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Am 8. März erinnert man(n) sich wieder der zweiten Hälfte der Gesellschaft, um sie zu ehren. Es ist Frauentag. Und Frau darf stolz sein, wenn sie als kleine Anerkennung für ihre Arbeit in Firma, Geschäft oder Haushalt einen Blumenstrauß überreicht bekommt. Vor einigen Jahren verteilte ein Parteistand gar Mini-Kakteen an die Frauen mit dem Spruch: „Immer schön stachelig bleiben.“ Was heute zu einer seichten Zelebrierung scheinbarer Gleichberechtigung und gegenseitigem auf die Schulter klopfen für die Fortschritte im Namen der Frauenemanzipation verkommen ist, begann einst im politischen und sozialen Kampf.

Bereits im 19. Jahrhundert formierten sich im Zuge der Arbeiterbewegung Sozialistinnen zu einer Frauenbewegung. Ihr erstes Anliegen war die Beteiligung am politischen Geschehen per Wahlrecht und die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen. Zunächst fanden in einzelnen Ländern nationale Frauentage statt, wie z.B. 1892 in Österreich. In den USA riefen seit 1909 Sozialistinnen zu einem „National Woman´s Day“ auf, um das Frauenwahlrecht zu propagieren.

Der Internationale Frauentag wurde bereits ein Jahr später auf der „2. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz“ in Kopenhagen auf Initiative von Clara Zetkin beschlossen. Die Wahl des Datums fiel auf den 19. März 1911, um den Märzgefallenen der bürgerlichen Revolution von 1848 zu gedenken. Im Zentrum der großangelegten Demonstrationen in Dänemark, Deutschland, der Schweiz und Österreich stand die Forderung nach voller politischer Mündigkeit für Frauen, aber auch nach Arbeitsschutzgesetzen, dem Achtstundentag, Mutterschutz, der Festsetzung von Mindestlöhnen und dem Ende des imperialistischen Krieges. Gleichzeitig war dieser Tag ein Bekenntnis zum Sozialismus. Sein Ziel, nach Clara Zetkin, ist die Verwirklichung von „Frauenrecht als Menschenrecht“, als Recht der Persönlichkeit, losgelöst von jedem sozialen Besitztitel. Sie fordert: „Wir müssen Sorge tragen, dass der Frauentag nicht nur eine glänzende Demonstration für die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, sondern darüber hinaus der Ausdruck einer Rebellion gegen den Kapitalismus, eine leidenschaftliche Kampfansage all den reaktionären Maßnahmen der Besitzenden und ihrer willfährigen Dienerschaft, der Regierung, ist.“

In den folgenden Jahren wurde auch in anderen Ländern der Welt, wie z.B. Russland, China, Japan oder Rumänien, Türkei und Iran der Frauentag organisiert.

Das Elend des 1. Weltkrieges und die wirtschaftliche Depression verschlechterten die Lebensbedingungen der Menschen enorm. Die politischen Forderungen der Frauenbewegung nach Wahlrecht (1) wichen daher zunächst dem existentielleren Verlangen nach „Brot und Frieden“. In St. Petersburg demonstrierten Frauen am 23. Februar (nach altem russischem Kalender), am 3. März (nach neuer gregorianischer Zeitrechnung) 1917 gegen den Krieg. Diese Aktion verbreiterte sich zu ArbeiterInnenkämpfen und löste die Februar-/Märzrevolution aus. Als Erinnerung an dieses Ereignis wurde 1921 auf der „2. Internationalen Konferenz der Kommunistinnen“ wieder auf Initiative Clara Zetkins beschlossen, den Internationalen Frauentag in Zukunft am 8. März abzuhalten.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde der Frauentag verboten und durch den Muttertag ersetzt. Die Frauenbewegung sah ihre Anhänger in ein Rollenbild gedrängt, welches Selbstverwirklichung nur noch als Reproduktionsmaschine zuließ. Die „Emanzipation von der Emanzipation“, Schlagwort der Diskriminierer, beeinflusste das Frauen- und Familienbild bis in die 50er und 60er Jahre. Die Kleinfamilie als kleinste Einheit der Gesellschaft mit der Mutter am Herd und dem Vater am Malochen, entsprach dem propagierten Ideal öffentlicher Meinungsmache.

In der Nachkriegszeit wurde der Frauentag von den sozialistischen Staaten vor allem als Tag der Befreiung der Frau gefeiert. In den kapitalistischen Staaten erhielt er durch die neue Frauenbewegung der späten 60er Jahre wieder einen politischen Hintergrund mit alten und neuen Themen, wie der Kritik an geschlechtlicher Arbeitsteilung, dem Recht auf Abtreibung und der effektiven Kriminalisierung von Gewalt gegen Frauen, der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und gleichen Bildungschancen.

Frau sollte meinen, dass ein über 100jähriges Ringen diese Ziele durchsetzen kann. Aber die Realität sieht anders aus. Nach wie vor zählen Frauen im leistungsgesteuerten Berufsalltag meist zu einer niedrigeren Lohnklasse als ihre männlichen Kollegen (2). Der Abtreibungsparagraph 218 StGB kriminalisiert noch immer Frauen, die sich gegen eine Schwangerschaft entscheiden. Sie werden gezwungen einen erniedrigenden Hürdenlauf von Beratungsstellen zu Ärzten zu unternehmen, um über Körper und Leben auch vor dem Gesetz straffrei entscheiden zu dürfen. Auch ist es für gewöhnlich Frau, die sich entscheiden muss zwischen Kind und Beruf Gleichermaßen werden aber auch Männer benachteiligt, die typische, Frauentätigkeiten ausüben. So finden sich z.B. Babywickelräume vornehmlich in den Damenklos. Kondomautomaten aber bei den Herren. Eine der am tiefsten in der Gesellschaft verwurzelten Ebenen auf der geschlechtliche Diskriminierung existiert, ist die Sprache. Männlich ist hier v.a. stark und klug, weiblich hingegen schwach und untergeordnet. Die meisten Menschen gehen heute noch zu einem Arzt, auch wenn „er“ Heike oder Petra heißt. Bis zur Einführung des neutralen Begriffes „Reinigungskraft“ war es eine Putzfrau, die den Besen schwang, auch wenn „sie“ Vater von drei Kindern war. Gegen diese Rollenmuster, in die jeder Mensch per Geschlecht, Bildungsgrad oder Herkunft gedrängt wird und die daraus folgende Ungerechtigkeit, begehrte die damalige und heutige Frauenbewegung auf. Obwohl auf der Oberfläche der heutigen Zeit Gleichberechtigung zu herrschen scheint, hat sich doch an der grundsätzlichen Mann-isst/Frau-kocht-Denkweise nur in wenigen Gesellschaftsspektren etwas geändert. Die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich existierende Diskriminierung, die durch patriarchalische Wertmaßstäbe produziert wird, gilt es zu durchbrechen. Der Frauentag sollte daher nicht länger als Selbstbeweihräucherung verstanden werden, sondern als Kampftag aller Frauen für ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Schluss mit den Blumensträußen, hoch die Faust.

wanst

(1) Frauenwahlrecht:
1918 Deutschland, Großbritannien
1919 USA
1944 Frankreich
1971 Schweiz (1990 Halbkanton Appenzell-Innenhoden)
(2) dazu: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

Wirtschaftstheologie

Vor dem 11. September 2001 war es das gesellschaftliche Thema schlechthin: Neoliberalismus. Die Oppositionsbewegung bewies in Prag, Nizza, Zürich, Rom, Göteborg und Genua erstaunliche Mobilisierungskraft – es demonstrierten jeweils mehrere tausend Menschen – und sie besteht, unabhängig vom medialen Schweigen zu dieser Sache weiter. Im folgenden einige kurze Ausführungen zum Streitobjekt.

 

Entgegen den vor allem von der europäischen Sozialdemokratie verbreiteten Meldungen, das Zeitalter des Neoliberalismus, die bleierne Zeit konservativer Regentschaft sei vorüber, wirkt die Ideologie – verstanden als Weltanschauung – des Neoliberalismus weiter. Das sogenannte „Schröder-Blair-Papier“ (1999) oder das „Kanzleramtspapier“ (2003) sind beredte Zeugen dafür, nur heißt es nicht wie ehedem bei Thatcher und Kohl das „freie Spiel der Wirtschaft“, sondern wird uns als »Modernisierung“ verkauft. Wer nicht zuhören mag, kann das bald sehen, nämlich an den Verfahrensweisen und Auswirkungen des Hartz-Papiers. Nur dass niemand verwundert sei, soll hier kurz das Verhältnis von „freier Wirtschaft“ und Staat beleuchtet werden. Etwas verwirrend ist`s nämlich, wenn ranghohe (im Arbeitgeberverband) Unternehmer immer wieder einen Rückzug des Staates fordern… sind das denn Anarchisten?!

