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Aussperrung in den Häfen der Westküste der USA

Über „Arbeitskämpfe“ in den USA zu berichten ist keine einfache Sache. Und zwar deshalb, weil in den USA die Gewerkschaften anders funktionieren als in Europa.

Wenn eine Gewerkschaft in den USA einen Vertrag mit einem Unternehmen hat (die Firma ist ‘unionized’; union = Gewerkschaft), so fungiert sie wie eine Art Arbeitsagentur. Es ist vertraglich vereinbart ob und wenn wieviel Nicht-Gewerkschaftsmitglieder in der Firma arbeiten dürfen. Die Gewerkschaft ist dafür zuständig, dass für eine Arbeit – etwa das Entladen eines Schiffes – genügend Leute mit der entsprechenden Qualifikation zur Verfügung stehen. Die Gewerkschaft entscheidet auch über Streiks. Urabstimmungen oder etwas ähnliches gibt es nicht. So kann es sein, dass etwa ein/e Hafenarbeiter/in Mitglied in der Gewerkschaft sein muss, um einen Job zu bekommen. Einzelne Gewerkschaftsfunktionäre können unter Umständen über eine relativ große Macht verfügen.

Worum geht es an der Westküste? Anfang des Sommers ist der Vertrag zwischen der ILWU (International Longshore and Warehouse Union, longshoreman = Hafenarbeiter) und der PMA (Pacific Maritime Association) ausgelaufen und Verhandlungen über einen neuen Vertrag wurden aufgenommen. Die PMA warf dann der ILWU vor, sie würde Bummelstreiks organisieren, und sperrte die Arbeiter/innen der ILWU aus. Die Schiffe, die vor der amerikanischen Pazifikküste liegen, werden nicht entladen, weil die Arbeiter/innen ausgesperrt sind, nicht weil sie streiken. Das klingt absurd. Noch absurder scheint es, dass und wie die US-Regierung in die Auseinandersetzung eingreifen will. Sie betrachtet jede Gewerkschaftsaktion als Bedrohung der nationalen Sicherheit und hat damit mehrere Möglichkeiten zu intervenieren. Zum einen den „Taft-Hartley-Act“ der jetzt auch angewandt wurde. Dabei handelt es sich um ein 80-tägiges Streikverbot (cooling-off period etwa: Abkühlungsperiode), das bis zum 26. Dezember läuft. Zum zweiten kann sie die Arbeiter/innen durch Soldaten ersetzen. Eine weitere Möglichkeit ist der „Railway-Labor-Act“. In dem Fall wird eine staatliche Vermittlungsinstanz, das National Mediation Board eingeschaltet: „Die Besonderheit des National Mediation Board liegt darin, dass die Parteien im Falle der Einschaltung des Boards ihre Verhandlungen nicht von sich aus für gescheitert erklären und zu Arbeitskampfmaßnahmen greifen dürfen, solange das Board Mediationsbemühungen unternimmt, was häufig Monate dauert. Die Entscheidung, wann die Mediation eingestellt wird, liegt im Ermessen des Boards.“ [„Arbeitgeber“ Nr.6 Juni 2002, Online-Ausgabe, Mediation ist eine Konfrontationsunterdrückungstechnik]

Aber worin besteht der Konflikt? Durch die Einführung der Containertechnologie, die in den US-Häfen etwa Anfang der 70er Jahre abgeschlossen wurde, sank die Zahl der Hafenarbeiter an der Westküste von etwa 100.000 auf heute etwa 10.000. 1971 fand auch der letzte Dockerstreik an der Westküste statt. In der Auseinandersetzung um Jobs sperrte sich die ILWU vor der Aussperrung etwa gegen Einführung von Scannern in den Häfen. Daten werden von Hand erfasst und per Hand in den Computer eingegeben. Jetzt wollen die in der PMA vereinigten Unternehmen die Häfen automatisieren, wie es etwa in Rotterdam oder Singapur schon der Fall ist. Das bedeutet, dass zum einen die Jobs im Hafen weiter abnehmen und dass die Jobs wechseln. Alte verschwinden und neue entstehen. Die PMA versucht nun die ILWU auszubremsen. Die alten Jobs sind zum größten Teil ILWU-Jobs. Das bedeutet relativ gute Löhne (etwa 16$/Stunde) für die longshore(wo)men, von denen die meisten Afroamerikaner oder Latinos sind. Die ILWU will nun, dass auch die neuen Jobs von Gewerkschaftsmitgliedern erledigt werden. Dadurch würde sie wie bisher über die eingesetzten Arbeiter/innen bestimmen. Ähnlich ist es auch bei der Umstellung auf Containerbetrieb gelaufen. Falls die Umstellung auf neue Hafentechnik ohne die ILWU passiert, würde das praktisch das Ende der ILWU bedeuten. Seitens der PMA geht es also um Kürzung und Flexibilisierung der Jobs und die Zurückdrängung der ILWU, die ILWU will vor allem ihren Einfluss behalten, bei allem andern ist man sich im Großen einig.

Die Auseinandersetzung ist von der PMA gut vorbereitet. So wird die auch vom Spiegel ähnlich kolportierte Meldung, die Schließung der Häfen würde die Ökonomie täglich Milliarden kosten, von US-Ökonomen als übertrieben betrachtet. Die Zahl stammt aus einer von der PMA vor der Aussperrung in Auftrag gegebenen Studie. Gleichzeitig wurden die Umschlagzahlen auf den Docks erhöht. Während des Sommers ist der Warenumschlag nach dem Journal of Commerce um etwa 30% angestiegen. Vertreter der Hafenarbeiter/innen werfen der PMA vor, dass dieses „speedup“ auf Kosten der Sicherheit geht und verweisen auf fünf tödliche Unfälle in diesem Jahr. Die Ironie der Sache ist, dass die ILWU bereit ist, ihre Mitglieder arbeiten zu lassen. Sie besteht nur auf sicheren und erträglichen Bedingungen. Die PMA ist an den alten Vertrag mit der ILWU nicht gebunden und kann also z.B. einstellen, wen sie will, auch wenn die Mehrheit der Hafenarbeiter/innen ILWU Mitglieder sind. Der „Taft-Hartley-Act“ soll auch sicherstellen, dass das Weihnachtsgeschäft läuft, da es unerträglich wäre, wenn es dann kein Spielzeug gäbe oder wenn der Umsatz des Weihnachtsgeschäftes ausbliebe, je nachdem. Durch die Aussperrung und den „Taft-Hartley-Act“ ist der Druck auf die ILWU von vornherein erhöht. Die Automatisierung ist eine langfristig angelegte Sache, der Vertrag zwischen ILWU und PMA lief drei Jahre. Die Automatisierung selbst stellt einen Umbruch in der Hafenwirtschaft dar, wie es die Einführung der Container vor etwa dreißig Jahren bedeutete. Und die neue Ära soll eine andere Machtverteilung zwischen PMA und ILWU mit sich bringen. Die PMA erhält in ihrem Handeln Rückendeckung von der US-Regierung. Hier wurde nur die Auseinandersetzung als solches besprochen. Doch der „Taft-Hartley-Act“ kann kaum ausschließlich als Unterstützung der US-Regierung für die PMA – etwa im Sinne eines Lobbyismus – betrachtet werden. Dies am Rande.

Die ILWU ist keine freie Assoziation, oder etwas Ähnliches. Gewerkschaften sind in den USA ein eigener Machtfaktor. Die Gewerkschaft sichert jedoch auch Bedingungen für die Arbeiter/innen, die sonst deutlich schlechter wären. Die ILWU hat sich offenbar in den letzten dreißig Jahren als stabilisierender Faktor „bewährt“. Jetzt will die PMA die Karten neu mischen. Sie greift damit beides an: Die Lebenssituation der Arbeiter/innen und die Rolle der ILWU. Es geht ihr um die Durchsetzung neuer Produktionsformen, um eine steigende Produktivität zu erreichen. Und dies heißt hier: schnellerer Umschlag mit weniger Leuten, Computertastaturen statt Kranhebel. Für die Longshore(wo)men bedeutet dies Kampf um den Job, um eine gewisse Lebensqualität. Oder wie es ein Gewerkschaftsfunktionär ausdrückte: „If you want your children and families to have the same kind of life you’ve had, you know what you have to do.“ („Wenn Du Deiner Familie und Kindern dasselbe Leben sichern willst, das auch Du hattest, dann weißt Du, was zu tun ist.)

v.sc.d

Streik

Spritzig, witzig, militant: Streiktag bei McDonald’s

Es ist drei Uhr morgens, Mittwoch der 16. Oktober, einige müde und „leicht“ angetrunkene GlasgowerInnen versuchen im McDonald’s-Restaurant zu randalieren. Eigentlich kaum erwähnenswert, wenn es nicht Angestellte von McDonald’s wären und wenn nicht zur selben Zeit am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, ein Streikversuch gemacht und in Australien Flugblätter an McDonald’s ArbeiterInnen weitergereicht würden.

In der letzten Ausgabe berichteten wir über einen geplanten internationalen Streik der McDonald’s-ArbeiterInnen am 16. Oktober. Nun, der Ausstand stieß weltweit bei den Angestellten auf Zustimmung und wurde kreativ und engagiert in vielen Städten organisiert. Es gab massenhaft individuelle und von Gruppen durchgeführte Aktionen und Sabotageakte, die zeigen, daß Streik nicht nur Demonstration und zu Hause beleiben bedeutet.

