Schlagwort-Archive: 2009

60 Jahre deutscher Herbst

Bald ist es soweit. Die Kakophonie des bundesweiten Wahlkampfpalavers wird verstummen, die Tage werden kürzer, die ersten Öfen werden befeuert und die deutsche Staatsgemeinde findet sich ein zum besinnlich-harmonischen Singsang auf das Heil und die neugewonnene Einheit des Reiches … ähm der Nation. 40 Jahre BRD plus 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland, wer würde da nicht die Korken knallen lassen? Und was hat diese geläuterte Republik nicht alles vollbracht: Den Marschall-Plan und das französische Atomschild, den ostdeutschen Un­rechtsstaat, Exportweltmeisterschaften bis zum Abwinken, Siemens, Bayern München, Hartz IV, die Lindenstraße, „sichere Renten“ und Autobahnen bis zum Horizont. All dies und noch viel mehr hat der deutsche Michel geschultert, trotz der fiesen Repa­ra­tionen und trotz der schweren militärischen Verwüstungen zweier Weltkriege. Einfach toll und endlich mal ein echter Grund, stolz zu sein. „Wir“ sind wieder wer! „Wir“ diktieren den Rhyth­mus der europäischen Zusammenarbeit, WIR schaffen die globale Energiewende. „Unsere“ Polizisten und Soldaten sind es, die für Frieden und Freiheit weltweit operieren. „Wir“ sind eben ein moder­nes, fortschrittliches Deutschland. – So oder so ähnlich werden die Demagogen allenorts tönen, wie die Muezzine von ihren Mi­naretten. Teils als Klei­ster zwischen den so­­zialen Schichten, teils als Angstdämp­fer für die Krisenbe­wältigung und deren Zu­mu­tungen. Hauptsache die Opferbereitschaft in der deutschen Gemeinde der Staatsgläubigen steigt. Denn die wird benö­tigt, wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Verwer­tungs­krise die Schwächsten im­­mer zuletzt und am stärksten trifft. In die­­sem Sinne, Leute denkt daran: Wie Geld be­­kanntlich nicht essbar ist, machen warme Wor­te noch keinen gemütlichen Win­ter. Laßt euch durch den grassierenden Na­tio­na­lismus nicht den Verstand ersticken!                

(clov)

Hier zu Hartz 4 – Die Ecke mit Tipps und Tricks für ein entspannt(er)es Leben

Heute: Termin verpasst, was ist zu tun?

Wer kennt das nicht. Mensch war zwei drei Wochen in der Sonne Spaniens, hat verschiedene nette und nicht so nette Kommuneprojekte besucht und ist voll mit libertären Ideen, die es gilt möglichst bald zu verwirklichen. Doch kaum zu Hause angekommen, holt einen die schnöde, graue Realität ein, denn ein Brief der ARGE mit einer Meldeaufforderung wartet bereits im Briefkasten. Alles halb so schlimm, wäre der Termin nicht vor drei Tagen gewesen…

Im Falle eines versäumten Meldetermins droht gemäß § 31 Absatz 2 SGB II die Kürzung der Regelleistung in Höhe von 10% sowie der Wegfall des Zuschlages für die Menschen, die zuvor Arbeitslosengeld I bezogen haben. Die Kürzung gilt normalerweise drei Monate, § 31 Absatz 6 Satz 2 SGB II.Allerdings nur, wenn die Meldeaufforderung eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen des Fernbleibens enthält und der Hilfebedürftige keinen Grund für sein Fernbleiben darlegen kann, § 31 Absatz 2 SGB II.

Hit-Tipp: Nur mündlich erteilten Meldeaufforderungen braucht Ihr nicht nachzukommen!

Daraus ergibt sich zum Einen, dass nur telefonisch mit­geteil­te Mel­deaufforderungen ruhigen Gewissens ohne finanzielle Nach­tei­le versäumt werden können. Ansonsten muss ein wichtiger Grund für die Terminversäumnis vom Hilfebedürftigen dargelegt wer­den.

Wichtig! Eine Entschuldigung ist nur bei attestierter Krankheit als Grund für Terminversäumnis sinnvoll!

Der wichtige Grund wird von den Sachbearbeitern der ARGE sehr eng ausgelegt. Die Pflege kranker Eltern in einer anderen Stadt wird zum Beispiel für nicht ausreichend angesehen. Daher ist grundsätzlich von Entschuldigungsversuchen abzuraten! Eine Ausnahme bildet hier nur die eigene Krankheit oder die von den Kindern, welche ärztlich attestiert ist.

Wichtig! Wird im Rahmen der Entschuldigung ein Aufenthalt außerhalb angegeben, droht für die Zeit der Ortsabwesenheit der völlige Entzug der SGB-II-Leistungen.

Die Pflege der kranken Eltern in einer anderen Stadt hat schon so manchen für die Zeit des Aufenthalts in der anderen Stadt um die gesamten SGB-II-Leistungen gebracht.

Hit-Tipp: Erwähnt den versäumen Termin nicht! Ist der Brief mit der Meldeaufforderung nicht angekommen gibt’s auch keine Leistungskürzungen.

Für den Zugang der Meldeaufforderung ist nicht der Hilfeempfänger, sondern die ARGE beweispflichtig. Die Meldeaufforderungen werden aber fast immer mit einfacher Post durch Pin, TNT, Citypost, Deutsche Post etc. versandt, wodurch die ARGE den Zugang beim Hilfeempfänger nicht beweisen kann. Ein solcher Beweis könnte der ARGE nur gelingen, wenn die ARGE Mitarbeiter die Meldeaufforderung selbst vorbeigebracht hätten, etwa bei einem „Vor Orts Termin“ oder die Meldeaufforderung „zugestellt“ wurde. Die Zustellung ist regelmäßig erkennbar an dem Vermerk des Zustellungszeitpunkts der Postzustellerin auf dem Briefumschlag.

Wichtig! Ihr habt die Meldeaufforderung gar nicht erhalten! Sagt nicht, der Brief mit der Meldeaufforderung sei zu spät angekommen.

Denn nur dafür, ob die Meldeaufforderung zugegangen ist, ist die ARGE beweispflichtig, wenn der Hilfebedürftige angibt er habe den Brief erhalten nur zu spät, muss er den Zeitpunkt des Zugangs beweisen. Die Meldeaufforderung gilt ansonsten als drei Tage nach Aufgabe zur Post als dem Hilfebedürftigem zugegangen.

Übrigens haben auch Arbeitslose einen Anspruch auf Urlaub. Ihr müsst ihn vorher beantragen. Einige SachbearbeiterInnen lassen sich für die Bearbeitung solcher Anträge jedoch viel Zeit. Zudem bekommt mensch meist kurz vor und nach dem Urlaub eine Meldeaufforderung. Also immer den Briefkasten im Auge behalten.

Wichtig! Urlaub rechtzeitig beantragen (ca. 2 Monate vorher). Mit Meldeaufforderungen kurz vor und kurz nach dem Urlaub rechnen!

Dr. Flaschenbier

Neues von der „Gewaltspirale“

Wer die Leipziger Volkszeitung aufmerksam liest, wird womöglich schon bemerkt haben, dass mensch es dort mit den Fakten nicht so genau nimmt, wenn es um die Leipziger radikale Linke geht. Das Klischee vom sinnlos Steine schmeißenden Connewitzer „Chaoten“ scheint sich dort schon so verfestigt zu haben, dass man genauere Recherchen gar nicht mehr für nötig hält. Diese Vermutung wird durch die Berichterstattung über die Proteste gegen das Mitte November 2008 in Lindenau eröffnete NPD-“Bürgerbüro“ (siehe FA! #31) wieder einmal bestätigt. Insbesondere ein am 5.12.2008 erschienener Artikel (1) liefert ein Beispiel davon, was man bei der LVZ so unter Journalismus versteht. Schon in der Überschrift wird da von einem „Angriff auf NPD-Büro in Lindenau“ gesprochen. „Rund 40 vermummte Personen“ hätten das Gebäude mit Steinen und Feuerwerkskörpern attackiert. Anwohner hätten „die Übergriffe beobachtet und gegen 22.30 Uhr die Beamten alarmiert.“

Wenn die braven Bürger_innen sich die Mühe gemacht hätten, einmal aus dem Fenster zu schauen, ehe sie die Polizei alarmierten, hätten sie freilich bemerkt, dass die dort versammelten Antifaschist_innen keine Anstalten machten, das NPD-Büro anzugreifen, sondern nur gekommen waren, um den Neonazis ein Ständchen zu bringen. Über Lieder wie „Deutschland muss sterben“ von Slime freuten diese sich allerdings nicht so sehr – sie reagierten, indem sie mehrere Böller über den Zaun auf die Straße warfen.

Entgegen der Behauptung des Artikels, nur der mannshohe „Metallzaun vor dem Gebäude und das schnelle Eingreifen der Polizei“ hätten Schäden verhindert, bekleckerten sich auch die anrückenden Herren in Grün nicht gerade mit Ruhm. So wurden die Teilnehmer_innen an der Aktion vorsorglich eingekesselt, und statt erst einmal zu überprüfen, ob überhaupt irgendeine Straftat vorlag, gingen die fleißigen Beamten gleich daran, alle Anwesenden erkennungsdienstlich zu behandeln. An einer anschließenden genaueren Untersuchung des Sachverhalts dürfte dann auch kein Interesse mehr bestanden haben – das Ergebnis wäre wohl doch zu peinlich für die Polizei gewesen.