Ein Blick in die Geschichte soll uns ein bisschen Aufklärung geben. Der Ausgangspunkt der neoliberalen (in Anlehnung an den Liberalismus des 19. Jahrhunderts) Ideologie war die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er, für die die „kommunistischen und sozialdemokratischen“ Strömungen verantwortlich gemacht wurden, da sie mit ihrem Staatsinterventionismus das freie Spiel der Märkte aus der Balance gebracht hätten. Das geistige Fundament des Neoliberalismus bilden Sozialdarwinismus und Konkurrenz. Gesellschaftliche Entwicklungen seien Ergebnis einer Auslese, wobei nur der/die/das Stärkste und Beste überlebe und Wirkung entfalte. Materielles wie philosophisches Zentrum des neoliberalen Universums bilden Privateigentum und marktwirtschaftlicher Wettbewerb – in diese Sphäre soll der Staat nicht eingreifen. Dennoch ist der starke Staat, vor allem mit den Politikfeldern innere und äußere Sicherheit sowie Standortpolitik, fester Bestandteil der Konzeption. Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit könnte größer nicht sein. Es heißt zwar, der Markt regele alles. De facto aber ist immer wieder staatliches Eingreifen notwendig, um die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten und Pfründe zu sichern. So ist denn „Standortpolitik“ oder auch die „Reform des Arbeitsmarktes“ nichts weiter als das: die konkurrierenden Standorte überbieten sich gegenseitig in der Garantie von Vorteilen (Infrastruktur, Subventionen, Steuerfreiheit, arbeitsrechtliche Sonderregelungen …), was jüngst auch im Bewerben Leipzigs um die neue BMW-Fertigungsanlage zu beobachten war. Mit der Umsetzung des Hartz-Papiers wird liberale Wirtschaftspolitik nun auch auf das Arbeitsrecht übertragen – damit, im Sinne eines wirtschaftlichen Aufschwungs, wieder klar ist, wer der Herr im Hause ist. Soziale Errungenschaften werden zugunsten der Kapitalseite revidiert. Aber auch der Politikstil Schröders ist Ausdruck neoliberalen Gedankenguts. Mit den zahlreichen Kommissionen („Nationaler Ethikrat“, Hartz, Rürupp…) wird der Wettbewerbskorporatismus in großem Stil gepflegt, dort sitzen nämlich in überwiegender Mehrheit UnternehmerInnen und Mitglieder der politischen, wissenschaftlichen und bürokratischen Elite – eine Auszeichnung auch für Herrn Tiefensee. So sind heute schon bedeutende Ansätze der „idealen Verfassung“ verwirklicht, die Hayek (einer der Gründerväter des Neoliberalismus) einst für Margaret Thatcher entworfen hatte. In diesem Demokratie-Konzept wird die dumme Masse Mensch durch eine Elite, den „Rat der Weisen“ gelenkt ganz die Berliner Republik! Demokratie wird verstanden zwar als Legitimation, doch das ist nur die Strategie für „sichere“ Zeiten. Die Möglichkeit der unmittelbaren Gewalt, einer Diktatur, bleibt immer offen.

Aber heute, da der Neoliberalismus in einer entpolitisierten Marktgesellschaft festen Fuß gefasst hat, steht dem Feigenblatt der Demokratie nichts entgegen – selbst theoretisch ist eine Umwälzung der bestehenden Ordnung per Stimmzettel derzeit (1) nicht zu befürchten.

Und auch von attac, worauf die „Anti“globalisierungs-Bewegung medial ja reduziert wird, ist nichts zu befürchten. Fordert diese Vereinigung doch, und mit ihr zahlreiche andere, zwar einige Eindämmungen und Regulierungen, sie steht jedoch nicht für eine Änderung der Grundrichtung ein. Zwischen dem „angloamerikanischen Neoliberalismus“ und der „rheinischen sozialen Marktwirtschaft“ besteht keine Opposition. Letztere nämlich, die von Gewerkschaften und attac verteidigt wird, ist ebenso wie ersterer auf die Macht eines starken Staates angewiesen – wer sonst wollte ein „Bündnis für Arbeit“ zustande bringen?

Glücklicherweise jedoch leben wir noch nicht in einer total formierten Gesellschaft, hier und da noch Ketzer und Ketzerinnen wider die Wirtschaftstheologie der Herren und Damen, der Bürgerinnen und Bürger. Zugegebenermaßen ist das ein recht kleiner Haufen, darunter sich auch die Anarchistlnnen befinden. Dieser Haufen ist jedoch recht rührig, wie auch am Feierabend! zu ersehen, und es ist nie aller Tage Abend!

A.E.

(1) Johannes Agnoli führte in seinem 1968 erschienenen Buch „Die Transformation der Demokratie“ aus, warum eine solche Umwälzung mit dem Stimmzettel überhaupt nie zustande kommen kann.
Literatur: Ptak, Ralf: „Chefsache. Basta! Der Neoliberalismus als antiegalitäre, antidemokratische Leitideologie“, www.buena-vista-neoliberal.de (Stichpunkt „Ressource“)

Hartz-Gesetze

Interhierarchische Kommunikationsprobleme

„Entwicklungshilfe“ in Deutschland

Es gehört ja wohl zu den Paradoxen der real existierenden Demokratie, dass die Verständigung zwischen unseren Hierarchien nicht so recht klappt möchte. Im Zusammenhang mit der Nachbereitung der ostdeutschen Flutkatastrophe im Sommer letzten Jahres zeigte sich, dass unser demokratisches System sogar an den ideell wichtigen Punkten wackelt.

Eine erste Bilanz der Flut ergab einen Kostenvoranschlag von 9,2 Milliarden Euro, davon entfielen allein zwei Drittel auf Sachsen. Dass die Flut eine gewisse Rücksicht auf die Finanzlage Deutschlands nahm, zeigt sich darin, dass die Schäden nur halb so groß waren wie ursprünglich erwartet. 7,1 Milliarden Euro gibt es aus dem Fonds Aufbauhilfe und – ganz klar – auch die EU darf mit 444 Euro aus dem EU-Solidaritätsfonds nicht fehlen.

Wie allseits bekannt, gab es viel spontane Solidarität und noch viel mehr tatkräftige und. finanzielle Hilfe. (Feierabend! berichtete) Was uns dann aber im Gegenzug wirklich erstaunte, waren die etlichen Menschen, die teils hunderte von Kilometern fuhren, nur um sich dann ganz ohne finanziellen Anreiz beim Sandsackstapeln und Putzen abzurackern. Und als dann auch noch in Deutschland das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl auch von unseren Regierungsbürokraten wieder entdeckt wurde, nicht zuletzt zu Wahlpropagandazwecken, gab es von oben den – durch den Aufschub der Steuerreform finanzierten – Geldsegen. Auch wenn dieser natürlich genau genommen von unten, also von den SteuerzahlerInnen herrührt. Wie dem auch sei, unsere Regierung hat sich entschlossen die ihr zur Verfügung stehenden Spendengelder und Mittel aus dem Bundeshaushalt an die Geschädigten zu verteilen. Sehr schön. Das Problem ist nun aber, dass Geld und Empfänger sich anscheinend einfach nicht finden können. Die Anspruchsberechtigten empören sich, die Flutgelder flössen nicht, während sich gleichzeitig die Verwaltung beschwert, man säße auf den Geldern, und tue tagein, tagaus nichts anderes als händeringend auf AntragstellerInnen zu warten. Diese wiederum scheinen teilweise Anträge und Amtsstuben mehr zu fürchten als Wasser und Schlamm. Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass vor allem die ältere Generation der Verteilungsgerechtigkeit dieses Staates mittlerweile nicht mehr so recht vertrauen mag und aus diesem Grund die Gelder zögerlich beantragt. Laut Manfred Stolpe gibt es 10000 Schadenfälle an Wohnhäusern, dahingegen seien aber erst 2000 Anträge eingegangen.

Doch zurück zum Ausgangspunkt: Um nicht schon wieder eine „Spendenaffäre“ in Deutschland zu riskieren, scheut das Land Sachsen-Anhalt weder Kosten noch Mühen, die bestehenden Mittel unter die Menschen zu bringen. So ziehen nun dieser Tage staatliche Angestellte von Ort zu Ort, Haus zu Haus, um die Anwohner zu überreden, doch bitte die mitgebrachten Antragsformulare auszufüllen. Wie schwierig sich so ein Vorhaben gestalten kann, soll folgender Dialog verdeutlichen, der sinngemäß einen Auszug aus einer Fernsehreportage zum Thema wiedergibt:

A: Schönen Guten Tag!

B: Ja, was gibt´s?

A: Haben Sie schon Fluthilfegelder beantragt?

B: Nein, wieso, gibt´s denn so etwas?

A: Ja!

B: Aber da kommt bestimmt nicht jeder, der betroffen ist, was, oder?