Zur Erinnerung

Es ging den Teilnehmenden am Mc-Donald’s-ArbeiterInnen-Widerstand (Mc-Donald’s Workers Resistance, MWR) darum, die Koalitions- und Informationsfreiheit am Arbeitsplatz, sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne durchzusetzen – in allen Filialen des internationalen Konzerns. Im folgenden dokumentieren wir eine Auswahl der Ereignisse des internationalen Streiks der McDonalds ArbeiterInnen am 16.10.02.

Am Vorabend

Es begann schon vor dem 16. Oktober. Beispielsweise gab es in drei Londoner Läden Kampagnen von Angestellten mit Aufklebern und Graffitis, die für den Streik werben sollten. Dann, am Morgen des 16. Oktober, begaben sich Personal und frühe KundInnen zu einem McDo-Laden in Reading (GB) an dem sie „geschlossen wegen Streik, 16. Oktober, mwr.org.uk.“ gesprüht fanden. Einige ArbeiterInnen, die am 16. nicht zur Arbeit erschienen, hatten die Restaurants in der Nacht zuvor sabotiert. So veränderte das Personal irgendwo in England die Einstellung der Mikrowelle im Lebensmittellager und setzte alle Zeiteinstellungen der Grillmaschinen zurück, stahl alle Schlüssel der Überwachungsvideos, stellte alle Uhren zurück und verschloss die Kassenschlösser mit Superkleber! In Frankreich bekräftigten am Wochenende zuvor Mitglieder der CNT mit einigen Aktionen ihre Tradition der Solidarität mit den McDonald’s-ArbeiterInnen innerhalb und ausserhalb der Restaurants – schon im Frühjahr leisteten sie tatkräftige Unterstützung beim Arbeitskampf der unsicher Beschäftigten. In Dallas (USA) versteckten sie unterdessen wichtige Arbeitsmaterialien und tauten das Essen im Lager auf.

Der Streiktag

Am Morgen des 16. Oktober erreichte eine einzelne Chrysantheme das McDonald’s-Hauptquartier in London – „Die Chrysantheme war das Symbol der ungarischen Revolution, die am 16. Oktober 1918 begann. Wir (die Angestellten) schickten sie als ein Zeichen unserer Absicht, eine Welt zu schaffen, die Menschen wichtiger nimmt als Profite. Aber die Chrysantheme ist gleichzeitig ein Symbol des Todes; wir schickten sie als Vorbote der dem McDonald’s-Empire und aller Lohnarbeit inne wohnenden Zerstörung – weder brauchen wir sie (die Lohnarbeit), noch wollen wir sie. In unseren Herzen reift eine neue Welt und wir machen unsere ersten zaghaften Schritte auf diese zu.“

ArbeiterInnen in den Midlands (USA) gingen noch einen Schritt weiter: sie sendeten 57 Chrysanthemen zum Hauptbüro in Chicago – jede für eineN ArbeiterIn in dem Laden.

In Dublin plünderten sie die Kasse, um einen drauf zu machen. In Birmingham gab es einen Mach-langsam-Tag, der das Unternehmen mehrere hundert Pfund der Tageseinnahmen kostete. Die Nachtschicht in Nottingham meldete sich krank und es wurde von mehreren Vorfällen in Northampton berichtet … inklusive Drei-Stunden-Pausen, Verlassen des Arbeitsplatzes, vorgetäuschte Krankheiten und Trunkenheit im Dienst. In Manchester zementierten die Angestellten die Toiletten zu.

In London, Stirling, Derbshire und Dundee verteilten AktivistInnen Flugblätter an den Arbeitsplätzen ihrer Kollegen, um Neuigkeiten des Streiks zu verbreiten und in Adelaide schlitzte das Personal alle Milchshake-Mixer auf.

"Es gibt eine junge Generation von ArbeiterInnen, die nicht mehr hinnehmen wollen, was ihre Vorgänger noch hinnahmen." – London

Einige Liverpooler Arbeiterinnen bestanden darauf, während der Arbeit Make-up zu tragen, was laut Unternehmenspolitik verboten ist – aber: „Wir hassen es wirklich, kein Make-up tragen zu dürfen, besonders weil wir’s oft mit irgendwelchen besoffenen Machos zu tun haben und von der Arbeit bei McD Pickel kriegen.“ Andere in Stirling, Kent, Kopenhagen, Sheffield, Newcastle und Madrid meldeten sich telefonisch krank. In Glasgow und Toronto gab es massenhaft Arbeitsniederlegungen. Die Angestellten nutzten die Gelegenheit, um ihrem Ärger öffentlich Luft zu machen: sie stürmten in Gruppen die Läden, warfen ihre Uniformen auf den Ladentisch, während einer von ihnen auf einem Stuhl stehend eine Rede an Personal und Kundschaft hielt, in der die Arbeitsbedingungen kritisiert wurden und behauptet wurde, daß „das Essen in jedem Fall verdorben“ sei.

Neben den eher individuellen Aktionsformen gab es auch einige größere Streiks: In sechs Pariser McDonalds, mit der CNT „unregierbar“, streikten die Angstellten wegen spezieller Forderungen, die sich auf Vollzeitbeschäftigung und standardisierte Löhne beziehen. Sie versammelten sich um 10.00 Uhr an „Fontaine des Innocents“, um 15.00 Uhr trafen sie mit McDonald’s Vertretern zusammen und arrangierten ein öffentliches Treffen am Abend.

In Norfolk legte ein Streik das Restaurant den ganzen Tag durch Streikposten lahm. Einmal kam ein Manager dazu, der sich weinerlich erkundigte: „Warum tut ihr das?“, „Lesen Sie das Flugblatt.“, „Ich werde das nicht lesen!“, brauste er auf und zerriß es. Als das McDonald’s-Hauptquartier gefragt wurde, warum der Laden de facto ohne Personal sei, antworteten sie: „Einige traurige Individuen wollen McDonald‘s in den Ruin treiben.“

Die Ereignisse wurden im Verlauf des Tages von einer speziellen Tagessendung im einzigen unabhängigen slowenischen Radio mit Interviews und Anti-McDonald’s-Liedern begleitet.

Doch bei diesem einen Tag soll es, wenn es nach AktivistInnen des McDo-Widerstandes geht, nicht bleiben! Für sie war’s Sinn und Zweck, das Selbstbewußtsein ebenso zu stärken wie die Fähigkeit der Angestellten, Bereiche ihres Lebens selbst zu bestimmen. Es soll wohl eher eine Aufwärmübung sein, um in nicht allzu ferner Zukunft zu einem selbstbestimmten Leben zu gelangen. Und irgendwie arbeitet jedeR ArbeiterIn oder Angestellte in einer Art „McDonald’s“, oder?

hannah b.

Was geschah an diesem Tag?

– Sechs Belegschaften in Frankreich, organisiert in der CNT (1) streikten.

– Zeitweiliger Arbeitsstop in Moskau.

– Streiks oder Streikversuche in Norfolk, Neuseeland und drei Londoner McDo-Läden, Verlassen des Arbeitsplatzes in Nottingham.

– Aktionen um Angestellte zum Widerstand zu ermutigen, von Schweden bis Sydney.

– All dies begeleitet und dokumentiert in einer speziellen Tagessendung im slowenischen Rundfunks.

– Demonstration in Mexiko, 94 Menschen wurden verhaftet. Die Festnahmen werden mit unhaltbaren Anschuldigungen begründet und auf jeden der Verhafteten ist eine Kaution von 14000 $ ausgesetzt (2)

Weitere Infos zum McDo.-Widerstand: info@mwr.org.uk oder mwr.org.uk
(1) Confédération Nationale du Travail – französische anarcho-syndikalistische Gewerkschaft
(2) weitere Infos zum Ablauf der Demonstration und den Anschuldigungen unter: www.feierabend.net.tc

Streik

„Leipziger Freiheit“, eine Propagandagroteske!

Die Dynamik, der Wandel und die Leipziger Art, alle Herausforderungen mit Pfiffigkeit und Hartnäckigkeit anzugehen – das sind die echten Konstanten der Stadt.“ „Freiheit ist das Größte – Freiheit macht glücklich, leistungsbereit, tatkräftig und lebensfroh.“

(aus der „Philosophie“ von www.leipziger-freiheit.de)

Ich möchte Euch ja nicht unbedingt raten, diese Seite anzuschauen. Wenn ihr es allerdings doch tun solltet, dann erwartet nicht zuviel. Denn was da aus dem Begriff „Freiheit“ zusammengerührt wird, grenzt schon an Körperverletzung. Hier wird verzweifelt versucht eine spezielle Leipziger Freiheit zu finden. Da das aber nicht möglich ist, können nur hanebücherne Phrasen dabei ‘rauskommen.

Die bürgerliche Freiheit, ist die der Verwertung und des Eigentums, garniert mit Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, obwohl es damit ja auch nicht immer so genau genommen wird. Nicht mehr und nicht weniger kann auch Leipziger Freiheit bedeuten. Ist dies aber die Freiheit, die wir meinen?

Freiheit sollte auch öffentliche Kommunikation bedeuten, dass diese gerade in Leipzig eingeschränkt wird, zeigt sich in der Kriminalisierung von Graffiti und unkommerziellen Plakaten (s. Seite 2). Die immer weitere Einschränkung des öffentlichen Raums durch privatisierte Bereiche und Kontrolle durch Behörden (seien das Überwachungskameras, die Vertreibung von Wagenplätzen, wie vor kurzem in Hamburg geschehen, oder die Ausbreitung von Reglementierungen, wie man sich verhalten soll), bedeutet die Einschränkung der Freiheit, die wir meinen, die Freiheit das eigene Leben selbst zu bestimmen, selbst zu entscheiden mit welchen Inhalten mensch sich bildet (gegen Selektion, hierarchische Stukturen und Leistungsdruck), oder welche Tätigkeit mensch ausübt (gegen den psychologischen und materiellen Zwang zur Lohnarbeit).