Während sich die LVZ darauf beschränkt, den Polizeibericht abzutippen, nutzte ein Autor der Leipziger Internetzeitung lizzy-online die Gelegenheit, um seine Phantasie mal wieder frei spielen zu lassen (2). Die dem Kommentar beigefügte Illustration (ein ungelenk gezeichnetes Hitler-Bildchen, das mit dem Bild eines schwarz gekleideten Autonomen zusammenmontiert ist), lässt die Stoßrichtung bereits erkennen: Antifa = Nazis, alles böse Extremisten, die mit sinnloser Gewalt unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung kaputt machen. Unbeeinträchtigt von jeglicher Sachkenntnis fabuliert der Autor eine „Gewaltspirale“ herbei, an deren Ende keiner mehr weiß, „wer wann und wie angefangen hat.“

Dreht man die Dummheitsspirale noch ein wenig weiter, könnte man das so übersetzen: Wenn eine Gruppe von ca. 40 Neonazis ein Wohnhaus in Reudnitz angreift (wie es Ende November 2007 geschah, siehe FA! #29), dann nur, weil sie zuvor von den dort wohnenden Student_innen bedroht und angegriffen wurden. Und auch die etwa 70 rechten Hooligans, die mit Baseballschlägern und Messern bewaffnet eine Weihnachtsfeier der linken Ultragruppe Diablos stürmten (siehe FA! #28), taten dies wahrscheinlich nur, weil sie sich anders nicht mehr zu helfen wussten. Tucholskys ironischem Motto „Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft“ folgend, müsste man dann nur ordentlich nett zu den verängstigten Jungmännern sein, damit sie wieder zur Vernunft kommen. Eine interessante Theorie, die nur den Fehler hat, dass sie offensichtlich absurd ist.

(justus)

(1) www.lvz-online.de/aktuell/content/81253.html

(2) zu finden unter www.l-iz.de/Leben/P%C3%A4%20und%20Unf%C3%A41le/2008/12/Kommentar.-Wo-die-Dummheit-fle-200812051428.html

Anarchismus im 21. Jahrhundert

Vom A-Kongress in Berlin

Vom 10. bis 13. April sollte in der Berliner Technischen Universität (TU) der Kongress „Anarchismus im 21. Jahrhundert – Anarchie organisieren“ stattfinden. Doch im Vorfeld sorgte eine zwei Tage vor Veranstaltungsbeginn gestartete Diffamie­rungskampagne seitens der Springer-Presse B.Z. dafür, dass die vorgesehenen Räumlichkeiten der TU den Kon­gress­teilneh­mer_innen verschlossen blieben. Am 08. April titelte das Klatsch­blatt mit der Schlag­zeile „Chaoten planen TU-Kongress“. Im zugehörigen Artikel werden Randale an der Hochschule vermutet, dem Programmheft des Kongresses der Aufruf zu kriminellen Handlungen unterstellt und Angst vor einem angeblich angestrebten „Gesellschaftssystem ohne Regeln“ geschürt. Von theoretischer Weiterbildung, Austausch und Vernetzung ist in dem Text keine Rede. In einer Mitteilung der Pressegruppe des A-Kongresses hingegen wird betont, dass die Veranstaltung „entgegen dem verbreiteten Klischee eines sogenannten Chao­tentreffs […] frei, friedlich, selbst or­ganisiert und ungezwungen eine Dis­kussionsplattform für kritische Betrachtungen der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Situation anstrebt“. Noch am Tag der Veröffentlichung des B.Z.-Artikels zog die TU-Leitung ihre Genehmigung für die Nutzung der Räum­­­­­lich­keiten zurück, ob­wohl der AStA (Stu­die­ren­den­ver­tretung) der TU den Kongress lange vor­her angekündigt und die Räume re­ser­viert und auch zugesagt bekommen hatte.

Obwohl der Kongress damit von der sicherlich öffentlichkeitswirksameren universitären Struktur zurück in die Kreuz­berger subkulturelle Nische gedrängt war, funktionierte Plan B dank Selbstorga­nisa­tion und schönem Wetter bestens. Zwar mussten die größeren Veranstaltungen und der Open Space draußen auf einer leider etwas unruhigen Wiese stattfinden – aber die Location, die New Yorck (Raum emanzipatorischer Projekte) im Bethanien am Mariannenplatz, war doch sicherlich viel schöner…

Die paar hundert Besucher_innen waren nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Russland, England und Schweden angereist. Einige der geplanten Veranstaltungen mussten leider wegen des kurzfristigen „Umzugs“ und der geringeren technischen Möglichkeiten ausfallen. Dennoch gab es eine Vielzahl an Vorträgen, Diskussionen und Workshops zu einem breitgefächerten Themenspektrum (siehe linker Kasten), außerdem präsentierten sich verschiedene Gruppen und versuchten ihre Form der Organisierung schmackhaft zu machen.

Es ging aber nicht nur um die Selbstdarstellung der verschiedenen Strömungen, sondern es wurde auch Selbstkritik an den fast schon traditionellen Missständen innerhalb der Szene laut. Das Verharren im „subkulturellen anarchistischen Ghetto“ wurde ebenso thematisiert wie die problematische Zusammensetzung der Szene aus hauptsächlich männlichen weißen Menschen aus der Mittel- und Oberschicht. Eine Lösung wurde selbstverständlich (noch) nicht gefunden, genauso wenig wie die der männlichen Dominanz allgemein, die sich auch darin widerspiegelte, dass die meisten Veranstaltungen von Männern angeboten wurden (sogar der Anarcha­femi­nis­mus-Vortrag). Die Or­ga­ni­sa­tor_innen hat­ten sich bewusst gegen eine Quotierung der Veranstaltungen entschieden, da sie eben der angestrebten offenen Orga­ni­sa­tions­struktur widersprochen hätte.

Die rege Teilnahme und die insgesamt sehr gute Stimmung zeugten von dem vorhandenen Bedürfnis nach intensiverer Auseinandersetzung mit der Theorie der Herr­schaftsfreiheit. Leider lässt sich diese bei sol­chen kurzen Großveranstaltungen nicht verwirklichen, sondern kann in der Tiefe und im Zusammenhang mit aktuell relevanten Themen, wie bspw. dem Poststrukturalismus, nur in kontinuierlicher lokaler Auseinandersetzung passieren – und die ist leider immer noch selten.

Ob es in drei oder sechs Jahren einen nächsten von der anarchistischen Föderation Berlin veranstalteten Kongress geben wird, bleibt laut Veranstalter_innen abzuwarten. Wohl aber schienen einige Menschen aus Österreich von der Idee des Kongresses so angetan, dass es Aussichten auf einen A-Kongress 2011 in Wien gibt… Wer bis dahin nicht warten mag, dem/der seien die A-Tage in der Roten Flora in Hamburg vom 12. bis 14. Juni 2009 ans Herz gelegt.

„Kongressauflösung“

Noch ein paar Worte zum eher abrupten Ende des Kongresses am Sonntagabend.

Am Sonntagabend wurde der Kongress offiziell aufgelöst. Dies war der Endpunkt einer Auseinandersetzung, die am Sam­stagabend ihren Anfang durch das respektlose Auftreten einer Gruppe nahm, die sich als sexuelle Befreier_innen verstehen, Kritik an ihrer Nacktheit jedoch mit einer homophoben Beleidigung beantworteten. Weder das provozierende Aufdrängen ihrer Nacktheit, noch die Beleidigung führten zum direkten Rauswurf und so spitzte sich die Situation im Laufe des Sonntags durch ein neuerliches Entkleiden und absolute Uneinsichtigkeit zu. Ein Rausschmiss wurde nach stundenlanger Diskussion nicht verwirklicht, da bei einem Teil der Besucher_innen der Eindruck entstand, sie sollten nur aufgrund ihrer Nacktheit ausgeschlossen werden, worauf viele mit Unverständnis und relativer Unterstützung (zumindest durch Passivität) reagierten. Dadurch sahen die Organisator_innen einen antisexistischen Schutzraum nicht mehr gewährleistet und fühlten sich veranlasst den Kongress offiziell aufzulösen. Hier ist leider nicht der Platz um das Thema angemessen aufzuarbeiten, deshalb möchte ich für nähere Informationen und ausführliche Stel­lungsnahmen auf das Wiki des Kongresses, genauer auf die Diskussionsseite unter „Kongressauflösung“, verweisen.

pieke & konne

(www.ainleipzig.blogsport.de)

Mehr Informationen, Protokolle zahlreicher Veranstaltungen und teilweise auch Audio­aufnahmen findet ihr auf dem Kongress-Wiki: www.akongress.org/

Bitte nicht kritisieren!

NS-Symbolik beim Wave-Gotik-Treffen

Kritik an der Programmpolitik des Wave-Gotik-Treffens hat es immer wieder einmal gegeben (siehe FA! # 33). Derzeit schlagen die Wellen aber ein wenig höher als gewöhnlich. Unmittelbarer Anlass ist die Gestaltung der sogenannten Obsorgekarte, die zur Nutzung des Zeltplatzes auf dem AGRA-Gelände berechtigt. Auf dieser war in diesem Jahr u.a. eine „Schwarze Sonne“ abgebildet. Dieses an das Hakenkreuz angelehnte Symbol erfreut sich in rechten Teilen der Schwarzen Szene großer Beliebtheit. Die auf der Karte verwendete, aus 12 Sig-Runen bestehende Variante des Symbols geht auf ein Bodenornament im SS-Schulungszentrum Wewelsburg zurück.

Die Verwendung dieses Symbols sorgt also nicht umsonst für Kritik. Eine öffentliche Stellungnahme zu den Gründen für die Verwendung der „Schwarzen Sonne“ forderte u.a. die Band ASP in einem Brief an die für die Organisation des WGT zuständige Treffen & Festspielgesellschaft für Mitteldeutschland mbH. Statt der eigentlichen Adressaten antworteten die beiden Geschäftsführer der Chemnitzer Veran­staltungsagentur In Move. Auf die klar formulierte Frage gaben auch diese nur eine ausweichende Antwort: Bei der Gestaltung der Karte hätte es einen historischen Bezug zum 2000jährigen Jubiläum der Schlacht im Teuto­burger Wald gegeben, die „Symbolstrukturen, gespiegelt in der Iris des Auges“ würden ein „uraltes Symbol der Sonnenfinsternis“ reflektieren, welches „von den Germanen als ´Inneres Licht´“ verehrt worden sei.

