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Leipzig: am Wahlsonntag eine „Demokratische Sperrzone“

Dass "wehrhafte Demokratie" sich auch gegen überzeugte "Basisdemokraten" richten kann, davon mußten sich einige Menschen am 22.9. überzeugen. Doch ein riesiges Polizeiaufgebot und eine "demokratische Sperrzone" in der Innenstadt, die die Bürger vor anderen Meinungen als der eigenen schützen sollte, konnten dennoch kreative herrschaftskritische Aktionen nicht ganz verhindern…

Eine erste Aktion begann am Vormittag. Ein junger Mensch mit einem selbst gebastelten Schild, auf dem gut lesbar stand: "Ich habe heute meine Stimme abgegeben." und der sich den Mund mit einem Kreuz aus schwarzem Klebeband "symbolisch" zugeklebt hatte, wandelte am Vormittag und in den Abendstunden durch die Straßen.

Eine weitere Aktion, bestand darin, öffentlich und kollektiv eine Aussage zur Wahl zu treffen. Fünf Studierende trugen Pappschilder, die mit je einem gut sichtbaren Wahlkreuz versehen waren. Passend dazu hatten auch diese fünf den Mund mit Klebeband zugeklebt, um zu verdeutlichen, dass die Wahl nicht die zwischen SPD und CDU ist, sondern die zwischen realer Mitbestimmung und dem Repräsentativsystem, welches Mitbestimmung für weitere vier Jahre verhindert. Zur Abrundung des Erscheinungsbildes, waren alle Beteiligten durch eine Leine miteinander verbunden, die in eine Wahlurne in Form eines Pappkartons endete und von der personalisierten "real existierenden Demokratie" getragen wurde. Akustisch verstärkt wurde dieser Aufzug durch an die Beine gebundene Blechdosen, die lustig auf dem Leipziger Pflaster Krach schlugen, aber bedauerlicherweise schon nach wenigen Metern den Geist aufgaben.

"Kurz nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten, berichtete ein Aktivist, stoppten uns schon die ersten neugierigen Ordnungshüter – der Lärm der noch vorhandenen Blechdosen hatte sie wohl angelockt. Nach einer Personalienfeststellung und kurzem Filmdreh aus der Ferne erhielten wir einen Platzverweis für die eigens für den Bundeswahlfasching eingerichtete demokratische Sperrzone – fast die gesamte Innenstadt, wie auch obiges Bild zeigt (ein von der Polizei vorbereiteter Zettel, der uns netterweise ausgehändigt wurde).

Auch wurden wir ‚instruiert‘, einen "demokratischen Sicherheitsabstand" von mindestens 20,00 Metern zu Wahllokalen einzuhalten, da es den gemeinen Wähler überfordern würde, am Wahltag selbst, nach monatelanger Propagandaflut, nochmals mit einer eigenständigen Meinung konfrontiert zu werden. Also bewegten wir uns entlang des Grenzstreifens der demokratischen Sperrzone zum Hauptbahnhof. Unterwegs riefen wir einige Aufmerksamkeit unter den vorbeiflanierenden Passanten hervor, die unsere Aufmachung und deren Sinn in der Mehrzahl zu erfassen schienen. Ganz im Gegensatz zu einigen Polizisten, die sich fast schon aufdringlich oft diensteifrig dem Kontrollieren, Durchsuchen, Platzverweisen und Feststellen unserer Personalien widmeten."

faul

Lokales

Nazis in Leipzig

Schön ist das wirklich nicht.

Mit penetranter Regelmäßigkeit versucht das rechte Fußvolk in Leipzig zu seiner ersten „glorreichen“ Demonstration des neuen Jahrtausends zu kommen. Die „Heldenstadt“ inklusive Völkerschlachtdenkmal scheint in der Selbstinszenierung von Worch und Konsorten einen unverzichtbaren Stellenwert zu haben. Sei es nun dadurch begründet, dass der Versuch am 1. Mai 1998 zu demonstrieren, ein Debakel zur Folge hatte, welchem die „Kameraden“ nun etwas entgegensetzen möchten, sei es die Heraufbeschwörung eines neuen Mythos namens Leipzig – es nervt.

Fielen die letzten Aufmärsche regelmäßig ins Wasser, mal durch antifaschistischen Widerstand, mal durch Bullentaktik oder schlicht eigene Blödheit begründet, sieht es langsam danach aus, als führe die „Steter Tropfen höhlt den Stein-Methode“ zum Erfolg. Am 8. Juni konnten die Nazis ohne nennenswerten Widerstand sogar zwei Demonstrationen durchführen. Gerüchteweise lag dies an der damals gerade laufenden Fußballweltmeisterschaft, doch ist auch ein allgemein stärker werdendes Desinteresse der Leipziger an einer Verhinderung von Naziaufmärschen zu beobachten. Mal ist halt Fußball, mal schönes Wetter und überhaupt: Sollen sie doch laufen… Ignoriert es einfach und denen wird’s von selbst zu langweilig. Leider trifft das aber gar nicht zu und vermittelt lediglich das Bild, dass Nazis halt dazugehören. Eine Akzeptanz dieser „Kameraden“ verschafft diesen aber Erfolgserlebnisse, gibt ihnen eventuell Mut, immer dreister in der Öffentlichkeit zu agieren und zu agitieren und senkt dadurch auch die Hemmschwelle von eventuellen Sympathisanten, endlich wieder in der angenehm bekannten braunen Suppe mitzuschwimmen.

Nun hilft es aber auch niemandem, die Moralkeule schwingend zu sagen, jeder habe seine „Pflicht“ zu erfüllen und bei diesen Demonstrationen auf der Gegenseite präsent zu sein.

Es ist klarerweise auch frustrierend, ständig irgendwelchen Nazis einen ganzen Tag zu schenken, wenn man den mittelbaren Nutzen dieser Art von Widerstand reflektiert.

Es ist ja so, dass auf diese Weise nur „reagiert“ wird und keine wirkliche Änderung der Gesellschaft zu erwarten ist. Fernsehzuschauer und Tageszeitungsleser denken bestenfalls, sollen sich doch Linke und Rechte ruhig bekämpfen. Mir ist’s egal, ich gehöre nicht dazu. Die Frage, wer und was faschistische Einstellungen, „national befreite Zonen“ und die dazugehörenden Übergriffe bedingt, taucht wohl kaum auf. Eine andere häufig anzutreffende Einstellung ist nicht minder gefährlich: Verbote werden’ s richten. Schränkt das Demonstrationsrecht ein und der ganze Spuk hört auf! Eben nicht, jede noch so idiotische Einstellung findet immer ihre Mittel und Wege, sich darzustellen und neu, bzw. anders zu organisieren. Dass gleichzeitig auch eigene Rechte leichtfertig an „Vater“ Staat zurückgegeben werden, fällt wenigen auf. Was der nämlich einmal hat, gibt er so schnell nicht wieder her.

Also, was tun? Selbst handeln, die sich gemäße Form des Aufbegehrens finden, wäre ein Anfang. Sich von der Nazibrut nicht die Laune verderben lassen, ist ungeheuer wichtig, diejenigen, die Opfer von Faschisten oder eines spießbürgerlichen, nationalistischen Umfelds (, das in Deutschland an fast jeder Ecke zu finden ist…) zu unterstützen, ist auf keinen Fall verkehrt.