Nun, „Leipziger Freiheit“ ist nicht die Freiheit, die wir meinen, doch vermitteln die Marketingaktionen der Stadt ideologische Fragmente, mit denen mensch sich beschäftigen sollte.

Zum Beispiel wenn für Olympia 2012 in Leipzig, für „Spiele mit uns“ geworben wird. Tiefensee möchte damit „Deutschland den Aufbruch zeigen“. Das Land steckt in der Krise und Leipzig soll die „Deutschland AG“ da rausholen. Das ist ja fast so wie bei Lügenbaron Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zog. Die Oper schlägt in die gleiche Kerbe und möchte mit ihren Sonderangeboten „Deutschland die Freiheit zeigen“.

Bei einer Telefonumfrage wurde Olympia in Leipzig mit Tugenden wie der „sächsischen Gastfreundschaft“ begründet. Im obigen Zitat wird eine Leipziger Art heraufbeschworen: Pfiffigkeit und Hartnäckigkeit. Eigentlich müsste es ja auffallen, dass dies alles nur Zuschreibungen sind, die eine Einheit vorgaukeln, die nicht da ist. Viele scheinen aber fest daran zu glauben, die Identitätsmaschine funktioniert also und führt zu Lokalpatriotismus für den Leipziger Standort.

In Leipzig herrscht in etwa so viel „wahre Freiheit“, wie es in der DDR den „wahren Sozialismus“ gegeben hat. Beide Propagandafloskeln nehmen sich nicht viel. Leipzig möchte hoch hinaus, in der ersten Liga mitspielen, ein ehrgeiziges Ziel, dem sich die Stadt da verschrieben hat. Und die „Bürger“ sollen mit: Aber mal Hand aufs Herz! Fühlst Du Dich nicht auch auf einmal glücklich, leistungsbereit, tatkräftig und lebensfroh? Na siehste…

francis

Lokales

Über die ewige „Kreativität“ studentischer Proteste…

…und den Hochschulumbau in Sachsen und Leipzig von 1997 bis 2002

Die Motivation diesen Text zu schreiben, ist die Reflektion der vergangenen Jahre studentischen Protests, an dem auch ich mich beteiligt habe. Mitanzusehen, wie emanzipatorische Inhalte und Kritik an der Universität als gesellschaftliche Institution (was damit gemeint ist: siehe Feierabend! #2) konsequent ausgeblendet werden, tut schon weh. So macht Protestieren keinen Spaß! Immer nur Minimalforderungen, immer nur im Rahmen des Bestehenden agieren, unfähig weiterzudenken, ständig die gleichen Protestformen zu wiederholen, sich in Standortideologie zu verfangen, das kennzeichnet auch diese studentische Protestphase. Die Entwicklung der letzten zwei Jahre zu reflektieren, dieses Wissen weiterzugeben scheint mir wichtig. Vielleicht kann sich die studentische Protestkultur ja doch noch weiterentwickeln?

Nachdem 1997 Stellenkürzungspläne durch einen Streik abgewehrt wurden und stattdessen als Kompromiss die Einberufung einer Kommission zur Überprüfung der Situation der sächsischen Hochschullandschaft beschlossen wurde, konnte man sich kurzzeitig freuen. Jedoch zeigte sich auch in Ostdeutschland zunehmend die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen, die in den alten Bundesländern in den 70er Jahren durch das Einfrieren der Bildungsfinanzierung angelegt wurde, so daß es bis zu den nächsten Kürzungsplänen nur eine Frage der Zeit war.

Ende 2000 wurde dann nicht nur angekündigt 1700 Stellen bis 2010 zu kürzen, auch die oben genannte Kommission machte sich wieder bemerkbar. Im November legte die Sächsische Hochschulentwicklungskommission (SHEK) ihren Entwurf vor, der durch undichte Stellen, an die Öffentlichkeit gelangte. In diesem Bericht sollten die Institute und Fakultäten nach Kriterien wie Drittmitteleinwerbung, Publikationsquote, durchschnittliche Studiendauer und Profilierung innerhalb der sächsischen Hochschullandschaft eingeordnet werden.

Gegen die Stellenkürzungen und diesen Entwurf kam es am 18.12. zu einer Demo vor dem Landtag und am 18.1. zu einem Besetzungstag, der größtenteils von BasisaktivistInnen organisiert wurde, d.h. Der StuRa (StudentInnenRat) wurde im „AK gegen Stellenkürzungen“ überstimmt.

Neben diesen „Großaktionen“ gab es viele kleinere Aktionen, wie die Nachtbesetzung der Uni Bibliothek. Es wurden E-Mail-Listen angelegt, falls der Bericht bereits in den Semesterferien herauskommen sollte und Ähnliches mehr.

Wie es im Rahmen solcher Proteste üblich ist, gab es einen Arbeitskreis und verschiedene AG’s (Vernetzung, SHEK/Hochschulumbau, Protestformen). Doch wie in unseren Zeiten ebenso üblich, ist die kritische Betrachtung nicht sehr weit verbreitet, und damit der Standortideologie Tür und Tor geöffnet. In diesem Zusammenhang gab es dann natürlich auch Divergenzen innerhalb der AG’s zwischen AnhängerInnen grundsätzlicherer Analyse und Kritik (die „Radikalen“, die „die einfachen Studierenden verschrecken“, d.h. denen kann das nicht zugemutet werden) und denen, die z.B. nur die Stellenkürzungen ablehnen wollten. So ist die SHEK-AG gescheitert, die Vernetzungs-AG schlief ein, weil der StuRa die Zusammenarbeit einstellte. Ein weiterer Grund war auch die chronische Überlastung der Aktiven.

Nun, der Bericht kam erst im April heraus und hatte es auch ideologisch in sich. In ihm sind Kernelemente des bundesweiten Hochschulumbaus enthalten (s. Kasten).

Diesem folgten wiederum Aktionen und am 16.5. ein bundesweiter Aktionstag. Die Organisation dieses Aktionstags lag nun fast ausschließlich in der Hand des StuRa’s. Der AK wurde auf ein Mitmachorgan zurückgestuft. Der Grund dazu lag in einem „Mißverständnis“. Während einige (die vor allem später dazukamen) diesen AK selbstverständlich als eigenständiges Gremium verstanden, war er für andere einfach ein AK des StuRa . Dies gipfelte in dem (wohl nicht sehr sinnvollen) Streit, ob es ein „Aktionskomitee“ oder ein „Arbeitskreis“ wäre. Als Fazit kann man sagen, daß er für die „offizielle Studierendenvertretung“ zu radikal war und diese ungern die Fäden aus den Händen geben wollte. So verfuhr sie bei der Organisation des 16.5. nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“, verstand sich als Organisator, der die Arbeit dreier verschiedener Gruppen koordinierte (des AKs, eines neu eingerichteten Fachschaftsrätetreffen und des StuRa’s der HTWK, eine Fachhochschule in Leipzig). Das führte natürlich zu Koordinationsschwierigkeiten und Informationslücken bei den AK-Leuten und schließlich zu Frustration und zur Selbstauflösung des „AK gegen Stellenkürzungen.“ Im September setzte dann der nächste Schritt, die Haushaltsperre ein, die an den Hochschulen überproportional angelegt wurde. Nun hatte sich die Aktivität vollständig auf StuRa und Fachschaftsräte verlagert. Es kam in Folge zum Sammeln von Decken und Klopapier für die armen Studenten und zu anderen unpolitischen Aktiönchen. Die „kreativen“ Aktionen verloren jeden emanzipatorischen Gehalt.

Der Versuch im November ein „Brain- und Bildungsstorming“ (BBS) ins Leben zu rufen, schien am Anfang Erfolg zu versprechen. Es gab drei Treffen mit insgesamt hundert verschiedenen Leuten. Jedoch musste durch die starke Fluktuation (beim zweiten Treffen waren kaum Studierende des ersten Treffens da) und der sehr großen ideologischen Bandbreite quasi jedes Mal von vorne begonnen werden. Zum Dritten fehlte der Anstoß zur Organisierung. (Durch einen frühen Vorschlag hätte womöglich eine Perspektive für das Treffen aufgezeigt werden können.) Von vielen Leuten wurde Informationsmangel beklagt. Daraufhin wurden in der AG seminare Veranstaltungen zum Thema Bildung & Hochschule konzipiert, auf denen man sich hätte austauschen können. Diese fanden auch statt, aber nach der Auflösung des BBS, kam niemand mehr.

Doch kurz zurück: Im Oktober legte das sächsische Bildungsministerium den Universitäten den Entwurf eines Hochschulkonsenses vor. Dieser forderte im Kern die Anerkennung der Stellenkürzungen und die Hochschulplanung auf Basis des SHEK-Berichts, im Gegenzug sollten die Hochschulen Planungssicherheit und Globalhaushalte (die Verteilung der Gelder durch die Universitätsleitung) bekommen.

Anfang 2002 sollte dieser Entwurf an der Ablehnung der Rektoren scheitern. Die Zuweisung der Gelder erfolgt nun weiterhin durch Doppelhaushalte des Landtags. Dafür folgte Anfang des Sommersemesters ein internes Papier des Rektorats, in dem Kürzungspläne aufgestellt wurden, u.a. sollten die Niederlandistik, Logik- und Wissenschaftstheorie und die Hälfte der Politikwissenschaftprofessuren (und damit auch der Diplomstudiengang) gestrichen werden.