Mit diesen nebulösen Ausführungen gab sich die Band zu Recht nicht zufrieden und erklärte: „Unsere Frage, warum das – unserer Meinung nach hochpolitisch belastete – Symbol der ´Schwarzen Sonne´ benutzt wurde, wurde leider nicht beantwortet.“ Eine Verbindung zwischen der erwähnten „Hermannsschlacht“ und dem Symbol sei leider nur darin zu erkennen, „dass beide Themen in neofaschistischen Gruppen einen hohen Stellenwert einnehmen.“ Die Band schloss: „Wir hatten eine klare Stellungnahme der Treffen & Festspielgesellschaft für Mitteldeutschland mbH erwartet. Zunächst unabhängig davon, ob die Benutzung des (…) Motivs aus Unkenntnis, mangelnder Recherche, aus Versehen, aus Provokation zu Mar­ketingzwecken, in voller politischer Absicht oder aus einem anderen Grund geschah. Solange wir von den Verantwortlichen darüber keine klare Aussage erhalten, müssen wir Euch mit Bedauern mitteilen, dass wir in Zukunft weder als Besucher auf dem Wave-Gotik-Treffen zu Gast sein werden, noch als Teil des Musikprogramms dort zur Verfügung stehen werden“ (1).

Auch einige Besucher_innen des Festivals zeigten sich beunruhigt und veröffentlichten im Internet-Forum des WGT einen offenem Brief (2), in dem sie u.a. forderten, auf die Verwendung der „Schwar­­­­zen Sonne“ und ähnlicher Symbole künftig zu verzichten. Auch die Präsenz eines Ver­kaufsstand des VAWS (Verlag und Agentur Werner Symanek) auf dem Festi­val­ge­lände wurde kritisiert.

Der VAWS übernimmt eine Scharnierfunktion zwischen rechtsoffenen Teilen der Schwar­­zen Szene und neo­nazistischen Gruppen. Eine Zeitlang war der VAWS u.a. für Druck und Vertrieb der Unabhängigen Nachrichten zuständig, einer Zeitschrift, die seit 1969 von den Unabhängigen Freundeskreisen (UFK) herausgegeben wird. Diese orientieren sich ideologisch am „nationalrevolutionären“ Flügel der NSDAP und propagieren einen „völkischen Sozialismus“ (siehe auch FA! # 28). Sie waren anfangs im Umfeld der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei zugange, später pflegten sie enge Kontakte zu Michael Kühnens FAP und zur NPD. Seit 1986 wirkte Werner Symanek als Autor bei den Unabhängigen Nachrichten mit.

Schon bald nach der Gründung des Verlags im Jahr 1991 versuchte er auch, in der Dark-Wave-Szene Fuß zu fassen. Dafür wurde u.a. das Mailorderprogramm durch Tonträger ergänzt, eine Zeitlang gab der VAWS auch ein eigenes Musikmagazin heraus und versuchte, den Verlag als Musiklabel zu etablieren – so brachte der VAWS u.a. CD-Compilations zu Ehren Leni Riefenstahls und des Nazi-Bildhauers Josef Thoraks heraus. Eine ähnliche Strategie, durch gezielte Pro­pagandaarbeit im „vorpolitischen“ kulturellen Bereich an Boden zu gewinnen, verfolgten zur selben Zeit auch die völkischen Nationalisten der Jungen Freiheit. Für eine solche Unterwanderungsstrategie braucht es aber immer noch Leute, die solcher „Unterwanderung“ aufgeschlossen gegenüberstehen. Schützenhilfe aus der Schwarzen Szene kam vor allem von dem Musiker Josef Klumb, der nicht nur beim VAWS mitarbeitete, sondern auch gute Kontakte zur Jungen Freiheit pflegte.

Mit seiner Band Weissglut schaffte es Klumb 1998 sogar, einen Vertrag mit dem Majorlabel Sony zu ergattern – dieser wurde jedoch wieder aufgelöst, als Klumbs Verbindungen zur rechten Szene öffentlich wurden. Anlass dafür war u.a. ein Interview Klumbs mit dem Szenemagazin Gothic, in dem der Musiker sich positiv auf den Verschwörungstheoretiker Jan Van Helsing (alias Jan Udo Holey) bezog und in antisemitischer Manier gegen „Hochfinanz“ und „Zionismus“ wetterte. Seit dem Scheitern seiner Karrierepläne hat sich Klumb immer mehr in ein Privatuniversum aus verschwörungstheo­retischem Verfolgungswahn, Zahlenmystik und Übermen­schen­phan­tasien zurückgezogen. Er pflegt immer noch gute Kontakte zum VAWS, wo u.a. die Veröffentlichungen seines Projekts Von Thron­stahl erscheinen. Von Thronstahl traten nicht nur 2000 beim WGT auf, auch für die Betreuung des VAWS-Standes auf dem Festivalgelände war Klumb zeitweise zuständig (3).

Dies könnte den WGT-Veranstalter_in­nen durchaus bekannt sein. Nicht um­sonst verweisen die Verfasser_innen des offenen Briefes darauf, dass es bereits seit Jahren Beschwerden von Gästen wegen des VAWS-Verkaufsstandes gab. An einer wirklichen Auseinandersetzung mit sachlicher Kritik scheinen die Verantwortlichen aber leider kein Interesse zu haben. Während sie die kritischen Nachfragen im einen Fall einfach ignorierten, fiel die Reaktion auf den im WGT-Forum veröffentlichten offenen Brief noch etwas deutlicher aus: Die entsprechenden Einträge wurden kurz darauf gelöscht und erklärt, politische Diskussionen seien dort künftig nicht mehr erwünscht.

Auch indem sie in dieser Weise dringend notwendige Debatten zu unterbinden versuchen, unterstützen die Veranstal­ter_innen des WGT Ansätze zu einer politischen Verein­nahmung der Schwarzen Szene von rechts – dass ihnen dies nicht bewusst wäre, erscheint mehr als zweifelhaft. Bleibt nur zu hoffen, dass die Auseinandersetzung nicht so schnell wieder im Sande verläuft. Wenn sachliche Argumente nichts bewirken, dann könnten viel­leicht größere finanzielle Einbußen die Veranstalter_innen dazu bringen, ihre Position noch einmal zu überdenken.

(justus)

(1) www.thetalesofasp.com/de/wgtstate­ment.html

(2) www.labellos.de/forum/viewtopic/wgt-die-politik-und-das-verbot-der-freien-meinung-5.html

(3) einen guten Überblick zum VAWS und zu Klumb liefert z.B. Schobert/Dietzsch/Kellershohn: „Jugend im Visier – Geschichte, Umfeld und Ausstrahlung der Unabhängigen Nachrichten“, DISS, Duisburg 2002.

Tod der Diktatur!

Zur Situation im Iran

Die Protestbewegung im Iran hat einiges ins Wackeln gebracht. Die Anzeichen, dass ein grundlegender Wandel be­vorsteht, verdichten sich. Längst wird unter gebildeten Iraner_innen mehr oder we­niger offen über Repression, die Verwei­gerung bürgerlicher Freiheiten und die außenpolitische Isolation des Landes diskutiert. Die Bewegung stellt in vielen Bereichen die bislang in der „islamischen Republik“ herrschenden Verhältnisse in Frage.

Die Unzufriedenen

Obwohl auch Frauen im iranischen Parla­ment sitzen (allein aus dem Grund, weil die heutigen Machthaber auf ihre aktive Un­terstützung bei der Revolution ´79 an­ge­wiesen waren), hat sich die rechtliche La­ge verschlechtert. Kenner der Lage sprechen häufig von Geschlechterapartheid. So dürfen Frauen bspw. nicht einmal Fahrrad fahren. Bereits kurz nach der Vertreibung des Schahs und der Machtübernahme durch die islamische Republik unter Führung Khomeinis vor 30 Jahren gab es erste Demonstrationen gegen den Schlei­er­zwang.

Realpolitische Erfolge gegen die diskrimi­nie­rende Gesetzgebung des Regimes kann die Frauenbewegung zwar nicht vorweisen, doch konnten Aktivistinnen z.B. Steinigungen verhindern, über Folter sowie Ar­beitsverhältnisse der Frauen aufklären und diese bei Scheidungen unterstützen. Außerdem wuchsen sie, besonders durch staat­liche Repression, zu einer der zahlenmäßig stärksten Oppositionsgruppen an. Sie konnten das Thema Frauenrechte in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Bei den aktuellen Protesten sind sie deshalb auf gleicher Augenhöhe mit den männ­lichen Regimegegnern. Nicht zufällig wurde die bei den Demonstrationen ermordete Studentin Neda Aghasoltan zur Symbolfigur des Protestes gegen das is­la­mistische Regime.

Anlass für die Proteste waren zwar die Wah­len im Juni, aber die wichtigsten Beweggründe sind die Unterdrückung der Frauen, verbunden mit der Pressezensur, der Einschränkung des kulturellen Lebens, der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit Armut, Inflation und sozialer Unsicherheit sowie der politischen Ohnmacht.

Inzwischen haben die Proteste flexible Ak­tionsformen angenommen, statt nur noch Massendemonstrationen gibt es vermehrt kleinere, dezentrale Blockaden, die für die Machthaber nicht mehr so leicht kon­trol­lierbar sind und daher meist nur wenige Ver­haftungen nach sich zogen. Eine Stärke der Bewegung ist einerseits ihre Vielfältigkeit – Religiöse und Nichtreligiöse, Junge und Alte, Frauen und Männer – anderseits der gemeinsame Gegner, das er­starrte Regime. Bisher ist die Bewegung vor allem auf die Großstädte begrenzt. In den ländlicheren Regionen ist es dagegen bisher eher ruhig geblieben, denn dort ha­ben die Menschen größere Angst vor Re­pr­ession, da sie leichter identifizierbar sind – in den Minderheitenregionen (lediglich 58% der Bevölkerung haben Persisch als Muttersprache (1)) wie beispielsweise den Kurdengebieten im Westen des Landes, ist außerdem die Militärpräsenz sehr stark.