Ganz verkehrt hingegen ist es, sich von Politikern, die rassistische Politik unter anderen Namen betreiben, vor den Karren spannen zu lassen und dann die eigene Ablehnung von Faschisten und Rassisten in einen merkwürdigen Aufstand der Anständigen kanalisiert und glattgebügelt zu sehen.

kao

NazisNixHier

Worten folgen Taten

Ganz was neues!

Am 18.09.02 beschloss der Leipziger Stadtrat die Ergänzung der Polizeiverordnung über öffentliche Sicherheit und Ordnung. Darin heißt es nun, daß "Jedes Anbringen von Beschriftungen […] oder Plakaten, die weder eine Ankündigung noch eine Anpreisung oder einen Hinweis auf Gewerbe oder Beruf zum Inhalt haben" (Leipziger Amtsblatt, 05.10.02) verboten ist.

Damit ist also von vorneherein schon mal jeder in den illegalen Raum gedrängt, der den öffentlichen Raum zur öffentlichen Kommunikation nutzen will. "Das Verbot gilt nicht für das Beschriften […] bzw. das Plakatieren auf den dafür zugelassenen Plakatträgern […]." der zweite Satz sagt im Grunde auch nicht bedeutend mehr aus, als der erste: wer zahlt, oder von anderen Geld will, darf plakatieren, "Nicht(ver)käufer" werden bestraft. Diese wenigen Zeilen machen eines deutlich: es genügt heute nicht mehr nur Einwohner dieses Landes zu sein, damit mensch sein sog. Bürgerrecht der Meinungsfreiheit auch öffentlich wahrnehmen kann, sondern mensch muß schon Konsument/Verkäufer sein und: mensch ist nicht unbedingt auf das noch nicht ratifizierte GATS (Allgemeines Abkommen über Handel und Dienstleistungen) angewiesen, um wirtschaftliches Engagement gegenüber sozialem, politischem oder künstlerischem zu privilegieren.

Die direkten Folgen daraus: 1) die teils sexistischen Papierfetzen eines "Getränkemarktes" können weiterhin legal "wild plakatiert" werden, da sie einen "Hinweis auf Gewerbe" beinhalten; 2) wer nicht eine Geldstrafe zwischen 5 und 1.000 Euro riskieren will, soll wohl auf Werbetafeln und Litfaßsäulen plakatieren … und begeht eine Sachbeschädigung. Aber der Gesetzgeber – hier der Stadtrat – läßt ja keine Wahl, die war nämlich am 22. September. Hier zeigt sich eine schon bekannte Systematik: die Verordnung richtet sich zwar nicht explizit gegen politisches Engagement an sich (das widerspräche ja dem GG ;), untersagt aber die de facto einzige Möglichkeit öffentlicher Kommunikation. Denn wer kann und will – in dieser Richtung aktiv – das Geld aufbringen, sich einen Platz im öffentlichen Raum zu erkaufen? Vielleicht sollte mensch sich auf die Suche nach Sponsoren machen … Ganz einfach also ist es, progressive politische Aktivität und nonkonformen Ausdruck zu kriminalisieren. Und dafür stehen auch in Zeiten, da "alle" den Gürtel enger schnallen müßten, glatt 70.000 Euro zu Verfügung.

A.E.

Lokales

Staat bleibt Staat

Das „Leipziger Amtsblatt“ wartete in der Mitte seines 12. Jahrganges mit einem ganz besonderen Bonus auf: Dem unverblümten Aufruf zur Denunziation. Wohin ein solches gesellschaftliches Klima führt, mag sich nicht ausmalen, wer auch mal bei rot über die Ampel geht, „falsch“ parkt, Fernseher und Radio nicht gemeldet hat, ein Stück Käse oder eine CD „mitgehen“ läßt, schwarz arbeitet.

Worum geht’s ? Es geht um den Leitartikel vom 26. Juni 2002 – „Graffiti: Kein Kavaliersdelikt!“ – dessen Autorin in unerhörter Weise Desinformation und Zynismus (Fotounterschrift: „In flagranti erwischt ? Leider nein, das Bild ist nachgestellt.“) verbreitet…

Die Propaganda ist simpel gestrickt: Eingangs erfolgt eine Positivbewertung der Lohnarbeit, wenn es heißt „Die Arbeit anderer wird […] einfach ignoriert.“ Als hinge das Herzblut und eben nicht der Brotkorb des Bauarbeiters an seinem Tagwerk! (siehe unter anderem dazu S. 2/3 in diesem Heft; Arbeitsartikel)

Weit höher jedoch rangiert im präsentierten Wertekanon, dass das „Stadtbild verschandelt“ werde und so ein „Imageschaden“ entstehe, da tut „Kriminalitätsbekämpfung“ dann wirklich not. Ein totalitäres Staatsverständnis jedoch zeigt, wer in der „sofortige[n] Ergreifung“ den „Idealfall“ der Zusammenarbeit von Behörden und „couragierten“ BürgerInnen erkennen will. Die kritischen BürgerInnen fragen sich dann, wo denn da die „Leipziger Freiheit“ bleibt?! Als demokratisches Zuckerbrot neben der bürokratischen Peitsche bietet sich die AG Graffiti an, die Auftragswerke für Sprayer vermittelt. Dieses städtische Konzept beweist also neben einem völligen Unverständnis dieses künstlerischen und letzten Endes auch politischen Ausdrucks auch einen Hang zum Totalitären. Denn was ist das anderes als jede individuelle Regung registrieren, kontrollieren und gegebenenfalls verfolgen zu wollen und sich zu diesem Ansinnen die passenden Mittel zu verschaffen?

Seinen praktischen Ausdruck erfährt dies in der Beschlussvorlage der Leipziger Ratsversammlung (DS III/2192): „Dem entsprechend […] keine neuen Projekte, die nicht in der Koordination durch die Polizei stehen, mehr zu beginnen und alle laufenden Aktivitäten 1. bis zum Jahresende 2002 auslaufen zu lassen, 2. mit anderen Inhalten zu versehen […]“.

Aber einer geplanten und vermittelten Auftragsarbeit steht Graffiti, diese Kunst der Straße, diese revoltierende Bewegung der Sprayer genau entgegen. In den Armenghettos New Yorks entstanden, geht es dabei – neben dem sehr kritikwürdigen Heischen nach „fame“ (Ruhm) – um einen zeitweiligen Ausbruch aus den Bahnen der bürgerlichen Ordnung und ihrer einengenden Strukturen. Das Element des Unkontrollierten ist dabei ein wichtiger Aspekt.

Es geht um den Ausdruck der eigenen Individualität, die unter den Bedingungen des (v.a. Wirtschaftlichen) Zwangs keine Bedeutung hat. Mag sich die Kultur des Graffiti auch auf ein l’art pour l’art beschränken und in weiten Teilen gar in einen „ruhmreichen“ Kampf der Egoismen umschlagen, so sind doch ihre libertären Ansätze und Potentiale nicht zu verkennen. Dass der Staat als „ordnende Instanz“ mit Monopolanspruch eine solche Bewegung – und sei sie noch so beschränkt! – nicht dulden kann, das versteht sich von selbst … und dass er sich im demokratischen Zeitalter dabei hinter vermeintlichen Interessen einer „Allgemeinheit“ verschanzt, das wundert auch nicht.

A.E.

