konstanten Kapitals (der Maschinerie) wächst im Verhältnis zum Anteil des variablen (der menschlichen Arbeitskraft). Kurz erklärt diesen Vorgang aus der Konkurrenz: Um sich durchzusetzen, müssen die Unternehmer_innen ihre Waren billiger anbieten, also die Produk­tions­kosten senken. Das tun sie, indem sie Maschinen einsetzen. Und da nur die menschliche Arbeitskraft Mehrwert produziert, sinkt darum langfristig der Gesamtprofit – die Eigendynamik der Verwertung führt zur Ver­wertungskrise.

Das passt scheinbar ziemlich gut mit den Tatsachen zusammen. Denn seit dem Ende die Boomphase nach Ende des Zweiten Weltkriegs stolpert die Weltwirtschaft seit nunmehr 40 Jahren von einer Krise in die nächste. Von der Ölkrise der 70er bis zur immer noch fröhlich wütenden „Finanzkrise“ – das Kapital schafft es einfach nicht, eine ausreichend stabile Profitrate zu erwirtschaften. Der „tendenzielle Fall der Profitrate“ ist allerdings nur eine Tendenz, der sich mit diversen Mitteln entgegensteuern lässt, etwa durch Lohnsenkungen oder durch Verlagerung der Produktion in „Entwicklungsländer“. Als letzter Ausweg lässt sich immer noch ein ordentlicher Krieg anzetteln. Alles kaputtschlagen und anschließend wieder aufbauen – die Methode hat sich schon bewährt.

Für Kurz dagegen ist der Fall der Profitrate so was wie ein eingebauter Selbst­zer­störungs­me­cha­­­nismus der Ka­pital­ma­schine: „Das ist ein Prozess, der nicht aufzuhalten ist – er wird ja von der Konkurrenz erzwungen.“ Zusätzlich zur Krise des Geldes, das immer weniger reale Arbeitssubstanz repräsentiert, komme es zu einer Energiekrise durch das Schwinden der fossilen Brennstoffe. „Das alles löst sich natürlich nicht in Wohlgefallen auf“: Vielmehr führe das „Diktat des automatischen Subjekts, des Zwangs der Konkurrenz“ unweigerlich zu Zerstörung und zur Barbarei.

Zumindest, wenn nicht eine Gegenbewegung entsteht, die es wage „die kategoriale Kritik zu formulieren (…) gegen den Alltagsverstand, der mit und Zähnen und Klauen an seiner abstrakten Arbeit festhalten will“. Kurz fordert also nichts Geringeres als eine „Neuerfindung des Kommunismus“. Eines hochgestecktes Ziel, das sich aber sofort in heiße Luft auflöst. So erklärt Kurz nun mit großem Ernst, dass es zur kategorialen Kritik keineswegs genüge, den Begriff der Arbeit nur durch den der „Tätigkeit“ zu ersetzen. Vielmehr brauche es eine „Kritik der Realabstrak­tion“. Es gelte, die Differenz zwischen den verschie­denen Tätigkeiten ernst zu nehmen, denn diese „kann man nicht unter einen Funktionsbegriff, unter einen Tätigkeitsbegriff fassen. Das ist diese destruktive Realabstraktion, die abstrakte Arbeit!“

Da schließt sich der Zirkel: Wenn Arbeit, wie Kurz eingangs meinte, „von den Grundlagen her“ nur ein „abstrakter Begriff“ ist, dann müssen wir eben aufhören zu abstrahieren. Wenn wir nicht mehr ganz verschiedene Tätigkeiten unter einen Begriff bringen, ist der Bann der Realabstraktion gebrochen. „Das ist eigentlich ziemlich einfach, ist auch oft gesagt worden: Der Kommunismus ist das Einfache, das schwer zu machen ist.“

In der Tat. Man muss auch erst mal drauf kommen, dass es dermaßen einfach ist… Mit ein wenig Bosheit könnte man hier das unverarbeitete Trauma eines ehemaligen K-Gruppen-Mitglieds am Werk sehen, das nach endlosen Schulungen in ML-Ideologie den Begriff „Arbeit“ einfach nicht mehr hören kann, aber auch das gute Gefühl, einer Avantgarde anzugehören, nicht missen möchte – und darum flugs den Nicht-Gebrauch des Wortes „Arbeit“ zum neuen revolutionären Programm erhebt.

Diese Strategie ist freilich nur dann erfolgversprechend, wenn tatsächlich der „Arbeitswahn“ das Problem wäre und nicht die Arbeit selbst – in diesem Fall wäre die Kurzsche „kategoriale Kritik“ genauso nutzlos wie die Forderung, die Unter­nehmer_innen sollten doch bitte nicht so gierig sein. So wie diese, wenn sie Unter­nehmer_innen bleiben wollen, Gewinn machen müssen, egal ob sie dabei „gierig“ denken oder nicht, so verschwindet der reale Zwang zur Arbeit nicht einfach, sobald man aufhört, sich positiv darauf zu beziehen. Im Gegensatz zum „Arbeitswahn“ lässt sich die reale Arbeit nicht wegtherapieren, sondern nur abschaffen. Und dies kann nur das Ergebnis praktischer Kämpfe gegen die Arbeit sein, auf dem Boden der Verhältnisse, schon deshalb, weil ein anderer Boden leider nicht zur Verfügung steht. Der Kapitalismus wird uns nicht den Gefallen tun, von allein zusammenzubrechen.

justus

(1) Ein Mitschnitt des Vortrags ist unter mayday2011.blog­sport.eu/media/ verlinkt.
(2) Zu finden unter www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit. Eine gute Kritik am Manifest findet ihr unter www.wildcat-www.de/zirkular/54/z54kritk.htm.
(3) Der Begriff stammt von dem Ökonomen Alfred Sohn-Rethel, der das Verhältnis von Realem und Abstraktion aber anders als Kurz so bestimmt: „Das Wesen der Warenabstraktion aber ist, dass sie (…) ihren Ursprung nicht im Denken der Menschen hat, sondern in ihrem Tun“, d.h. die Idee des Tauschwerts folgt aus der realen Praxis des Tausches.
(4) Das ist gar nicht so banal wie´s klingt. So lange ein Großteil der Arbeit von Sklav_innen, und nicht von formal Freien und Gleichen verrichtet wurde, musste auch die Arbeitsleistung als nicht vergleichbar erscheinen. Ein vom Ge­brauchs­wert abgetrennter Tauschwert war damit im antiken Rom undenkbar.
(5) Darum hinkt auch der von Kurz angestellte Vergleich von Kloster und Fabrik ganz gewaltig: Arbeit als Nachvollzug der Leiden Christi ist eben was anderes als Arbeit für die Warenproduktion. So hat auch die ´Arbeit nach der Uhr´, in der Fabrik eine ganz andere Funktion: Die Arbeitszeit wird gemessen, weil sie der Maßstab für den Wert der Waren ist.

Theorie & Praxis

Editorial FA! #39

War ja klar – der Feierabend! hält seinen straffen Zeitplan auf die Minute genau ein und landet pünktlich vor den Feiertagen in Euren Briefkästen und Verkaufstellen. Damit Euch den Rest des Jahres nicht langweilig wird, haben wir wieder allerhand Lesenswertes auf 32 Seiten gequetscht. Großer Dank an dieser Stelle an die zahlreichen Autor_innen, die uns mit ihren Artikeln und Leser_innenbriefen immer wieder bereichern!

Doch fleißig waren wir auch in anderer Hinsicht. So haben wir bei einer Inspektion der Werkstätten der Siebdruckerei Glitzer 61 gleich mal einiges an Merchandise produziert, wunderschöne Motive unseres Maskottchens Horst auf feinstem Material. Wenn ihr an schicken Feinrippunterhemden, Einkaufsbeuteln, T-Shirts oder Aufnähern interessiert seid, schreibt doch einfach eine Mail an feierabendle@web.de und ihr könnt uns wahlweise ein paar Kröten oder geile Artikel für die Jubiläumsausgabe #40 spenden. Eine neue Verkaufsstelle haben wir übrigens auch – der Feierabend! heißt ganz herzlich das Vinylparadies „Klanggarten“ in der Könneritzstraße willkommen! Und nun viel Spaß beim gepflegten Rezipieren!