A: Doch, Sie sind doch auch geschädigt worden?

B: Ja, schon.

A: Na, schön, dann beantragen sie doch Unterstützung.

B: Ja, wie geht denn das? Das ist doch sehr aufwendig.

A: Ach, nein, schauen Sie, ich habe die Anträge gleich mitgebracht.

B: Ach, die sind immer so kompliziert und umständlich.

A: Nein, haben Sie einen Moment Zeit, ich helfe Ihnen.

B: Mmmmh, na wenn das so ist.

hannah i.

Rundumschlag: Graffiti

„Keine Macht dem Amtsblatt!“

Nachdem das Leipziger Amtsblatt ja bereits Mitte des letztens Jahres durch einen offenen Aufruf zur Denunziation negativ aufgefallen war (siehe FA! #1), fordert es in der Ausgabe vom 4. 2. 2003 „Keine Macht den Sprayern!“ und liefert uns eine Zwischenbilanz des städtischen Anti-Graffiti-Programms. So brüsten sie sich damit, dass 49 % aller Leipziger Schulen inzwischen keimfrei seien, das Brücken „gereinigt“ wurden und die „Blau-Gelben-Engel“ des Ordnungsamtes rund 280 m2 Bilder und Schriftzüge und 1272 Plakate entfernt haben. Auch die Propagandakampagnen in Schulen sollen inzwischen gestartet sein.

Soviel Aufwand um nichts kostet natürlich Geld: „Allein können wir angesichts der angespannten Haushaltslage das ehrgeizige Programm nicht schultern“, meint Bürgermeister Holger Tschense. Wenigstens ein positiver Aspekt der Finanzschwäche der Kommunen. „Trotzdem ist es eine unserer Schwerpunktaufgaben im nächsten Jahr, für die wir 70000 Euro einstellen wollen.“ Das Geld könnte mensch doch sicher sinnvoller einsetzen, zum Beispiel für Olympia, den City-Tunnel, mehr Marketing-Gags und vielleicht mal was ganz anderes, auch wenn es irgendwie surreal klingen mag: für soziale und kulturelle Projekte. Na, Tschense, wir können Sie sicherlich beraten!

Erste Opfer des Anti-Graffiti-Programms

Auch Andere brauchen Beratung, wenn auch die eines Rechtsanwalts: fünf Menschen wurden bereits Opfer des Anti-Graffiti-Wahns und müssen jetzt mindestens Bußgeld blechen, wenn sie nicht gar wegen Sachbeschädigung verurteilt werden.

Zur Erinnerung (siehe auch FA! #2 und #3): im September wurde eine Ergänzung der Polizeiverordnung beschlossen, nach der das „unerlaubte Beschriften, Bemalen, Besprühen und Plakatieren“ als Ordnungswidrigkeit eingestuft und mit einer Geldbuße bis zu 1000 Euro bestraft werden kann. Und damit das auch möglichst oft passiert, gibt es für Blockwarte, Obrigkeitshörige, frustrierte Kleinbürger und ex-Stasi-Mitarbeiter als Extra-Schmankerl ein Ordnungstelefon, wo nach Lust und Laune gepetzt werden kann. Drei der fünf Stadtverschönerer wurden auch schon Opfer solcher DenunziantInnen.

In den Weihnachtstagen wurden drei jugendliche „Hausbeschmierer“ mitgenommen. Zwei Männer wurden durch einen Wachmann beim Bemalen von Wänden und Schaufenstern mit schwarzen Stiften in der Innenstadt erwischt. Ein 17jähriger wurde von einer Anwohnerin beobachtet, wie er eine Hauswand in der Wiederitzscher Ecke „bekrakelte“. Nach LVZ-Angaben müssen sich alle drei wegen Sachbeschädigung verantworten, wobei das aber zweifelhaft ist, da Filzstiftspuren wohl ohne Beschädigung des Untergrunds entfernt werden können. (Quelle: LVZ vom 28./ 29. 12. 2003)

Am frühen Morgen des 12. Januar wurden zwei jugendliche Sprayer vorläufig festgenommen, vernommen und an ihre Eltern übergeben. Nach Polizeiangaben sollen sie eine Hauswand an der Naumburger Straße besprüht haben. Eine Anwohnerin zeigte Zivilcourage und rief sofort ihre Freunde und Helfer. „Kurz danach klickten in Tatortnähe die Handschellen.“ (Quelle: LVZ vom 14. 1. 2003) Über die Inhalte der Graffiti wurde nichts berichtet.

Niederlage für Graffitijäger

Gleichzeitig mussten die Graffittijäger einen herben Rückschlag einstecken. Philip W, der als „SNOW“ wegen einem Eisenbahn-Graffiti vor Gericht stand, wurde freigesprochen, weil an dem Reisewagen der Deutschen Bahn kein „erheblicher Substanzverlust" festgestellt werden konnte.

Da nicht sein kann, was nicht sein darf; ging die Staatsanwaltschaft in Berufung und die Stadtoberen signalisierten ihre Enttäuschung darüber, dass an dem Bahnwagen keine Schäden entstanden sind und drohen: „Die Sprayer sollten dieses Urteil nicht als Ermutigung für ihr ungesetzliches Tun sehen!“ (Tschense)

Auch in der LVZ kam der Bürgersinn für Ordnung und Sauberkeit zu seinem Recht. Manche Leser wurden „bei solchen Urteilen wahnsinnig", andere wähnten sich „im Land Absurdistan“, hofften „dass man selbst nicht mit solchen Juristen zu tun bekommt“, verloren das Vertrauen in den Rechtsstaat, beklagten den schwachen Staat, der sich „von Sprayern so auf der Nase herumtrampeln lässt", befürchteten dass Graffitti Olympia gefährdet, oder fühlten sich demotiviert, „illegale Sprayer bei ihren Untaten zu stören“.

Da hatten die Richter wohl die falsche Objektivität im Schädel. Aber das kriegen wir schon wieder hin: Denn, jeder kann ja mal einen Fehler machen. Und wenn es beim zweiten Mal nicht klappt, werden halt die Richter entlassen, wenn sie das falsche Urteil fällen, oder es werden einfach die Gesetze verschärft…

Anti-Graffiti national

OBM Tiefensee schrieb einen Brief an „Justizministerin Brigitte Zypries [um] seine Unterstützung für eine Gesetzesinitiative des Bundesrates [zu] signalisieren, wonach die Anbringung illegaler Graffiti – unabhängig davon, ob sie eine Substanzverletzung der beschmierten Sache bewirken oder nicht – ein Vergehen der Sachbeschädigung darstellt.“ (Amtsblatt 4. 2. 03) Diese Bundesratsinitiative ging von Baden-Würtemberg aus (siehe Kasten unten) und wurde am 20. Dezember an die Bundesregierung weitergeleitet.

Fazit

Mir fällt negativ auf, dass sich in Leipzig kaum Widerstand gegen diese Hetzkampagne und systematische Verfolgung einer bestimmten Personengruppe, einer suburbanen Kultur und einer eigenen Form von Kunst regt. Hauptsache das eigene Häuschen wird nicht beschmutzt, der Rest scheint den meisten Menschen in Leipzig egal: Graffiti wird als entartete Kunst denunziert und der Standortideologie und einem halluziniertem „allgemeinem Wertesystem“ geopfert. Ziel ist die Verbesserung der Verwertungsbedingungen für Investoren in Leipzig und die Befriedigung des deutschen Sauberkeits- und Ordnungsfetisch.

Wir leben in Zeiten von weitreichenden Flexibilisierungen (siehe auch Hartz/Leiharbeit), der Ausweitung von Marktprinzipien auf viele Bereiche des menschlichen Lebens und der Renaissance des starken Staates. Eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden sollte.

francis & kater murr

Mit dem Gesetzentwurf will der Bundesrat den Tatbestand der (gemeinschädlichen) Sachbeschädigung um die insbesondere durch Graffiti verursachten Verunstaltungen ergänzen. Das äußere Erscheinungsbild einer Sache gehöre zu den inneren Werten des Eigentums selbst und müsse dem Schutz des Gesetzes unterworfen werden. Der Entwurf schlägt deshalb vor, die Defizite des geltenden Rechts dadurch zu beheben, dass künftig alternativ zur Zerstörung oder Beschädigung einer Sache die nicht nur unerhebliche Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten für die Erfüllung des Tatbestandes genügt.“

(aus der Pressemitteilung: „Bundesrat bringt Graffiti-Bekämpfungsgesetz beim Bundestag ein“)

Lokales

Sag mir wo Du stehst

Zum Wieso – Weshalb – Warum einer Wandgestaltung

 

Mitten im Zentrum von Leipzig stolpert so mancher seit zwei Jahren geistig über diesen „extremistischen Farbtupfer“. So jedenfalls wurde das Wandbild Ross Sinclairs, eines schottischen Künstlers, von mehreren Passanten bezeichnet. Auch wenn den meisten auf den ersten Blick nicht klar sein dürfte, was das Bild an dieser Stelle soll, scheint es zu polarisieren

„Mich mit meinem Publikum zu unterhalten, ist mein Ziel […] Und nicht auf eine […] vorübergehende Art, sondern….“

Sehr trist sähe die graue Wand gleich gegenüber dem Nikolaikirchhof aus, wenn nicht dieses comicartige Wandbild in grel­len Farben dort prangte. Große schwarze Lettern auf buntem Hintergrund verkün­den eine „Anleitung“ für das „REAL LIFE“ – „Das wahre Leben“.