Graffiti

Da is‘ was im Burger

Manchmal findet sich im Internet doch Interessanteres als im Telephonbuch (1). Worum’s geht? Am 16. Oktober sollen bei der Fastfoodkette McD. weltweit die Milchshakes etwas zäher fliessen und die Fritten etwas länger brutzeln. So zumindest wünscht es sich das Netzwerk McDonald’s Workers‘ Resistance (MWR, Widerstand der McDonald’s ArbeiterInnen). MWR ist eine inoffizielle Selbstorganisation von Leuten, die bei McD. arbeiten und sich mit den Zuständen in den Filialen nicht abfinden wollen. Die stärkste Basis besteht wohl in Großbritannien, aber auch in zahlreichen anderen Ländern (vor allem in der EU, in den USA und in Rußland) engagieren sich Angestellte unter dem Label MWR. In dem erwähnten Aufruf werden nicht nur die Angestellten der Restaurants, sondern auch die ArbeiterInnen in den Zulieferbetrieben aufgefordert, ihren Teil zu der Aktion beizutragen … und da das der je eigene Beitrag sein soll, die je eigenen Möglichkeiten sehr unterschiedlich sind, kann das auch ganz verschiedene Formen annehmen: "das musz nichts spektakulaeres sein: Du könntest Dich krank melden, […] den Strom abschalten, […] ‚Dienst nach Vorschrift‘ machen, […] nicht lächeln". Und es wird ja auch Zeit, dasz die modernen Schwitzbuden von innen heraus angegriffen werden … eigentlich ist es eher verwunderlich, dasz noch immer so viele der allzeit bereit stehenden, dabei aber mies bezahlten Servicekräfte ihr Lächeln nicht abgesetzt haben.

„Unregierbar“?

Doch wozu der ganze Terz?! Es geht den AktivistInnen schlicht und einfach um die Durchsetzung der Koalitions- und Informationsfreiheit am Arbeitsplatz – diese Forderung steht von Anfang an und für alle Filialen des internationalen Konzerns. Denn Versuche, ein MWR ins Leben zu rufen gab es in Großbritannien schon vor einigen Jahren … sie scheiterten an der Repression des Unternehmens. Doch die Initiative war ergriffen, die direkte Auseinandersetzung begonnen und vorerst verloren. Immerhin blieb eine Rechtsberatungsstelle für Mc-ArbeiterInnen bestehen – und die Idee, die schlieszlich auch realisiert wurde und wird. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, vereint kaum mehr als ein paar hundert ArbeiterInnen … dasz eine solche Initiative jedoch bitter nötig ist, erfuhren auch die Angestellten einer Wiesbadener Filiale.

Besagtes Restaurant, dessen Belegschaft zu 80 Prozent in einer DGB-Gewerkschaft organisiert war, wurde kurzerhand geschlossen – ungeachtet der schwarzen Zahlen, die dort geschrieben wurden, schlieszlich mache eine Gewerkschaft den Betrieb "unregierbar". Das Kalkül ging auf: die GewerkschafterInnen zogen vor Gericht, verzichteten auf direktes Eingreifen, und ein halbes Jahr später wurde die Filiale mit neuer, nicht organisierter Belegschaft wieder eröffnet. Begünstigt wird ein solcher Verlauf sicherlich von der relativ hohen Fluktuation der Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Mögen die Gechassten auch Recht gesprochen bekommen – ist die Behinderung oder Sanktionierung gewerkschaftlicher Aktivität doch ein klarer Verfassungsbruch –, der Ofen ist aus.

Gewerkschaft braucht Bewegung

Es bleibt also zu hoffen, dasz sich möglichst viele Beschäftigte von McD. dieser Initiative anschliessen und unmittelbar aktiv werden. Schlieszlich zeigt sich alltäglich, und in diesem Falle hier besonders eklatant, dasz es keine Sozialpartnerschaft gibt. Zwangsläufig – das heißt, um Dynamik und Kontinuität zu entwickeln und Erfahrungen nicht dem Vergessen anheim zu geben – stellt sich dann auch die Frage nach Organisierung. Bei der Beantwortung sollte nicht vergessen werden: wer beispielsweise in der Hartz-Kommission an der Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen mitwirkt, vertritt keineswegs die Interessen der eigenen Basis, sondern zementiert allenfalls eine gesellschaftliche Alternativlosigkeit. Glasklar, nur die Basis selbst tritt am besten für ihre Interessen ein. Was anderes also als das Maß an lokaler Autonomie und solidarischer Zusammenarbeit sollte uns Ratgeber bei dieser wichtigen Frage sein? Zeit für Taten.

A.E.

(1) siehe im Internet die beiden Seiten: www.fau.org/neu/htm/arc/akt_1610.html und mwr.org.uk/proposal.htm
(2) vgl. „junge Welt“, 23.02. & 9.8.2001

International

Farbeffekte

Als ich eines Tages vor einer Wand stand und meinen Namen sprühte, fragte mich eine ältere Frau, was ich dort täte und was es bedeuten würde. Ich erklärte ihr, dass das, was sie dort sehe, Buchstaben seien und das diese Buchstabenfolge einen Namen ergebe, sozusagen einen zweiten Namen, eine zweite Identität, die ich mir selber zugelegt hätte, im Gegensatz zu meinem bürgerlichen Namen, auf den ich keinen Einfluß hatte. Der Name sei der Mittelpunkt, die Buchstaben, deren Ausgestaltung und die Farbgebung das individuelle Ausdrucksmittel und die Unterscheidungsmerkmale zu anderen Sprayern. Sie erklärte mir, der Anfangsbuchstabe erinnere sie an einen Schiffsbug, und an einer anderen Stelle erkannte sie einen abstrakten Vogelkopf. Das zu erkennen bereitete wiederum mir Kopfzerbrechen, denn unsere kulturellen Blickwinkel waren verschieden.

Das, was diese Frau von der Mehrheit der Bürger Leipzigs und anderer deutscher Städte unterschied, war ihre Neugier. Der größte Teil der deutschen Bevölkerung tritt dem Phänomen Graffiti mit Ablehnung und Ignoranz gegenüber. Anstatt sich zu fragen, warum sich jede Nacht Tausende von Jugendlichen auf den Weg begeben, um ihren Namen an jeder erdenklichen und sichtbaren Stelle in den Großstädten, entlang der Bahnlinien oder auf Zügen zu hinterlassen, werden die Werke von vornherein verteufelt, ihre Macher gejagt, strafrechtlich verfolgt und gehasst. Verkannt wird eine Bewegung, die sich seit den 1960er Jahren zunächst in den USA entwickelte und in den frühen 80ern nach Europa schwappte. Seitdem ist Graffiti aus keiner Stadt in Deutschland mehr wegzudenken. Verkannt wird eine Kultur mit einer eigenen Sprache, eigenen Regeln und eigenen Helden.

Gesehen werden lediglich „verschmutzte Wände“, „Farbschmierereien“, „Sachbeschädigungen“ und „Vandalismus“. Mit den Worten wäre zugleich das Standardvokabular der Presse abgedeckt, die über Graffiti berichtet und die es sich in jüngster Zeit zum Ziel gesetzt hat, gemeinsam mit Polizei und Staatsanwaltschaft zu einer Hetzkampagne aufzurufen, um den „Farbschmierern“, „Schmierfinken“ und „Straftätern“ auf die Schliche zu kommen. Dabei werden Leipzigs Bürger zum Denunziantentum aufgerufen, um den Sprayern ihr Handwerk zu legen.

Ist es denn wirklich gerechtfertigt, das Besprühen einer Wand oder eines Zuges, strafrechtlich mit sinnlosem Randalieren, wie Fensterscheiben einzuwerfen oder Autos zu demolieren, gleichzusetzen?

Es wird schließlich nichts beschädigt. Der Zug kann genauso effektiv von A nach B fahren und ist in seiner Funktionstüchtigkeit in keinster Weise beeinträchtigt. Ebenso hat sich die Statik der Wand durch die Farbtupfer nicht negativ verändert.

