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Gustav Landauer: Freiheit durch Solidarität

Der Anarchismus im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft

Anarchismus und anarchistische Theorien werden gemeinhin mit Chaos und Gewalt assoziiert und deshalb abgelehnt oder als utopisch und unvereinbar mit angeblich ‚schlechten‘ Aspekten der ‚Natur des Menschen‘ verworfen. Dennoch tauchen anarchistische Gedankengänge und Vorschläge immer wieder in Debatten um das gemeinsame Leben auf, um der negativen Stigmatisierung zu entgehen – die ein Werk der politischen Propaganda ist – jedoch meist ohne das Prädikat Anarchismus. Auch sind die Vorstellungen der sogenannten „klassischen“ Anarchisten wenig oder nur bruchstückhaft verbreitet. So verharren Diskussionen über alternative und anarchistische Formen des Zusammenlebens meist auf dem Niveau bloßen Austausches und der Reproduktion gängiger Vorurteile, anstatt selbige abzubauen. Einer der klassischen Anarchisten war – neben Proudhon, Kropotkin und Stirner – Gustav Landauer, der um die Jahrhundertwende aktiv war und vor allem mit seinen programmatischen Schriften „Aufruf zum Sozialismus“ und „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ (1) dazu beitrug, seine konkrete Utopie in die Realitäten des deutschen Kaiserreichs der vorletzten Jahrhundertwende zu tragen. Aber auch praktisch während der Münchener Räterepublik (siehe Kasten S. 17) als eine Art Kultusminister engagiert, versuchte er zeitlebens seine Vorstellungen des richtigen Zusammenlebens den Menschen auf vielfältige Art näher zu bringen und zur Verwirklichung im Hier und Jetzt anzuregen. Bemerkenswert sind hierbei seine Vorstellungen von der Bewusstwerdung der Menschen hin zu einem „Geist der Gemeinschaft“ und seine generelle Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft. Einige seiner Vorstellungen zum praktischen anarchistischen Sozialismus und die Auseinandersetzung mit dem angedeuteten Spannungsfeld sollen hier Thema sein, um eine Perspektive auszubauen, die sich der Frage stellt, inwiefern anarchistische Ideen von einer herrschaftsfreien Gesellschaft heutzutage und mit den Menschen in der Gegenwart umsetzbar wären.

Gustav Landauer, 1870 als Sohn eines jüdischen Schuhwarenhändlers in Karlsruhe geboren und Student der Germanistik und Philosophie wandte sich schon in jungen Jahren dem Anarchismus zu, war Mitglied im Verein unabhängiger Sozialisten und auch kurzzeitig Delegierter der Zweiten Internationale. Innerhalb dieser Organisationen und Treffen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen anarchistisch-sozialistischen Strömungen – wie auch Landauer sie vertrat – und orthodox-marxistischen Positionen. Die Konfliktpunkte kreisten dabei im Wesentlichen um die anti-emanzipatorische Rolle des Staates, um Fragen der konkreten Organisierung und um die Selbstbestimmung der Individuen; Punkte, die aufgrund der fehlenden Macht- bzw. Herrschaftskritik unter den KommunistInnen wenig Beachtung fanden. Die inhaltlichen Differenzen führten schlussendlich zu Spaltungen und Landauers Austritt aus dem Verein. 1908 kehrte er auf die politische Bühne als Mitherausgeber der Zeitung Der Sozialist zurück, um damit aktuell politischen Fragen, aber auch philosophischen, anarchistischen und sozialistischen Ideen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Neben dieser literarischen Tätigkeit und zahlreichen Übersetzungen u.a. von Proudhon und Shakespeare inklusive seiner umfangreichen herausgeberischen Tätigkeiten, wirkte er vor allem während der kurzzeitigen ersten Münchener Räterepublik. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung durch Reichswehr und Freikorpsverbände wurde Landauer verhaftet und 1919 im Gefängnis ermordet.

Anarchie leben!