Aber Vorgaben, wie das Leben zu meis­tern sei, sind die zehn Punkte keineswegs. Vielmehr zieht Sinclair den Betrachter in einen Sog aus Zweifeln. Was soll hier ver­mittelt werden?

Die Verwirrung, die das Bild erzeugt, erinnert daran, dass wir uns die Frage nach dem Sinn ei­ner Staatsbürgerschaft, einer nat­ionalen Zugehörigkeit oder eines Passes gar nicht mehr stellen.

Es zeigt auch, dass die Einteilung der Welt in politische Einheiten nur ein Kon­strukt ist um Herrschaft zu erhalten, Kon­trolle auszuüben und dem Einen ein gro­ßes Stück vom Kuchen, dem Anderen aber ein kleines zuzuteilen. Dass du nicht als Mensch, sondern über die Nummer in deinem Pass definiert wirst. Dass allein deine Herkunft dich entweder zu einem zivilisierten Menschen oder einem barbarischen Schurken macht.

Die Position, die der Betrachter einnimmt, ist hierbei flexibel. Sie hängt davon ab, ob man es bevorzugt DU SOLLST oder DU SOLLST NICHT zu lesen. Diese Wahl wird einem gelassen. Denn genau das ist der Clou: während man das Gefühl hat, nichts verstanden zu haben, da ja alles offen bleibt, ist man schon dabei Stellung zu beziehen. Auf diese Weise zeigt Ross Sinclair das wirkliche Leben und einige der Entscheidungen, die es bestimmen. (Bitte das Bild jetzt noch mal gründlich lesen oder in die Leipziger Innenstadt pilgern.

„… in einem ehrlichen Versuch, uns alle zusammenzubringen, uns alle auf den Kopf zu stellen und zu schütteln, bis es weh tut.“ (2)

Was ist das „REAL LIFE“? Ist es un­ser alltägliches Leben, Arbeit, Haushalt, Fernsehen – die Mühsal des Alltags? Oder findet es statt in jenem Lebensstil, den wir in Filmen, im Fernsehen, in der globalen Werbung und Kommunikation vermittelt bekommen? Haben wir uns an diese Bilder derart gewöhnt, dass wir nicht mehr in der Lage sind das Wahre vom Falschen, das Reale vom Fiktiven und dem oft Lächerlichen eines spektakulären Lebens zu unterscheiden?

Ross Sinclair bietet eine mögliche Sichtweise an: „REAL LIFE“ kann irgend­wo sein, versteckt in unseren Köpfen. Es könnte eine andere Art zu leben geben. Irgendeine, bei der die Wünsche und Mög­lichkeiten jedes Individuums verwirklicht werden. Ross Sinclairs „REAL LIFE“ Pro­jekte funktionieren wie Fenster, durch die das Publikum diese anderen Räume betre­ten kann, Orte, an denen man sich für eine Weile einbildet, wie unsere Lebensweisen auch anders sein könnten. Und da die Kunst Sinclairs vom Dialog und der Denk­arbeit des Publikums lebt und sich an die Öffentlichkeit wendet, kann man sich vielleicht auch vorstellen, wie dieser Ort gemeinschaftlich gestaltet werden könnte. Es geht dabei – wie Ross Sinclair sagt – „um uns selbst, […] gegenüber der Welt.“ (2)

Die Thematik des Werkes findet sich nicht nur in diesem Einzelkunstwerk. Wäh­rend der zurückliegenden sieben Jahre hat Ross Sinclair, 1966 in Glasgow geboren, seine Projekte in vielen verschiedenen Län­dern und Kontexten realisiert, an öffentlichen und privaten sowie institutionellen und autonomen Orten. So ließ sich der Künstler 1994 in großen fetten Lettern die Worte „REAL LIFE“ auf seinen Rücken tätowieren. Er betrachtet seine künstleri­sche Arbeit als ein nachhaltiges Forschungs­projekt – unser gesamtes Lebensumfeld als seinen Fundus. Für sich und andere Künst­ler arbeitet er an seinem eigenen „REAL LIFE“. Mitte der 70er Jahre fand sich in Glasgow eine Gruppe aus Künstlern, Stu­denten und Kritikern zusammen, die sich nach und nach eine selbst organisierte In­frastruktur von Ausstellungshäusern, Ga­lerien, Ateliers u.ä. aufbaute. So wird die Utopie durch gemeinsames Handeln kon­kret und REAL.

Realisiert wurde das Wandbild im Rah­men der Expo 2000, unter Mitarbeit der „Galerie für zeitgenössische Kunst“. Die Anregung dazu lieferten die verblassenden Werbemalereien des alten Regimes, die noch an einigen Häusern in Leipzig zu se­hen sind. Allerdings soll hiermit nicht in Nostalgie abgedriftet werden, sondern altvertraute Technik wird benutzt um neue, scheinbar paradoxe Inhalte zu vermitteln.

Die „Anleitung“, die auf den zweiten Blick keine ist, stellt auch einen interessanten Kontrast zu der sie umgebenden Einkaufsmeile Leipzigs dar. Dort, wo mensch eigentlich nichts als die „pure Auswahl“ haben sollte, weist sie darauf hin, dass es wesentlichere Fragen gibt. Zurück bleibt das merkwürdige Gefühl, nicht zu wissen, ob man gerade auf eine Werbung hereinfällt oder ob tatsächlich jemand eine Entscheidung erwartet.

Lasst uns grenzenlos werden!

 

wanst & hannah r.

(1) bezieht sich auf eine Umfrage in der Nummer vier der Zeitung zum Projekt „Neues Leben“ der Galerie für Zeitgenössische Kunst.

(2) Zitat Ross Sinclair in „Neues Leben“ Nummer vier.

Keine Kindergartenplätze mehr für Arbeitslose

„Nur wer arbeitet, darf auch essen!“ Dieses alte Motto des Arbeitswahns, wurde vom CDU-dominierten Lokalparlament in Dresden neu interpretiert: Kindergartenplätze bekommen ab 1. Februar nur noch diejenigen, die sich per Lohnarbeit verwerten lassen. Denn: Wer keine Arbeit hat, hat nichts zu tun und kann folglich auf seine Kinder selbst aufpassen. Ein kausaler Kurzschluss, der typisch ist für die Anhänger der Religion „Arbeit Arbeit Arbeit“, denen jedes Anzeichen von Muße suspekt ist. Und wenn zu wenig Geld im Haushalt ist, fallen ja seit eh und je zuerst diejenigen runter, die nahe am Abgrund sitzen: die Arbeitslosen. Aber nicht nur sie werden diskriminiert, auch den Kindern werden die sozialen Kontakte zerstört.

Doch es regt sich Widerstand in Dresden: Von den über 8000 Eltern, deren Kindergartenplätze gekündigt werden, wenn sie nicht bis zum 17. Januar eine Arbeitsstelle nachweisen, legten Hunderte Widerspruch ein und schrieben Protestbriefe. Am Dresdner Verwaltungsgericht sind bereits Klagen anhängig. Und wenn das nichts nützt, sollten sich die Eltern mal nach anderen Protestformen umschauen und überlegen, wie sie die Kinderversorgung zusammen selbst organisieren können.

francis

Lokales

Editorial FA! #4

Willkommen in der vierten Feierabend!-Ausgabe, die sich schwerpunktmäßig um das Skandalkonzept von Hartz, die neuen Gesetze und ihre Folgen dreht.

Etwas irritierend fandet Ihr sicher die Ge­staltung unserer Verkaufsstellen (im wei­teren VS genannt)-Seite im letzten Feier­abend!. Auch wir hatten uns diese Seite anders vorgestellt, waren uns jedoch einig, dass die unterbezahlten Saboteurinnen in unserer Druckerei doch human vorgegan­gen sind, als sie sich nur diese, mit doch eher sekundärem Informationsgehalt ver­sehene, Seite ausgesucht haben. Eine klei­ne Änderung gibt es trotzdem: Aus dem tiefen Bedürfnis heraus, für unsere unent­geltlichen VS als kleines Dankeschön auch mal eine Anzeige unterzubringen, aber mit dem Anspruch trotzdem nicht das Erschei­nungsbild eines Snack&Service-Kataloges zu bekommen, haben wir uns entschieden, abwechselnd je eine VS besonders hervor­zuheben. Beginnen werden wir in dieser Ausgabe, schön der Reihe und nach dem arabischen Alphabet, mit Husseim’s SHAHIA auf der KarLi (sorry Husseim, für das peinliche Foto-shooting und danke für den Süßkram).