Sprayer werden in jüngster Zeit durch Hetzkampagnen der oben angesprochenen Art schwerst kriminalisiert. Verhindert wird dadurch ein stärkeres Auseinandersetzen mit den Beweggründen der Jugendlichen und mit dem kulturellen Aspekt, verstärkt werden bipolare Meinungen und Unwissenheit. Den Bürgern wird mit der vereinten Macht aus Staatsgewalt und Presse ihr Recht auf freie Meinungsbildung entzogen, indem Beweggründe und Entwicklung der Sprühkultur deutlich in den Hintergrund geraten.

Sprayer wollen sich wie die meisten Menschen mitteilen und äußern. Ihr Medium ist die Sprühdose und ihr Kommunikationsforum der öffentliche Raum. Häufig taucht folgende Frage auf: „Wer erlaubt es den Sprayern, ihre Zeichen in der Öffentlichkeit zu hinterlassen und den Menschen aufzuzwingen? Die meisten Leute wollen die Sprühereien nicht sehen.“

Im Gegenzug könnte man die Stadt fragen, mit welchem Recht sie den öffentlichen Raum, der allen Menschen frei und zugänglich sein sollte, zunehmend privatisiert. Somit werden alltäglich und immer häufiger alle Bürger mit kommunal geduldeten Zeichen bombardiert. Werbeplakate, Litfasssäulen, digitale Anzeigetafeln und Slogans aller Art locken unsere Aufmerksamkeit auf sich und wollen uns zudem noch zum Konsum anstiften. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Stadt jemals ihre Bürger um Erlaubnis fragte, derartige Botschaften zu installieren, und es ist kein Geheimnis, dass sie vielen lästig sind.

Erfreulich wäre es, wenn sich mehr Menschen darum bemühten, die modernen Hieroglyphen, die uns alle umgeben, zu verstehen. Es kann nur bereichern und es gibt viel zu entdecken. Dialoge zwischen Akteuren und Betrachtern können helfen und können, wie die eingangs beschriebene Geschichte beweist, für beide Seiten fruchtend sein.

lam

Graffiti

Christoph Spehr

„Gleicher als Andere – eine Grundlegung der freien Kooperationen“

Wie in der letzten Ausgabe angekündigt, wollen wir mit diese Doppelseite in regelmäßiger Folge Raum für theoretische Überlegungen bieten. Dabei soll es jedoch nicht darum gehen, Definitionen, „heiligen“ Sätzen oder ewigen ‘wahren‘ Werten zum Ausdruck zu verhelfen, sondern vor allem konkreten Gedanken, deren Geltung freilich durch das zur Sprache kommende, reflektierende Bewußtsein begrenzt ist. Dem möglichen Vorwurf des theoretischen Minimalismus gilt es dabei mutig ins Auge zu sehen, schließlich wird in einer Welt, in der man hoch stapelt, der Held der kleinen Schritte gering, zu gering geschätzt.

Der Septemberaufsatz über „anarchistische Haltungen im Alltag“ sollte in diesem Sinne eine Einleitung bieten; einen Weg jenseits solcherlei Wesensfragen wie: „Was ist …?“ öffnen. Der vorgestellte Gedankengang behauptete mit dem Begriff der ‘Haltung‘ einen direkten Zusammenhang zwischen Handeln und Ideen konkreter Individuen. Dabei wurde die spezifisch anarchistische Haltung in ihrer historischen wie in ihrer aktuellen Bedeutung beleuchtet, sehr unterbelichtet zwar, aber immerhin waren einige Umrisse erkennbar. Daß diese Perspektive eine individuelle war, bedeutet aber nicht notwendig eine Entwertung derselben. Im Gegenteil – so die These – geben gerade anarchistische Ideen begründeten Anlaß zu der Skepsis gegenüber kollektiven oder konventionell rationalen Perspektiven. Die sprachkritischen Überlegungen von Landauer oder auch Stirner bieten hier einigen Stoff für weitere Diskussionen. Eine der Konsequenzen die zum Ende des Aufsatzes gezogen wurden, hieß die Aufgabe des Glaubens an eine konsistente, anarchistische Weltanschauung und damit auch Welterklärung – der es schließlich gelänge, alle Phänomene unserer Lebenswelt in einen systematischen, gleichförmig abgeleiteten Zusammenhang zu bringen – und damit auch die Kampfansage an solcherlei theoretische Versuche, gleich welchem Lager sie entspringen. Den Aufsatz beendete die Hoffnung auf eine wachsende Bedeutung anarchistischer Ideen. Und genau hier, im Spannungsfeld von wachsender Bedeutung trotz lückenreicher weil menschlicher Welterklärung, soll im Weiteren geschrieben, kritisiert, diskutiert, gestritten werden. Die Karten auf den Tisch zu legen, bedeutet ja nicht: sie als sakrosankt und unabänderlich erklären. Im individuellen Bewußtsein sind alle Begriffe problematisch und als solche kritisierbar. Solcherlei Kritik ist nicht nur wünschenswert und notwendig sondern auch außerordentlich fruchtbar. Deshalb sei jedem mit Lust und Laune freundschaftlich in die Seite geknufft mitzutun, der Redaktion zu schreiben, mit uns zu diskutieren.

Wir selbst haben nur eine vage Vorstellung vom weiteren Fortgang speziell dieser Seiten. Fürs erste schwebt uns eine wechselseitig ablösende Herangehensweise vor. Sowohl ein geschichtlicher Zugang als auch ein aktueller Bezug zu anarchistischen Ideen soll so jeweils möglich werden. Diesen Überlegungen geschuldet, entschlossen wir uns, mit einem aktuellen Bezug zu beginnen. Wer vielleicht doch den angekündigten Proudhon-Text erwartete, sei auf die nächste Aufgabe vertröstet. Dann wird die Reihe der geschichtlichen Exkurse ‘hoffentlich‘ (man kann ja nie wissen) mit Proudhon eröffnet.

Auf der Suche nach alternativen Vergesellschaftungsformen, bietet die Lektüre des relativ kurzen Textes „Gleicher als Andere“ von Christoph Spehr einen interessanten Einstieg. Einige Kernpunkte sollen im Folgenden kritisch beleuchtet werden.

(clov)

„Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ – von Christoph Spehrs Beantwortung dieser Frage der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigte sich nicht nur die Jury beeindruckt, welche dem Werk den ersten Preis hierfür zuerkannte, auch in Teilen der radikaleren Linken wurde sein Text mit einiger Begeisterung aufgenommen.

Ohne Zweifel ist „Gleicher als Andere“ aufgrund von Spehrs schriftstellerischen Fähigkeiten angenehm zu lesen, was es schon einmal von so manch anderem linken Theoriewerk wohltuend abhebt. Auch die zahlreichen Zitate aus Sciencefiction, Popkultur und linker (v.a. Feministischer) Debatte mögen ihren Reiz haben.

Im Mittelpunkt des Textes stehen aber wesentlich die theoretischen Überlegungen Spehrs zu spezifischen Fragen menschlichen Zusammenlebens. Dabei beantwortet Spehr die von der Stiftung aufgeworfene Frage damit, daß in seinem Konzept der „freien Kooperationen“ politische Freiheit und soziale Gleichheit zusammenfallen. Zum Verständnis dessen ist es wichtig, festzuhalten, daß für Spehr sämtliche Beziehungen von Menschen Kooperationen im sozioökonomischen Sinne darstellen. Um zwischen freien und unfreien Kooperationen zu unterscheiden, stellt Spehr zwei Hauptkriterien auf:

1.) daß alle vorgefundenen Regeln und Verhältnisse innerhalb der Kooperationen real veränderbar sein müssen;

2.) daß alle Beteiligten die Möglichkeit haben müssen, jederzeit die Kooperation zu einem „vergleichbaren und vertretbaren Preis“ zu verlassen oder unter Einschränkungen und Bedingungen zu stellen.