Die moderne Jugend

Was die aktuellen Aufstände für Ergebnisse bringen werden, hängt zum größten Teil davon ab, wie das politische Lager in den kommenden Wochen und Monaten reagieren wird. Viele Iraner_innen vergleichen die massiven Proteste mit dem Ausbruch eines Vulkans. Die Frage wäre also nicht ob, sondern wann und wie sie das Regime zum Kollabieren bringen werden. Dass das gegenwärtige System selbst in An­sätzen nicht reformierbar ist, hat die junge Generation von Iraner_innen (der Großteil der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre) auf die harte Tour lernen müssen. Nicht nur, dass die reformistischen Ansätze von Politikern wie Mohammed Chatami aufgrund der alles überragenden Machtposition des seit 1989 amtierenden geistlichen Führers Ajatollah Chamenei ins Leere liefen, in den letzten 20 Jahren wur­den auch alle Protestaktionen mit brutaler Repression beantwortet. Auch heute sind willkürliche Verhaftungen mit Folter und Ermordung von Systemkriti­ker_in­nen an der Tagesordnung. Die soziale Bewegung konnte dadurch zwar im Wachstum behindert, aber nicht zerschlagen werden. Somit sieht sich die iranische Führung momentan mit sehr bunten und viel­gestaltigen Gruppen und Protestfor­men konfrontiert. Denn trotz aller Ein­schüch­terungsversuche lassen sich weite Teile der Bevölkerung nicht zwingen, sich mit der theokratischen Staatsideologie zu identifizieren.

Zu großen Teilen werden die Proteste von Jugendlichen getragen, die zuvor nicht po­litisch aktiv waren, aber sich durch die Le­bensverhältnisse im Iran eingeengt fühlen. Umso mehr, als das Internet und die damit einhergehenden Möglichkeiten der glo­ba­len Kommunikation und Vernet­zung den Blick über den Tellerrand drastisch vereinfacht hat. Die westliche Wahrnehmung der Vorgänge in der islamischen Republik speist sich fast ausschließlich aus Twitter-Meldungen, YouTube-Videos und Facebook-Einträgen. Dies zeigt zum einen, dass sich unter den Regimegegnern viele jun­ge und formal gebildete Menschen be­finden, zum anderen, wie wenig sie der Re­pressionsdruck der Überwachungsorgane zu beeindrucken vermag. Immer­hin werden infolge der ersten Verhaftungswellen zumeist die Gesichter der Protestierenden unkenntlich gemacht. Auch im Iran selbst ist die Informationslage un­über­sichtlich, die Regierung lässt gezielt un­liebsame Journalist_innen und Akti­vi­st_innen verhaften oder verschwinden und nutzt die unter anderem von Nokia Siemens Networks (MSN) gelieferte Technik zur Kontrolle der Kommunikation (2).

Reformer und Revolutionäre

Die iranischen Blogger_innen, Intellektuellen, Menschenrechtler_innen und sonstigen Demonstrationsunterstützer_innen, ebenso wie die exiliranischen Organisationen sind sich weitgehend einig, dass das herrschende System dem Untergang geweiht ist. Das sicherste Zeichen dafür ist, dass die Menschen die Angst und den Respekt vor dem Regime verlieren. Als vor allem in den Großstädten Hunderttau­sende auf die Straßen gingen, skandierten sie im Überschwang der Gefühle Parolen wie „Tod dem Diktator“ und „Tod Dir!“, die sowohl auf den Präsidenten Ahmadinedschad als auch auf den geistlichen Führer Ajatollah Chamenei gemünzt waren und brachen damit ein Tabu. Offene Kritik am geistigen und faktischen Staatsoberhaupt galt bislang als kürzester Weg zur umgehenden Hinrichtung.

Die Reaktionen der iranischen Führungselite dagegen sind von Planlosigkeit und ersten Anzeichen von Panik gekennzeichnet. Große Geldsummen werden ins Ausland verschoben, auch der Umgang mit Ver­hafteten ist ein Indiz für die um sich greifende Unsicherheit: Schwiegen sich die Behörden zunächst noch über die An­zahl und Identitäten der Inhaftierten aus, wurden die Namen später doch noch veröffentlicht. Am 28. Juli schließlich wurden auf Anordnung des obersten Rechtsgelehrten Chamenei die meisten Insas­s_in­nen eines Gefängnisses, wo es zu massiven Miss­handlungen und Vergewaltigungen ge­kommen war, gegen Zahlung einer Kaution entlassen, dieses soll nun geschlossen werden. Auch einige Beamte der Sicherheitsapparate wurden ohne Angabe von Gründen ausgetauscht. Interessant ist, dass sich viele Ajatollahs, Mullahs und Parlamentarier, die in Opposition zu Ahmadinedschad stehen, entweder vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben oder sich zumindest vorsichtig zugunsten der empörten Masse aussprechen. Aus Protest gehen Ajatollahs ins Exil, ins irakische Nadschaf, die zweite wichtige Stadt der shiitischen Geistlichen neben Qom.

Die iranische Machtelite ist in konkurrierende Clans gespalten, die sich am ehesten mit Mafiosifamilien vergleichen lassen. Wer Schwäche zeigt, indem er von seinen Forderungen auch nur ein Stück zurückweicht, begeht damit zugleich politischen Selbstmord. Das patriarchalische System stützt sich seit Beginn der islamischen Republik auf Korruption und Gün­stlingswirtschaft. Dessen sind sich auch die Iraner_innen bewusst.

Die Diskussion wird vor allem von zwei Gruppen geprägt. Da ist zum einen der radikale Diskurs, der in der Frauen-, Studierenden- und Arbeiter_innenbewegung weit verbreitet ist. Diese fordern, dass die Bevölkerung an allen Entscheidungen teilhaben muss, soziale und politische Gleich­be­rechtigung und die Unabhängigkeit des Landes von fremden Interessen. Vor allem die Frauenbewegung vertritt, ausgehend von der Kritik an der patriarchalen Herrschaft, stark antiautoritäre Positionen. Durch die Repression haben diese Bewegungen bis jetzt keine größeren Organi­sa­tionsstrukturen bilden können – Gewerkschaften z.B. sind im Iran verboten. Dies führt auch dazu, dass der radikale Teil des Protestbewegung weniger beachtet wird als die sogenannten Reformer. Da einige von diesen selbst Teil des Machtapparats sind, haben sie auch Zugang zu den Medien. Die „Reformer“ vertreten vor allem liberale Positionen, wie sie auch von vielen iranischen Intellektuellen, Schrift­steller_innen, Journalist_innen, Wirt­schafts­wissenschaftler_innen usw. geteilt werden. Sie wollen die iranische Wirtschaft modernisieren, das Land nach außen öffnen, ein Mehrparteien-System nach westlichem Vorbild einrichten, Staat und Religion trennen – wobei es unterschiedliche Meinungen gibt, wie weit die Trennung gehen soll. Sie machen vor allem die Mißwirtschaft und Korruption der Regierung und der mit dieser verbundenen Machtcliquen für die Armut im Land verantwortlich – eine normal funktionierende kapitalistische Wirtschaft wür­de ihrer Meinung nach diese Miß­stände beseitigen. Ähnliche Positionen wer­den auch von einigen – von den USA und der EU finanziell unterstützten – exiliranischen Gruppen und über die per­sischsprachigen Sender von BBC, Deutscher Welle oder Voice Of America propagiert.

Das Verhältnis zwischen diesen Fraktionen und den „Aushängeschildern“ des Protestes, wie den bei der Wahl gescheiter­ten Kandidaten Charrubi und Mussawi ist widersprüchlich. Charrubi und Mussawi kön­nen, da sie Teil des Apparates sind, Kri­tik an der Regierung üben und den Protestierenden einen gewissen Schutz bieten. Gleichzeitig versuchen sie, den Protest für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Liberalen haben derzeit die Oberhand in der Bewegung, aber auch Angst da­vor, dass der Protest sich weiter radikalisieren könnte. Wenn das geschieht, könnten die Gegensätze unter den Protestierenden, die zur Zeit durch die gemeinsame Opposition gegen das Regime überdeckt werden, in den Vordergrund treten. So weit könnte es schon bald kommen, denn obwohl die Repression zunehmend brutaler wird, ist nicht zu übersehen, dass das Regime die Kontrolle über die Lage ver­liert. Die Frage ist, welche Fraktion sich durchsetzen wird, wenn das Regime stürzt, ob der regime change über die Köpfe der großen Mehrheit der Bevölkerung hinweg geschieht. In diesem Fall würde wohl der Iran in einen liberal-kapitalistischen Staat nach westlichem Vorbild umgewandelt und einige Reformen durchgeführt werden. Wenn es den „Reformern“ gelingt, die auch für sie und ihre Ziele gefährliche Situation in dieser Weise zu beruhigen, wür­de das aber auch das Fortbestehen sozialer Ungleichheiten, der Benachteiligung von Frauen ebenso wie der kurdischen, aser­baidschanischen und anderer Minderheiten bedeuten. Unter diesen Umständen dürfte es eine lange Zeit dauern, bis die sozialen Bewegungen im Iran wieder an dem Punkt stehen, an dem sie heute sind. Aber noch ist die Sache nicht entschieden: Sollte es wirk­lich zu einem Generalstreik kommen (eine Möglichkeit, über die viele Arbeite­r_innen diskutieren), könnten auch die Reformer an den Rand gedrängt werden.

Die emanzipatorischen Kräfte stehen im Iran dem Regime und den Reformern gegenüber, auch auf Hilfe von der westlichen Politik können sie nicht rechnen. Sie sind auf unsere Unterstützung angewiesen.

(waldorf & statler)

(1) de.wikipedia.org/wiki/Iran

(2) Kein Geschäft mit den Mullahs, taz vom 29.06.09

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht…

Treffen sich zwei griechische Anarchos. Meint der eine: „Du, wollen wir unsere Mollies lieber am Anfang der Demo oder am Ende werfen?“ Darauf der andere: „Ach, hör bloß auf mit deinem Theoriescheiß!“

Das kam in letzter Minute: Kurz vor dem Ende des Jubiläumsjahres versuchte die griechische radikale Linke noch, ein Remake des Mai `68 auf die Bühne zu bringen. Ganz hat es nicht geklappt, Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Ein wenig dankbar kann mensch den griechischen Anarchist_innen dennoch sein. Immerhin widerlegen sie (im Verbund mit der allgegenwärtigen Finanzkrise) sehr schlagfertig die These vom „Ende der Geschichte“. Ganz so krisensicher ist der Kapitalismus anscheinend doch nicht.