Eure Feierabend!-Redaktion

Zensus 2011

Die Erschaffung eines deutschen Datenpools

Dieses Jahr sollen laut dem Willen der Bundesregierung die Datensätze des deutschen Inventars aktualisiert werden. Lest nach, wie das geschieht und was man unternehmen kann.

Am 09. Mai 2011 ist Stichtag für das Statistische Bundesamt: ein Zensus soll durchgeführt werden und die freiwilligen Volks­zählerInnen beginnen, das Bundesgebiet systematisch zu durchkämmen. In der Umgangssprache ist mit dem Begriff Zensus eine Volkszählung gemeint, der jedoch die immense Datenerhebung, die damit verbunden ist, verklärt.

2008 hat sich die EU dazu entschlossen, eine Verordnung zu verabschieden, die jedem Mitgliedsstaat vorschreibt, bis 2011 einen Zensus durchzuführen. Die deutsche Bundesregierung hat aufgrund dessen 2009 das Zensusgesetz verabschiedet, welches eine registergestützte Datenerhebung vorsieht. Während die EU an die Basis-Daten der EU-EinwohnerInnen gelangen will, um sie der europäischen Behörde für Statistik (EUROSTAT) zur Verfügung zu stellen, nutzt die Bundesregierung gleich die Möglichkeit, noch eine Menge anderer Daten zu erfassen. Das erklärte Ziel des Statistischen Bundesamts ist die Erzeugung einer nahezu vollständigen Adress-, Wohnungs- und Gebäudedatenbank, um die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts zu aktualisieren, um zu ermitteln, wie viele Kindergartenplätze, Schulen oder Altersheime benötigt werden, um die Arbeitslosenzahlen auf einen genaueren Stand zu heben oder um die Anzahl verfügbarer Wohnungen in der BRD inklusive ihrer Ausstattung zu wissen.

In der Vergangenheit kam es häufiger zu solchen Zählungen von EinwohnerInnen und Erhebungen von Gebäuden. Schließlich möchte eine Regierung ja wissen, über wen sie regiert und was sie ihr Eigen nennt. Der letzte große Zensus in der BRD fand in den 80er Jahren statt und wurde von einer großen Boykottwelle begleitet. Von den GegnerInnen wurde oft darauf hingewiesen, dass die umfangreichen Volkszählungen in den 30er Jahren eine wichtige Grundlage für die Deportation der Juden und Jüdinnen in die Konzentrationslager gewesen sind.

Diesmal wird die Datenerhebung in große Bereiche gegliedert: bereits jetzt werden die existenten Datensammlungen der Meldebehörde und der Bundesagentur für Arbeit zusammengeführt. Über eine Ordnungsnummer werden die Datensätze miteinander verknüpft. Diese Daten und auch die Daten jeder anderen auskunftspflichtigen Behörde werden nun mit den Daten des neu erstellten Wohnungsregisters zusammengeführt.

Als nächstes werden 100% der Eigentümer­Innen von Gebäuden und Wohnräumen zu den Eigentumsverhältnissen, der Größe, der Ausstattung und den eventuellen Mieter­Innen befragt. Dabei wird kein Unterschied zwischen rechtlichen und natürlichen Personen gemacht.

Daraufhin werden 10% aller ansässigen EinwohnerInnen der BRD mit einem ausführlichen Fragebogen zu jeglichen Details ihrer Lebensverhältnisse befragt. Dies diene zur Kontrolle der bereits erfassten und zusammengeführten Daten und nimmt noch einen großen Schwapp neuer Daten hinzu.

Separat zur Gebäude- und Menschenzählung werden sämtliche sogenannte Sonderbereiche wie Gefängnisse, psychiatrische Anstalten oder auch Wohnheime jedweder Art befragt. Sind Personen nicht dazu in der Lage, die Fragen der ZählerInnen zu beantworten, übernehmen die LeiterInnen vor Ort diesen Job.

Im Anschluss an diese Befragungswellen werden zur „Qualitätssicherung“ 5-10% der befragten Haushalte noch­mals befragt.

Das Versenden der Fragebögen funktioniert entweder über die Post, die direkte Abgabe beim befragenden „Volks­zähler“ oder per bereit gestellter Software im Internet.

Die Fragen für Eigen­tümer­Innen, Stichproben und Sonderbereiche unterscheiden sich etwas: Name; Ge­burtsdatum; Geburtsort; Geschlecht; Art, Alter und Zustand der Immobilie; Aufenthaltsort; Staatsangehörigkeiten; Familienstand; Beruf; Arbeitgeber; Ausbildung; Schulabschluss; Migrationshinter­grund; Reli­gions­zu­ge­hörig­keit und genaue Art des Glaubensbekenntnisses.

Die Datenzusammenführung der Behörden beinhaltet noch andere Daten, wie etwa den Arbeitsort, den Arbeitslosenstatus, beantragte Auskunftssperren inkl. des Grundes und natürlich die berüchtigte Ordnungsnummer.

Da man sich der Befragung nicht entziehen darf, werden die persönlichen Daten der oder des Betroffenen ohne Einwilligung eingesammelt. Alle Befragungswellen einbezogen, werden insgesamt ein Viertel bis ein Drittel aller in Deutschland ansässigen Personen direkt ausgehorcht. Durch die Ordnungsnummer soll eine Pseudo-Anonymität vermittelt werden, eigentlich stellt sie jedoch genau die Kennziffer dar, über die sämtliche Daten einer Person abgerufen werden können. Eine eindeutige, gemeinsame Personenkennziffer hatte das Bundesverfassungsgericht (BDV) 1983 ausdrücklich verboten; im Herbst 2010 schmetterte dasselbe Gericht die Verfassungsklage des AK Zensus aus formalen Gründen ab und die Bundesregierung setzt sich nun unbemerkt über das Urteil von 1983 hinweg.

Technisch gesehen entsteht ein zentral verfügbares Personenprofil aller in Deutschland ansässigen Personen und schafft somit eine weitere Grundlage für den Überwachungsstaat. Es bedarf einer gehörigen Portion Vertrauen in die staatlichen Institutionen, dass diese die zur Verfügung gestellten Daten nicht zweckentfremden. Hinzu kommt, dass sich Angriffe Interner wie Externer auf große Datensammlungen in den letzten Jahren bekanntlich drastisch erhöht haben. Es gibt keine Sicherheit, dass mit diesen Daten nicht noch mehr Unfug als ohnehin schon getrieben wird.

Die im Zuge der Datenbank vereinfachte Datenanalyse erhöht zudem die Gefahr der Wiedereinführung einer schleichenden Rasterfahndung. Die Bindung der personenbezogenen Daten (Name; Geburtsdatum; etc.) an die restlichen gegebenen Antworten per Ordnungsnummer soll aufgetrennt werden, aber es ist keinesfalls geregelt, wann und wie das passiert.

Wahrscheinlich werdet ihr hauptsächlich von der zweiten Befragungswelle, die auf 10% aller EinwohnerInnen zukommt, betroffen sein. Widerspruch und Verweigerung der Antworten sowie Falschangaben sind untersagt. Falschangaben sind deshalb nicht zu empfehlen, weil sie mit den bereits vorhandenen Daten abgeglichen werden.

Die Verweigerung der Befragung macht dennoch Sinn. Es wird ein Bußgeld mit dem fröhlichen Namen „Zwangsgeld“ von maximal 5.000 € verhängt. Es ist aber zu erwarten, dass die Strafen geringer ausfallen. Darum bildet Banden und richtet einen Solitopf ein. Wenn sich zehn Menschen zusammentun und einer ist betroffen, so ist die Geldstrafe nur ein Zehntel so hart. Des Weiteren ist die Verweigerung der Befragung keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit, wird euch also keinen Eintrag im Führungszeugnis bescheren.

Mit etwas Engagement kann eure Bande auch eine alternative Sammelstelle einrichten und die Befragten in eurem Kiez auffordern, die Fragebögen bei euch abzugeben. Lasst euch ruhig von den alternativen Sammelstellen der 80er Jahre inspirieren. Eine Gruppe verklebte beispielsweise alle bei ihnen abgegebenen Fragebögen an der Berliner Mauer, andere behielten die gesammelten Werke als politisches Druckmittel.