Damit eine Kooperation eine freie ist, muß also jedeR an ihr Beteiligte die grundsätzliche Möglichkeit haben, über alle Bedingungen dieser verhandeln zu können. Wenn dies auf eine Kooperation zutrifft, so mag sie Außenstehenden auch noch so seltsam erscheinen – sie haben kein Recht, diese als „falsch“ zu verurteilen, weil es dafür keinen objektiven Maßstab gibt. Nach der Aufstellung dieses Ideals sucht Spehr nach praktischen Anschlußmöglichkeiten für dessen Verwirklichung. Zwar analysiert er die bestehenden Verhältnisse als herrschaftlich und von „unfreien Kooperationen“ gekennzeichnet, sieht aber die Möglichkeit ihrer „Abwicklung“ darin, daß seine LeserInnen damit anfangen, ihre Kooperationen in „freie“ umzuwandeln und somit „gleicher als andere“ zu werden. Dadurch bleibt er aber letztendlich in dem Konflikt stecken, die prinzipielle Machbarkeit von „freien Kooperationen“ innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse begründen zu müssen. Doch Spehrs Glaube, von aktuell-dominanten unfreien Kooperationen innerhalb unserer gesellschaftlichen Strukturen zu idealen (im Sinne seiner Prämissen), freien zu kommen, geht all zu unkritisch mit Institutionen wie Staat und Markt um.

Denn die von ihm skizzierten „freien Kooperationen“ bleiben innerhalb der allgemein geltenden Prinzipien von Privateigentum und Tausch problematisch. Gerade diese Prinzipien haben ja über Jahre die sozioökonomischen Verhältnisse der Menschen als unfreie oder herrschaftliche etabliert. Aus diesen folgt aber logischerweise auch, dass mensch selbst lebensnotwendige Bedürfnisse nur gegen eine Gegenleistung befriedigt bekommt. Daß dieses Leistungsverhältnis im Widerspruch zu dem „vertretbaren Preis“ steht, mit dem eine Kooperation verlassen oder eingeschränkt werden kann, ist auch Spehr bewußt. Die denkbar einfachste Lösung – nämlich daß sich jedeR vom gesellschaftlichen Reichtum nehmen kann, was er.sie.es gerade braucht – hat er sich aber selbst verbaut. So heißt die von ihm ersatzweise präsentierte Lösung dieses Dilemmas „Existenzgeld“ (1). Wieso aber der(bürgerliche) Staat ein solches in ausreichendem Maß zahlen sollte, bleibt unklar. Schließlich würde es seiner Kernaufgabe – der Sicherung kapitalistischer Verhältnisse – schon entgegenlaufen, wenn die Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und daher ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, dies plötzlich nicht mehr nötig hätten. Spehrs Antwort (2), daß dies alles nur eine Frage der „richtigen Regierung“ (als könne es so etwas überhaupt geben!) sei, kann ich daher nicht teilen. Auch Spehrs Kooperationen sind also nur frei innerhalb bestimmter Rahmensetzungen, die politisch erst zu ‚besorgen‘ wären. Da bietet sich ja eine stiftungsnahe Partei geradezu an …

Entgegen seiner Ankündigung, daß „in dieser Abhandlung […] auch vertreten [wird], daß Freiheit und Gleichheit nicht durch eine Rahmensetzung von oben gewährt oder verwirklicht werden können“ (3), greift Spehr aber auch an anderen Punkten auf den Staat zurück. So schreibt er bspw. zum Thema „affirmative action“ (4): „Zu prüfen ist allenfalls, ob es aus Sicht der freien Kooperation legitim ist, daß eine übergeordnete Kooperation (in diesem Fall die nationale Gesellschaft) untergeordneten Kooperationen Vorschriften darüber machen kann, wie sie sich zusammenzusetzen haben. Dies ist zu bejahen für entsprechende Gesetze, die sich auf den öffentlichen Sektor und größere Kooperationen beziehen. Da die Gesellschaft größeren Kooperationen faktisch einen nicht unerheblichen Teil des gesellschaftlichen Kapitals überläßt, kann sie dies an die Bedingung knüpfen, allen gesellschaftlichen Gruppen real gleichen Zugang zu diesen Kooperationen zu ermöglichen und sie angemessen in ihren Entscheidungsstrukturen zu repräsentieren“ (5). Die „nationale Gesellschaft“ – übrigens schon an sich eine recht fragwürdige Konstruktion – erläßt also Gesetze? Das mag meinetwegen in diesem Fall auf „bessere“ Herrschaft hinauslaufen; mit Herrschaftsfreiheit hat das jedoch niX zu schaffen!

Allerdings sollten derlei Schwächen nicht von der Lektüre von „Gleicher als Andere“ abhalten. Die große Stärke des Werkes liegt m.E. schließlich woanders. Es gelingt Spehr, recht eindrucksvoll aufzuzeigen, wie herrschaftsförmig auch die oft als „völlig normal“ empfundenen Verhältnisse – an denen wir teils als „HerrscherInnen“, teils als „Beherrschte“ teilhaben – sind. Die Konzentration auf eine kritische Beschreibung menschlicher Beziehungen als unfreie oder zu befreiende Kooperationen, hätte jedoch nicht nur ein wesentlich präziseres theoretisches Werkzeug zur Verfügung gestellt, sondern es hätte auch die Beantwortung der Frage: „Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ dorthin verwiesen, wo sie schließlich einzig und allein relevant ist, in den Bereich individueller Haltungen jedes Einzelnen. Hier stiften die Einzelnen die Bedingungen freier Kooperation selbst, und die Freiheit derselben wird nicht durch ein ideales Modell des Zusammenlebens begründet, sondern durch das konkrete Handeln involvierter Menschen.

m.

Christoph Spehr, „Gleicher als Andere – Eine Grundlegung der freien Kooperationen“, 85 Seiten, unveröff., zu beziehen über die Redaktion oder online zum Herunterladen unter: www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Preis/rlspreis.pdf
(1) Oft auch unter dem Begriff der ‘negativen Einkommenssteuer‘
(2) geäußert bei einer Veranstaltung in Leipzig
(3) Gleicher als Andere“, S. 13
(4) „Affirmative action“ bedeutet die aktive Bevorzugung von Menschen aus bisher benachteiligten Gruppen, da eine formale Gleichstellung nicht ausreicht, um die bisherigen Ungerechtigkeiten auszugleichen und eine tatsächliche Gleichstellung zu erreichen.
(5) „Gleicher als Andere“, S. 65

Theorie & Praxis

Anarchistische Ideen – Haltung und Handeln im Alltag

Da in unseren Redaktionsköpfen eine Menge anarchistischer Gedanken herumschwirren, wollen wir uns auch regelmäßig mit theoretischen Überlegungen hierzu auseinandersetzen. Einen ersten Exkurs soll der folgende, kurze Aufsatz darstellen.