Aber eine Straßenschlacht macht noch keine Revolution, auch wenn die Polizei dabei ausnahmsweise mal den Kürzeren zieht und das Kampfgetöse dabei so laut wird, dass es auch von der „bürgerlichen“ Presse im Ausland nicht ignoriert werden kann. Interessanter als die spektakulären Bilder von brennenden Autos und marodierenden „Chaoten“ ist allemal, was am Rande geschah und geschieht, bei den Besetzung von Universitäten, Rathäusern und Gewerkschaftszentralen. Solche Ansätze einer weitergehenden Selbstorganisierung werden von der Mainstream-Presse lieber ignoriert. Nicht nur, weil es eben nicht spektakulär genug aussieht, wenn Leute gemeinsam diskutieren, wie sie künftig leben wollen, sondern auch, weil gerade das die Leser_innen auf gefährliche Ideen bringen könnte: Das Infragestellen der geltenden Eigentumsordnung ist für unsere Gesellschaft allemal bedrohlicher als ein Angriff auf die Polizei.

Leider scheinen die griechischen Radikalen das gern mal zu vergessen. Das ist auch der große Unterschied zum französischen Mai ‘68. Im Gegensatz zu damals werden eben noch keine Fabriken besetzt. Die Ereignisse in Griechenland mögen also einen ganz netten Aufstand darstellen, ein Auftakt zur demnächst folgenden Weltrevolution sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Aber immerhin rufen sie eine wichtige Tatsache in Erinnerung: Dass Geschichte noch immer das Ergebnis menschlichen Handelns ist – und dass es nicht immer nur die „großen Persönlichkeiten“ sind, die Geschichte machen.

(justus)

Vom Ende der Arbeit

Ein kurzes Plädoyer gegen die Leistungsmoral

Im Superwahljahr 2009 werden wir es wieder bis zum Erbrechen ertragen müssen, das Loblied auf die Heilige Arbeit. Parteiideologen aller Fraktionen vereinigen sich zu einer plärrenden Kakophonie mit einer einzigen Botschaft: Arbeite, Mensch! Es ist kaum zu glauben, wie einig sich doch die angeblich so zerstrit­te­nen Parteien des deutschen Parlamentarismus von NPD über CDU bis SPD und LINKE in diesem Punkt sind. Wie besessen starren sie auf das nationale, volkswirtschaftliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. die Steuererträge und säuseln fortwährend: Mehr, mehr, mehr! Ganz so, als wäre der größte Segen der modernen technischen Revolutionen die knechtische Abhängigkeit und nicht die freiwillige Unabhängigkeit von der Arbeit. Dem armen Proleten ist eine zweite Natter an den Lohn­beutel gesprungen. Neben den Chefs und Verwaltern der Kapitalerträge schwingt nun auch der Staat seine Peitsche über den arbeitenden Massen und treibt sie beständig zu noch mehr Leistung an. Dabei haben Milliarden von Händen und Geistern in weniger als zwei Jahrhunderten mehr Wunderwerke und unvorstellbaren Luxus geschaffen, als jemals zuvor, hat die rationale Arbeitsteilung und technische Innova­tion das Quantum der nötigen Arbeit fortwährend minimiert.

Es liegt daran, dass viele Politiker Europa lieber als Sündenbock missbrauchen, anstatt sich dem Grundproblem zu stellen: Die Arbeit verschwindet. Das will kein Politiker seinen Wählern erzählen.“ – Jeremy Rifkin (1)

Doch anstatt dererlei Errungenschaften unserer Eltern und Älteren sinnvoll einzusetzen und zweckmäßig zu nutzen, nachhaltig mit unseren natürlichen Voraussetzungen und Ressourcen umzugehen, proklamieren die politischen Parteien eine verschwenderische Ver­brauchskultur, um möglichst viele Menschen, oh Segen, möglichst lange in lohnabhängiger Arbeit zu halten. Aber würde nicht JedeR gerne weniger arbeiten, wenn die Arbeitszeit nicht gleichzeitig die Höhe des Lohnes bemessen würde? Doch anstatt bspw. für den 4-Stunden-Tag und vernünftige Löhne zu kämpfen, können sich die Herren und Damen in der EU nicht einmal auf eine maximale Arbeitszeit von 65 Stunden pro Wo­­che einigen. Ein Grund mehr, keiner/m dieser Fa­na­ti­kerIn­nen der Arbeit eine Stimme zu geben. Offensichtlich ist denen die Arbeit derart zum Selbstzweck geraten, dass sie wie der dümmste Bauer ernsthaft glauben, dass man die Saatkartoffeln selbst und nicht deren Früchte ernten könnte. Und der Zweck dieser Art von ständiger „Mehrarbeit“ steht tatsächlich in Frage, wenn er nur zur Entschuldung der staatlichen Budgets und zur Rückversicherung riskanter Finanzspekulationen nutzt. Noch dazu wenn die Formen der kapitalistischen Lohnarbeit die Menschen zu­einander isolieren, demütigen, erniedrigen und ihre natürlichen Kräfte ohne Regene­rationszeit verheizen. Ganz zu schweigen von dem zügellosen Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten. Was wir dagegen brauchen sind qualitative Veränderung in den Arbeits- und den daran gekoppelten Lebensverhältnissen anstelle von rein quantitativem Wachstum, dessen Verteilung obendrein nach wie vor unfair und ungerecht verläuft. Unter solchen Bedingungen den Arbeitswahn noch anzuheizen, ist nicht nur dumm sondern auch grob fahrlässig gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern. Ja wozu arbeiten wir überhaupt, wenn die Werte, die wir erschaffen, nicht mal mehr unsere Kinder erreichen? Der Zweck der Arbeit, also das Ziel, welches wir mittels der Arbeit anvisieren, scheint uns in der kapitalistischen Arbeitswelt völlig entraten zu sein. Stattdessen arbeiten wir, um Geld zu verdienen: Hauptsächlich für die ohnehin Ultrareichen und die stets klam­men Staats­kassen. Pfennigfuchsend klauben wir dann noch unseren miesen Restlohn zusammen und hoffen darauf, uns mit dem bisschen Geld ohne Verschuldung all das erkaufen zu können, was uns ja eigentlich die menschliche Arbeit vermitteln sollte: Essen, Luxus, Mobilität, Frei­heit – Glück. Oder anders ausgedrückt: Das Ende der Arbeit. Denn in wel­chen Bereich der Gesellschaft und auf welche Art der Arbeit wir auch schauen, überall ist als lohnender Sinn der Arbeit doch ihr Zu-Ende-gehen mitge­setzt, verbunden mit einem Wohlgefühl von Zufriedenheit und Los-Gelassenheit, von Genuss und Müßiggang – am Abend nach der Schicht, am Sonn­tag nach der Gartenarbeit, nach erfolgreichem Ab­schluss eines Projektes, bei der Ausstellung einer vollendeten kreativen Schöpfung. Es steckt eben ein tieferer Sinn hinter der Arbeit, als uns die kapitalistischen Verhältnisse glauben machen. Der Mensch arbeitet sich an seiner Umwelt ab, nicht um der Arbeit selbst wegen, auch nicht wegen des Geldes, sondern um seine vielfältig gesteckten Ziele zu erreichen und seine Welt so einzurichten, dass sie ihm oder ihr bequem, gefällig und heimisch wird. Arbeit und Geld sind hierfür nichts als die Mittel. Und dieser Sinn der Arbeit lässt sich derzeit utopisch kaum besser fassen, als wenn wir von ihrem Ende redeten.

Das ist die Hoffnung, an die wir uns seit Jahrzehnten geklammert haben. Die kapitalistische Logik sagt, dass technologischer Fortschritt und gesteigerte Produktivität alte Jobs vernichtet, dafür aber mindestens genauso viele schaffen. Aber die Zeiten sind vorbei.“ – Jeremy Rifkin (2)

Jacques Derrida hat in einem Vortrag 1998 in Amerika ein ähnliches Thema aufgegriffen (3), als er über die Veränderung an den Universitäten sprach. Nach ihm sollten wir für einen neuen Blick auf die Arbeit so tun, als ob das Ende der Arbeit schon am Ursprung der Welt stünde. So verrückt, wie die Post­modernisten oftmals sind, etwas Spannendes verbirgt sich in diesem virtuellen Blick zurück. Denn aus dieser Perspektive erblicken wir plötzlich, dass in den mythischen Ursprungserzählungen über unsere Welt, ein utopischer Gehalt bereits enthalten ist, der von Ausgang und Ende der Arbeit kündet. Wie bspw. die christlich müßig­gän­ge­rische Metapher vom Garten Eden, dernach am Ursprung der Welt die Arbeit und ihr Ende gleichzeitig und mühelos verlaufen. Erst nach Paulus’ kosmologischer Entrückung von Paradies und Welt, der Trennung von Diesseits und Jenseits, erscheint das irdische Leben als ein Ver­dammt­sein zur Arbeit und unausweichlicher Buße. Worauf uns Derrida mit dieser historischen Spur aufmerksam machen will, ist, so meine ich, ein zumindest kulturgeschichtlich überlieferter Zusammenhang zwi­­schen dem Sinn, den wir der Arbeit bei­­messen und dem Zweck, für den wir sie auf uns nehmen. Genauer: Wir arbeiten beständig am Ende der Arbeit, um im Moment des Erreichens, unsere gesteckten Ziele zu erfüllen und wir setzen uns stets Aufgaben vor, um im Augenblick ihrer Lösung, die Arbeit auch beenden zu können. Derrida denkt hier sicher auch an Marxens Begriff der nicht entfremdeten Arbeit, doch will er nicht abstrakt die kapitalistische Lohnarbeit als fremdbe­stimmte auszeichnen, sondern sie ganz kon­kret um eine seines Erachtens wichtige Bestimmung ergänzen, um die gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt besser begreifen zu können. Denn wenn wir uns mit Niedergang der großen Fabriken, mit dem maschinellen und digitalen Fortschritt beschäftigen und die moderne Cyber-Welt der Roboter, die menschenlose Fabrikation betrachten (4), müssen wir in kein Klagelied über den Verlust der Vollbeschäftigung verfallen. Im Gegenteil, mit einer geschärften Perspektive auf ein mögliches Ende der Arbeit, erkennen wir, dass es ja gerade der Sinn der technischen Innovation war, die menschliche Arbeit zu erleichtern und hier nahezu zu beenden. Der Mensch erfindet sich eben keine Werkzeuge, allein um sie durch bessere zu ersetzen, sondern vor allen Dingen, um die Mühe und notwendige Arbeitszeit abzusenken. Solcherlei philosophische Klugheit hält Derrida für uns bereit: Das Ende der Arbeit nach mehr als 200 Jahren irrwitziger Produktivität auch geschehen zu lassen. Was nicht heißt, dass es in Zukunft überhaupt keine Arbeit mehr geben wird, sondern nur, dass wir uns die Gelassenheit leisten können, dem Verschwinden der kapitalistischen Lohnarbeit unaufge­regt zu zusehen, und eher auf die Chancen zu achten, die sich daraus ergeben. Klar, wir werden immer für bessere Lebensbedingungen arbeiten und kämpfen müssen. Eine Welt ohne Arbeit wäre ja eine, die andere für uns hergestellt haben und die wir nur bedenkenlos verbrauchen. Und eine solche Haltung zur „Arbeitslosigkeit“ ist geradezu kindisch, wie der Glaube der Kapitalisten, dass „nur“ das Geld für ihren Luxus arbeiten würde. Optimistisch betrachet, können wir uns aber in dieser unserer Welt viel weniger Arbeit leisten, als uns so manche Ideologen glauben machen wollen. Stattdessen sollten wir uns mehr Zeit nehmen, Gedanken und Ideen darüber zu erspinnen, wie sich Güter und Waren auch ohne Lohnabhängigkeit besser verteilen lassen und wie wir den Herren und Damen Funktionären des kapitalistischen Wirtschaftssystems endlich verklickern können, dass unser neues Ar­beitsethos nicht das ewige Leistungsdiktat sondern das heilsame Ende der Arbeit verspricht.