Generell gibt es keinen allgemeingültigen Kniff, um der Zählung zu entgehen. Dennoch findet ihr vielseitige Tipps in der Volks­zählungsfibel. Sie ist auf www.vobo11.de verfügbar oder liegt vielleicht auch an einem Ort eures Vertrauens in gedruckter Form aus.

(Rote Hilfe Leipzig)

www.zensus11.de

www.vobo11.de

Zwergenhafte Richtigstellung

So schnell kann es gehen: Eben noch meinten wir, uns mit der Entlarvung des Zwerges als kleinbürgerliches Subjekt („Der innere Zwerg“, FA! 39) auf der höchsten Höhe der Kritischen Theorie zu befinden, ja, das falsche Ganze und den trügerischen Schein der deutschen Gemütlichkeit unerbittlich auf den Begriff gebracht zu haben. Aber Pustekuchen! Auch in diesem Fall war uns der Meisterdenker Theodor W. Adorno mal wieder um Jahrzehnte voraus, wie wir mit tiefer Zerknirschung bemerken mussten. Neben der Strahlkraft der von ihm verfassten messerscharfen Analyse des Hauffschen Märchens „Zwerg Nase“ können wir nur neidvoll erblassen. Aber überlassen wir lieber dem Meister selbst das Wort:

Transzendentaler Schein

Das Subjekt als Ideologie ist auf den Namen der Subjektivität verzaubert wie Hauffs Zwerg Nase auf das Kräutlein Niesmitlust. Ihm wurde dies Kräutlein geheimgehalten; niemals hat er darum die Pastete Souzeraine, die den Namen von Oberherrlichkeit im Verfall trägt, bereiten gelernt. Keine Introspektion allein brächte ihn auf die Regel seiner deformierten Gestalt wie seiner Arbeit. Es bedarf des Anstoßes von außen, der Weisheit der Gans Mimi. Solcher Anstoß ist der Philosophie, und der Hegelschen am meisten, Ketzerei. Immanente Kritik hat ihre Grenze daran, daß schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhanges eines ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre. Aber dieser Augenblick, wahrhaft erst der qualitative Sprung, stellt einzig im Vollzug der immanenten Dialektik sich ein, die den Zug hat, sich zu transzendieren, nicht durchaus unähnlich dem Übergang der platonischen Dialektik zu den ansichseienden Ideen; schlösse Dialektik total sich zusammen, so wäre sie bereits jene Totalität, die aufs Identitätsprinzip geht. Dies Interesse hat Schelling gegen Hegel wahrgenommen, und sich damit dem Spott über Abdikation des Gedankens sich dargeboten, der zur Mystik flüchte. Das materialistische Moment in Schelling, der dem Stoff an sich etwas wie treibende Kraft zuschrieb, mag an jenem Aspekt seiner Philosophie teilhaben. Aber der Sprung ist nicht zu hypostasieren wie bei Kierkegaard. Sonst verlästert er der Vernunft. Dialektik muss sich einschränken aus dem Bewußtsein von sich selbst heraus. Die Enttäuschung darüber jedoch, daß gänzlich ohne Sprung, in eigener Bewegung, die Philosophie aus ihrem Traum nicht erwacht; daß sie dazu dessen bedarf,was ihr Bann fernhält, eines Anderen und Neuen – diese Enttäuschung ist keine andere als die des Kindes, das bei der Lektüre von Hauffs Märchen trauert, weil dem von seiner Mißgestalt erlösten Zwerg die Gelegenheit entgeht, dem Herzog die Pastete Souzeraine zu servieren.“

(T.W. Adorno, Negative Dialekik)

Sonderzug ins Tierreich (Teil 2)

Zur Kritik der Soziobiologie

Wie wenig erkenntnisfördernd die sog. „Sarrazin-Debatte“ der letzten Monate auch war, so hat sie immerhin gezeigt, wie verbreitet und akzeptiert biologistische Erklärungsmuster noch immer sind. Dass Sarrazin mit seinen „Thesen“ über den Kinderreichtum der „Unterschicht“ und die angeblich erbliche Dummheit bei Mi­grant_innen an eine gut 200jährige Tradi­tion eugenischen Denkens anknüpft, habe ich im letzten Heft gezeigt.

Hier soll nun die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Denn obwohl nach den Erfahrungen der NS-Rassenpolitik und der Massenvernichtung „unwerten Lebens“ in den KZ´s die eugenische Theorie und Praxis gründlich diskreditiert schien, war damit das biologistische Denken keineswegs aus der Wissenschaft verbannt: Mit der in den 1970er Jahren entstehenden Soziobiolo­gie wurde der Diskurs auf neuer Ebene wieder aufgenommen. Eben diese soll hier genauer betrachtet werden.

Zurück zur Natur!

Soziobiologie ist die Wissenschaft von der biologischen Grundlage jeglicher Form des sozialen Verhaltens bei allen Arten von Organismen einschließlich des Menschen.“ So formulierte es der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson, der den Begriff mit seinem 1975 erschienenen Buch „Sociobiology: The New Synthesis“ populär machte. Die Soziobiologie ist also ein Sonderzweig der Biologie, der (anknüpfend an Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung und Genetik) das Sozialverhalten von Lebewesen unter biologischen Gesichtspunkten untersucht.

An diesem Minimalprogramm ist noch wenig auszusetzen. Dass alles menschliche Verhalten biologische Grundlagen hat, dass man einen Körper braucht, um sich irgendwie verhalten zu können, ist schließ­lich eine banale Feststellung. Das von Wilson formulierte Maximalprogramm weist aber in eine andere Richtung, wenn er meint: „Der Übergang von einer rein phänomenologischen Theorie zu einer fundamentalen Theorie wird der Soziologie erst möglich sein, wenn das menschliche Gehirn in seinen neuronalen Zusammenhängen vollständig erklärt ist (…) Erkennen und Wahrnehmung werden sich als Schaltkreise verstehen lassen (…) Hat sich die neue Neurobiologie erst einmal die Psychologie einverleibt, wird sie der Soziologie ein dauerhaftes Netz aus übergeordneten Prinzipien bescheren.“ Die Biologie soll also der Soziologie die nötige Basis liefern: Nur so könnte man dazu kommen, nicht mehr nur zu beschreiben, was Menschen tun, sondern auch zu erklären, warum sie es tun – die Gründe dafür seien also im Wesentlichen biologisch. Die Lücke zwischen Minimal- und Maxi­mal­programm wird dabei per Kurzschluss überbrückt: Menschliches Verhalten hat eine bio­logische Basis, also ist es auch nur biologisch zu erklären.

Die Logik hinkt. Schließlich ist die Basis einer Sache noch nicht die Sache selbst. Zudem ist das menschliche Verhalten nicht nur biologisch, sondern auch durch die noch grundlegenderen Gesetzmäßigkeiten der Physik bedingt – erklären lässt es sich mit diesen nicht. Nehmen wir z.B. die Vorgänge bei einer Parlamentswahl: Diese stehen natürlich ganz im Einklang mit den Gesetz­mäßigkeiten der Schwerkraft und der Thermodynamik. Aber auch wenn man noch die Quantenmechanik dazunimmt, lässt sich damit nicht sinnvoll erklären, warum z.B. die FDP bei den letzten Landtagswahlen so schlecht abgeschnitten hat. Anders gesagt: Nur weil menschliches Verhalten physikalische und biologische Grundlagen hat, lässt es sich noch nicht aus diesen ableiten.

Aber eben dies versucht die Soziobiologie, Wilsons Kurzschluss folgend. Lebewesen (so die Ausgangsthese) verhalten sich so oder so, weil sich dieses Verhalten in der Evolution durchgesetzt hat. Die Hauptfrage ist demnach, inwiefern ein Verhalten „adaptiv“ ist, also Vorteile bei der Weitergabe des Erbguts mit sich bringt. Dies setzt voraus, was eigentlich erst noch zu beweisen wäre, dass die betreffenden Verhaltensmuster genetisch bedingt sind. Der amerikanische Biologe Richard Dawkins (der viel dazu beigetragen hat, die soziobiologische Sicht populär zu machen) spricht in diesem Zusammenhang vom „egoistischen Gen“: Die Gene haben kein anderes Ziel, als sich zu reproduzieren, und bringen darum ihre jeweiligen „Überlebensmaschinen“ dazu, sich diesem Ziel entsprechend zu verhalten.