Das Jonglieren mit den Vorurteilen des anderen gehört zum Rüstzeug eines jeden ‚guten‘ Ideologen. Ob „Linker“, „AntiglobalisierInnen“, „Anarchos“ oder „Autonome“ – ob „Kapitalisten“, „Faschos“, „BürgerInnen“ oder „Bonze“, gut eingesetzt, läßt sich sogar der Satz sparen: Sie wissen schon, wer gemeint ist. Ich jedenfalls weiß oft nicht, wer da ‚an sich‘ gemeint ist, höchstens noch was.

Doch eine noch so feingesponnene Ideologie bleibt ohne Wirkung, fehlt ihr das sie bestätigende Vorurteil. Mit einem dieser Vorurteile soll deshalb aufgeräumt werden, es geht um die diffusen Zusammenhänge, die sich oft hinter der Bezeichnung „Anarchist/in“ verbergen.

Um also einer ideologischen Verbrämung vorzubeugen, lautet die Fragestellung nicht: Wer oder was ist ein Anarchist? Sondern vielmehr: Was tut ein Anarchist? Bzw.: Welches Handeln und welche Ideen lassen auf eine anarchistische Haltung schließen?

Anarchistische Ideen gewinnen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts theoretische Tragweite.

Als der Anarchismus als theoretische Denkfigur entsteht, ist er vor allen Dingen in zunehmender Konkurrenz zu sozialistischen, kommunistischen und liberalen Ideen zu verstehen. Waren anfangs noch kaum Unterschiede erkennbar, kristallisierten sich bald spezifisch anarchistische Positionen in vielen politischen Problemfeldern heraus. Fragen wie: Was ist der Mensch? Wie ist der moderne Staat zu verstehen? Oder: Welche politischen Lösungen gibt es für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit? fanden in anarchistischen Texten und Theorien ihren fruchtbaren Niederschlag. Von der politisch-praktischen wie auch theoretischen Dimension zeugen nicht nur die Debatten, die klassische Vertreter wie Bakunin, Kropotkin, Stirner oder Landauer innerhalb der sozialistischen oder kommunistischen Lager immer wieder anzettelten, die messerscharfe Kritik, mit der sie die liberale Theorie entlarvten, sondern auch ihre bewegten Lebensläufe selbst. Es wäre also falsch von einer anarchistischen Haltung als einer apolitischen oder gar antigesellschaftlichen zu sprechen. Die Kritik des Anarchismus wendet sich nicht gegen Gesellschaft ‚an sich‘, sondern in seinen besonderen theoretischen Ausprägungen gegen spezifische Formen der Vergesellschaftung. Wie im übrigen jede politische Theorie von Gewicht. Es ist hier nicht der Raum für eine gründlich dargestellte Analyse, aber ich denke, grob sagen zu können, daß der ‚Anarchismus‘ sich im wesentlichen gegen jedwede Art sozialer Ungerechtigkeit wendet, also gegen diejenigen Formen der Vergesellschaftung, die sich über ein asymmetrisches, heißt ungleiches, Machtverhältnis der einzelnen Individuen zueinander charakterisieren. Ein Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts genügt, um die Bedeutung einer solchen Sichtweise einzusehen.

In diesem Sinne ist eine anarchistische Haltung in jedem Falle eine politische.

Da wir uns auch heute gezwungener Maßen mit Gesellschaftsformen konfrontiert sehen, die, ähnlich denen des 19. Jahrhunderts, mit immer neuen Institutionalisierungswellen, die Macht und Herrschaft des Menschen über den Menschen manifestieren (der moderne Staatsapparat ist hier wesentlicher Motor), haben anarchistische Ideen auch heute noch ihren Reiz und ihre Bedeutung. Die Entfaltung des modernen Staates als eines komplexen Geflechts institutioneller Räume (1) hat nicht nur die ‚ursprüngliche‘ Gestalt der Produktionsformen überlagert, sondern vor allem die Sprach- und Lebensformen der gesellschaftlich verfassten Individuen in ungeahntem Ausmaß beeinflusst. Die einhergehende, expansive Verrechtlichung von gesellschaftlichen Räumen, in denen Menschen interagieren, ist aus anarchistischer Perspektive deshalb problematisch, weil hierbei die Handlungsautonomie einzelner systematisch untergraben wird. Herr seiner Sinne, seines Geists, doch nicht Herr seines Tuns. Die Problematik entspringt im Freiheitsgedanken und verschärft sich dadurch, daß durch die institutionelle Vermittlung von menschlichen Handlungen zu-, mit-, durch- und füreinander, den Einzelnen ihr spezifisches Verhältnis (mithin eben auch Machtverhältnis) als intransparentes, sprich undurchschaubares erscheint. Das allgemeine Ohnmachtsgefühl oder Individualisierungstheorien (2) mit ihrer These der sozialen Verarmung bei steigender institutioneller Verflechtung sind zwei aktuelle Beispiele, die dem Ausdruck verleihen. Gegenüber der konventionellen Theorie, die der Unfehlbarkeit gegebener Institutionen huldigt, der sozialistischen, die dem ewigen Wandel zum Besseren harrt und der kommunistischen, die die Selbstauflösung von Institutionen nach der „Vorgeschichte“ verspricht, drückt sich die anarchistische Haltung gerade in der Skepsis aus, ob nicht jedes intransparente Verhältnis von Menschen zueinander schon Herrschaftsformen (Macht) begründen könnte. Staatliche Institutionen, wie Bürgeramt, Verkehrsbetriebe oder Parlament sind nur klassische Beispiele solcher Institutionen, bei denen das Handeln von Mensch zu Mensch vielfach intransparent vermittelt ist.

Anarchistische Haltungen finden ihren Ausdruck in ethischem und politischem Handeln.

Vom Freiheitsgedanken und der Gleichheitsidee her strömt die ethische Kraft anarchistischer Haltungen, welche hinter den nach Interessen geschichteten „Sachzwängen“ das Wirken von Menschen erkennen. Insoweit finden sich anarchistische Haltungen auch in der sozialistischen oder kommunistischen wieder, was gar nicht bestritten werden soll. Doch ist das Primat der Handlungsautonomie des/der Einzelnen vor jeder gesellschaftlichen Institutionalisierung, ethisch nirgends so fruchtbar wie in den anarchistischen Ideen. Dem Schwächeren zur Seite zu stehen, die Toleranz des Anderen, Selbstverantwortlichkeit des eigenen Tuns, so könnte man unter anderem konkretes anarchistisches Handeln benennen.

Auf der Suche nach Selbstverwirklichung in Eigenverantwortlichkeit entdeckt solches Handeln die auferlegten, eigenen Grenzen auch als die anderer. Hieraus speist sich der genuin politische Charakter. Wie sich aus dem Gesagten andeutet, ist die anarchistische keine extrem individualistische Haltung, obwohl der/die Einzelne als einziges Handlungssubjekt verstanden wird. Dem Trugschluss, man käme auch alleine klar, kann nur der erliegen, der sich von Institutionen umschlossen sieht. Um mich selbst zu verwirklichen, benötige ich die Hand des anderen, genauso wie er meine, und bezeichnender Weise findet Selbstverwirklichung heute vorwiegend in der privaten Sphäre und nicht in der öffentlich-institutionalisierten statt. Aus der politischen, skeptischen Haltung gegenüber Institutionalisierungen und dem ethischen Impuls ergibt sich also die Praxis eines Handelns, die sich in jedem Moment des Alltages gegen dessen Institutionalisierung wehrt, gegenüber Machtverhältnissen im alltäglichen Miteinander aufbegehrt, und zum Anderen drängt, um ihm von mensch zu mensch ins Aug‘ zu sehn.

Der ewigen Macht des Seins widerstreitet stets die Kraft des Sollens.