(clov)

 

(1) Aus dem Interview „Langfristig wird die Arbeit verschwinden“ der Stuttgarter Zeitung vom 29. 04. 2005, u.a. nachlesbar hier: www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/916564?_skip=0

(2) Ebenda

(3) Jacques Derrida, „Die unbedingte Universität“, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2001

(4) Mehr dazu hier: Jeremy Rifkin, „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 2005

Probleme erfolgreich verdrängen

Notizen zur Leipziger Drogenpolitik

15. Juni. Ortstermin im neu eröff­ne­ten Wächterhaus in der Eisen­bahn­straße 109. Im ersten Stock drängen sich rund 40 Menschen, auf dem Programm steht eine Diskussionsrunde zur für Ende Juli geplanten Installation einer Polizeikamera an der Kreuzung Eisen­bahnstraße/Hermann-Liebmann-Straße. Das Viertel hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Anlaufpunkt für die Leipziger Drogenszene entwickelt, die soll nun mit Hilfe der Überwachung verdrängt werden. Auf dem Podium sitzen neben Polizeipräsident Wawrzinsky auch ein Jurist, ein Sozialarbeiter, ein Vertreter der über­wachungskritischen Initiative Leipziger Kamera und einige Lokalpolitiker, die sich angesichts der kurz bevorstehenden Kommunalwahlen diese Möglichkeit zur Selbstdarstellung nicht entgehen lassen wollen.

Die Fronten der Diskussion sind nach wenigen Minuten klar. Wawrzynski ist für die Kamera, weil diese helfe, die Drogenszene aus dem Viertel zu verdrängen. Zudem ließe sich so das subjektive Sicherheitsgefühl der Anwohner_innen stärken. Der Vertreter der Bürgervereini­gung Lo(c)kmeile (einem Zusammenschluss örtlicher Geschäftsleute) steigt mit dem Klassikerzitat aller Über­wachungs­befürworter_innen in die Debatte ein: „Wer nichts zu verbergen hat, den stört auch keine Kamera“. Dem Treiben der Dealer müsse ein rigoroser Riegel vorgeschoben werden. Außer Schilderungen der üblen Zustände im Viertel hat er aber im weiteren Verlauf wenig zur Debatte beizutragen.

Der Vertreter des Neuen Forums dagegen hält die Kamera für reine „Symbolpolitik“; Jürgen Kasek von den Grünen zitiert verschiedene Studien, die zum Ergebnis kommen, dass Überwachung weder Kriminalität reduziere noch das Si­cherheitsempfinden verbessere. In der Tat scheint es zweifelhaft, ob die Leute sich sicherer fühlen, wenn ein bestimmter Ort durch Videoüberwachung und erhöhte Polizeipräsenz als „Kriminalitätsschwer­punkt“ gekennzeichnet wird. Was der Herr von der FDP meint, bleibt unklar.

Uwe-Dietmar Berlit (Richter und Juraprofessor) hingegen gefällt sich in der Rolle des Politikberaters: Natürlich, so doziert er, würde Videoüberwachung die Drogenszene nur verdrängen – aber wenn man denn verdrängen wolle, seien Kameras ein geeignetes Mittel zum Zweck. Zusätzlich bräuchte es natürlich flankierende Maßnahmen, um eine „1-zu-1-Verdrängung“ zu vermeiden, d.h. die Zahl der Abhängigen tatsächlich zu reduzieren. Kameras für die Verdrängung, „flankierende Maßnahmen“ zu Lösung des Problems. So kann mensch es auch ausdrücken, dass Überwachung nichts bringt.

Ganz unabhängig von den Ratschlägen des Professors ist die Verdrängungspolitik ohnehin seit langem die Leitlinie der Leipziger Polizei. Im Suchtbericht der Stadt Leipzig von 2008 heißt es dazu: „Die Polizeidirektion Leipzig verfolgt das Ziel, die Anbieter- bzw. Konsumentenszene durch permanente polizeiliche Einsatzmaßnahmen unter Kontrolle zu halten. Durch einen hohen Verfolgungsdruck sollen der Handel und der Konsum von Betäubungsmitteln sowie Ansammlungen betäubungsmittelabhängiger Personen im öffentlichen Raum, insbesondere der Innenstadt, an touristischen Zielen, in Wohngebieten sowie im Umfeld von Schuleinrichtungen konsequent unterbunden werden“ (1).

Bereits die Installation der ersten Polizeikamera am Bahnhofsvorplatz 1996 diente dazu, die Drogenszene in andere Bereiche abzudrängen. Eine Lösung des Dro­gen­problems war dabei nur ein nach­rangiges Ziel, vielmehr bestimmten harte Geschäftsinteressen das Vorgehen. Der gerade zur Shoppingmall umgebaute Hauptbahnhof und die Innenstadt sollten für Tourismus und Konsum attraktiver gemacht werden – die Drogenabhängigen passten dabei nicht ins Bild. In einer gemeinsamen Einsatzgruppe „Bahnhof-Zentrum“ arbeiten Polizei, Bundespolizei und Ordnungsamt zusammen, um die Innenstadt „sauber“ zu halten.

Mit zweifelhaftem Erfolg: Stefan Kuhtz vom Integrativen Bürgerverein Volkmarsdorf trifft den wunden Punkt, als er in der Diskussion darauf hinweist, dass gerade die Verdrängung aus der Innenstadt dafür verantwortlich ist, dass der Leipziger Osten sich seit 2007 zum Anlaufpunkt für die Drogenszene entwickelt hat. Jetzt will man sie dort wieder wegkriegen. Schon 2008 wurde der Leipziger Osten von der Polizei zum „Kontrollschwerpunkt“ erklärt und wird seitdem verstärkt bestreift. Im Rabet, einer Parkanlage in unmittelbarer Nähe zur Eisenbahnstraße, wurden die Büsche auf Hüfthöhe gestutzt, um „Dealern“ keine möglichen Verstecke zu liefern. Auch an der Eisenbahnstraße gelegene Lokale würden verstärkt kontrolliert, erklärt Wawrzynski. Die Antwort des Polizeipräsidenten auf die Frage eines Gastes, wohin er denn die Leipziger Drogenszene jetzt verdrängen wolle, ist symptomatisch: „Aus der Stadt“, entgegnet Wawrzynski. Das Gelächter des Publikums ignoriert er mit stoischer Miene.

Nach einer Weile dreht sich die Diskussion nur noch im Kreis. Als Polizeipräsident bleibt Wawrzynski der üblichen Polizeilogik verpflichtet. Der Herr von der FDP möch­te sich lieber auf solide Handarbeit als auf die Technik verlassen und plädiert für verstärkte Polizeistreifen im Viertel, Sozial­arbeiter Kuhtz dagegen fordert mehr bür­gerschaftliches Engagement. In der Pro­blem­de­fi­nition ist mensch sich also weit­ge­hend einig, nur in der Wahl der geeigneten Gegenmittel streitet man sich.

Schön, dass im Publikum ein paar Men­­­schen mitden­ken und darauf hinweisen, dass das zur Debatte stehende Problem erst durch die repressive Drogenpolitik produziert wird: Erst die Kriminalisierung bestimmter Substanzen und ihrer Konsu­ment_innen macht die Abhängigkeit zu dem garstigen Komplex von Beschaffungskriminalität, Prostitution, Verelendung und gesundheitlichen Schäden, mit dem anschließend weitere repressive Maßnahmen gerechtfertigt werden – getreu dem Motto: „Wenn das, was wir tun, keine Wirkung zeigt, haben wir noch nicht genug getan“.

Lösen lässt sich das Problem so nicht, es wird eher noch verschärft. Der Handel mit harten Drogen wie Heroin ist bekanntlich ein einträgliches Geschäft – schließlich trifft in diesem Bereich eine relativ stabile Nachfrage auf ein durch staatliche Eingriffe künstlich verknapptes Angebot. Die Kriminalisierung verhindert auch eine Qua­litätskontrolle des zum Verkauf stehenden „Stoffs“ (auch wenn Inititativen wie die DrugScouts diese Lücke zu schließen versuchen). Gesundheitsschäden durch gefährliche Inhaltsstoffe wie Strychnin (Rattengift) oder zer­mahlenes Glas sind ebenso eine mögliche Folge wie der Tod durch Überdosierung.