Anarchismus fordert – darin sind sich zumindest die klassischen AnarchistInnen einig – eine Gesellschaft frei von Herrschaft, Zwang und Hierarchie. Die Beseitigung der staatlichen Herrschaft in ihrer Machtposition über den Menschen ist dabei zentral. An deren Stelle wird in der anarchistischen Vorstellung die individuelle Selbstbestimmung und -entfaltung der Einzelnen gesetzt, die sich in dezentralen und hierarchiefreien Strukturen kollektiv verwirklichen lassen könnte. Doch neben der Kritik am Staat in seinen historischen Erscheinungsformen teilen viele AnarchistInnen auch die Kritik an den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen im Kapitalismus, die den Menschen ebenso unter Herrschaft stellen, und haben damit einen wesentlichen Nenner mit kommunistischen Bestrebungen gemeinsam. Statt Herrschaft des Kapitals geht es ihnen um ökonomische Selbstverwaltung, bei der den ProduzentInnen der ganze Anteil des erwirtschafteten Gutes zur Verfügung steht – individuell und/oder gemeinschaftlich. Dieser sehr kleine gemeinsame Bezugspunkt dessen, was gemeinhin unter Anarchismus verstanden wird (2), ist von einzelnen anarchistischen VertreterInnen oft sehr unterschiedlich und vielfältig ausbuchstabiert worden. Dies liegt zum einen an dem Eigenanspruch des Anarchismus – nämlich kein Dogma oder -ismus sein zu wollen, sondern offen zu sein für die Vorstellung jedes Einzelnen – und zum anderen auch an den unterschiedlichen historischen und lebensweltlichen Umständen, in denen die AnarchistInnen für bessere gesellschaftliche Verhältnisse kämpften.

Landauer selbst setzt Anarchismus, Sozialismus und Gemeinschaft gleich und sieht ausschließlich im Handeln der Menschen zueinander, also den Beziehungen die die Menschen miteinander haben, das Kriterium für ein Leben mit oder ohne „Geist“. Anarchismus ist dabei für ihn eine Art Kulturbewegung aus den Menschen heraus und zu den Menschen hin, hin zu einer Gesellschaft ohne jegliche Herrschaft, eine Gesellschaft ohne Kapitalismus und Staat. Seine Kritik richtet sich auch gegen die Großindustrie und die damit verbundene Arbeitsteilung, die den Menschen von sich selbst und dem Produkt seiner Arbeit entfremdet und anti-emanzipatorisch wirkt. Fortschritt bedeutet für ihn weniger technische und ökonomische Neuerung, die hauptsächlich nur zur Steigerung des Konsums der Gesellschaftsmitglieder beitragen, sondern die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und Eigeninitiative der Menschen. Den Fortschritt sieht er deshalb eben nicht, wie Marx in zentraler Verwaltung und Großindustrie, auch verwirft er dessen Ansatz, dass dies die Voraussetzung zur Überwindung des Kapitalismus sei. Statt dessen setzt er auf dezentralisierte Produktions- und Konsumgenossenschaften, also Gemeinschaften die miteinander leben und arbeiten, Kommunen die ihre Erträge untereinander solidarisch teilen. Gegenseitige Kooperationen, freie Vereinbarungen und freie Assoziationen sind in diesem Zusammenhang ein Grundbaustein der Landauer’schen Vorstellungen, um einen regen Austausch zwischen den Gemeinschaften zu fördern, damit die einzelnen Produkte vielfältig verbreitet werden können.

Im Gegensatz zu Kropotkin, der die gewaltvolle Abschaffung des Staates als Voraussetzung für die Errichtung eines kommunistischen Anarchismus sieht, verfolgt Landauer eher einen subversiven Ansatz, bei dem klein und im Jetzt begonnen werden kann diese Lebens- und Arbeitsgemeinschaften aufzubauen, so dass der Staat sukzessive zersetzt und überflüssig wird. Revolution wird somit als gewaltfreier und permanenter Prozess verstanden, bei dem sich die Menschen der staatlichen Herrschaft durch den Aufbau autonomer Produktions- und Lebenswelten (Kommunen) entziehen. Dieser sogenannten „Gemeindesozialismus“ ist nicht denkbar ohne die vorausgehende Bewusstwerdung der Menschen und die Veränderung der Beziehungen zueinander, die wiederum die gesellschaftlichen Verhältnisse kultivieren. Für Landauer ist der Staat an sich auch nur eine Beziehung der Menschen zueinander, jedoch eine ‚geistlose‘, d.h. Ohne Liebe, Bund- und Gemeinschaftsgefühl zwischen den Individuen. Der Konflikt von Staat und Gesellschaft ist für ihn Ausdruck dieses fehlenden Gemeinschaftsgeistes, dessen Konsequenz bzw. Überwindung nur in der Entstehung des ‚Geistes der Gemeinschaft‘ liegen kann und nicht in der Ersetzung einer alten durch eine neue staatliche Herrschaft.