Euer Feierabend!

Sozialabbau, bis alle Arbeit haben

Es ist stiller geworden, um das Hartz-Konzept. Die Gesetze sind ja auch beschlossen. Jetzt heißt´s wohl allseits: abwarten was passiert. Nun, es ist an uns – den unmittelbar und den mittelbar Betroffenen – etwas passieren zu lassen, was uns passt! Ein kompakter Überblick* zu dem was wir vom Tisch haben wollen …

Mein Name ist Hinrich Garms. Ich bin tätig in der BundesArbeitsGemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen als aktives Mitglied und ich bin bei der Arbeitslosenzeitung „quer“ und auch im Berliner AntiHartz-Bündnis. Ich wollte etwa berichten über die Geschichte der Gesetze nach Hartz, das „fünfte Evangelium nach Hartz“ sozusagen.

Im Spiegel vor etwa drei Wochen stand ganz groß und breit, bevor die Gesetze in den Bundestag kamen, „Hartz ist Geschichte“. Das seh´ ich nicht so. Das wäre zwar schön, aber es ist auch eine mediale Fälschung, insofern da die ganzen Sachen, die bei Hartz standen, kurz danach im Bundestag konkret umgesetzt wurden.

Um noch mal die „Hartz-Geschichte“ ein bisschen Revue passieren zu lassen: Zunächst einmal stand der Skandal in der Bundesanstalt für Arbeit [BA] im April, wobei gesagt wurde, die Vermittlungen laufen nicht schnell genug, es wären falsche Zahlen offeriert von der Bundesanstalt usw. usf.

Dann wurde der Präsident der BA, Jagoda, der von der CDU kommt, entlassen und es wurde ein SPD-Präsident eingeführt, der Johannes Gerster, also ein Modernisierer. Dann wurde ziemlich schnell eine Kommission eingesetzt, von der vielen nicht klar war, was die eigentlich machen sollte. Vielleicht war auch der Gewerkschaft ver.di nicht klar, was diese Kommission machen sollte, sonst hätte sie vielleicht nicht die Beauftragte für Beschäftigte der Bundesanstalt für Arbeit, Frau Kunkel-Weber, da rein geschickt, sondern vielleicht jemand anderen. Auf jeden Fall war es ihnen spätestens klar als Herr Hartz sein Dreihundertfünfzigseitenpapier dann präsentierte – in sakraler Atmosphäre im Berliner Dom auf dem Gendarmenmarkt, vor 350 applaudierenden Claqueuren. Als es dann klar wurde, da war es fast zu spät.

Danach wurde gesagt, dass man solche Ergebnisse von Expertenkommissionen dummerweise noch im Parlament diskutieren muss. Deswegen wurden aber auch im Eilverfahren zwei Gesetze gemacht, die schon rund um den 15. November innerhalb von einer Woche verabschiedet wurden. Also mir selber ist so ein Eilverfahren aus der parlamentarischen Geschichte eigentlich nur aus dem Einigungsvertrag bekannt, der auch nur ein Flickwerk war und die entsprechenden Folgen hatte. Die Hartz-Papiere, allein vom parlamentarischen Vorgehen, hatten meiner Meinung nach einen ähnlichen Charakter: es musste schnell durchgezogen werden, und es sollen die meisten Gesetze schon zum ersten Januar in Kraft treten. Was nun in diesen Gesetzen enthalten ist, kann ich kurz und knapp unter drei Überschriften zusammenfassen:

1. Gesetze, die direkt ArbeitnehmerInnen schädigen

2. Gesetze, die direkt Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen schädigen

3. Gesetze, die direkt die Gesellschaft schädigen.

Ich denke, man muss das nochmal sehen, dass die einzelnen Gesetze schon so schlimm sind, dass sie alles in den Schatten stellen, was so in den letzten 20, vielleicht auch sogar 40 Jahren, an Sozialkürzungen gekommen ist. So schlimm die einzelnen Gesetze aber auch sind, die Gesamtwirkung wird eigentlich nur durch das Gesamtkunstwerk erreicht, dass die Gesetze miteinander verzahnt sind und alle erwischen können. Um das mal ein bisschen aufzufächern: Gesetze die direkt ArbeitnehmerInnen schädigen, sind die Erleichterung (für sogenannte „Arbeitgeber“ natürlich) LeiharbeiterInnen einzustellen, die vollkommene Entrechtung von Menschen, die in Leiharbeit geschützt wurden, die Aufhebung von Befristung bei Leiharbeit, die Aufhebung von anderen Schutzrechten bei Leiharbeit, und die gleichzeitige Einrichtung von sogenannten Personal-Service-Agenturen (PSA): ein Schelm, wer böses dabei denkt. Personal-Service-Agenturen also, die vom Arbeitsamt mit Kommunen. und Ländern eingerichtet werden und direkt Menschen vom Arbeitsamt in Leiharbeitsfirmen vermitteln sollen. Diese können sowohl gegründet werden von kommunalen Beschäftigungsgesellschaften als auch von Leiharbeitsfirmen wie Adecco oder Randstad, oder wie hier in Leipzig die umstrittene Leipziger Beschäftigungsgesellschaft. Wenn Menschen aus dem Arbeitsamt direkt in Betriebe vermittelt werden, dann können sie in den Betrieben zunächst einmal nach welchem Lohn arbeiten? Zunächst einmal können sie sechs Wochen als PraktikantIn arbeiten, das heißt zu Arbeitslosengeld/-hilfe, die sie vorher bekommen haben – was ein Skandal ist. Erstens ist das eine staatliche Förderung von Betrieben. Zweitens ist das eine Lohndrückerei. Und drittens ist das die Aufhebung von Statuten – entweder hat man Arbeit oder man ist erwerbslos, beides zusammen ging bis vor kurzem nicht – obwohl natürlich Kleinbetriebe auch Praktika vergeben haben – aber in so großem Rahmen, und dass auch noch gesetzlich dazu aufgefordert wird, ist ein Skandal.

Das zweite war die Diskussion, die auch aufkam, um Tarifverträge mit Leiharbeit. Da wurde auch einige Verwirrung erzielt, insofern als es eine Übergangsfrist für neue Gesetze von einem halben Jahr gibt und nicht von einem ganzen Jahr, wie oft in den Medien behauptet wird. Die Frist, in der sozusagen Alt-Entliehene noch zu alten Tarifen beschäftigt werden können; aber vom 1. Januar bis 30. Juni greifen diese Gesetze, so dass Neu-Entliehene sowieso nach neuen Gesetzen entliehen und nach neuen Tarifen beschäftigt werden, und Menschen, deren Verträge auslaufen, die dann arbeitslos werden, auch dann sofort nach neuen Tarifen beschäftigt werden.

Es gilt auch das Wort, wonach Tarifverträge abgeschlossen werden sollen für Leiharbeit. Das Problem ist, Tarifvertrag sagt nichts weiter aus, als dass ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen sich einigen um einen Preis, und wenn der Preis halt ein Euro ist, dann ist das auch ein Tarifvertrag. Die Frage ist in dieser Branche, wie in anderen Branchen auch, ob es nicht besser ist, gar keinen Tarifvertrag abzuschließen als so einen. Die offiziellen Gewerkschaften sehen das natürlich anders als andere. Aber ich sage mal so, das Wort Tarifvertrag allein sagt noch nichts aus.

Was natürlich auch noch ArbeitnehmerInnen schädigt, ist die Ausweitung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, also den sogenannten 500-EuroJobs, und zwar in der sogenannten „haushaltsnahen Dienstleistung“ … das heißt nichts weiter, als Putzen und Waschen für reiche Familien. Das sind Jobs, die zum Großteil Frauen betreffen werden, wo die Schwelle da sie nur ganz gering (nämlich mit 10%) sozialversichert sind und auch nur ganz gering (mit 10%) Pauschalsteuer besteuert werden, nach oben geschraubt wird.

So werden die Menschen also vom Arbeitsamt direkt in schlechte Arbeitsbedingungen gezwungen. Es gibt noch ´ne alte Grenze von 325 Euro für andere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse das Wort gibt´s jetzt nicht mehr, das heißt jetzt „MiniJob“. [Mittlerweile wurde die Grenze für alle Bereiche auf 400 Euro festgesetzt, H.G.]

Diese Minijobs können kombiniert werden mit „haushaltsnahen Dienstleistungen“, so dass die Obergrenze für schlecht versteuerte und schlecht sozialversicherungspflichtig gemachte Beschäftigungsverhältnisse bei 825 Euro liegt [in die immerhin der Arbeitgeber sonst 50% einzahlt]. Es wird ganz klar: wenn man zwei Jobs kombiniert, wird es billiger – eine ganz neue Ausrichtung.