Inzwischen scheint ein großer Teil wieder zurückgenommen zu sein. Schließlich hätte sonst das Rektorat dem SHEK-Bericht und der Standortlogik engegengehandelt, da es die Niederlandistik und Logik nur zweimal in Deutschland und den Diplomstudiengang in Sachsen nur in Leipzig gibt. Die Frage ist, ob sie wirklich so blöd waren, oder ob es sich um ein Ablenkmanöver gehandelt hat, um dann die „harten“ Kürzungen rauszunehmen und sagen zu können, man habe auf Kritik reagiert. Aber das bleibt Spekulation.

Inzwischen nahm der studentische Protest immer krudere, d.h. medienfixierte und standortideologische, Formen an. Da ging medienwirksam die Bildung baden oder am 1.Mai vor Schröder zu Boden, da wurden standortideologische Aktionen geplant, wie „Raus aus diesem Sachsen“ oder „Mit der Stadt in einem Boot“, der Fachschaftsrat (FSR) der Politikwissenschaft knüpfte Connections mit der SPD-Fraktion, wie denn Stadt und FSR gemeinsam zur Rettung des Standorts Leipzig beitragen könnten.

Mit viel Getöse wurde auf der PoWi-Vollversammlung im Sommersemester 2002 die Absetzung des Rektors gefordert. Als dieselben dann aber beim Rektorat vor dem Kanzler standen, wurden sie ganz klein und boten ihm ihre Hilfe an. Sie könnten doch der Uni bei einer PR-Kampagne helfen. Es drängt sich der Eindruck auf, daß radikale Töne, nichts weiter als Teil der Corporate Identity sind, und zum Image studentischen Protests dazugehören.

Es ist interessant die Entwicklung zu verfolgen, wie sich einerseits der Hochschulumbau, basierend auf der Standortlogik, schrittweise durchsetzt und auf der anderen Seite die StellvertreterInnen radikale Kritik abdrängen und sich schließlich im gleichen ideologischen Becken wie die Umbauer befinden. Konsequenterweise wird dann natürlich auch der Hochschulumbau nicht kritisiert, sondern man möchte selbst mitmachen, und kritisiert die Stellenkürzungen mit dem Standortargument. Als ob man es besser wüßte, als die Vertreter des Standorts selbst. So betreiben die StellvertreterInnen auf ihre Weise die Einbindung der Studierendenschaft in die Standortlogik.

Auch im Wintersemester 2002 wiederholt sich das Protestkarusell, immer „kreativere“ medienwirksame Aktionen werden sich vom „Aktionsbündnis Proteste & Perspektiven“ ausgedacht, denen jedwede inhaltliche Reflektion zu fehlen scheint. Vom 10. bis 12. Dezember soll es wieder Protesttage geben. Die Menschen in den Gremien haben gewechselt, die Proteste bleiben gleich. Man passt sich an so gut es geht und fühlt sich toll als „legitimierte VertreterInnen der Studierendenschaft“. Ein Lerneffekt ist dort wohl nicht zu erwarten.

Um in diesem Wirrwar nicht unterzugehen, haben sich einige Leute, die sich als BasisaktivistInnen verstanden, vorerst ausgeklinkt, zur Zeit laufen selbstorganisierte Seminare (von der AG seminare vorbereitet) und konstituiert sich das Syndikat Bildung Leipzig, um mittels basisgewerkschaftlicher Arbeit, eine Alternative zu Standortprotesten aufzeigen zu können und nicht darin unterzugehen.

francis

Weitere Texte zu Studierendenprotesten: www.bildungskritik.de

SHEK-Forderungen

· Forderung nach konsekutiven (BA/MA)-Studiengängen

· Verstärkung des wirtschaftlichen Einflusses auf die Hochschulen

· Verstärkte Drittmitteleinwerbung

· Kostenpflichtige Weiterbildungsangebote

· Einführung von Managementmethoden

· Straffung der Hierarchien

· Erwähnung von Studiengebühren

· Profilierung der Universitäten (Zuschnitt auf Standort Sachsen)

· Konkurrenz der Hochschulen um Mittel und Stellen

· Gleichzeitig verstärkte Kooperation gefordert

Hochschulkonsens

· Globalhaushalte, Planungssicherheit vs.

Stellenkürzungen, Erfüllung der SHEKForderungen

· Einnahmen (inkl. Studiengebühren) verbleiben bei Hochschulen

· Unterteilung in Zentral- und Innovationsbudget

Bildung

Triebkauf-Appell

Nackte Tatsachen und deren Verwertung: Die BILD-Kampagne

Anfang November kam mensch nicht umhin Litfasssäulen und andere Werbeflächen mit Nacktbildern und dazugehörigen Triebappellen wie „Mein persönlicher Rekord 8 Stunden“ im typischen Bildzeitschriftenstil zu betrachten. Einige Tage später fährt mensch durch die Stadt und sieht einige Kommentare. So wurde „Was ich drunter habe? Nichts natürlich“ zu „Was ich im Kopf habe…“ oder „Mittags denke ich an Sex“ wurde erweitert mit „Und was haben Sie im Kopf?“ oder „Schande! Frauenwürde ist unantastbar“. Und mensch denkt sich, dass das Thema schon komplexer ist und mehr dazu gesagt werden müsste.

Gleich zu Beginn: Es geht mir nicht darum, dass nackte Körper abgebildet werden, sondern wie und zu welchem Zweck es dazu kommt. Frauen machen Nacktfotos (ob einmalig um Geldengpässe zu überwinden oder professionell als Model tut da nichts zur Sache), die Agentur kauft ihnen die Rechte an den Fotos ab und verhökert sie an Nachfrager, wie die BILD-Zeitung eben. Diese schaut im Katalog nach, kauft das Bild und eine andere Person schreibt den Text dazu. Dann kauft sich „der Mann“ die Zeitung und holt sich einen runter.

Das Nacktfoto ist also kein persönlicher Ausdruck der Fotografierten, der es in anderen Kontexten durchaus sein könnte, sondern wird von der Person abgelöst und zur Ware. Das Ziel dabei ist klar: Auflagensteigerung durch Appell an den Sexualtrieb. Diese Plakatmotive sind kein Ausdruck individueller Sehnsüchte, Ausdauer oder Vorlieben. Hier wird sich bewußt Stereotypen sexbesessener, unterwürfiger Frauen bedient, die das patriarchale Rollenbild des übergeordneten Mannes, dem die Frau stets zu Diensten zu sein hat, anvisieren.

Mensch könnte auch einwenden, die haben das doch freiwillig getan, den Vertrag unterschrieben, Fotos von sich machen lassen und für Geld ihre Haut zu Markte getragen. Und das trifft auch den Kern des bürgerlichen Freiheitsbegriffs: Freiheit sich zu verwerten, zu konsumieren, (Arbeits-)Verträge zu unterzeichnen. Auch wenn es eine Entfremdung des eigenen Körpers bedeutet, der zum Objekt gemacht wird. Aber in einer Gesellschaft, die aus warenförmigen Prozessen besteht, ist es normal, dass Sexualität auch zur Ware wird. Und es wird behauptet, diese Gesellschaft sei sexfixiert. Überall Plakate, Fernsehspots, Filmsequenzen zu dem Thema.

Doch ist diese Analyse oberflächlich, jedenfalls wenn sie sich auf zwischenmenschliche Kontakte bezieht. Diese Reizüberflutung mit sexualisierten Inhalten ist quasi entindividualisiert, ja vielleicht als abstrakter Sex zu bezeichnen. Wie es nun in den „Schlafzimmern der Nation“ aussieht, kann ich auch nicht sagen, dass jedoch so viele Menschen auf Ersatzbefriedigungen zurückgreifen „müssen“ (nicht umsonst kann die BILD-Zeitschrift mit solchen Kampagnen die Auflage steigern), ist eher ein Indiz für den Ausschluss sexueller Bereiche aus sozialen Kontakten, Prüderie oder einfach dumpfer Triebhaftigkeit.

francis

Lokales

PIERRE-JOSEPH PROUDHON

Ein Blick zurück in die Geschichte eröffnet zuweilen mehr Möglichkeiten des Weiterdenkens, Zuwiderhandelns oder Neuerfindens als der einfache Blick nach vorn. Denn wer nicht erinnert, der vergißt! Deshalb wollen wir in loser Folge auch Exkurse in die Geschichte anarchistischer Ideen eröffnen. Nicht so sehr, um über Denker wie Proudhon, Bakunin, Kropotkin oder Landauer und ihre Gedanken zu urteilen, als vielmehr zur Beschäftigung mit dererlei Überlegungen anzuregen.

Betritt man in heutiger Zeit den Politzirkus der polemischen Meinungen, ist man im ersten Moment von den gebotenen Attraktionen fasziniert. Hartz-Komissionen, Riester-Rente, Vermögenssteuer, Kindergeld oder Studiengebühren, das bunte Chaos hat demokratischen Anschein. Doch blickt man länger in die Manege, fällt es schwer, nicht in Zweifel über den Wert und Sinn der sich darbietenden Veranstaltung zu verfallen, angesichts der Böllermänner, Spätzünder und Stimmenfischer, die eher als hölzern-statische Artisten denn als virtuose erscheinen. Dererlei Zweifel an den ‚guten alten‘ demokratischen Traditionen hegend, sieht man sich seit je her schon mit einem Bilderverbot belegt. Dabei geht gerade heute vielen Menschen die Geschichte der guten Idee der Demokratie verloren. Der kritisch-kluge Mensch hat es aber ebenso seit je her verstanden, diese Idee gegen ihre institutionelle Erstarrung, gegen die Machtübernahme Einiger zu wenden. Kritik am Staat, welcher sich selbst als demokratisch verfaßt bezeichnete, war sie nicht reaktionär, ging so einher mit einem radikaleren Demokratieverständnis bzw. mit einem radikaleren Verständnis des Begriffs von ihr. Die Debatten um die außerparlamentarische Opposition (APO) der 68er Bewegung, die kritischen Strömungen der Weimarer Republik, die politischen Unruhen des 19. Jahrhunderts zeugen davon.