Schwule Moleküle

Nun sollte man den soziobiologischen Begriff von „Egoismus“ nicht mit dem Alltagsgebrauch des Wortes verwechseln. So gilt für Dawkins jedes Verhalten als egoistisch, wenn es dem Überleben der Gene dient: „Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die oben gegebenen Definitionen von Altruismus und Egoismus sich am objektiven Verhalten orientieren und nicht an Intentionen. Ich beschäftige mich nicht mit der Psychologie der Motive (…) Meine Definition fragt nur nach, ob der Effekt einer Handlung darin besteht, die Überlebenschancen des mutmaßlichen Altruisten beziehungsweise des mutmaßlichen Nutznießers zu verringern oder zu vergrößern.“ Dawkins´ These, nur egoistisches Verhalten sei evolutionär erfolgreich, läuft also auf einen Zirkelschluss hinaus – wenn das Verhalten nicht erfolgreich wäre, könnte es ja nicht als egoistisch gelten.

In seinem Buch „The Selfish Gene“ versucht Dawkins nun, anhand idealtypischer Modelle genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen sich die Gene weitervererben oder eben nicht. So will er z.B. erklären, wie altruistisches Verhalten mit dem „Egoismus“ der Gene in Einklang zu bringen ist. Wie das geht, demonstriert Dawkins mit folgender Rechnung: „Ein Gen für das selbstmörderische Retten von fünf Vettern würde in der Population nicht zahlreicher werden, aber ein Gen zum Retten von fünf Brüdern oder zehn Vettern würde dies sehr wohl. Damit ein selbstmörderisch egoistisches Gen erfolgreich ist, muss es mehr als zwei Geschwister (…) oder mehr als vier Halbgeschwister (…) retten und so weiter.“ Schließlich liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschwister das gleiche Gen in sich tragen, bei 1:2, bei Halbgeschwistern bei 1:4 usw. Mindestens so viele müssen also gerettet werden, damit es sich für das Überleben des Gens auszahlt.

Die Rechnung ist zwar hanebüchen, aber Dawkins ist nur konsequent: Schließlich gilt ihm ein Verhalten nur dann als altruistisch, wenn es die Überlebenschancen des Individuums verringert, also wirklich tendenziell selbstmörderisch ist. Das Gen für „selbstmörderischen Altruismus“ bleibt aber dennoch reine Spekulation – auch wenn es sich in dieser Weise durchsetzen könnte, heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich existiert.

Ähnlich spekulativ argumentieren manche Biolog_innen, um andere menschliche Verhaltensweisen zu begründen, etwa in Bezug auf das flapsig so genannte „Schwulen-Gen“. Da sich Homosexuelle bekanntlich nicht fortpflanzen, ist es schwierig zu erklären, wie dieses fiktive „Schwulen-Gen“ trotzdem vererbt werden kann. Darum verweist die Soziobiologie aufs Tierreich: So gibt es bei vielen Vogelarten so genannte „Nesthelfer“, Tiere also, die auf Fortpflanzung verzichten und dafür anderen Gruppenangehörigen bei der Aufzucht der Jungen helfen. So ähnlich, meinen nun die Biolog_innen, sei es auch bei den Homosexuellen: Die würden sich zwar nicht fortpflanzen, sich dafür aber um die Kinder ihrer (ebenfalls das „Schwulen-Gen“ in sich tragenden) Verwandten kümmern, damit die „Gesamtfitness“ der Gruppe steigern und so indirekt dafür sorgen, dass auch das Gen weitervererbt wird.

Das ist zwar Nonsens, aber immerhin ein gutes Beispiel für die Beliebigkeit der soziobiologischen Argumentation. Beginnen wir bei der Behauptung, wir hätten es bei den tierischen „Nesthelfern“ und der menschlichen Homosexualität mit zwei wesensgleichen Phänomenen zu tun: Hier wird einfach ein menschliches Verhalten ins Tierreich projiziert und dann wiederum glücklich aus der Natur „abgeleitet“. Der Erkenntnisgewinn tendiert dabei großzügig gegen Null: So wie man durch die Beobachtung eines Wolfsrudels nichts über Pelikane lernt, so sagt das Verhalten von Vögeln auch nichts über Menschen aus.

An dieses logisch fragwürdige Manöver schließt sich nahtlos ein zweiter Zirkelschluss an, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Lebewesen verhalten sich so und so, weil das Verhalten „adaptiv“ ist – das Verhalten muss adaptiv sein, sonst hätte es sich gar nicht entwickelt. Jede Eigenschaft beweist also schon durch ihre bloße Existenz, dass sie evolutionär vorteilhaft ist. Und mit etwas Mut zur Willkür lässt sich bei jedem menschlichen Verhalten ein solcher Vorteil finden, vor allem wenn man noch so schwammige Konzepte wie die „Gruppenfitness“ ins Spiel bringt.

Unbewegte Beweger

So wie in der soziobiologischen Argumentation menschliche Verhaltensweisen aufs Tierreich projiziert werden, so werden auch phänotypische Merkmale auf den Genotyp projiziert: Ein Lebewesen zeigt diese oder jene Merkmale, weil diese – als codierte Information – schon in seinem Genom enthalten sind. In diesem Sinne handelt es sich bei den „Genen“ um eine gedankliche Abstraktion, die man nicht mit der realen DNA als biochemischem Bestand­teil der Zelle verwechseln sollte. Die Gene werden als „unbewegte Beweger“ gedacht, als erste Ursache der Kausalkette, an deren Ende der fertige Organismus steht.

Passend dazu schreibt z.B. Richard Dawkins die gesamte Naturgeschichte als Geschichte der (von ihm „Replikatoren“ genannten) Gene. Nachdem diese im Urmeer durch chemische Prozesse entstanden waren und sich in steter Konkurrenz weiterentwickelt hat­ten, begannen sie irgendwann, so Dawkins, um sich herum Organismen zu produzieren: „Auf diese Weise mögen die ersten lebenden Zellen entstanden sein. Die Repli­katoren fingen an, nicht mehr einfach nur zu existieren, sondern für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr Fortbestehen.“ Die Organismen erscheinen als bloße Anhängsel des Genoms, wenn Dawkins schreibt: „Sie [die Replikatoren] sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und Geist, und ihr Fortbestehen ist der letzte Grund unserer Existenz (…) Heute tragen sie den Namen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen.“

Wenn man sich die Gene als „Ur-Sache“ allen Lebens denkt, ist dieser Schöpfungsmythos nur die logische Konsequenz. Allerdings schreibt Dawkins der DNA damit Fähigkeiten zu, die sie schlichtweg nicht besitzt. Denn diese ist für sich genommen nur „tote Information“ – wirksam werden kann sie nur innerhalb der Zelle, durch ein komplexes Zusammenspiel aller Zellbestandteile. Außerhalb der Zelle „macht“ die DNA gar nichts. Es ist also unklar, wie sie es angestellt haben sollte, aus eigener Kraft Zellwände und Organismen um sich herum zu konstruieren.

Damit erweist sich auch die Vorstellung von der DNA als oberster Steuerungseinheit des Organismus als Fiktion. So müssen die realen Gene, also jene Abschnitte des DNA-Strangs, die an der Produktion von Proteinen beteiligt sind, eine ganze Reihe von Prozeduren durchlaufen, bis am Ende ein Protein entsteht. Zunächst muss der DNA-Doppelstrang zu RNA aufgespalten werden. Dann wird von der RNA eine „Kopie“ (das so genannte Primärtranskript) gemacht. Diese wird weiter bearbeitet, in Stücke zerlegt, manche Teile aussortiert, der Rest neu geordnet und zusammengesetzt, wobei unterschiedliche Varianten der Neuzusammen­setzung möglich sind – das ursprüngliche Gen ist also nicht nur auf die „Mitarbeit“ der anderen Zellbestandteile angewiesen, sondern auch weit davon entfernt dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Protein gebildet wird. Die Zelle wirkt auch aktiv daran mit, eventuelle „Fehler“ des Genoms auszugleichen, wie sich z.B. bei Experimenten zeigte: So wuchsen aus Eizellen, bei denen (am Aufbau vermeintlich lebenswichtiger Enzyme beteiligte) Abschnitte der DNA entfernt worden waren, trotzdem lebensfähige und offensichtlich gesunde Tiere heran.