Im WIR denken

Die mystische Beschreibung dessen, wie der ‚Geist der Gemeinschaft‘ in jedem Einzelnen erwachen kann, muss wohl abstrahiert betrachtet werden, um vorstellbar zu sein. Landauer selbst geht davon aus, dass wenn wir uns in uns selbst zurückziehen – also in unser ‚tiefstes Innerstes‘ einkehren – wir uns bewusst werden, ‚dass unser Aller-Individuellstes auch unser Aller-Allgemeinstes ist‘. Will heißen, dass es einen großen Bund der menschlichen Gemeinschaft gibt, eine große Ahnengemeinde, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint sind und die Menschen als Gemeinsames begriffen werden. Landauer schlägt einen Perspektivwechsel vor: Eine Sichtweise in der sich der Mensch nicht als Einzelner begreift, sondern als untrennbarer Teil der Menschheit. So wie unsere fünf Finger Ausdruck menschlicher Vergangenheit sind und unsere krumme Nase auf den Uropa verweist, müssen wir demnach begreifen, dass die menschliche Vergangenheit in uns selbst gegenwärtig ist und auch alle Menschen der Gegenwart ein Teil von uns sind. Seine Mystik gipfelt dahingehend in der Kritik am subjektiven Raum, der durch die Augen Ausdruck und Grenzen bekommt, was dazu führt, dass wir eine Distanz zwischen uns und anderen Menschen wahrnehmen und uns nicht als eins mit der Menschheit begreifen. Diese These wird durch seine Sprachkritik gestützt, die unsere Erklärung der Welt durch Begriffe generell in Frage stellt und insbesondere naturalistische Formulierungen bzw. mechanische und physiologische Begriffe in Bezug auf menschliche Verhältnisse für unbrauchbar erachtet. Für ihn sind die Begriffe, mit denen die Menschen versuchen die Welt um sie herum zu begreifen und zu erklären nichts weiter als Metaphern und Ausdruck des Gesehenen & Erlebten. Sie haben keinen Erkenntniswert an sich, sondern entsprechen lediglich den jeweils historisch entwickelten Interpretationen des Gesehenen. Die Wirklichkeit wird im Kopf geschaffen und findet in der Sprache lediglich eine Ausdrucksform. Es bleibt eine Indifferenz zwischen Gedanke und dessen (sprachlicher) Äußerung.

Wenn jedoch die für den Menschen erlebte Wirklichkeit tatsächlich nur von der eigenen Interpretation der Sinne abhängt, so ist es nach Landauer auch möglich die Perspektive zu wechseln und das Gesehene neu zu interpretieren. An dieser Stelle plädiert er für eine Sichtweise, mit der wir auch unsere ‚inneren Vorgänge‘ der Gefühle, Gedanken und Emotionen beschreiben würden. Wenn dies sprachlich/begrifflich und emotional auf das Äußere übertragen werden würde, könne es gelingen vom Raumdenken bzw. Distanzdenken zu abstrahieren. In Verbindung mit dem Gedanken, Teil des großen Ganzen zu sein, soll die neue Sprache dazu beitragen, diese andere Perspektive denken zu können. So kommt es auch, dass Landauer alles als Beziehung der Menschen zueinander begreift und in ‚geistlose‘ und ‚geistreiche‘ Beziehungen unterscheidet. Geist ist da, wo Gemeinschaftsgefühl ist, wo die Menschen sich in ihrer Verbundenheit begreifen und solidarisch handeln. Dabei negiert er jedoch nicht das Individuum an sich, sondern begreift die unterschiedliche und individuelle Wahrnehmung der Welt von jedem Einzelnen – der sich verbunden fühlt – vielmehr als Gewinn. Landauer grenzt sich so zwar von einem liberalen Individualismus als Egoismus ab, bei dem das Ich vor dem Du kommt, nicht jedoch von der Individualität, als Eigenheit eines jeden, die für eine funktionierende anarchistische Gesellschaft unerlässlich ist. So ist das Landauer’sche Ganze eine Gemeinschaft von Individuellen, die sich als ein ganzer Teil und geteiltes Ganzes begreifen und mit ihren jeweiligen Stärken der Gemeinschaft und dadurch schließlich sich selbst zur Freiheit verhelfen.