Hier, sage ich Ihnen, unter dem Säbel Bonapartes, unter der Zuchtrute der Jesuiten und dem Kneiper der Polizei, ist es, wo wir an der Emanzipation des Menschengeschlechts zu arbeiten haben. Es gibt für uns keinen günstigeren Himmel, keine fruchtbarere Erde.“

Es gibt keinen Platz für mich in der Welt, ich betrachte mich als im Zustand ständigen Aufstands gegen die Ordnung der Dinge befindlich.“

(P.-J. Proudhon, 1852)

Hier, am Wurzelwerk der modernen Staatsbildung, ist das Leben und Wirken Pierre-Joseph Proudhons situiert. Mit seinem politischen, intellektuellen und sozialen Engagement, seinem regen Interesse für die Vorgänge seiner Gegenwart ist er über sie hinausgewachsen und hat sich in die Geschichte der französischen Kultur eingeschrieben. Seine Staatskritik auf Grundlage eines radikalen Demokratieverständnisses gehört auch heute noch zu den Eckpfeilern anarchistischer Skepsis gegenüber Regierung und Regierenden. Der Durchgang durch die Herrschaft Aller mittels unlauterer Vertreter sollte zur Herrschaft jedes Einzelnen führen, zur Herrschaftslosigkeit der Gesellschaft, zum Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen. „Die Politiker endlich […] sträuben sich unüberwindlich gegen die An-archie, welche sie mit dem Chaos für identisch halten, als wenn die Demokratie sich anders als durch Machtverteilung verwirklichen ließe und der wahre Sinn des Wortes Demokratie nicht Abschaffung der Regierung wäre.“ (1a) Aufgrund des umfangreichen Schriftenmaterials, von dem noch immer nicht alles übersetzt zu sein scheint (2), wäre es illusorisch anzunehmen, ein solcher Artikel könnte alle Facetten des Proudhonschen Denkens aufzeigen und letztlich eine weiterführende Lektüre ersparen. Ich will demzufolge nur einige Lesezeichen setzen.

Sozialismus vs. Liberalismus

Ohne Zweifel schließt Proudhon an die sozialistischen Traditionen seiner Zeit an. In dem politisch unruhigen Frankreich Anfang des 19. Jahrhunderts groß geworden, kennt er die Gefahren der absolutistischen oder konservativen Reaktion und verteidigt gegen sie die Ideen und Errungenschaften des sozialen Fortschritts (z.B. Stimmrecht. Organisierung o. Redefreiheit). Aufklärerischer Idealismus und soziale Ideen verbinden sich in seinem Werk organisch. „Geboren und auferzogen im Schoß der arbeitenden Klasse …“ (1a, S.93) schenkt er den liberalen Mythen von der Naturwüchsigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nur wenig Glauben. Ob als Druckereiarbeiter, gewählter Vertreter, Häftling oder Barrikadenbauer – überall erscheint ihm Gesellschaft als von Menschen gemachter und beeinflußbarer Zusammenhang, als Sozietät zwischen Menschen, aus deren Spielräumen der Stoff sozialer Fragen entspringt. Aus dem Studium der sozialistischen Traditionen des 17. Jahrhunderts heraus richtete er seine Kritik gegen die liberalen Theorien mit ihrer Projektion von allem Bösen, Schlechten und Noch-Nicht-Gewordenen in den Naturzustand, vor jeder Gesellschaft, vor jeder Vergesellschaftung. Dererlei Überlegungen spalteten den Menschen von vornherein mitten entzwei, in einen zur liberalen Gesellschaft fähigen und einen dazu unfähigen Teil. (2) Auch schienen die liberalen Vorstellungen zur Zeit Proudhons zunehmend an Erklärungskraft zu verlieren. Industrialisierung und politische Revolte hatten ungeheure gesellschaftliche Dynamiken entfesselt. Phänomenen wie dem im 19. Jh. grassierenden Pauperismus stand die liberale Theorie ratlos gegenüber. Für Proudhon war so früh klar, daß die liberale Vorstellung der Demokratie zu kurz fassen mußte. Für sein Freiheitsverständnis wird diese Einsicht fruchtbar…

Mutualismus und Freiheitsbegriff

„Es gibt zwei Arten von Freiheit; eine einfache: dies ist die Freiheit des Barbaren, auch des zivilisierten Menschen, sobald er kein anderes Gesetz anerkennt als das des ‚jeder in seinen vier Pfählen und jeder für sich‘; – eine zusammengesetzte*, wenn sie für ihr Dasein die Mitwirkung von zwei oder mehreren Freiheiten voraussetzt.“ (1a)

Die liberale Idee der individuellen Freiheit des Einzelnen erscheint im Proudhonschen Denken radikal gewendet, nicht als Ziel und Zweck gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Menschen, sondern als deren Voraussetzung. Durch die individuelle Freiheit hindurch wird eine Freiheit höherer Qualität möglich, die durch Gegenseitigkeit. Der Andere ist nicht mehr nur die Grenze der eigenen Freiheit, er wird zur Bedingung der Möglichkeit größerer Freiheit. Das Prinzip der Gegenseitigkeit bildet den Kern der Lehre vom Mutualismus, so wie Proudhon ihn vertrat. Der freieste Liberale ist letztlich allein auf der Welt, die freieste Mutualistin dagegen pflegt die meisten Beziehungen zu anderen Menschen. Während Proudhon die mutualistische Idee der Gegenseitigkeit noch im Kopf herumschwirrt, betreibt er ökonomische Studien … ja auch er sah das Elend schon heraufsteigen.

Proudhons Ökonomie und der große Bruder Marx

Das Urteil, welches des kalt rationale Karl Marx über seinen älteren Zeitgenossen fällt, ist vernichtend. „Vulgärökonomie“, Proudhon sei der „lebende Widerspruch“, das „Elend der Philosophie“. Der autoritäre Charakter des ‚absoluten Geists‘ seines Meisters Hegel kehrt im jungen Marx zurück. Ein weites Feld. Doch auch wenn die ökonomischen Überlegungen Proudhons in Konsequenz, Reichweite und Tiefe denen Marxens nicht im mindesten das Wasser reichen können, so fehlt ihnen auch der Dogmatismus der Methode, nach dem Proudhon vielleicht sein Leben lang vergeblich trachtete. Der Inhalt scheint durch die organische Form des Proudhonschen Denkens. Zwei gute Ideen…

Eigentumskritik und Volksbank

„Während ich so, als der einzige meiner Schule, gegen die Bollwerke der alten politischen Ökonomie die Laufgraben eröffnete…“ (1a) Was ist Eigentum, fragte Proudhon 1840 und gab auch gleich die Anwort: Eigentum ist Diebstahl! So oder so ähnlich ist es in die „gängige“ Geschichte eingegangen. Und auch heute noch wird diese These, so verkürzt dargestellt, gegen anarchistische Eigentumskritik ins Feld geführt. Doch auch wenn Proudhon nicht zu den großen Dialektikern zählt, sieht er doch den doppelten Charakter des Eigentums, als wohlstandsschaffendes und wohlstandsverhinderndes Moment. Proudhons Denken kennt nicht die Tiefe einer „Akkumulation durchs Kapital“, aber als guter Beobachter sieht er sehr wohl die Schieflage in der Verteilung der gesellschaftlichen Güter, seiner Zeit, die politische (durch Reaktionen im Frankreich des frühen 19. Jh.’s immer wieder gefährdet) aber nicht ökonomische Entmachtung der alten Feudalherren. Sein Idealismus treibt ihn dazu, den Eigentumsbegriff unkritisch in seine ökonomischen Überlegungen einzubetten. Das Zauberwort heißt hier: Zirkulation. Den Schlüssel hingegen bietet seine mutualistische Grundidee. Die „Zirkulation der Werte“ ist für Proudhon letztlich ein Zusammenhang menschlicher Verhältnisse, je mehr Zirkulation um so besser. Im Prinzip der Gegenseitigkeit sieht er den fairen (gerechten) Betrieb der Zirkulation gesichert. Privateigentum (relevanter Menge) wirkt sich, so gedacht, immer hemmend auf Zirkulation und Freiheit der ökonomisch Betroffenen aus.

Von hier versteht sich, warum Proudhon für eine soziale Ökonomie des Staates, gegen eine private Ökonomie desselben argumentiert (gerade eben gegen heutige Vorstellungen des Staates als privatisiertes Unternehmen, sprich gegen die „Deutschland-AG“). Der Proudhonsche Gedanke der „Volksbank“ beruht auf der fixen Idee des unentgeltlichen Kredits (3), der freie Zirkulation innerhalb der Mitglieder sichern sollte. Er glaubte daran, dass durch diesen (organisiert) freien Zugriff aller auf die gemeinsam zirkulierenden Werte, eine egalitäre Gesellschaft möglich wäre; in der schließlich an die Stelle der Diktatur der Mehrheit die freie, demokratische (weil auf Gegenseitigkeit beruhende) Regierung (mächtige Verantwortlichkeit) jedes Einzelnen tritt. Die Idee der Volksbank wird so zum Fallbeispiel der programmatischen Verortung Proudhons zwischen sozialistischen und anarchistischen Gedanken. Sie ist die Vorstellung vom Staat ohne Regierung, „nur“ zentralisierte Institution. Und dabei ohne Macht? Die tiefe Skepsis gegenüber den korrupten politischen Verhältnissen, die man aus seinen polemischen Beschreibungen immer wieder entnehmen kann, treiben Proudhon dazu, seine Hoffnungen in die Veränderbarkeit und Veränderung der Gesellschaft auf ein radikaleres Demokratieverständnis zu gründen. Es war mehr als Sozialismus … Der Anarchismus begann zu laufen …

Aber ist das nicht alles aus der Luft gegriffen?