Die phänotypischen Merkmale sind also nicht als bloße Widerspiegelung einer im Genotyp enthaltenen „Information“ zu begreifen, sondern eher als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, an dem eine Vielzahl von wechselwirkenden Faktoren beteiligt ist. Nehmen wir nur die Fähigkeit schnell zu rennen: Diese scheinbar so einfache Eigenschaft hängt unter anderem vom Knochenbau ab, von den Muskeln, von der Leistungsfähigkeit von Herz und Lungen usw. Es ist also nicht nur ein Gen, ein Protein, ein Organ daran beteiligt, sondern das Ergebnis „Geschwindigkeit“ ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel einer langen Reihe von Genen, Proteinen und Organen. Zutreffend wäre also höchstens, dass ein Tier in Ermangelung eines bestimmten Gens unfähig zum schnellen Laufen würde (weil ihm z.B. alle Knochen brechen würden, wenn es zu rennen anfängt) – was nicht ganz dasselbe ist wie ein Gen für schnelles Laufen.

Gene machen Krieg

Obwohl der „genetische Determinismus“ also auf wackeligen Beinen steht, ist er als Theorieansatz innerhalb der Biologie und Medizin immer noch vorherrschend. Nicht zuletzt werden entsprechende Forschungsprojekte von privater und staatlicher Seite immer noch überpro­por­tional gefördert. Aber auch die Aussicht auf gute Publicity dürfte die Wis­senschaftler_innen mit­­unter leiten: Meldungen über die Entdeckung angeblich genetischer Ursachen z.B. von „Aggression“ oder „Kriminalität“ sorgen eben für mediale Aufmerksamkeit. Berichte dieser Art wurden in den letzten zwei Jahr­zehn­ten immer wieder von der Presse kolportiert. In den entsprechenden Artikeln nahm meist ein Gen eine zentrale Rolle ein, das an der Produktion des Enzyms Monoaminooxidase-A (MAOA) beteiligt ist. Die These lautete nun, eine Mutation dieses Gens – das so genannte MAOA-L-Gen – könnte die Ursache für Kriminalität sein.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie meinten neuseeländische Wissenschaft­ler_innen, Menschen mit dem MAOA-L-Gen hätten eine erhöhte Neigung, sich kriminellen Banden anzuschließen. Nun ist dieses Gen bei ca. einem Drittel aller Männer zu finden, wovon die meisten niemals Mitglied einer Gang waren. Zudem ergebe sich, so die Forscher_innen, die erhöhte Neigung zur Kriminalität erst dann, wenn die betreffenden Personen zusätzlich in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurden. Von der Übermacht der Gene bleibt nur die schöne Schlagzeile.

Es geht hier aber nicht nur um einen Formfehler in der Darstellung der Ergebnisse. Das Problem besteht vielmehr darin, dass komplexe Handlungsmuster wie „Aggression“ oder „Kriminalität“ ebenso als phänotypische Merkmale behandelt werden wie z.B. die grüne oder blaue Augenfarbe eines Menschen. Nur ist „Kriminalität“ kein einheitliches Phänomen – einen Ladendiebstahl und einen Mord verbindet nur, dass es sich bei beiden um sozial unerwünschte und gesetzlich verbotene Verhaltensweisen handelt. Auch „Aggression“ ist keine Eigenschaft, sondern eine Form der Interaktion innerhalb eines sozialen Zusammenhangs. Es ist Unfug, das Ver­halten von Familienvätern, die Frau und Kinder schlagen, mit dem von Streikenden, die mit der Polizei kämpfen, unter den Sammelbegriff „Aggression“ zu packen und dann zu meinen, man hätte ein einheitliches Phänomen vor sich – unter diesem Blickwinkel ließe sich selbst der 2. Weltkrieg als übergroße Kneipenschlägerei verstehen.

Dass dies eine eher absurde Sichtweise ist, fällt auch manchen Soziobiolog_innen auf. Sie variieren das Motiv etwa folgender­maßen: Natürlich gibt es auch andere Gründe, aber ein bisschen Schuld hat auch die Natur. So sagt es z.B. der österreichische Biologe Franz Wuketits: „Vielmehr erklärt sich dieses Ereignis [der 2. Weltkrieg] aus einem Komplex von Faktoren, wozu Demagogie, Indoktrinierbarkeit, Ideologie und ökonomische Unsicherheit gehören. Wäre aber der Mensch von Natur aus gut, ohne jede Neigung zu Aggression und Gewalt, dann allerdings wäre dieses schreckliche Ereignis kaum zu erklären.“

Ein interessanter rhetorischer Winkelzug: Im ersten Satz nennt Wuketits einige ökonomische, ideologische und politische Faktoren, die mögliche Motive für aggressives Verhalten sein könnten. Im zweiten Satz macht er dann (mit der „Neigung zu Aggression und Gewalt“) die Aggression selbst zum Motiv, indem er sie in diese Reihe einordnet. Diese „Beweisführung“ läuft auf eine bloße Floskel hinaus: Aggressives Verhalten kommt eben von der Aggression. Das zu erklärende Phänomen wird also einfach nur verdoppelt – das aggressive Verhalten wird der „Aggression“ als einer im Menschen wirkenden Triebkraft zugeschrieben.

Versuchen wir es mal mit Vernunft: Natürlich können Menschen aggressiv werden (sonst gäbe es tatsächlich keine Kriege). Aber sie werden nicht wegen dieser Fähigkeit zur Aggressivität aggressiv, sondern aus bestimmten Ursachen und Motiven. So muss man z.B. ein Rassist sein, um sich von der Hautfarbe eines entgegenkommenden Passanten zu aggressivem Verhalten bis hin zum Totschlag provoziert zu fühlen. Das Motiv kommt an erster Stelle, die Aggression stellt sich erst hinterher ein, und sie ergibt sich nicht aus den Genen, sondern aus dem sozialen Kontext.

Nicht nur Soziobiolog_innen haben dieses Verständnisproblem. So ist es in der so genannten neorealistischen Schule der Politikwissenschaft üblich, zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte aus einer aggressiven „menschlichen Natur“ zu erklären. Diese Argumentation unterstellt nicht nur, dass staatliches Handeln nur den Willen der Untertanen exekutiert. Sie hat damit auch eine eindeutige ideologische Entlastungsfunktion: Wenn Staaten Krieg führen, dann geben sie ihren Untertanen nur Gelegenheit, ihre archaischen Triebe auszuleben, während in Friedenszeiten die staatliche Herrschaft dazu dient, diese (sich etwa in „kriminellem“ Verhalten äußernden) Triebe auf ein sozialverträgliches Maß zu regulieren.

Selbst kluge Menschen wie Albert Einstein und Sigmund Freud konnten sich (in ihrem unter dem Titel „Warum Krieg?“ veröffentlichten Briefwechsel) Kriege nur als Ausdruck eines allgemein-menschlichen Hangs zur Aggression erklären. Auch sie verstanden also nicht, wozu es die Institution der Armee mit ihren Hierarchien, Befehlsketten und harten Disziplinarmaßnahmen braucht: Nämlich um dafür zu sorgen, dass die Soldaten auch dann andere Leute töten, wenn sie selbst gerade nicht wütend sind – also um einen immer möglichen Mangel an Aggression auszugleichen.

Man sieht: Gute Sachkenntnis auf einem Gebiet bedeutet nicht, dass man auch sonst Ahnung hat. Wie Albert Einstein von Physik mögen auch die Soziobiolog_innen viel von Biologie verstehen – das hindert sie nicht, auf gesellschaftlichem Gebiet lieb gewonnene Allgemeinplätze zu reproduzieren und alle möglichen Sachverhalte unhinterfragt einfach als gegeben zu betrachten.

Trennlinien

Solche unhinterfragten Vorannahmen wirken auch auf die vermeintlich „objektive“ wissenschaftliche Arbeit zurück. Sie bestimmen oft genug, welche Gegenstände über­haupt als „interessant“ wahrgenommen werden und mit welchen Fragestellungen mensch sich diesen nähert. So wie wir im Alltag ständig eine Unmenge an Details aus unserer Wahrnehmung ausblenden müssen, um überhaupt etwas Bestimmtes wahrnehmen zu können, steht jede Wissenschaft vor dem Problem, aus den unmittelbaren „Na­tur­gegebenheiten“ alle bloß zufälligen Störfaktoren herauszufiltern, um die eigentlichen Regelmäßigkeiten erkennen zu können.