An solchen Ursache-Wirkungs-Analysen ist Wawr­zyns­ki nicht interessiert. Lieber gibt er die üblichen Elends­stories von sich prostituierenden 13jährigen Mädchen und von sogar aus Magdeburg zum Einkauf anreisenden Junkies zum Besten. Viel mehr als Repression kann die Polizei ohnehin nicht leisten – für alles andere sind die Sozial­arbeiter_innen zuständig. Dabei gestaltet sich das Verhältnis zwischen polizeilichen Verdrängungsbe­mühungen und sozialer Betreuung nicht ganz so wider­spruchsfrei, wie es in den behördlichen Strategiepapieren konzipiert wird. Um den Abhängigen helfen zu können, müssen die Streetworker sie schließ­lich erst einmal finden. Die Strategie der Polizei, mit der sie die Herausbildung einer „offenen Anbieter- bzw. Konsumen­ten­szene“ verhindern will, steht dem genau ent­gegen. Damit die Streetworker in diesem Wettlauf mit der Polizei mithalten können, wird demnächst ein „Drogenmobil“ für die Betreuung des Leipziger Ostens im Einsatz sein. Zusätzlich soll die Zahl der momentan in der Eisenbahnstraße ansässigen Sozialarbei­ter_innen von zwei auf vier erhöht werden.

Derweil streiten sich Polizeipräsident Wawrzynski und der Kandidat der FDP darüber, ob die Zahl der Polizisten in Leipzig nun eher sinkt oder steigt. Während der Herr von der FDP meint, sie würde eher sinken, verweist Wawrzynski darauf, dass erst im Herbst 2008 300 neue Beamte eingestellt worden seien, im Laufe des Jahres 2009 sollten noch einmal 300 dazukommen. Mal sehen, ob sich mit deren Hilfe das Problem endlich in den Griff bekommen lässt. In jedem Fall war es gut, mal drüber gesprochen zu haben, auch wenn die meiste Zeit aneinander vorbeigeredet wurde. Wenn die polizeiliche Verdrängungspolitik Erfolg hat, dürften ähnliche Diskussionsrunden demnächst vermutlich in Plagwitz oder Lindenau stattfinden.

(justus)

(1) www.leipzig.de/imperia/md/con­tent/53_gesundheitsamt/suchtbericht2008.pdf

Reisebericht: Turkey – Imagined Community III

Schwaben goes Turkiye

Mal wieder ein wichtiges Dokument verloren. Mal wieder Opfer des bürokratischen Hürdenlaufs. Ich steige in ein Sammeltaxi in Richtung Haupt-Polizeirevier. Ich frage wohin die Reise geht, denn Fahrpläne gibt es hier nicht und Sammeltaxis haben keine fixen Haltestellen. Auf dem Vordersitz des gelben Kastenautos sitzt ein Fahrgast, der mir erklärt, wo das Taxi hinfährt und wie ich zu besagtem Polizeirevier komme. Irgendwas an der Art und Weise wie er spricht, erinnert mich an zu Hause. Als ich aussteige, steigt der Mann auch aus, sagt, er müsse in dieselbe Richtung. Nach wenigen Minuten Smalltalk stellt sich heraus, dass er aus Deutschland kommt, genauer gesagt: „Ha, i ben zwoa in Ischtanbul gebore, aber i komm uhrsprünglich aus der Nää von Stuttgart, Landkreis Esslingen.“ Ich weiß nicht, ob er, nachdem ich ihm sage, dass ich dort geboren bin, in den folgenden zehn Minuten soviel Vertrauen zu mir fasst, dass er mir von den einschlägigen Abschnitten seines Lebens erzählt oder ob er einfach nur reden will. „Ha, weisch, i ben jo Feinmechaaniker und irgendwann hat mai Schäff zu mir gsagt: ‘Ha Hakan, du bisch ja scho talendiert, ge, du könntsch au logger als a Zaanmechanigger oabeite.’ En endrer Kumbel hat mia damals au gschteggt, dass ma hier in der Türkei in dem Gschäft guts Geld verdiene koa. Ha ja, und na bin i hoalt ganga.“ Nachdem er mir ein paar weniger interessante technische Details aus seiner Zahnmechanikerkarriere verraten hat, sagt er plötzlich: „Weisch, i war heroinabhängig, hab gschnupft, aber i ben imma boim Daimler oaboide ganga.“ Als sein Arbeitgeber von seinem Dro­gen­konsum erfuhr, bekam er eine Therapie in München verordnet. Während eines Freigangs kaufte er sich eine Flasche Rotwein, die er in einem Zug trank. Daraufhin fing er eine Schlägerei an, bei der er seinen türkischen Pass verlor, den daraufhin die Polizei fand. „Der Richta hat denn gsagt ‘Du warsch jetzt scho zu oft bei uns’“. Daraufhin wurde Hakan bis auf weiteres des Landes verwiesen. Seitdem ist er clean. Er sagt, er will nicht mehr zurück. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Freimaurern, recherchiert und schreibt in freimaurischen Internet­foren. „I ben hier in na Universidäd als Refrent ogschtellt. Ha, un du weisch scho, dass hier a Großdeil der Professora Freimaurer sen?“ Ehrlich gesagt ist mir dieses Detail, wie 1001 andere, bisher noch verborgen geblieben. Er berichtet gerade von den unterschiedlichen Logen in den unterschiedlichen Istanbuler Stadtteilen, als wir das Polizeirevier erreichen. Ich schaffe es gerade noch, ihm das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco zu empfehlen, da wünscht er mir einen schönen Tag und zieht von dannen.

Selbst wenn wir uns die ganze Zeit auf türkisch unterhalten hätten, hätte ich spätestens jetzt bemerkt, dass er k1r1k (dt: gebrochen; der hiesige Ausdruck für das im deutschen noch schlimmere Äquivalent „Mensch mit Migrationshinter­grund“) ist. Denn er hat mir seine Telefonnummer nicht aufgedrängt, geschweige denn angeboten.

Soldaten und Hippies

In Leipzig habe ich Hippies hassen gelernt. Das hatte vor allem einen Grund: das Rainbow Gathering. Ständig und überall musste ich mir von Adepten der Harmonie und Gleichheit, die in seliger Erinnerung schwelgend Geschichten über das bessere Leben im großen, friedlichen Kollektiv erzählten, anhören, denen auch im kältesten Winter die Sonne aus dem Arsch schien während sie sich in einer Aura der Erleuchtung wähnten, bis mir die Ohren anfingen zu bluten. Um meine Vorurteile bestätigt zu sehen und auch, um mir ein eigenes Bild zu machen, beschloss ich die Leipziger Weltenwanderin Malifu in Antalya zu treffen und mit ihr aufs Middle East Gathering nahe Fetiye zu fahren.

Die Reise beginnt am 27. Mai. Raus aus dem Betonmoloch Istanbul, rein ins satte Grün. Vom hohen Norden in den tiefen Süden. Die Szenerie, die ich am Zentral-Busbahnhof vorfinde, erinnert mich spontan an den Wahnsinn eines losgelassenen Fußballstadions: hunderte grölender Halbstarker in türkische Flaggen gehüllt. Sie springen sich gegenseitig an wie Heuschrecken, reiten aufeinander, tanzen, drehen frei. „Was passiert hier?“, frage ich Ömer, den Verkäufer am Ticketschalter, mit dem ich gerade über den Preis meines Bustickets verhandle. „Soldatenverabschiedung“, sagt er. „Nur heute und morgen.“ Er grinst. Ich habe oft von dem Ritual gehört, bei dem die zukünftigen wehrpflichtigen Soldaten verabschiedet werden, aber bis heute nie die Dimension begriffen.

Vollständige Familienclans haben sich eingefunden. Weinende Mütter und Großmütter, die vor Kummer über das Schicksal ihres geliebten und vielleicht einzigen Sohnes jenseits des sicheren Nestes fast vergehen und sich mit bunten Polyestertüchern den salzigen Schmerz von der Haut wischen; tanzende Brüder, Freunde, Nachbarn, die Rauchbomben zünden, die die aufgeheizte Stimmung und die Lungen der Anwesenden blutrot einräuchern; schreiende Kinder. Am distanziertesten verhalten sich die Väter. In ihrer Ausdruckslosigkeit starre Monolithen verkörpernd, stehen sie am Rande des Geschehens und beobachten. Wenn sie stolz oder traurig sind, lassen sie es sich zumindest nicht anmerken. Freunde werfen ihre zukünftigen Soldaten in die Höhe. Sie brüllen: „Bizim asker en büyük asker“ (dt: Unser Soldat ist der größte Soldat). Sogar die Busfahrer tanzen mit. „Es kann noch eine Weile dauern bis der Bus losfährt“, sagt Ömer und schleppt mich in ein kleines Lokal, wo wir Reis mit Kichererbsen essen. Er erinnert sich an seinen Militärdienst in Di­yar­bakir, der Kur­denhaupt­stadt der Türkei. „Zweimal haben sie mich ins Militärgefängnis verfrachtet“, berichte er, als erzähle er eine Geschichte, die er selbst gar nicht erlebt hat, „weil ich meinem Kommandanten nicht gehorcht habe“. Und dann fügt er mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, die klingt als hätte man sie ihm eingeprügelt: „Wer etwas Falsches tut, muss bestraft werden“. Wir laufen zurück. Die Nation feiert sich noch immer selbst. ‘Welch effektives Ritual’, denke ich, ‘Nationalismus-Reproduktion ohne Staatsintervention. Bravo!’.

Für die Söhne – die meisten noch keine 20 – ist es das erste Mal, dass sie ihr Zuhause verlassen. Für 15 Monate keine Mutter mehr, die für sie kocht, überhaupt keine Frau werden sie zu Gesicht bekommen. Stattdessen werden sie, wie mir aus vertraulichen Quellen versichert wurde, mehr denn je masturbieren und jeden Tag vier Kilo schwere MGs tragen, deren Kugeln denen, die sie treffen, handflächengroße Löcher in die Körper reißen. Für die, die in den Osten und die Kurdengebiete fahren, beginnt die Hölle auf Erden, die ihren Nationalismus in der Regel endgültig besiegelt. Sie sind überzeugt, dass der Militärdienst sie zu ehrwürdigen türkischen Bürgern macht, im Falle des Todes zu Märtyrern für ihr Mutterland. Wenn sie zurückkehren, haben sie das wichtigste Übergangsritual in ihrem Leben gemeistert: Sie sind erwachsene Männer und fähig eine Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Mit noch erhitzten Gesichtern vom Feiern steigen sie zögernd, nach mehrmaliger Aufforderung der Fahrer in den Bus. Die Angst vor dem Ungewissen steht ihnen ins Gesicht geschrieben, trotz der Erhabenheit des Momentes. Zwei Stunden nach planmäßiger Abfahrt fahren wir los. Zumindest tut der Busfahrer sein Bestes. Hunderte Hände schlagen gegen das Busblech, die Zurückgebliebenen tanzen vor dem Bus, der sich langsam im Schritttempo durch die Massen quetscht. Auf dem von Autos und Menschen verstopften Weg sammeln wir weitere Passagiere auf anderen Istanbuler Busbahnhöfen ein. Auch dort das gleiche Schauspiel: Massen von zukünftigen Soldaten mit ihren ergebenen Fans – out of control.