Betrachtet man das Proudhonsche Schriftwerk im Ganzen, lässt sich ein systematische Philosophie nur schwer erschließen. Teils im Gefängnis, teils „zwischen der Schicht“ geschrieben, ist die Funktion seiner theoretischen Arbeiten oft praktisch angelegt, ob als Programm, Stellungnahme oder Bericht. So gewinnt sein Werk organischen Charakter. Wie der gesamte unkritische Idealismus verwechselt er jedoch seine eigene Logik (Sprache) mit der Logik der Welt (Geschichte). Sein System der Widersprüche, seine Serien widersprechender Pole, seine empirischen Datenreihen – nach deren Notwendigkeiten sich die Welt bewegen soll – es sind die Trugbilder der eigenen, subjektiven Erfahrung; die Täuschung über die eigene Sprache. Daß Proudhon aber an die Harmonisierung, an das Gleichgewicht sich gegenseitig haltender Pole glauben konnte, an die Versöhnung der Widersprüche, an ein Bild sich gegenseitig zur Hilfe fähiger Menschen … ist die positive Seite des Idealismus …

Und?

Ein Schuß Idealismus könnte den heutigen pragmatischen Zeiten nicht schaden. Schließlich ist es der Glaube an die Kraft zur Veränderung, die Menschen handeln lässt.

Ein Beispiel: Angenommen der Rawl’sche Schleier des Nichtwissens liegt über uns. Keiner hat eine Ahnung, in welcher sozialen Position er sich befindet. Oder etwas aufgeweicht: Angenommen die zunehmende Flexibilisierung führt zu größerer Unsicherheit bei der Bestimmung derselben (heute noch Büro, morgen Umschulung, Drittstudium, Straße, dann wieder im Restaurant etc. pp.). Wo liegen meine Interessen während des Arbeitskampfes, der sich gerade in Europa zusammenbraut. Profitiere ich, wenn die Gewerkschaften schlecht abschließen oder nicht? (Höhere Löhne und mehr private Vorsorge vs. Niedrigere Löhne und staatliche Umverteilung?) Vom Klassenstandpunkt scheint die Frage nur ungenügend beantwortet. Schließlich könnte auch die sozialistische Regierung das Klasseninteresse vertreten (Ich verteile, soviel ich kann nach unten, kann aber gerade nicht.).

Zwei Tipps von Proudhon:

– Stell Dich auf den Standpunkt des Schwächsten, also des prekär abhängigen (soziale statt individuelle Vernunft), betrachte von dort die Verhältnisse der Gesellschaft (heute z.B. die gesamtwirtschaftliche Krise), und habe die Kraft daran zu glauben, mit den Schwächsten die Verhältnisse zum Besseren wenden zu können (soziale Utopie).

– Hoffe auf keine Regierung! In Friedenszeiten würde sie jeden Einzelnen fürs Gemeinwohl verraten und in Krisenzeiten das Gemeinwohl gegen jeden Einzelnen wenden.

Zumindest gegen die Schwächsten! Pah! Solche Macht begehre ich nicht! Laßt andere Wege uns finden!

clov

Zur Lektüre einiger ausgewählter Schriften:
(1a) „Bekenntnisse eines Revolutionärs …“ (1849), Rowohlt, Hamburg, 1969
(2a) „Was ist Eigentum?“ (1840); teilw. in: Proudhon, „Ausgewählte Werke“, hrsg. v. Thilo Ramm, Stuttgart, 1963
(3a) „Philosophie d. Staatsökonomie o. Notwendigkeit des Elends“, Darmstadt, 1847
(4a) „Das Recht auf Arbeit, das Eigentumsrecht und …“, Leipzig, 1849
(5a) „Die Volksbank“ (1849), übers. v. Ludwig Bamberger, Frankfurt (M.),1849
(6a) „Ein Wahlmanifest Proudhons (8.6.1864). … zur Vorgeschichte d. Kommune.“; in: „Die neue Gesellschaft“, Mntstft. f. Sozialws (1.Jh.), Zürich, 1877/78
Fußnoten:
(2) der unfähige Teil ist dann auch das Schlachtfeld auf dem die zahllosen Hüter der Ordnung (Erzieher, Offiziere, Therapeuten, Richter oder Polizisten etc. pp.) um die „liberalen Seelen“ ihrer Mitmenschen ringen.
(3) Anfang 1849 gab es tatsächlich für drei Monate eine Volksbank, mit bis zu 60000 Mitgliedern. Nach der Verhaftung Proudhons (Direktor) mußte die Bank jedoch Konkurs anmelden.
* „Vis unita major.“ – Größere Kraft durch Einheit, mensch denke an Solidarität.

Theorie & Praxis

Über die Kriminalisierung öffentlicher Kommunikation

Das Programm zur Bekämpfung illegaler Grafitti

Ausgangspunkt für die Diskussion um Graffiti kann nicht die staatliche, in diesem Fall behördliche Sicht auf die Gesellschaft sein, denn viel zu oft schon wurde die staatliche Gesellschaftsnorm mittels seiner Repressionsorgane zur staatlich normierten Gesellschaft.

Ausgangspunkt kann nur die Gesellschaft mit den Menschen in sozialen Beziehungen sein. Und in unseren Zeiten gibt es da nicht nur die Bürger und ihr Privateigentum (das nicht mit Graffiti „beschmutzt“ werden soll) oder die Stadt mit ihrer Standortideologie (Graffiti sei schlecht um neue Investoren zu gewinnen, die die Stadt Leipzig in der Konkurrenz mit anderen Städten vorwärts bringen sollen), sondern auch die Menschen, die sich anders ausdrücken, als es die behördliche Norm verlangt.

Hier ist die Frage nach dem öffentlichen Raum relevant. Öffentlicher Raum bedeutet öffentliche Kommunikation und diese öffentliche Kommunikation muß allen möglich sein. Wer hat denn das Geld sich eine Werbetafel zu mieten? Wer hat denn eine öffentliche Stellung inne, die die Macht verleiht, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen?

Sowohl Graffiti, egal in welcher Form, als auch „wilde“ Plakate sind Formen öffentlicher Kommunikation, die immer weiter eingeschränkt werden. Öffentliche Kommunikation ist ein Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens, das in dieser Gesellschaft hinter Eigentum und kapitalistischen Konkurrenzkämpfen (zwischen den bürgerlichen Individuen, Unternehmen, Städten und nationalen Standorten) rangiert. Das „Programm zur Bekämpfung illegaler Graffiti“ ist ein eindeutiges Signal für die weitere Marginalisierung öffentlicher nichtnormierter Kommunikation, zeigt deutlich, dass dieses Unkontrollierbare den Behörden ein Dorn im Auge ist, dass schärfstens bekämpft werden soll. Wie schade nur, dass es bis vor kurzem kein Straftatbestand war. Nichtsdestotrotz wurde in der Stadtratsvorlage ständig von Straftat geredet, obwohl die Ergänzung der Polizeiverordnung erst später in Kraft trat.

Nach dieser ist jetzt „jedes Anbringen von Beschriftungen, Bemalungen, Besprühungen oder Plakaten, die weder eine Ankündigung, noch eine Anpreisung oder einen Hinweis auf Gewerbe oder Beruf zum Inhalt haben, (…) verboten. Dieses Verbot gilt nicht für das Beschriften, Bemalen und Besprühen speziell dafür zugelassener Flächen bzw. das Plakatieren auf den dafür zugelassenen Plakatträgern (…)“ (neu eingefügter §2a der Leipziger Polizeiverordnung)

Begründet wird diese Verschärfung damit, daß Graffiti „gesellschaftliche Verrohung, Rücksichtslosigkeit und Vernachlässigung städtischer Bereiche“ signalisieren, und dieser Zustand der „allgemeinen Werteordnung“ widerspricht.

Welche Anmassung einer staatlichen Stelle, eine einheitliche Werteordnung für alle zu bestimmen! Welch repressive Strategie zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen! Welch unsägliches Denken, eine Initiative „sauberes Leipzig“ gründen zu wollen, und um dieses „saubere Leipzig“ willen, „die derzeit bestehende Lücke in der Verfolgungskette“ zu schließen und Graffitiprojekte nur noch unter polizeilicher Aufsicht zuzulassen!