Mitunter ist es aber schwierig zu entscheiden, was an einem Phänomen wichtig ist. Der menschliche Körper z.B. ist einfach ein komplexes Gebilde, an dem sich durch Wissenschaft und Technik problemlos Millionen von Merkmalen finden lassen – die Frage ist, welche davon irgendwie bedeutungsvoll sind. Rassisten picken sich einfach die Merkmale heraus, die ihnen für ihr Interesse (sich von anderen Men­schengruppen abzugrenzen) nützlich erscheinen. Das heißt nicht, dass sie Recht hätten, sondern nur, dass sie eben Rassisten sind. Es ist z.B. naheliegend, dass sich bei dunkelhäutigen Menschen auch Gene finden lassen, die für ihre Hautfarbe verantwortlich sind. Eine Aussagekraft hat das aber nur, wenn man Rassist ist, also Hautpigmente für eine unheimlich wichtige Sache hält.

Nehmen wir als weiteres Beispiel mal das Sarrazin´sche „Juden-Gen“: Sarrazin berief sich dabei auf eine von der New York University durchgeführte Studie, bei der angeblich große genetische Gemeinsamkeiten zwischen orientalischen, osteuropäischen und aus Spanien und Portugal stammenden Juden festgestellt wurde. Diese Forschungsergebnisse mögen durchaus zutreffend sein – die Frage ist nur, was für Schlüsse man daraus zieht.

So ist es z.B. Unsinn, wenn Professor Harry Ostrer, der Leiter des Forschungsprojekts, meint: „Unsere Befunde zeigen, dass es eine genetische Basis für das Jüdischsein gibt.“ Dabei verwechselt Ostrer leider Ursache und Wirkung: Nicht die Gene sind die Basis des „Jüdischseins“, sondern das „Jüdischsein“ schlägt sich auch in der DNA nieder. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen also nur, was man auch so schon wusste: Dass es die soziale Gruppe der „Juden“ gibt, die durch gemeinsame Religion und Traditionen ebenso wie durch den Druck einer oftmals feindlichen Mehrheitsgesellschaft zusammengehalten wurde, weswegen die Angehörigen dieser Gruppe auch eher untereinander sexuelle Beziehungen eingingen. Daraus ergeben sich die genetischen Gemeinsamkeiten, die also die Folge, nicht Ursache der Gruppenbildung sind.

Solche Unterscheidungen sind mehr als eine bloße Spitzfindigkeit. Denn gerade die angebliche „Natürlichkeit“ der Gruppenzuge­hö­rig­keit dient immer wieder als Begründung, um Menschen entsprechend dieser vermeintlich natürlichen Ordnung der Dinge zu sortieren, für Vertreibungspolitik und Diskriminierung. Dies mag nicht die Absicht der meisten Soziobiolog_innen sein, so wenig wie es ihre Absicht sein dürfte, Kriege oder kapitalistische Konkurrenz zu rechtfertigen. Aber eben dies ist der Effekt, wenn man sich die falschen Verhältnisse mit falschen Mitteln zu erklären versucht – also hinter jedem sozialen Phänomen eine biologische Ursache wirken sieht. Und es ist kein Wunder, dass solche „Erklärungen“ den Sarrazins dieser Welt nur allzu gut in den Kram passen.

(justus)

Verwendete Literatur:
Richard Dawkins, „Das egoistische Gen“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1994
Steven Rose, „Darwins gefährliche Erben – Biologie jenseits der egoistischen Gene“, C.H. Beck München, 2000
Heinz-Jürgen Voß, „Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“, Trans­cript Verlag Berlin 2010
Franz M. Wuketits, „Soziobiologie – Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1997

SUDAN: Ein neuer Staat für Afrika

Am 09. Januar 2011 stimmte die südsudanesische Bevölkerung darüber ab, ob aus dieser etwa zweimal die Fläche der BRD umfassenden Region ein unabhängiger Staat wird. Wie erwartet, fiel das Votum für die Unabhängigkeit fast einstimmig aus. Die offizielle Proklamierung eines neuen Staates ist nur noch eine Frage der Zeit. Die zukünftigen Bürger dieses Staates eint keine gemeinsame Sprache, auch keine gemeinsame Religion und zuvor wurden sie nicht als „südsudanesisches Volk“ bezeichnet (durch sich selbst oder von anderen), sondern als Dinka, Nuer, Schilluk, Azande, Acholi usw. Es fehlen also die wichtigen Merkmale, die Nationalisten weltweit für entscheidende Faktoren der Staatsgründung halten.

Die Gemeinsamkeit, die die neuen Staatsbürger eint, ist eine rein negative: Sie alle entsprachen nicht dem Ideal vom Staatsvolk, das der sudanesische Staat unter verschiedenen Regimen seit seiner Gründung propagierte – sie waren weder arabisch­sprachig noch islamgläubig. Die britische Kolonialmacht hatte den Süden vom arabischen Norden weitgehend isoliert und bei der Entlassung in die Unabhängigkeit 1956 darauf bestanden, dass der islamisch-arabische Norden und der „schwarzafrikanische“ Süden einen Staat bilden. Der Grund dafür war die Befürchtung, dass der unabhängige Nordsudan zum Satellitenstaat des panarabischen und damals sowjetfreundlichen Ägyptens würde.

Die meiste Zeit (1955-1972 und 1983-2005) herrschte in der Region Krieg, wobei die Rebellen mal Autonomie innerhalb des Sudan, mal Unabhängigkeit vom Norden forderten, während die Regierung aus dem Norden immer wieder versuchte, die islamischen Gesetze auch auf die Bevölkerung in und aus dem Süden auszuweiten. 2005 kam unter der Vermittlung respektive dem Druck der westlichen Staaten ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der größten Rebellengruppe Sudanese People´s Liberation Army/Movement (SPLA/M) zustande. In diesem wurde ein Autonomiestatus für den Süden inklusive der paritätischen Teilung der Rohstoffeinnahmen vereinbart (1). Das Referendum sollte quasi die Bilanz ziehen – zuerst ließen die Süd-Rebellen durchscheinen, dass sie nur für die Unabhängigkeit plädieren würden, wenn die Regierung sich nicht an das Autonomieabkommen hält. Doch nach dem Unfalltod ihres Anführers John Garang 2005 arbeitete die SPLA kontinuierlich auf die Unabhängigkeit hin.

Wenn die Abspaltung des Südens vollzogen wird, wäre dadurch erstmalig ein politisches Tabu im postkolonialen Afrika gebrochen: die Unrevidierbarkeit der von Kolonialmächten gezogenen Grenzen (2). Der sudanesische Staat hat außerdem durch die Begünstigung von arabischsprachigen Moslems – die 42 % der Bevölkerung bilden – für neue Autonomiebewegungen in Darfur und an der Rotmeerküste gesorgt. Inzwischen laufen im Land mehrere Missionen von bewaffneten Truppen der UNO und der Afrikanischen Union, die den Frieden in Darfur und im Süden überwachen sollen. Die schwerwiegendste Konsequenz des Referendums für den Norden ist aber der Entzug von beachtlichen Teilen seiner ökonomischen Grundlagen – der Rohstoffe.

Seine Wirtschaft

Wovon der neue südsudanesische Staat ökonomisch gespeist werden würde, steht bereits fest. Nämlich davon, wovon bisher der vom arabisch-islamischen Norden dominierte Sudan lebte: vom Export des im Süden zahlreich vorhandenen Erdöls. Einer der Gründe für die Rebellion im Süden war die Tatsache, dass die Ölförderung die Subsistenzwirtschaft der Bevölkerung zerstörte, während die Gewinne aus dem Export nie der Region zu Gute kamen. Mehr noch: Die Regierung plante, das Wasser aus den Quellen im Süden für die Landwirtschaft in den trockenen Norden umzuleiten. Die Rebellen revanchierten sich mit Versuchen, die Ölförderung zu sabotieren – Pipelines und Eisenbahn waren immer wieder Ziel der SPLA-Angriffe. Nachdem der Sudan nach 1989 beim Westen in Ungnade gefallen war, sicherte sich China die privilegierte Stellung bei der Ölförderung. Von den Gewinnen aus dem Export kaufte der Sudan wiederum chinesische Waffen (die westlichen Länder belegten den Sudan mit einem Embargo), um die Rebellen von den Ölfeldern fernzuhalten.