Im Gegensatz zur ‚geronnenen‘ Hoffnung des Sozialismus oder Kommunismus, oder schlimmer zur ‚leeren‘ der konventionellen Theorie, die eben alle nicht ohne intransparente und damit für Herrschaft (Macht) anfällige Institutionalisierungen auskommen, hat den Anarchismus schon seit je her eine echte Utopie ausgezeichnet. Die Hoffnung nämlich, daß sich die Menschen in assoziativen Formen organisieren können, ohne daß jeder einzelne seinen Rechten und Pflichten durch institutionelle Vermittlung beraubt ist. Demzufolge ist von der Theorie des Anarchismus auch kein Konzept für eine neue „Makroordnung“ der Gesellschaft zu erwarten. Im Wettstreit der Ideen verhilft sie eher den konkreten Lebens- und Handlungsformen zum Ausdruck, als Menschenbildern und Handlungskonstruktionen nachzujagen.

Nieder mit den Mauern!

Anarchistisches Handeln und dazugehörige Haltung sind also keineswegs antipolitisch, gesellschaftsfern, gedankenverloren und vor allen Dingen nicht hoffnungslos. Ich plädiere dafür, daß Bild vom steineschmeißenden Einzelgänger, der gegen alles ist und nur Chaos will, endlich über Bord zu werfen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Stilisierung von Straßenkämpfen. Wir haben beides, Verzweiflung und Verantwortung. Ein klein wenig anarchistisch handelt ja fast jeder ab und an in seinem Alltag. Und in diesem Sinne bin ich von der leisen Hoffnung beseelt, daß sich anarchistische Haltungen in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer deutlicher durchsetzen, und damit der Anarchismus zu einer echten Option des Handelns in einer sich entgrenzenden Welt werden kann.

clov

(1) Der Institutionsbegriff ist hier und im Folgenden derart verstanden, daß Institutionalisierungen immer gesellschaftliche Räume dimensionieren, innerhalb derer die Handlungsautonomie einzelner ausgeschaltet bzw. eingeschränkt ist.
(2) Vgl. zum Beispiel Ulrich Beck, „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983.

Theorie & Praxis

Aus dem Leben eines ganz normalen „Helden“

Rückblick eines Helfers beim Hochwassereinsatz

Alles begann damit, daß Sven (Name geändert – ist der Redaktion bekannt), während große Teile Ostdeutschlands unter Wasser standen, nicht untätig zu Hause rumsitzen und zuschauen wollte.

Er schloß sich einem Freund, der schon länger in einer Hilfsorganisation aktiv ist, an, um selber mit anzupacken. So fuhren sie in einer kleinen Gruppe, die sich relativ spontan zusammengefunden hatte, ausgerüstet mit Spaten und Schubkarre, am 16. August 2002 nach Döbeln. Da das Technische Hilfswerk, welches dort im Einsatz war, für sie keine Aufgaben hatte, sprachen sie einfach Leute auf der Straße an und organisierten sich so ihren ersten Einsatz selbst. Die Menschen, deren Wohnung sie vom Schlamm befreiten, freuten sich grenzenlos. Der Schlamm ist eines der größten Probleme bei einer Flutkatastrophe, denn wenn er fest wird, ist er hart wie Beton.

Nach diesem Einsatz hatte Sven sozusagen "Blut geleckt" und wollte sich weiter an Hilfseinsätzen beteiligen. Deshalb schloß er sich für die nächsten zwei Wochen einer Hilfsorganisation an und stieg später ganz dort ein. Der nächste Einsatzort war Stendal, wo Sven, nun im Auftrag einer Hilfsorganisation unterwegs, mit einigen anderen Helfern von mittags bis in die Nacht hinein auf einen "Einsatzbefehl" warten musste. Denn nun war es, zumindest, was die Organisation der Hilfseinsätze betraf, vorbei mit den eigenmächtigen Entscheidungen. In Stendal stellten sie fest, daß dieses untätige Warten nicht nur sie betraf, sondern fast "Helferalltag" war: Einige andere saßen seit 36 Stunden "arbeitslos" herum. Sven und seine Gruppe beschwerten sich schließlich bei der zentralen "Einsatzstelle" über ihre erzwungene Untätigkeit, obwohl ihnen und gewiß auch der "Zentrale" bekannt war, daß es rund um Leipzig einiges zu tun gab. Die Zeit bis zur Nacht vertrieben sie damit, sich eine Wagenburg aus Einsatzfahrzeugen zu bauen, um wenigstens eine Übernachtungsmöglichkeit zu haben. Es gab zwar eine Halle, in der mensch, auf zu wenigen Liegen für alle, hätte schlafen können, allerdings wäre dort kein Funkempfang möglich gewesen, der für die Helfer, die ja dort waren, um zu "Einsatzorten" gerufen zu werden, wichtig war. Es ging auch das Gerücht um, daß von den Hilfsorganisationen teilweise Helfer an Sammelstellen gesammelt wurden, diese aber vor Ort nicht gebraucht wurden. Und dem Wahlkampf hat es schließlich nicht geschadet, daß die Helfer untätig in den "Bereitstellungsräumen" saßen – immerhin waren sie im Einsatz, und Presse und Öffentlichkeit erfuhren nur dieses und konnten also stolz sein auf die Tausenden, die ihre Regierung für sie mobilisiert hatte.

Da sie sich nun tagsüber über mangelnde Arbeit beklagt hatten, bekamen sie dann doch ohne jede Vorwarnung, gegen halb zwei in der Nacht, einen Einsatzbefehl. Dieser war jedoch eine planmäßige Ablösung beim Deichverstärken und kein Notfall. Die anderen Gruppen, die zu den Deichen an die Mulde gerufen wurden, wußten davon schon etliche Stunden im Vorhinein. In der folgenden Nacht, die sie wieder in Stendal verbrachten, schliefen etliche unter ihren Autos, und die Gruppe um Sven campierte unter einer Zeltplane. Ein eigenmächtiges "Abrücken" der Gruppe war von oberster Stelle untersagt. So begannen sie, sich zur Abkühlung einen Swimmingpool aus Gerätschaften zu konstruieren. Insgesamt hielt sich die Gruppe drei bis vier Tage in diesem Ort auf, um ein einziges Mal für wenige Stunden auszurücken.

Es kursierte das Gerücht, daß ein Helferverband eigenmächtig beschlossen hatte, Stendal zu verlassen. Diese Menschen wurden angeblich auf der Autobahn angehalten und das Einsatzfahrzeug sei konfisziert worden, da es Eigentum des Bundes ist und nur auf Befehl "von oben" genutzt werden darf.

Als Tage später die Erlaubnis zum "Abrücken" kam, fuhren sie in ein anderes Dorf an der Mulde und reinigten dort Bachbetten. Anschließend ging es nach Dippoldiswalde, jedoch aufgrund eines recht lückenhaften "Einsatzbefehls". Die Helfer hatten keine Informationen, was wie lange dort getan werden sollte und wo der Ort eigentlich genau liegt. In dem Dorf blieben sie dann eine ganze Woche und hatten erneut vor allem mit Schlamm zu kämpfen, da ein erneutes Unwetter dafür sorgte, daß ein sonst friedliches Bächlein auf acht Meter anschwoll. Außerdem inspizierten sie Brücken auf ihre Widerstandskraft und stützten diese gegebenenfalls ab.