Verschlechternd wirkt sich auch aus, dass der Status ArbeitnehmerIn ganz aufgelöst wird, indem Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen verstärkt in sogenannte „Ich-AGs“ oder „Familien-AGs“ gedrängt werden. Das heißt, vom Staat bzw. vom Arbeitsamt wird massiv mit 25.000 Euro in drei Jahren gefördert, ausgezahlt in Raten á 600 Euro, dass jemand eine eigene Bude aufmacht und als Selbständiger über die Runden kommen muss. Und somit, könnte man sagen, arbeiten der Staat und das Arbeitsamt daran, dass die Klassen verschwinden (1) … aber nicht zugunsten der Klasse, sondern zugunsten des vollständigen Umformens der Menschen in Scheinselbständige.

Was die Erwerbslosen direkt betrifft, sind zunächst einmal die massive Kürzung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe eingearbeitet, die Nichtanpassung an die Netto-Inflationsrate, die massive Anrechnung von Vermögen. Die Vermögensgrenze, die bei maximal 33.800 Euro lag, wird runtergesetzt auf 13.000 Euro, und das auch nur bei Menschen, die ungefähr 60 Jahre alt sind und sozusagen ihre Lebensversicherung und anderes angespart haben. Vermögen wird nicht mehr angerechnet wie früher, es gibt nicht mehr so hohe Freibeträge, und es wird massiv das Einkommen von EhepartnerInnen verrechnet, so dass hier Menschen – auch insbesondere wieder Frauen – aus der Arbeitslosenhilfe gedrängt werden. Indem gesagt wird, „dein Mann. oder Lebenspartner verdient gerade noch genug, um dich mit durchzufüttern, also kannst du keine Arbeitslosenhilfe mehr haben, du hättest sie vielleicht nach dem alten Gesetz noch haben können, aber jetzt nicht mehr.“

Weiterhin wird gekürzt, wenn Menschen in Umschulungsmaßnahmen sind. Wenn Leute Arbeitslosenhilfe hatten, dann haben sie bis jetzt Unterhaltshilfe bekommen, nach Arbeitslosengeld-Norm, die bekommen jetzt nur noch nach Arbeitslosenhilfe-Norm. Das ist eine massive Kürzung um genau 10 Prozent.

Wo ArbeitnehmerInnen noch rausgeschmissen werden aus den Betrieben, das ist das sogenannte Bridge-System, das ist eine verschlechterte Vorruhestandsregelung für die gesamte Gesellschaft. Das heißt im Klartext, dass Menschen ab 55 aufgefordert werden, wenn sie (24 Monate hindurch) Arbeitslosengeld bekommen, in so eine Art Frührente zu gehen, das heißt dann „Brückengeld“. Während der Zeit bekommen sie 50% des ihnen ansonsten zustehenden Arbeitslosengeldes, kriegen aber einen Garantieschein, dass sie vom Arbeitsamt nicht mehr belästigt werden. Auf der anderen Seite müssen sie dann mit 60 in Vorrente gehen und mit 63 in Rente und all diese kleinen Schritte sind verbunden mit Renteneinbußen massiver Art, dass sie vielleicht mit 65 die ihnen zustehende Rente bekommen würden – wenn die nicht bis dahin durch eine Kommission gekürzt worden ist. Also auch hier: massive Kürzungen.

Welches sind die anderen Seiten der Medaille, die auch die Gesellschaft schädigen? Ich denke, auch Eingriffe in die ArbeitnehmerInnenrechte und die Rechte von Erwerbslosen schädigen natürlich den demokratischen und sozialen Charakter der Gesellschaft. Aber was nochmal direkt in gesellschaftliche Zusammenhänge eingreift, ist auf der einen Seite das jugendlichen-, frauen- und migrantlnnen-feindliche Bild, das durch diese neuen Gesetze vermittelt wird. Zum zweiten die Fälschung der Statistik, die dadurch ausgebaut wird, dass sie noch ein Gesetz erlassen wollen, mit dem Menschen raus-gerechnet werden aus der Erwerbslosenstatistik. Und nicht zu vergessen ist auch die Einführung einer bundesweiten Chipkarte (wahrscheinlich im nächsten Frühjahr), die zunächst einmal die Daten von SozialhilfeempfängerInnen und Erwerbslosen erfassen wird und last not least vernetzt wird mit Betriebsdatensystemen etc. Um nach und nach die gesamte BRD statistisch zu erfassen und auf einer Chipkarte zu speichern, die jeder Mensch bekommen soll. Am Anfang soll der Mensch auch noch sehen, was da raufgeschrieben wird; am Ende nicht mehr. Und das ist ja die Höhe, und zwar sollen die Daten nicht einmal vom Bundesamt für Statistik oder von der Bundesanstalt für Arbeit oder ähnlichem, sondern von einem wie auch immer gearteten privaten Unternehmen gesammelt und verarbeitet werden.

Für Arbeitslose ist noch zu erwähnen, dass im Vorfeld der „PSA“ Job-Center eingeführt werden, in denen Menschen in Kategorien eingeteilt werden – Profiling genannt – also, es wird aufgeteilt in unwürdige und würdige Arme, es wird aufgeteilt in Menschen, die noch Arbeitslosengeld I oder II bekommen und Menschen, die noch Sozialgeld bekommen. Wobei sicher ist, dass dieses Sozialgeld hinterher niedriger ist als die jetzige Sozialhilfe.

Also das sind alles Dinge, die (bis auf die Chipkarte) sofort eintreten sollen. In den Monaten darauf ist damit zu rechnen, dass ABM und SAM massiv abgebaut werden und am Ende der Entwicklung, ich schätze im nächsten Sommer, steht die sogenannte Zusammenlegung .von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wobei es noch mehrere Varianten gibt, wie das durchgeführt werden kann. Dabei gibt es auch Probleme, dies mit den Kommunen finanziell zu ordnen. Aber es ist damit zu rechnen, dass die Sozialsysteme in dieser Art und Weise bis zum 1.August vollkommen umgekrempelt werden. Auch wird diskutiert, im Frühjahr oder Sommer nächsten Jahres (was zum Hartz-Paket gehörte) ein sogenanntes Ausbildungszeitwertpapier für Jugendliche einzuführen, die dann nicht mehr vom Betrieb ihre Ausbildung bezahlt kriegen, sondern ihr Geld für die Ausbildung mitbringen müssen.

Alles in allem kann man sagen, in diesem Moment ist Hartz nicht Geschichte, sondern Hartz ist ziemlich aktuell und ich denke, da sollten wir alle etwas gegen tun, sowohl gegen die Umsetzung der jetzt entstandenen Gesetze wie auch gegen die nächsten Gesetze, die jetzt noch produziert werden.

* Vorgetragen am 7.12.02 auf einer Veranstaltung der FAU Leipzig. Vielen Dank für´s Skript!
(1) vgl. dazu „Wiedernoch weben am Leichentuch?“, S. 12 f.

Hartz-Gesetze

Wenn Premierminister sterben…

Am 12. März diesen Jahres (2003) wurde der serbische Premierminister Zoran Djindjic auf offener Straße, am hellichten Tag erschossen. Die Mainstream-Medien ergingen sich in den folgenden Tagen in Wehklagen, nun stünde es um die Demokratie in Serbien schlecht. Selbstredend, dass dies – wie auch sonst – nur eine stark eingeschränkte Sicht der Dinge ist. Doch gerade zu der „Akte Djindjic“ gibt es noch eine ganze Menge spannender „Details“, die es lohnt zu kennen, da sie viel über diese „Demokratie“ erzählen.

Dies war nicht der erste Anschlag auf Djindjic. Schon am 21. Februar versuchte jemand, den Premier auf dem Weg zum Flughafen zu ermorden. Wer war Djindjic, und wieso hingen die westlichen Demokraten so an ihm?

Unter dem jugoslawischen Präsidenten Tito war Zoran Djindjic Dissident gewe­sen, der mit anderen Gleichgesinnten in der BRD Zuflucht fand. Nachdem er nach Belgrad zurückgekehrt war, war er 1989 einer der Gründer der Demokratischen Partei, welche eine der größten Anti-Milosevic-Parteien war. 1996 erlangte Djindjic internationale Berühmtheit, als er Massendemonstrationen gegen Milo­sevic koordinierte. Der Lohn für dieses Engagement war der Posten des Belgrader Bürgermeisters.

Während des NATO-Angriffs auf Jugos­lawien flüchtete er nach Montenegro. Nach dem Ende des Krieges unterstützte er Kostunica im politischen Kampf gegen Milosevic. Kostunica wurde Präsident von Jugoslawien und Djindjic Premierminister von Serbien. 2001 lieferte Djindjic Milosevic gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung, vieler serbischer Politi­ker und Kostunicas an das Haager Tribu­nal aus.