Der Sudan ist ein Staat, in dem die kapitalistische Wirtschaftsweise per Gesetz verordnet ist, aber kapitalistische Produktion kaum stattfindet. Die chinesischen Ölfirmen bringen ihre eigenen Mitarbeiter mit, das Bürgertum handelt mit importierten Waren oder vergibt „islamische (also offiziell zinsfreie) Geldkredite“. Ansonsten gibt es noch die Option, im staatlichen Apparat (dank zahlreicher Regionalkonflikte ist seine bewaffnete Abteilung nicht gerade klein) zu arbeiten, um bei der Selbsterhaltung durch Subsistenzwirtschaft nicht Natur, Klimawandel, Staat sowie feindlichen Nachbar-„Stämmen“ trotzen zu müssen. Darum sind Plätze im Staatsapparat begehrt und meist für loyale arabischsprachige Moslems vorgesehen; die anderen Gruppen sind am Staatserfolg oft weniger interessiert. Das haben die sudanesischen Bürger mit den Bevölkerungen der meisten anderen afrikanischen Staaten gemein – ein wichtiger Unterschied zu den Bürgern der sog. funktionierenden kapitalistischen Staaten im Westen, wo es wesentlich naheliegender ist, den eigenen Erfolg in der Konkurrenz an den Erfolg des Staates zu knüpfen. Denn die Bürger westlicher Staaten sind tatsächlich auch vom ökonomischen Erfolg „ihres“ Staates abhängig. Die Subsistenzbauern hingegen können sich dazu erstmal gleichgültig stellen, weil sie – im Gegensatz zu Lohnarbeitern – ohnehin nicht von einem Kapital benutzt werden, das einen Staat als Ge­schäfts­garanten voraussetzt. Die Entdeckung von neuen Rohstoffreserven bedeutet oft eine Katastrophe für Subsistenzbauern, die versuchen sich vom Boden zu ernähren, unter dem die begehrten Bodenschätze liegen. Die vertriebenen Bauern füllen allerdings nicht – wie im 19. Jahrhundert in Europa – die Fabrikhallen und Arbeitshäuser, sondern Flüchtlingscamps und die Reihen der Gruppierungen, die mit Waffen in der Hand um die Partizipation am Staat und damit am Gewinn vom Export kämpfen.

All diese Probleme nimmt der Südsudan in die Unabhängigkeit mit. Ändern werden sich die privilegierte Gruppe im Staatsapparat (Dinka statt Araber) und die profitierenden Großmächte (EU statt China). Die Ölge­winne muss der Süden mit dem Restsudan teilen, zumal sich die ganze Infrastruktur für den Export im Norden befindet. Die Mächte, die dem Süden seine Unabhängigkeit vermittelten, arbeiten schon an der Behebung dieses Mankos. Deutsche Firmen bauen eine Eisenbahnstrecke, mit der das Öl aus dem Süden über politisch zuverlässigere Länder in die Häfen Ostafrikas gebracht werden soll. Damit wäre der neue Staat in der Lage, dem restlichen Sudan den Zugriff zum Öl zu verweigern, womit wiederum dem Westen sowohl der Druck auf die Regierung im nordsudanesischen Khartum, als auch der (wohl viel wichtigere) Schlag gegen die aufstrebende chinesische Macht möglich wäre. Die Entdeckung von neuen Ölreserven im Süden machten den Südsudan doppelt interessant für die USA und die EU: Neben dem wirtschaftlichen Nutzen des Öls selbst bedeutet die Kontrolle über die Öl­quellen die politische Schwächung der Staaten, die versuchen, aus ihrer Stellung als Öl­lieferanten weltpolitisches Kapital zu schlagen. Damit steht Khartum wiederum zunehmend vor der Alternative: Kurs- und even­tuell Regimewechsel – oder aber Staatszerfall.

Seine Gründungspartei

Wie so manche „Befreiungsbewegung“ der so genannten Dritten Welt hatte sich die SPLA bei ihrer Gründung 1983 auch als irgendwie links und sozialistisch präsentiert. Seit­dem ließ die SPLA sich u. a. von so unterschiedlichen Mächten wie Libyen, dem real­sozialistischen Äthiopien, Israel, Kenia, Ugan­da und Ägypten unterstützen. Als der Su­dan in den neunziger Jahren auf der Liste der Terror-Unterstützer der USA landete, be­kam die SPLA immer mehr Hilfe von der Welt­macht Nr. 1 – was auch deren Sympathien für den Sozialismus schnell schwinden ließ.

Der politische und militärische Druck der Rebellen sollte das Regime in Khartum erschüttern. Die SPLA war sich lange Zeit nicht sicher, ob sie lieber die Unabhängigkeit für den Süden oder den Sturz des Militärregimes im Khartum erkämpfen wollte. Die Bewohner des Südens wurden von der Regierung während des Bürgerkrieges immer wieder von der Versorgung abgeschnitten und erlebten den sudanesischen Staat seit Jahrzehnten als eine feindliche Macht. Die SPLA konnte sich in den ländlichen Regionen als De-facto-Souverän etablieren und sah den kommenden Staat als ihr eigenes Projekt.

Noch während der Verhandlungen 2005 begann die SPLA damit, um die Ausweitung des Begriffes „Südsudan“ zu streiten. Während die Regierung den „Süden“ im Rahmen der britischen Verwaltungseinheiten definierte, sah die SPLA auch die benachbarten rohstoffreichen Provinzen, wo es viele „schwarzafrikanische“ Bewohner gibt, als einen Teil des Südens. Auch die Gebiete, in denen die Rindernomaden der „schwarzen“ Gruppe Dinka ihre Herden weiden lassen, sollten nach der SPLA-Definition beim Referendum über die Unabhängigkeit abstimmen dürfen. Die arabischsprachigen und regierungsloyalen Misseriya-Nomaden, die im selben Gebiet leben, werden von den Staatsgründern der SPLA dagegen als fremde Besatzer betrachtet. Den Kampf um die äußerst ölreiche Region Abyei (3) scheint die SPLA endgültig verloren zu haben – der Ständige Schiedshof in Den Haag hat den Großteil des Gebiets samt Ölfeld der Khartumer Regierung zugeschlagen, das Referendum fand dort nicht statt. Die SPLA akzeptierte den Schiedsspruch offiziell, schleust aber weiter ihre Truppen in die Region ein. Auch die Zugehörigkeit der Provinzen Südkordofan und Blauer Nil hat die SPLA zur Disposition gestellt – dort sollte ebenfalls über die Unabhängigkeit abgestimmt werden. Allerdings wurde am Ende auch dort das Referendum ausgesetzt. Für Südkordofan allerdings steht der Nachholtermin fest: der 9. Juli 2011 – der Tag, an dem der südsudanesische Staat offiziell proklamiert werden soll. Eine Gebietserweiterung des neuen Staates ist also nicht ausgeschlossen. Auch wenn die SPLA in Abyei, Südkordofan und Blauem Nil ihre Präsenz ausbaut, dürfte und darf sie sich dort bis zur Klärung des Status nicht als Quasi-Staatsmacht aufspielen.

Im restlichen Süden allerdings schon. Dort zeigt sich der Prozess von Staats- und Nationengründung in seiner ganzen Pracht. Als erstes wird mit internationaler Hilfe der Staatsapparat geschaffen, in dem die ganzen „Helden“ des Unabhängigkeitskrieges untergebracht werden. Hatte sich die SPLA zuvor über die Überrepräsentation der Araber im Khartumer Staatsapparat empört, wird nun der südsudanesische vor allem mit Dinka besetzt – der Gruppe, die auch die gesamte Führung der SPLA bildet.