Zwölf traumdurchweichte Stunden und dutzende traumhafte Dörfer später kommen wir in Antalya an. Es ist Mittag und genauso stickig heiß wie letztes Jahr Anfang August, als ich hier mein Leben in der Türkei begonnen habe. Ich treffe Malifu am Busbahnhof. Andy, ein Freund aus Leipzig ist dabei und weil wir zu dritt sind und das letzte Sammeltaxi zu unserem Zieldorf um sieben Uhr abends fährt, beschließen wir, einen regulären Bus zu nehmen. Weitere drei Stunden später erreichen wir Fetiye. An der Sammeltaxi-Ecke warten bereits acht andere in- und ausländische Hippies inklusive Melek, einem kleinen Engel. Der kleine Engel ist vier Jahre jung und hat in ihrem kurzen Leben bereits mehr Rainbow-Erfahrung gesammelt als ich. Das Sammeltaxi ist schon voll mit Dorfbewohnern. Macht nix, Sammeltaxifahrer sind professionelle Stapler. Die Serpentinen-Fahrt ins Dorf dauert noch mal eine Stunde, während der wir von den Dorfbewohnern Informationen über Ort und Lage sammeln können. Sie laden uns für den nächsten Tag zum Wochenbazar ein. Es dämmert bereits, als wir in einem kleinen bergigen Paradies ankommen und ein alter Mann auf Moped mit Sense in der Hand uns beschreibt, welcher Pfad zum Ziel führt und anbietet, den Kinderwagen von Melek bei sich unterzustellen. Bald stellt sich heraus warum. Der Weg zum Rainbow führt durch den Wald und ist steinig, bergig. Es ist dunkel. Mit Taschenlampen versuchen wir wie Hänselhippi und Gretelhäppi die weißen Bänder an den Büschen und Bäumen zu orten, die uns zum Camp weisen sollen. Wir sind elf und verlaufen uns mehrmals beim Wo-ist-das-weiße-Bändchen-Spiel. Ich hab mal wieder zu viel Gepäck dabei. Nach ca. eineinhalb Stunden sehen wir Feuer auf einer großen Lichtung. Ich höre, wie sich Meleks zarte Stimme hinter mir vor Freude überschlägt. Auf türkisch ruft sie in Richtung Feuer: „Freunde! Freunde! Wie geht es euch?“. Die Nachricht von den Ankömmlingen ist vorgedrungen. Willkommens-Rufe. Irgendein Hippie, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hab – auch wenn er mich verdächtig an Nemo, den amerikanischen Russen erinnert, mit dem ich vor fünf Jahren von Südmexiko nach Kalifornien getrampt bin – umarmt mich, als würde er nach etlichen Jahren endlich seine Mutter wieder sehen. In dem Moment bin ich zu erschöpft und zu erleichtert, um mich zu wundern und umarme ihn, als würde ich nach all den Jahren Nemo wieder treffen. Wie sich später herausstellt, ist dieses Geschöpf nicht nur ein außerordentlich extrovertiertes Energiebündel, das seinesgleichen sucht, sondern auch ein Mensch mit einem außerordentlichen Liebesbedürfnis. Erstaunlicherweise schafft er es, dieses Bedürfnis zu stillen, sprich andere willige Liebesbedürftige zu finden. Es wäre, falsch Pete als sexkrank zu bezeichnen, denn was er fühlt und sucht, ist Liebe in ihrer süßesten Form. Durchschnittlich verliebt er sich am Tag in fünf seines Erachtens charismatische Mädchen, die ihm in der Regel sofort erliegen. Als er neulich während der Pride Week in Istanbul war und wir gemeinsam tanzen waren, wurde ich Zeuge, wie selbst schnieke Chicks in einer Salsa-Bar seinem barfüßigen Charme erlagen.

Nach der wahrscheinlich längsten Umarmung meines Lebens falle ich auf den Boden. Irgendjemand kommt mit einer riesigen Schüssel, in der noch ein paar Salatreste schwimmen und streckt mir selbst gebackene Chapatis entgegen. Glücklich mampfend und gleichzeitig seltsam indifferent ob meiner neuen Umgebung fühle ich plötzlich Solidaritätsgefühle mit indischen Kühen in mir aufsteigen, als ich die rund 80 Hippies am Feuer beobachte, die gerade anfangen Mantras zu singen. Ein paar Leute beginnen, um die Darbukas und Djembes zu tanzen. Eine blonde Frau macht sich frei und lässt ihre Brüste hüpfen. „Girl, come on, get dressed!“, ruft jemand aus der Runde und erinnert, um was bereits in der Einladung zum Middle East Gathering gebeten wurde: „This is Turkey – an honour and shame society!“ „I don`t give a fuckin shit!“, kontert es zurück, „I came here to change this wrecked system!“ Ich muss lachen. Für wie revolutionär hält sich diese Dame? Denkt die mondäne, englisch und französisch sprechende Hippie-Braut im Ernst sie könne in diesem Land durch ihren verbrämten Reaktionismus und ihr edel wildes Gehabe irgendetwas verändern? „On every gathering we`ve been naked since we live in harmony with nature. We create our own world in our own universe“, mischt sich ein anderer Hippie in die Diskussion. „What’s up folks, we have good relations with the villagers. They come here and visit us, also their children, if they get to know about this we can’t come back here.“ Das Politikum scheint den gerade noch friedlich summenden Essenszirkel zu spalten. Die peacige Lagerfeuerstimmung ist am Arsch. Ich fühle, wie sich mein Verdauungstrakt zu Wort meldet und frage nach dem Ort der Erleichterung. „Down there are the shit-pits. Not too easy to find in the dark. Just find yourself a place“, informiert mich mein Nebensitzer. Soviel zum Thema in Harmonie mit der Natur leben und sich seine eigene Welt kreieren, denke ich und verschwinde in die Sterne funkelnde Dunkelheit.

Mit den Ereignissen der nächsten Tages verpuffen viele meiner angestauten Hippie-Vorurteile, einige andere verhärten sich. Die Rainbow-Family stellt sich als überraschend zugängliche, offene und kritikfähige Gemeinschaft heraus. Ich lerne Ömer kennen, der sich im Wald wie ein einheimisches Tier bewegt aber eigentlich sein Leben als Obdachloser in Istanbul fristet; Shuhur, einen Iraner, der acht Jahre in Indien gelebt hat und weder Yogi noch Bhaba geworden ist; Gündem, der mit seiner türkischen Familie gebrochen hat und eine Leidenschaft für Straßentheater hat; Cihan, einen Leipziger Türken mit einem Herz so groß wie eine Galaxie und einem Hang für Ethnobotanik; July, die kleine, zärtlich-resolute Mutter von Melek, die, wie sich im Nachhinein herausstellt, schon mit meinem neuen Mitbewohner zusammengewohnt hat; Nacho, der begnadete Flamenco-Gitarrist, der Tourismus studiert hat, aber eigentlich Ethnologe werden will; die verrückte Mer, die mir zeigt, wie man einen kurdischen Turban bindet, die von einem Skorpion gebissen wurde und mich zwei Wochen später auf eine magische griechische Insel entführt. Das erste Mal in meinem Leben werde ich als Deutsch-Türkin wahrgenommen, lerne mich mit Asche anstatt mit Seife zu waschen, dass man als Küchenhelferin jederzeit anwesende Musiker zur allgemeinen Unterhaltung bestellen kann, wie gemütlich es ist, eingewickelt in einen Schafsfellteppich neben Malifu zu schlummern und dass es in Indien ein Festival mit 20 Millionen aktiven Teilnehmern gibt. Der Tag besteht aus reden, kochen, essen, Musik und Erkundung von Flora, Fauna und Fantasien. Wir diskutieren unter Myriaden von Sternen über Aliens und unter sengender Hitze über Astrologie, Hygienemaßnahmen, die Notwendigkeit von Hierarchien und aufgeblähten Egos; wir sehen in nüchternem Zustand eine Regenbogen­corona um die Sonne, treffen rasende Schildkröten, baden in kaltem klaren Flusswasser und üben uns meistens weniger erfolgreich in Basisdemokratie. Innerhalb von drei Tagen fühle ich mich bei dem Haufen habloser Hippies zu Hause, auch wenn ich die einzige mit schwarzen Klamotten bin, Petes wiederholten Einladungen in sein Zelt trotzig widerstehe und beim zweimal täglichen Om-Gesumme und Händchen halten vor Beginn des Essenszirkels jedes Mal losprusten muss. Nach drei Tagen muss ich zurück in die große Stadt: mein geliebter Belator-Mitbewohner kommt mit Dresa aus Budapest und der Meggiepeggie-Wonneproppen mit Fritzi vom Balkan gestoppt. Die Leipzig-Connection ruft und ich freu mich wie ein Honigkuchenpferd auf die Jungs und Mädels. Trotzdem, der Abschied vom Camp ist schwer, der Gedanke an Istanbul in dieser Umgebung irgendwie absurd. Gündem begleitet mich ins Dorf. Im Wald hören wir die Rufe und das Trommeln vom Camp und auf einmal erscheint der Platz, an dem ich die letzten Tage verbracht habe, wie eine Insel des Glücks, den Ort den es eigentlich gar nicht gibt. In Fetiye springe ich in den letzten Bus, als der schon losgefahren ist. Das Zwischenwelten-Mobil gleitet aus dem Regenbogen-Land in Richtung glühend heiße Beton-Megapolis. Wie viele L(i)eben hat ein Leben?

(Klara Fall)