Djindjic verfolgte eine neoliberale Politik, sein technokratisches Auftreten und sei­ne Medienmanipulation ließen ihn in Serbien, dem ärmsten Staat des Balkans immer unbeliebter werden.

Die Stimmung heizt sich auf

Täglich protestierten damals mehr als 15 000 Arbeiter/innen gegen ihn, 900.000 wurden gefeuert (12,86 Prozent der bei einer Bevölkerung von 7 Millionen), soziale Unruhe kam auf. So­ziale Bewegungen wie u.a. „Another World is possible“ („eine ande­re Welt ist möglich“) nahmen Gestalt an und begannen, sich der Politik des Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) zu wider­setzen. Dessen Politik beinhaltet in der Hauptsache Einschränkungen der Staats­ausgaben, was vor allem in sozialen Be­reich umgesetzt wird, Abwertungen der Währung, was die Produkte verteuert, und Privatisierungen im großen Maßstab.

In Bezug auf politische Parteien gab es in den letzten Jahren einen Machtkampf zwi­schen Kostunica und Djindjic. Der Machtkampf wurde zugunsten von Djindjic entschieden, nachdem Jugos­lawien durch die Union von Serbien und Montenegro ersetzt wurde. Kostunica stand nun ohne Amt da, zurückgeworfen auf Oppositionsarbeit. Doch Djindjic konnte sich letztlich nur wenige Wochen an diesem Sieg erfreuen…

Hier setzen die Spekulationen ein, wer den frischgebackenen Premier umgebracht hatte, der den westlichen Demokratien offensichtlich so genehm, weil zutraulich war.

Eine Theorie besagt, er sei ein Opfer sei­ner eigenen Allianzen geworden. Im ehe­maligen Jugoslawien hat sich in den letz­ten Jahren, wie auch in anderen Staaten, eine Klasse von neureichen Oligarchen gebildet, die unter Milosevic, wie Kos­tunica und Djindjic protegiert wurden. Ein anderes Szenario interpretiert die Er­mordung Djindjics als Komplott, der mit den Rivalitäten zwischen Berlin und Was­hington zusammenhängt. Möglicherweise wurde er von albanischen Nationalisten umgebracht, die im Süden Serbiens an Einfluss und Stärke gewinnen.

Gleich, welche Theorie nun mehr Wahr­heit enthält: der Kreis der neoliberalen Technokraten um Djindjic wird daraus zu profitieren wissen. Ebenso könnten sich nun mafiöse Strukturen, sowie die Natio­nalisten ermutigt fühlen. Am wahrscheinlichsten scheint wohl die Annahme, dass die neoliberalen Kräfte die­se Situation nutzen werden, um ihr Pro­jekt voranzutreiben. Insofern hat sich nicht viel geändert…

hannah

Nachbarn

Wiedernoch weben am Leichentuch?

In diesem Heft wollen wir uns, als Beitrag zur aktuellen Diskussion, mit der Sozialen Frage, dem sogenannten „ Kampf der Klassen“ befassen. Der Begriff der Klasse wirft heutzutage einige gewichtige Fragen auf, gar die nach seiner Berechtigung. Denn zuallererst scheint er Grenzziehung zu betreiben, Berliner Mauern zu errichten: zwischen den „guten“ Arbeitern und den „bösen“ Kapitalisten. Dem entgegen denken wir, dass sein ideeller Kern auch heute noch von Bedeutung ist, indem er nämlich auf einen Zustand verweist, der noch immer seiner Aufhebung harrt.

Besonders die in den Diskussionen um das Hartz-Konzept viel beschworene und blumig beschriebene Ich-AG – die großzügig auch auf eine Familien-AG anwachsen darf – ruft unwillkürlich einige Zeilen Heines ins Gedächtnis: „Wir haben vergebens gehofft und geharrt / Er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt“, und erinnert so an die schlesischen Weber. Diese Assoziation mit frühkapitalistischen Verhältnissen, den Heimwerkstätten der Weber, die quasi als Familien-AG Tag und Nacht in wirtschaftlicher Abhängigkeit schufteten, und das ganze unternehmerische Risiko zu bürden hatten, machte uns stutzig.

Historischer Exkurs

Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse und Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.“ (1)

Dem Klassenbegriff haftet in den heutigen Diskursen etwas seltsam verstaubtes an. Und tatsächlich war es vor allen Dingen das 19. Jahrhundert, in welchem er seine Blüte feiern konnte. Ob Drei-Klassen-Wahl-System in Preußen, Verurteilungen wegen Aufhetzung zum Klassenhass, Klassenkämpfe oder Klassentheorie — zumindest auf. den deutschen Territorien herrschte eine eindeutig nach Klassen bestimmbare Vergesellschaftung. Der schwelgenden Hocharistokratie, dem Adel und dem Großbürgertum stand ein Heer von Elend und Not bedrohter Menschen gegenüber, rechtlos zum Spielball der Mächtigen degradiert. (2) Die Unterteilung in Erste und Zweite (damals wahrscheinlich auch in Dritte) Klasse, wie wir sie noch heute bei der Deutschen Bahn finden, erinnert daran. Für den einfachen Mann (von den Frauen ganz zu schweigen) gab es keinen Weg zum Bürgertum, geschweige denn zur Aristokratie, allerhöchstens noch den lebenslangen Umweg übers Kleinbürgertum.

Aber auch für die betuchten Bürger öffnete sich nur äußerst selten ein Türchen zu der Herren Tische. Wer in seine Klasse geboren wurde, war auf sie festgelegt. War die Mutter Näherin, wurde es die Tochter oftmals auch, besaß Vater einen Handelskontor, übernahm diesen sein Sohn, und befahlen die Eltern über 20.000 Untertanen, so taten es ihnen ihre Kinder gleich. Aber was unterschied eine Klasse vom Stand? Und was hat es mit den großen Klassenkämpfen und vor allen Dingen mit Marxens Theorie der Klassengegensätze auf sich? Mit den Begriffen Besitz, Erwerb und Sozietät sollen drei Schlüssel zum Verständnis des Klassenbegriffs angeboten werden.

Besitzklassen

Unter Besitz sollen insbesondere die konkreten Lebensumstände (Güter) verstanden sein, in denen Menschen ihr Leben entwerfen. Man sieht schnell, dass sich hier eine grobe wenn auch statische Unterscheidung in Klassen anbietet. Auf der einen Seite die Klasse der nahezu Besitzlosen, auf der anderen die der Besitzenden. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob jemand über Haus, Land, Gesinde, „Welfenschatz“ oder andere Güter verfügen kann oder eben nicht. Am Beispiel der Feudalgesellschaft lässt sich das am einfachsten verdeutlichen. Adel und Aristokratie vererbten ihren Besitz via Land und Güter innerhalb der Familie, während weite Teile der Bevölkerung oftmals nur ihre Leibeigenschaft an ihre Kinder weiterzugeben vermochten. In der Feudalgesellschaft, um beim Beispiel zu bleiben, lassen sich also zwei verschiedene Besitzlagen klassifizieren.

Erwerbsklassen

Nun scheint das eine sehr ungenügende Klassifikation zu sein, zumal es schwer fällt, diese Unterscheidung auf gegenwärtige gesellschaftliche Umstände zu projizieren. In den hochentwickelten Industrieländern ist die Klasse der Besitzlosen beinahe verschwunden – relative Unterschiede sind oftmals rein quantitativer Natur – eine allein auf dem Besitzstand fußende Klassenrhetorik scheint demzufolge völlig unzureichend (3). Gehen wir noch einmal zum Beispiel der Feudalgesellschaft zurück. Besitz wurde hauptsächlich durch Vererbung erworben. Daneben waren Raub, Kauf und Schenkung die gängigsten Erwerbsarten, deren günstigste Voraussetzung natürlich wiederum … Besitz war. Durch Arbeit konnte man zwar überleben, aber selten Besitz anhäufen. Das änderte sich erst durch den durch Handel bedingten Aufstieg des Bürgertums. Der Erwerb von Besitz durch Handel, also durch gewinnbringenden Kauf und Verkauf, wurde schnell zu einer wesentlichen Dynamik gesellschaftlicher Veränderung. Dass von einer solchen Dynamik eher die ehemalige Klasse der Besitzenden profitierte, ist einsichtig. Wer konnte im 19. Jahrhundert schon Kupferminen ver- oder Anteilsscheine an Rüstungsbetrieben einkaufen? Insoweit also der Erwerb von Besitz auf schon vorhandenem Besitz fußte, übertrug sich der Klassenunterschied. Hier die Masse der Menschen, deren Erwerb gerade ausreichte, Überleben zu sichern, dort eine Gruppe, deren Besitz durch Erwerb stetig stieg (akkumulierte). Erwerbsklassen waren also insofern identifizierbar, als es einen qualitativen Unterschied zwischen Menschen gab, deren „Erwerbsarbeit“ keinerlei Chancen auf Besitz bot und denen, deren Erwerb immer größere Chancen der Besitzanhäufung mit sich brachte. Das so oft sorglos im Mund geführte Wort der „Chancengleichheit“ rekurriert auf eben diesen Tatbestand.