Der Prozess der Staatsbildung schließt die Sortierung in zuverlässige und weniger zuverlässige Staatsbürger selbstverständlich mit ein: Die Parteigründungen durch Minderheiten, die sich gegen die Dominanz der Dinka auflehnen, werden von der SPLA als Agenten des Nordens denunziert, die Nomaden mit „falscher“ Sprache oder Religion am Zugang zu Wasser und Weiden gehindert. Die Araber im Süden, deren Familien nach der Unabhängigkeit des Sudans 1956 in die Region kamen, durften beim Referendum nicht abstimmen. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit kommt es auch vor, dass ein Aktivist der Kommunistischen Partei Sudans – die ehemaligen Verbündeten der SPLA im Rahmen der National Democratic Alliance (4) – für das Aufhängen von Plakaten ins Gefängnis kommt. Dabei hat die KP nicht einmal für den Kommunismus agitiert, sondern für einen gemeinsamen Kampf gegen das Regime des Khartumer Diktators Umar al-Baschirs im Namen der säkularen Demokratie. Die Idee der sudanesischen Kommunisten, die Scharia-Gesetze sollten von allen Bewohnern Sudans, unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Identität, bekämpft werden, passt eben schlecht zur SPLA, die ihr Unabhängigkeits-Projekt gerade mit den Unterschieden der Identitä­ten begründet. Beim Nationbuilding wird die Unterdrückungserfahrung im Sudan zum Grund für das Zusammenleben im neuen SPLA-Staat erklärt. Dass aus subsistenzwirtschaftenden Analphabeten demnächst nützliche Lohnarbeiter und Unternehmer werden, glaubt zwar niemand ernsthaft. Aber sowohl die SPLA als auch die westlichen Schutzmächte reden von angeblichen Chancen und einer Zukunft, die der Südsudan habe, wenn er endlich als souveräner Staat sein Erdöl von westlichen Konzernen abpumpen lässt.

Ansonsten ist die SPLA damit beschäftigt, unter internationaler Kontrolle ihre Truppen zu „demobilisieren“ – nach einigen Angaben sind diese inzwischen doppelt so stark wie beim Friedensabkommen 2005, also zu Beginn der Demobilisierung. Ab und zu hört man, dass somalische Piraten ein Schiff mit Panzern gekapert haben, die für den mit einem UNO-Waffeneinfuhrverbot belegten Südsudan bestimmt waren. 40 % des De-facto-Staatsbudgets gibt die Autonomieregierung für ihre Streit- und Sicherheitskräfte aus.

Damit hat die SPLA alles, was man in der so genannten Dritten Welt für eine Staatsgründung braucht: militärische Macht, für die Erste Welt interessante Exportprodukte, Kader für den Staatsapparat und den Segen einiger Weltmächte.

Und sein Feind

Die sudanesische Regierung, 1989 nach einem Putsch von Militärs und Islamisten an die Macht gekommen, hat im Kampf gegen ihre widerspenstigen Bürger kaum ein Mittel ausgelassen. Die Islamisie­rungs­kampag­nen und Militärangriffe waren verbunden mit der Dezimierung der illoyalen Bevölke­rungs­gruppen durch die Verweigerung der humanitären Hilfe mitten in der Hungersnot. Auch die Marktreformen im Sinne des Internationalen Währungsfonds (mit dem sich die Islamisten blendend verstanden) leisteten ihren Beitrag zur ökonomischen Notlage. Parallel schaffte es Khartum immer wieder, die Rebellen zu spalten, die Splittergruppen in die Regierung zu integrieren und deren Anhänger in den Kampf gegen die SPLA zu schicken. Den Angehörigen loyaler Gruppen gestattete man nicht nur, auf eigene Faust ihre rebellischen Nachbarn zu bekämpfen, sondern auch sich an deren Eigentum zu bereichern und sie in die Sklaverei zu verschleppen. Wenn die Nomaden durch die Dürren ihr Vieh verloren, wurde das Plündern bei den anderen „Stämmen“ und das Bewachen von Ölfeldern gegen die Rebellen ihre neue Lebensgrundlage.

Nun aber hat sich die Regierung mit der Abspaltung des Südens scheinbar abgefunden. Die Weltöffentlichkeit rätselt: Ist das der Anfang vom Ende, weil die SPLA das Fanal zur Staatsauflösung durch diverse Separatisten gegeben hat oder wird das Regime jetzt stabilisiert, weil die SPLA die schlagkräftigste Gruppe der gesamtsudanesi­schen Opposition war? Der Präsident al-Baschir, gegen den inzwischen ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermordes (die Bilanz seiner bisherigen Staatserhaltungsbemühungen) läuft, will lieber keinen direkten Konflikt mit dem Westen. Manche Islamisten wenden sich enttäuscht vom Versuch ab, den Süden zum wahren Glauben zu bekehren, und wollen lieber einen Rumpf-Sudan mit weniger Rohstoffen und am besten ohne Minderheiten. Dort erhoffen sie sich, endlich ihre Scharia-Utopie zu verwirklichen. Die weiteren Teile der Opposition fühlen sich dagegen von der SPLA im Stich gelassen. Während man im Westen spekuliert, ob die Proteste aus den benachbarten arabischen Ländern auf den Sudan überschwappen, greift die Khartumer Regierung schon einmal präventiv gegen die Opposition durch. Sie sperrt sowohl Islamisten als auch Kommunisten ein, unterstützt die SPLA-Abspaltungen im Süden und versucht in gewohnter Manier, durch die Integration einzelner Gruppen und Politiker die Opposition zu spalten. Da nach dem Votum für die Teilung die Preise für Lebensmittel und Benzin im Norden wie im Süden rasant anstiegen, ist die Gefahr von Massenunruhen für die Regierung nicht gebannt. Islamistenführer Hassan al-Turabi, in der Vergangenheit der Hauptideologe der Muslimbrüder und eine Schlüsselfigur des Staatsstreichs von 1989, hat sich vor langer Zeit mit den Militärs und al-Baschir überworfen und tritt nun als ein Verfechter der Demokratisierung auf. Um die Regierung zu stürzen, ist er auch bereit, mit Darfur-Rebellen, Kommunisten und sogar mit der SPLA zu kooperieren. Dabei hat die von ihm inspirierte Islamisierungskampagne seinerzeit für einen erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges gesorgt. Die Regierung wiederum reklamiert für sich, den „Kampf gegen den Terror“ zu führen, wenn sie gegen die Opposition durchgreift. Die Einwilligung in die Abspaltung des Südens soll politische Ruhe bringen und die Wahrscheinlichkeit von Umsturzversuchen verringern.

Gleichzeitig bahnt sich ein Streit der Regierung mit dem Süden an: Es geht um die Flüchtlinge aus dem Süden, die in den Großstädten des Nordens wohnen, die beim Referendum abstimmen sollten. Dabei geht es nicht nur um Armutsflüchtlinge, sondern vor allem um deren politische Position: Die SPLA wollte gewährleisten, dass auf den Wahllisten für das Referendum nur jene landen, auf deren Willen zur Unabhängigkeit man sich verlassen kann. Dafür wurde im Norden umso mehr Hass auf die Binnen­migranten geschürt. Ähnlich verlief der Nord-Süd-Kampf um das Stimmrecht der im Süden lebenden Araber. Nach der Abstimmung zieht eine Menge Rückkehrer bzw. Flüchtlinge aus dem Norden in den Süden, wo es für sie keine Aufnahme-Infrastruktur gibt. Je nach Interesse lassen die Regierung und die SPLA entweder den geographischen oder den ethnischen Faktor gelten. Man darf gespannt sein, welcher Staat demnächst wen zu seinen Untertanen zählen darf und wird.

(Kritik im Handgemenge / Bremen)

 

(1) Zur Vorgeschichte: www.junge-linke.org/de/die_intervention_in_den_sudan_noch_ein_ beweis_dafur_dass_es_ohne_weltpolizei_nicht_geht

(2) Einzige Ausnahme war bisher die Trennung Eritreas von Äthiopien 1993.

(3) Wo seit dem 07.1.2011 wieder gekämpft wird.

(4) Die National Democratic Alliance (NDA) ist eine Dachorganisation der Opposition, die sich nach dem Putsch von Militärs und Moslembruderschaft 1989 gegründet hat. Sie umfasst ehemalige Regierungsparteien (Umma, Democratic Unionist Party), regionale Autonomiebewegungen (SPLA, Beja Congress, Rashida Free Lions) und Linksnationalisten (Baath-Partei). Zum Thema Abspaltung des Südens konnte die NDA sich nie einigen.