Während der drei Wochen, die er mit den anderen Helfern im Einsatz verbrachte, war die Stimmung innerhalb der Gruppe kollegial, darüber hinaus sind Katastrophenschutz-Einsätze nicht nur dann nötig, wenn die gesamte Presse und Politik sich damit beschäftigen. Deshalb beschloß Sven trotz der Widrigkeiten, die ihm während der Hochwassereinsätze begegnet waren, sich der Organisation auf Dauer anzuschließen.

lotte B.

Lokales

sy.bi.le im Interview

Wir sprachen mit AktivistInnen des syndikats bildung leipzig an der Uni Leipzig

Feierabend!: Was, bitte, ist denn ein Bildungssyndikat?

sy.bi.le: Ein bisschen mehr als ’ne Gewerkschaft, aber nie mehr als die Mitglieder draus machen. Unsere Organisierung fühlt sich der anarcho-syndikalistischen Bewegung verbunden, die schon immer ein sehr umfassendes Verständnis von Gewerkschaft hatte und noch hat. Da beschränkt sich das Engagement nicht auf den Arbeitsplatz, sondern erstreckt sich auch auf die Selbstorganisation gesellschaftlichen Lebens und zielt letzten Endes auch auf die Abschaffung des Lohnsystems. Wir haben uns der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), einem bundesweiten Gewerkschaftsverband, angeschlossen und bilden mit anderen Bildungssyndikaten eine Branchenvereinigung, in etwa wie die GEW im DBG. Von diesen großen Verbänden unterscheidet uns aber, dass wir Hierarchien vermeiden wollen und daher auch keine bezahlten FunktionärInnen haben, dafür jedoch lokale Autonomie, z.B. was Schwerpunktsetzung, Aktionen und Finanzen anbelangt. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir nichts von sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen und dergleichen halten, sondern unsere Interessen durch direkte Aktionen durchsetzen wollen. Schließlich noch, dass wir die herrschaftliche Spaltung in Lehrende und Lernende nicht anerkennen. Dies ist ein Eckpfeiler unserer Utopie freier Bildung, weshalb wir also LehrerInnen, DozentInnen, SchülerInnen, StudentInnen, MitarbeiterInnen, Büroangestellte etc. organisieren wollen.

Wann habt ihr euch zusammengefunden, und warum? Was wollt ihr machen?

Tja, bisher sind wir eine rein studentische Initiative, die seit Frühling dieses Jahres besteht. Zuvor engagierten sich die meisten von uns in einer lokalen Studierendengruppe … gelangten aber zu der Ansicht, dass eine bundesweite Vernetzung – auch über das studentische Spektrum hinaus – und eine kontinuierlichere Organisierung unabdingbar sind, um genügend Nachdruck zu entfalten. Zugeständnisse seitens einer Regierung können nur erzwungen werden, und das macht mensch am besten mit wirtschaftlichem Druck (Streik). Außerdem fanden wir viele Proteste der vergangenen Semester zu "diplomatisch" und inhaltlich kritikwürdig. Im sy.bi.le wollen wir Farbe bekennen für eine selbstbestimmte und freie Bildung ohne Selektion, Hierarchien und Leistungsdruck, und ganz entschieden jeglichem "Standort"-Palaver, jeder Elitebildung usw. entgegen treten. Aber wir wollen nicht nur schlaue Papiere verfassen sondern auch unsere Ideen in die Praxis umsetzen. So beteiligen wir uns an dem Projekt der selbstorganisierten Seminare und erstreben noch in diesem Semester ein eigenes Lokal mit anarchistischer Bibliothek. Bei all dem vergessen wir nicht, dass wir einer Gewerkschaftsbewegung angehören. Durch direkte, unmittelbare Aktionen möchten wir nicht nur Verschlechterungen der Studien-, Arbeits- und Lebensbedingungen abwehren, sondern auch Verbesserungen erstreiten. Dabei ist uns der Gedanke der Solidarität wichtig.

Was kritisiert ihr am jetzigen Bildungssystem? Was setzt ihr dem entgegen?

Gut, die prinzipiellen Kritikpunkte sind schon angeklungen: Selektion, Hierarchien und Elitebildung, Fremdbestimmung und Bürokratisierung, Leistungsdruck und Überwachung. Das alles sind mehr oder weniger notwendige Bestandteile eines kapitalistischen Bildungssystems, dessen Hauptzwecke eben in einer scheinbar objektiven Selektion, der Ausbildung von brauchbaren Humankapital für den Standort sowie der Erziehung zu guten StaatsbürgerInnen liegen. Wir setzen dem eine Utopie entgegen, in der sich alle nach eigenen Interessen – unabhängig von sozialen Status, Alter, Geschlecht und sonstigen Zuschreibungen – bilden können. Dabei wird der solidarische Austausch sicher eine gewichtige Rolle spielen. Wir alle können viel voneinander lernen – ganz ohne die formale Aufspaltung in „Lehrende“ und „Lernende“. Dabei ist uns klar, dass sich dies letztendlich nur durch die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse sowie des permanenten Versuch des Abbaus aller Herrschaftsformen verwirklichen lässt.

Wie schätzt ihr die aktuellen Bildungspolitik ein und: was ändert sich durch die derzeit geplanten und durchgeführten Maßnahmen?

In Sachsen – aber auch anderswo – werden momentan recht drastische Haushaltskürzungen vor allem im Bildungsbereich realisiert. Damit einher gehen natürlich auch Kündigungen und die Umstellung auf Teilzeit; dies verschlechtert die Arbeitsbedingungen sowohl der Beschäftigten als auch der Studierenden. Und: Viele elementare Veröffentlichungen sind in der Uni-Bibliothek nicht zu finden. Mindestens ebenso bedeutend aber sind die Vorschläge der SHEK (Sächsische Hochschulentwicklungskommission), die auf eine Straffung der Hierarchie, der Ungleichheit innerhalb der Uni zielen, um die Kommerzialisierung der Hochschule zu forcieren – Bildung wird so bis auf’s letzte zu Ware. Laut Unesco wird der weltweite Bildungsmarkt auf zwei Billionen (2.000.000.000.000) US-Dollar geschätzt, und irgendwo muss das Geld ja herkommen. Ein Dauerbrenner sind, klar, auch Studiengebühren – selbst wenn Rot/Grün sie uns als "Bildungsgutscheine" verkaufen will. Statt aber einfach nur den status quo zu verteidigen, wollen wir uns lieber der realen Umsetzung unserer Utopie widmen.

Kann mensch dagegen nichts unternehmen, demonstrieren scheint ja kaum zu helfen?

Dagegen kann mensch sehr wohl ‚was unternehmen! Auch Demos sind nicht gänzlich wirkungslos. Worauf es ankommt, meinen wir, ist der Rückhalt solcher Initiativen unter den Betroffen und deren Entschlossenheit. Wenn die meisten unserer KommilitonInnen höchstens einmal im Semester an einer Latschdemo teilnehmen und ansonsten auf die studentische Stellvertretung in den Gremien hoffen, sieht es natürlich eher trübe aus. Aber so sehen das zum einen nicht alle Studis, und zum zweiten gibt’s ja auch noch die Beschäftigen: im Institut, in der Mensa, in der Bibliothek, im Rechenzentrum sowie beim Putzen und Reparieren. Sie sind zwar von der Zahl her ungleich weniger, aber ohne sie läuft nichts; darin liegt ihre Macht. Bei alldem sollte natürlich nicht ausgeschlossen sein, die Auseinandersetzungen auch auf andere Branchen und Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu übertragen. Vor allem aber muss mensch in Bewegung bleiben, nicht resignieren und verzweifeln. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, that’s the only way out.

Danke für das Interview.

Bildung