Diese Ergänzung bedeutet eine Kriminalisierung von nichtkommerziellen Plakaten und Zeichnungen. Wo keine Veranstaltungen oder Preise draufstehen, muß gezahlt werden, falls mensch erwischt wird. Wer zum Beispiel ein Plakat verklebt, auf dem gegen „Sozialabbau“ argumentiert wird, macht sich strafbar. Wer Bier für 99 Cent bewirbt, muß nichts befürchten. Der Staat mit seinen Organen beansprucht die Kontrolle über immer weiterer Bereiche des öffentlichen Lebens. Dies ist ein Prozeß der parallel läuft zu dem der Privatisierung & Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Wer öffentlich kommunizieren will, muß sich staatlichen Normen beugen, braucht Geld oder Status! Das kann nicht die Basis einer sozialen Gesellschaft sein, nimmer und nirgends, auch nicht in der „Leipziger Freiheit“!

francis

„Ich singe den Frieden, mitten im Krieg.“

(Textzeile von Wolf Biermann)

Die Frage auf den Frieden zu stellen, grenzt in den derzeitigen Diskussionen um militärische Intervention, Terroreinsatz und Sicherheitsgefühl geradezu an die Vorstellung eines sentimental-trauernden Pierrots, dem, auf einem Drahtseil taumelnd, der Magen sich vom Fuße auf den Kopf verdreht. ‚Notwendig, einzig möglich, unabwendbar, richtig‘ … Eine ganze Welt steht auf, erkennt sich; den Feind … und greift zur Bombe! Das Kriegsgeschrei ertönt in allen Lagern. Das Säbelrasseln wird zum Summen der Rotoren. Die alten Militanten haben‘s immer schon gewußt. Die Jungen wissen‘s auch nicht besser. Oh Elend! Und wieder zieht der Rauch durch Trümmerfelder und Ruinen, wieder tote Kinder, wieder weinen Mütter, sterben Väter, wieder, wieder, wieder

Naja, was sind schon zehn, hundert oder tausend – die Verluste sind gering, die meisten unter ihnen zählten eh‘ zum Feind. Oh Patria – glorreiches Land deiner Väter! Was ist denn schon das Leben eines Einzigen wert, wenn doch sein Tod das von hundert retten könnte? Und munter spielt man Nutzen gegen Kosten und umgekehrt. Schwindelerregendes Zahlenspiel. Schwindelei!

Nun hör‘ schon auf! Stell‘ dir doch vor, was unvorstellbar ist … Gift in der U-Bahn, Atompilze in San Francisco, Tel Aviv, Paris, Berlin. Da gibt es keine Möglichkeit – als den Krieg zu Land, zu Wasser und in der Luft. Ehrlich! Alle Experten zucken mit den tonnenschweren Schultern, ihre trüben Blicke schweifen in die Ferne … Wovon träumen sie? Von der letzten Schlacht? Dem ewigen Frieden nach dem letzten Krieg? ‚Wer Frieden will, muß Frieden halten.‘, so geht ein Satz der Alten, ‚Wer Kriege führt, wird stets bekriegt‘. Die Geschichten unserer Kulturen sind voll von solchen Bildern. Doch was schert uns schon Geschichte? Heute. Wo doch alles anders ist, wir doch alles besser wissen … müßten …

Die Ideen geh‘n baden – ganz privat. Und wieder rufen Demagogen beider Seiten auf zum Kampf um Leben oder Tod. Der Andere ist abstrakt, der Feind. Am Screen oder auf dem Pergamentpapier, skizzenhafte Fratze seiner taktischen Position. Die Technik erspart den Blick von Aug‘ zu Aug‘. Warum auch nur, den Anderen von Angesicht zu Angesicht erblicken, man selber steht doch auf der richtigen Seite… …und nicht er … Sieh‘ ihm in die Augen und dann drück‘ ab. Meine Hoffnung ist, Du vermagst es nicht, den Finger noch zu krümmen. Soll‘n es denn wirklich wieder Kriege sein, die über‘s Schicksal vieler Menschen richten? Menschen über Menschen, ohne sich zu kennen? Soll wieder unschuldiges Blut die Rache an den Schuldnern tünchen? Der Krieg ist keine Wahl, noch höchstens Ausdruck, keine Wahl zu haben. Hilfloser Würgegriff der Macht, die Reichweite ihrer Herren auszuweiten. Das Recht zu leben schließt das Recht zum Töten nimmer ein. Die Idee, den And‘ren einfach hinzumorden, kann nur als falsche menschliches Zusammenleben prägen. Soviel Kultur und soviel Leid, soviel Weisheit und soviel verbrannte Erde … und noch immer keine Einsicht weit und breit.

Lieber Moslem, lieber Christ, lieber Jude, lieber Atheist – laßt im Wettstreit der Ideen unsere Gedanken aneinander wetzen, anstatt uns in den Schützengraben gegenseitig zu zerfetzen. Im großen Kriege um die Macht und um die Gier haben stets die großen Macher nur gesiegt, all die Bin Ladens, Bushs, Blairs, Scharons, Putins und Arafats dieser Welt. Den Mensch am Abzug hat die Kugel stets noch angetroffen.

Für die ‚gute‘ Sache einzusteh‘n, ist wichtig, doch wird sie nur durch ihre Mittel richtig. Für den Schwächeren Partei ergreifen, heißt auch: für den Stärkeren Verantwortung mitzutragen. Aber nicht ihn richten! Gottes Stimme allein sollte dies vermögen. Doch sie spricht nicht durch uns Menschen. Keines unsere Worte, Schriften, Gedanken oder Gefühle, keines Menschen Tat kann ihr Urteil in der Welt verkünden.

Warum nur ist der Krieg heut wieder einzig möglich, unabwendbar, richtig? Warum haben die Geschichten so wenig nur gelehrt? Ich wüßte gern die Antwort auf die Frage. Sie ist auf meine Friedenshoffnung nur gestellt. Warum nur diktiert ihr die Menschen zu den Waffen, warum nur Menschen, greift ihr zu? „Hört auf damit und haltet Frieden!“ ruft Euch ein Freund im Herzen mutig und entschieden zwar entgegen, doch zaudernd bei der Frage: wie man so jung sein kann, und schon sooooo sentimental!

clov

Standpunkt

Erweiterung mal anders…

Dieser Artikel will einen kurzen Einblick in die historische Entwicklung des Streik geben. Das heißt auch: eine Erweiterung des Begriffs von „Streik“. Denn die Arbeitsniederlegung ist nicht auf Tarifauseinandersetzung beschränkt, ist Fest und…

Der Gedanke an die kollektive Arbeitsniederlegung als taktische Waffe in Auseinandersetzungen kam bereits im 18. Jahrhundert auf und wurde auch zu Zeiten der Französischen Revolution diskutiert. Nach Jahren des Krieges und „nationaler“ Befreiungsbewegungen kam die Idee in den 1830er Jahren wieder in die Diskussion, geknüpft an Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung auf acht Stunden. Die Achtstundenbewegung wurde von AnarchistInnen zunächst abgelehnt, weil diese Forderung ein faktische Anerkennung des Lohnsystems bedeutete. Bald aber war diese Bewegung nicht mehr zu ignorieren. Am ersten Ersten Mai im Jahre 1886 streikten 340 Tausend ArbeiterInnen, 40 Tausend allein in Chicago, einer Hochburg der Bewegung. So wurde in weiten Teilen des Landes den Achtstundentag durchgesetzt – ganz ohne gesetzgeberische Tätigkeit. Die brutale Reaktion des Staates, die sich vor allem auf Chicago konzentrierte, bewog die Sozialistische Internationale dazu, sich des 1. Mai 1890 als globalen Aktionstag für den Achtstundentag anzunehmen.

Allerdings sollte die Forderung durch Verhandlungen erlangt werden, nur im Falle ihres Scheiterns wurde der Streik erwogen. Dieser Standpunkt, der im besonderen von der deutschen Sozialdemokratie vertreten wurde, nimmt das heutige, allgemeine Verständnis vorweg. Ganz anders sah es an der Basis aus, die beschloss ihre Streiks in Generalversammlungen, zu denen alle Betroffenen Delegierte schickten. Die Delegierten aber hatten keine Entscheidungsbefugnis, sondern dienten als Boten, zum Austausch und Verhandeln. Diese Streikautonomie ging mit der Bildung von Zentralverbänden und Weisungsbefugnis verloren. Von nun an hatte nur noch der nationale Verbandsvorstand das Recht, einen Streik auszurufen … so ist es bis heute. Gesetzgeber und Rechtssprechung blieben bis 1933 bei einer liberalen Auffassung, daß Streik zwar in gewissen Maßen bleiben müsse – „nicht über dasjenige hinausgehen, was im Lohn- und Klassenkampf […] als statthaft anzusehen ist.“ In das Grundgesetz wurde ein Streikrecht 1949 explizit nicht aufgenommen, weil das "unsere ganze staatliche Ordnung […] auf den Kopf stellen kann." (CDU-Abgeordneter Kaufmann) In den Jahren der "kleinen" BRD stellten die Richter dann im wesentlichen drei Kriterien für legale Streiks auf: 1) geführt durch anerkannte Gewerkschaft, 2) geführt zum Abschluß eines Tarifvertrags, 3) geführt unter Wahrung der im Tarifvertrag vereinbarten Friedenspflicht. So verhält es sich in Deutschland bis heute. Und dieser enge Rahmen wird bisher nicht in Frage gestellt … Streiks sind äußerst selten. In anderen Ländern stellt sich die Situation anders dar … davon wollen wir berichten.

A.E.