Soziale Klassen

Aber auch die auf Besitz ruhende Klassifikation nach Erwerbschancen bereitet Schwierigkeiten, versucht man sie auf gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen. Die zunehmende Komplexität der Güter- und Kapitalkreisläufe, die Verteilungsmechanismen des modernen Staates (4 ) verwischen die Grenzen zwischen den Erwerbsklassen einer Gesellschaft. Letztlich sind sie gegen die Risikobereitschaft jedes einzelnen relativiert. Nehme ich einen Kredit auf, wage ich die Umschulung, investiere ich in Rente oder Rendite? Besitz vermindert zwar das Risiko bedrohlichen Verlusts, ist aber nicht mehr kategorische Voraussetzung für, gute Erwerbschancen. Zwar sind noch immer ganze Schichten der Bevölkerung im Erwerb chancenlos – vor allem marginalisierte Gruppen wie Migrantlnnen, kriminalisierte jugendliche, körperlich Beeinträchtigte etc. pp. – aber nach ihren Erwerbschancen lassen sie sich nicht qualitativ klassifizieren. Fasst man allerdings die Besitz- und die Erwerbslage allgemein als Lebenslage auf, bietet sich noch eine weitere Möglichkeit der Klassifikation, wie wir sie auch schon aus dem 19. Jahrhundert kennen. Ohne Besitz von Land (Heim) und Gütern, ohne Chance durch Erwerb selbiges jemals zu erlangen, waren Menschen prekär abhängig von Miet- und Arbeitsverhältnissen, räumlich und zeitlich immobil in Milieus verwurzelt, in denen gleiche Erfahrungen ähnliche Lebenslagen prägten (soziales Leben). (5) Demgegenüber gab es einige, die ihren Wohn- und Lebensraum frei bestimmen konnten, äußerst mobil waren und allerhöchstens in kleinen Familien mit Hof-und Hausstab (Gesinde) lebten (individuelles Leben). Zwischen den beiden Lebenslagen schossen oftmals unüberwindliche Mauern auf, so dass es kaum Durchdringungen gab. Insoweit sich also die Lebenslagen qualitativ von einander unterschieden, stand die sozialisierte Klasse der individualisierten gegenüber.

Stellung im Produktionsprozess

Aber auch diese Klassifikation stellt uns vor erhebliche Probleme, wollten wir sie auf gegenwärtige Umstände in den Industrieländern übertragen. Durch die Relativierung von Besitz und Erwerbschancen prägt Individualisierung heute ein heterogenes Feld von Lebenslagen, in denen die Lebensumstände und -erfahrungen jedes Einzelnen erheblich differieren. Ja selbst große Teile der Sozialisation sind in die Institutionen des modernen Staates gelagert. Aber was soll – so könnte man an dieser Stelle berechtigter Weise einwerfen – die Rede von Klassen dann heute noch bedeuten? Und da – nun kommt´s – hat uns Marx die Augen geöffnet. Er sah die Klassengesellschaft seiner Zeit, die chancenlos Besitzlosen und die risikofreudigen Besitzenden, die verelendeten sozialen Milieus und die im Überfluss schwelgenden Herrenhäuser. Und sein Verdienst ist es u.a., diesen sichtbaren qualitativen Unterschied, auf die Sphäre der Produktion, auf die. Prozesse der kapitalistischen Produktionsordnung zurückgeführt zu haben. Denn genau hier war der Klassenunterschied „rein“ (abstrakt) anschaubar. Und ist es, wohl bemerkt, auch heute noch, trotz allem Gerede von flachen Hierarchien und Aktienbeteiligung. (6) Das individualisierte Eigentum an den Mitteln der Produktion, historisch aus der Besitzlage entsprungen, bemächtigte einen Teil der Menschen im Produktionsprozess derart mit Verfügungsgewalt, dass ihnen der Rest ohnmächtig gegenüber stand, Und dieser Klassenunterschied regeneriert sich überall dort, wo Produktion unternommen wird und via Eigentumsrecht Menschen Verfügungsgewalt über Produktionsanordnungen gewinnen und damit andere in ökonomische Abhängigkeit von ihnen stürzen.

Arbeitskampf als Interessenkonflikt von Klassen

Ohne Zweifel waren es die Arbeitskämpfe der vergangenen Generationen, die dafür sorgten, das die Grenzen zwischen den Besitz-, Erwerbs- und sozialen Klassen zunehmend brüchig wurden. Derart, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Ganz im Gegenteil zu den Ländern der „Zweiten Welt“. Solange allerdings die Klassengesellschaft fortbesteht, als „reine“ (abstrakte) in der Ordnung der Produktion, lautet die entscheidende Frage der Gestaltung unserer Gesellschaftlichkeit: wer kann Kraft seines Wortes – und der entsprechenden (strukturellen) Gewalt – die eigenen Interessen [besser] durchsetzen? Wer kann Gestaltung erzwingen? Wem nutzt die bestehende Ordnung, wem nicht? Wer hat ein gesteigertes Interesse an deren Aufrechterhaltung? Dass das Feld dieses Interessenkonfliktes wesentlich auf der Ebene der Produktion zu suchen ist, zeigt schon das Bemühen des modernen Staatsapparates an, dessen Gestaltungswille immer wieder von neuem um die Sphäre der Produktion kreist. Hier stehen sich jedoch, bedingt durch die Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess, die, Interessen zweier Klassenlagen konfliktreich gegenüber, Aber ist man sich dessen denn bewusst?

Macht und Politik zum Durchsetzen von Interessen

Das liberale Projekt repräsentativer Staatspolitik, in der heutigen Foren der Bundesrepublik (8), war zur Befriedung von Interessenskonflikten innerhalb von Vergesellschaftungsprozessen angetreten. Doch erwies es sich im Verlauf als unfähig, trotz einiger Erfolge der Sozialdemokratie, wie u.a. die Fortschritte im Arbeitsrecht, wirklich zwischen den konkurrierenden Interessen derart zu vermitteln, das eine Aufhebung der Klassengesellschaft möglich wurde. Im Gegenteil, und das zeigt die derzeitige „Hartz-Reform“ ganz deutlich, sobald der Druck der Arbeitskämpfe nachlässt, sind bereits erstrittene Fortschritte wieder in Gefahr. Es ist heute nicht ausgeschlossen, dass der Klassenunterschied im Alltag der Industrieländer kaum noch sichtbar, leibhaftig wird. Woran liegt das? Unseres Erachtens vor allen Dingen daran, dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen. Politiker, mit dem hauptsächlichen Interesse ihres eigenen Machterhalts; Unternehmer, deren Interesse einzig und allein der Gewinnmaximierung dient, und nicht zuletzt die breite Bevölkerung, die die Chancen eines gemeinsamen Bewusstseins als Klasse ungenutzt lässt, lieber Ideologien wie Rassismus, Konkurrenz oder Individualismus folgt und sich damit die einzige substanzielle Möglichkeit zur dauerhaften Verbesserung ihrer Lebenssituationen beschneidet: die vereinte, zielgerichtete Aktion im wirtschaftlichen als gesellschaftlichen Bereich, dem Arbeitskampf mit dem Ziel der Aufhebung der Klassengesellschaft.

clov & A.E.

(1) Karl Marx in d. Rheinischen Zeitung um 1843
(2) vgl. Bernt Engelmann, Wir Untertanen, Fischer 1976
(3) Parolen wie „Her mit dem schönen Leben!“ á la attac und IGM-Jugend sind daher auch eher Ausdruck von Sozialneid denn Zeichen tieferer Analyse.
(4) Nicht zuletzt begnügt sich der moderne Staat damit, in den Verbesserungen der Erwerbschancen seinen primären Bildungsauftrag zu sehen.
(5) Das Bild des Schlafburschen (-mädchens) mag genügen: Es waren Leute, die während der Arbeitszeit des Bettbesitzers selbiges zum Schlafen mieteten.
(6) Erstere werden auf einmal wieder ziemlich steil, wenn es um Entlassungen (Krisensituationen) geht, und wer sich so viele Aktien seines Betriebes leisten kann, dass er mitreden kann, der braucht, ehrlich gesagt, nicht mehr zu arbeiten.
(7) Peripherie – teilweise Infrastruktur, mittelkapitalistische Produktionsordnung (bestes Beispiel ist der derzeitige Generalstreik in Venezuela.)
(8) Rechtstitel

Theorie & Praxis