Streik

ArbeiterInnen kontrollieren Fabriken

Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise des Landes übernehmen argentinische ArbeiterInnen die Fabriken selbst und sind damit erfolgreich. Sie tauschen ihre Chefs gegen mehr Lebensqualität. Exemplarisch für diesen Prozess berichten wir hier von der Grissinopoli-Fabrik, ähnliche Vorgänge kann mensch aber auch an anderer Stelle beobachten, wie z.B. bei Brukman: So war die Familie Brukman – Besitzerin einer Textilfabrik in Buenos Aires – kurz vor dem Sturz des Präsidenten De la Rúa geflüchtet. Sie schuldete ihren MitarbeiterInnnen mehrere Monatsgehälter und fürchtete, im Rahmen der damaligen Ausschreitungen angegriffen zu werden. Die Fabrik wurde in Dezember 2001 besetzt und nach einigen Monaten der Vorbereitung wurde die Produktion von den MitarbeiterInnen autonom wieder aufgenommen. Jetzt läuft das Geschäft und die Brukmans wollen sich mit Hilfe der „Polizeiinfanterie“ ihre Fabrik zurück holen. Nachdem die Inhaber von der nichtbezahlten Arbeit ihrer ArbeiterInnen und Angestellten profitiert hatten und mit dem Restkapital geflüchtet waren, war es nicht leicht, die als insolvent geltende Fabrik wieder in Betrieb zu nehmen. Am 24.11.02, um 9 Uhr, stürmte die Polizei überraschend die Fabrik und verhaftete sechs Mitglieder der Wochenendbesetzung – ohne Durchsuchungs- oder Haftbefehle. Viele Organisationen mobilisierten dagegen; eine Stunde später hatte sich bereits eine Straßenblockade gebildet. Die Polizei hatte, da sie kein Widerstand erwartete, nur einige Wachleute vor Ort. Gegen 11 Uhr kam die Meldung, dass die MitarbeiterInnen die Polizei verdrängt und die Fabrik erneut besetzt haben!

Innerhalb eines Jahres erlebten die ArbeiterInnen in der Brotfabrik Grissinopoli einen Schwund ihrer Wochenlöhne von 150 auf 40 Pesos. Am dritten Juni schließlich, als die Firma Bankrott ging, verlangten die Angestellten die Auszahlung ihrer zurückgehaltenen Löhne. Der Fabrikmanager bot jedem der 14 ArbeiterInnen 10 Pesos und forderte sie auf, die Fabrik zu verlassen. Sie gingen nicht. Was als verzweifelte Aktion begann, um die eigenen Arbeitsplätze zu retten oder Ausgleichszahlungen zu erhalten, wurde zu dem hartnäckigen Versuch, die Kontrolle über das Unternehmen zu erlangen. Die ArbeiterInnen bewachten die Fabrik 24 Stunden am Tag und überlebten dadurch, dass sie an der Universität um Kleingeld baten und Gebäck verkauften. Weitere vier Monate später enteignete die Stadtverwaltung die Besitzer und übergab die Fabrik an die ArbeiterInnen. Im Oktober lief die Produktion in Grissinopoli wieder an.

"Er schloß die Fensterläden und wir blieben drin." berichtet Norma Pintos, 49, die 11 Jahre in der Fabrik gearbeitet hat. "Wir wollten einfach weiterhin zur Arbeit

In weniger als einem Jahr errangen die ArbeiterInnen die Kontrolle über eine ganze Anzahl von argentinischen Unternehmen. Weitaus bemerkenswerter als die Übernahmen, ist aber die von ArbeiterInnen gesteuerte Wiederbelebung der Fabriken, welche in einigen Fällen profitabler wirtschaften als unter ihren vorherigen Besitzern. Abgesehen davon, dass so Tausende von Arbeitsplätzen gesichert werden und der massive Niedergang der vormals riesigen nationalen Industrieproduktion abgeschwächt wird, werden durch die Fabrikübernahmen meist unangefochtene Annahmen über das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Frage gestellt. Die ArbeiterInnen ziehen aber auch die Aufmerksamkeit der Konservativen auf sich, die sie als eine Bedrohung für die Eigentumsrechte betrachten. In dieser krisengeschüttelten Gesellschaft jedoch, mit 37 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze (1) lebt und 34% der Arbeitskraft arbeitslos oder unterbeschäftigt ist, haben die ArbeiterInnen die Billigung der Regierung und starke allgemeine Unterstützung.

Es dämmert bereits über dem Riachuelo-Fluß, der die südliche Grenze von Buenos Aires markiert, jedoch in der nahen Ghelco-Ice-cream-Fabrik herrscht reges Treiben. Männer in grünen Uniformen wischen den Boden, während andere Papiere ordnen. Im Februar hatte der Besitzer der Fabrik, die einstmals national führend im Produzieren von aromatisierten Puder war, welches der Grundstoff für Eiskrem ist, die Tore verschlossen und stellte wenig später Insolvenzantrag. Die Angestellten, denen noch tausende Dollars aus zurückgehaltenen Löhnen und Leistungen zustanden, blieben sich selbst überlassen, während sie auf die Ergebnisse eines langen und unsicheren legalen Prozesses warteten. Auf Drängen von Luis Caro, einem Rechtsanwalt, der schon über 40 besetzte Fabriken vertreten hat, bildeten die ArbeiterInnen eine Kooperative und organisierten vor den Fabriktoren einen permanenten Protest, um der Entfernung des Mobiliars und der Maschinerie vorzubeugen. Nach drei Monaten gestatte der Konkursrichter ihnen die Fabrik vorübergehend zu mieten. Im September dann, enteignete die Stadtverwaltung Ghelco und händigte die Schlüssel der Kooperative aus. Seitdem führen 43 ehemalige untere Ghelco-Angestellte die Fabrik. Obwohl es ihnen gefällt, für sich selbst zu arbeiten, war es ein hartes Stück Arbeit. Viele arbeiten 12 Stunden am Tag, da sie nun mit zusätzlichen Administrativ- und Managmentaufgaben jonglieren. „Früher sind wir zur Tür raus gegangen, als die Zeit um war… Jetzt ist es 21 Uhr am Abend und wir sind noch immer hier“, sagt Claudia Pea, die Kunden und Geschäftspartner an der Rezeption empfängt, die Container beschriftet und die Bäder putzt.

Auf der anderen Seite des Riachuelo quellen die Auftragsbücher für 54 Mitglieder der Einheit- und Kraft- Kooperative (Union and Force Co-operative) über – sie hatten für sechs Monate einen metallverarbeitenden Betrieb besetzt gehalten, bevor sie die offizielle Kontrolle durch eine Enteignung im vergangenen Jahr übertragen bekamen. Die ArbeiterInnen verdienen mehr als das doppelte ihres vormaligen Lohns und sind dabei, 20 neue Mitglieder aufzunehmen. Aufgrund der hohen Nachfrage für ihre Kupfer- und Messingrohre wollen sie expandieren und exportieren. Die ArbeiterInnen sind ebenso wie alle anderen von dem Erfolg überrascht. „Die Kollegen glauben, dass das alles ein Traum sein muss“, sagt der Präsident der Kooperative, Roberto Salcedo, 49. Die Bücher von den alten Schulden zu befreien, war nicht schwer. Was aber wichtiger ist, wie die ArbeiterInnen sagen, ist, dass die Gewinnabzüge für den Besitzer und die höheren Gehälter der Verwaltung wegfallen. Wie in den meisten besetzten Fabriken hat auch die Einheit- und Kraft- Kooperative egalitäre Lohnmaßstäbe. Entscheidungen werden durch Abstimmung in regelmäßigen Versammlungen getroffen und jede/R ArbeiterIn verdient das Gleiche, basierend auf den Gewinnen der vorhergehenden Wochen.

Caro schätzt, das die ArbeiterInnen landesweit etwa 100 Fabriken und andere Firmen übernommen haben. Supermärkte, eine medizinische Klinik, eine patagonische Mine und ein Hafen von Buenos Aires gehören dazu. Oftmals handeln die Besitzer aus, dass die ArbeiterInnen statt der zurückgehaltenen Löhne oder anderen Ansprüchen, die Produktion übernehmen. Andere Fabriken haben noch immer keinen rechtlich gesicherten Status. Aber das eigentliche Ziel für viele selbstverwaltete Betriebe ist die Enteignung. Während der letzten zwei Jahren wurden 21 Produktionsstätten in und um Buenos Aires enteignet. Provinzielle und städtische Repräsentanten riechen den Braten und reichen Anträge ein, die die Bildung von Regierungsagenturen fordern. Diese Agenturen sollen bei der Bildung von Kooperativen, der Enteignung von bankrotten Unternehmen, sowie deren Übergabe an die ArbeiterInnen behilflich sein. Wie dem auch sei, Uneinigkeit macht sich unter den verschiedenen ökonomischen Interessengruppen breit, was dazu führen könnte, dass die politische Unterstützung schwindet. Während die ersten beiden Enteignungen in der Hauptstadt noch einmütig von der Stadtregierung beschlossen wurden, hat die Radikale Mitte-Rechts Partei ihre Position seitdem geändert und weigerte sich für die Enteignung von Grissinopoli zu stimmen. „Enteignung kann nur zugunsten derAllgemeinheit vorgenommen werden. In diesen Fällen gibt es keinen allgemeinen Nutzen. Es ist das Wohl von 20 oder 30 Leuten.“, meinte Gregorio Badeni, ein Verfassungsrechtler. Nur wenn die lokale Unterstützung für die fabrikbesetzenden ArbeiterInnen stark ist, können auch Autoritäten nur wenig dagegen ausrichten. „Die Vorstellung, dass Kapitalisten nötig seien, um die Produktion zu organisieren, wird entmystifiziert,“ erklärt Christian Castillo, Soziologieprofessor an der Universität Buenos Aires. „Möglicherweise wird diese Bewegung verschwinden, wenn sich die wirtschaftliche Lage entspannt. Aber die Idee und Erfahrung der Arbeiterselbstverwaltung ist in den Köpfen.“

Reed Lindsay, IMC Buenos Aires

(Übersetzung: hannah b.)

(1) Unter der absoluten Armutsgrenze leben heißt, weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung zu haben.

Soziale Bewegung