Revolution: Jeden Tag gestalten

Sicherlich ist es schwierig Landauers Mystik bezüglich des ‚Geistes der Gemeinschaft‘ zu denken, denn die alltägliche Interpretation der Sinnesorgane und insbesondere des Auges ist unerlässlich, insofern wir mit unserer (Lebens)Umwelt interagieren bzw. an einer empirischen Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse festhalten möchten. Vom Raumdenken abzusehen und das Gesehene vor dem Hintergrund eines ‚inneren Vorgehens‘ zu begreifen, fällt schwer, selbst wenn wir in unserer Wortwahl von physiologischen Begriffen strategisch absehen und alles psychisch und „gefühlsinterpretativ“ begreifen. Denn in Landauers Perspektive müßten wir dabei auch noch von unserer je eigenen Individualität absehen, um einer Art kollektivem Gefühl Platz zu machen. Nichtsdestotrotz enthält Landauers Appell einen anderen und durchaus wichtigen Kernaspekt: Das Begreifen der Menschen als Solidargemeinschaft. Sein Anarchismus ist hier im Mindesten so weltfremd oder -nah, wie der klassisch liberale Humanismus, der davon ausgeht, dass die Menschen zueinander gehören und im Grunde der Einzelne sich nur in der ganzen Menschheit vollständig verwirklichen kann. Die Kritiker des Anarchismus klagen ja auch selten die dahinter stehenden Ideale an, sondern vielmehr die fehlende Umsetzbarkeit des Anarchismus, oftmals mit der Begründung, der Mensch könne ohne den Staat nicht friedlich und gemeinschaftlich zusammenleben, da sich die ‚schlechten‘ Aspekte seiner ‚Natur an sich‘ nicht bändigen ließen. Genau an diesem Punkt versucht Landauer ausgehend von humanistischen Grundannahmen einen anderen Weg einzuschlagen. Sein idealer ‚Geist der Gemeinschaft‘ ist (einmal etabliert) in der Lage die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu kultivieren, dass ein Leben ohne Staat und Herrschaft möglich ist, weil die Menschheit im Ganzen dann solidarisch miteinander umgeht und die ‚geistlose‘ staatliche Struktur überflüssig ist. Seine Kritik richtet sich gegen den Staat als allmächtiges Herrschaftsinstrument, das gerade verhindert, dass wir uns als Teil der großen Menschengemeinschaft sehen und stattdessen individuell bzw. national und/oder konfessionell versuchen unser je eigenes Überleben bestmöglich zu sichern, und so konkurrieren statt zu kooperieren. Gäbe es nicht mehr die staatliche Verwaltungsinstanz, die über die Menschen hinweg entscheidet, so fiele es den Menschen leichter, den ‚Bund der Gemeinschaft‘ durch Selbstinitiative in sich zu entdecken und durch kollektive Aktion zu verwirklichen. Damit schließt sich der Kreis zu seiner praktischen Herangehensweise: Weil Landauer eben nicht auf die große Bewusstwerdung abstrakter Massen und die daran anschließende gewalttätige (materielle) Revolution als einmaligem Akt setzt – wie im Marxismus; sondern jedeR Einzelne die Entdeckung der Solidargemeinschaft durch ‚Einkehr in sich selbst‘ jederzeit und an jedem Ort umsetzen kann, hat er auch einen optimistischen Grund für seinen Glauben, dass die entstehenden Kommunen und Gemeinschaften von Leuten erbaut werden, die den ‚Geist der Gemeinschaft‘ für sich entdeckt bzw. in sich kultiviert haben und sich daher vom ‚geistlosen‘ Staat abwenden und trotzdem friedlich zusammenleben können. Landauers Hoffnung zielt zweifelsfrei darauf, dass es irgendwann bei den meisten Menschen zu solch Bewusstwerdung kommt, so dass die staatliche Herrschaft einmal an ihr historisches Ende gelangt. Das geschieht jedoch gerade nicht als Ergebnis eines Gesetzes der Geschichte, das sich listig durch uns hindurch verwirklicht und in dessen Anbetracht wir nur warten können, sondern durch die (theoretische) Einsicht der Einzelnen in ihre ideal-historische Verbundenheit und ihre (praktische) Aktion im Aufbau der kommunalen Gemeinschaften im Hier und Jetzt.

Individuum contra Gemeinschaft?

Zweifelsfrei macht dieser praktisch realistische Ansatz mit dem Vorrang der gegenwärtigen Menschen, die durch ihre Einsichten und Aktionen im Hier und Jetzt sich selbst verwirklichen, auch die Attraktivität von Landauer unter den heutigen libertären DenkerInnen aus. Jedoch ist auch seine theoretische Perspektive im Hinblick auf größere Anerkennung der anarchistischen Theorien nicht uninteressant. Viele PhilosophInnen beschäftigen sich seit Jahrtausenden mit der Frage, wie der Mensch ‚an sich‘, seiner Natur nach – also ohne gesellschaftliche Beeinflussung – ist. Die Antwort auf diese Frage ist zwar nie vollständig, also nur hypothetisch gegeben, verweilt immer auf dem Status eines (historisch) vorläufigen Urteils, trotzdem wurden die angeblichen ‚schlechten Aspekte‘ der Menschennatur immer wieder herausgehoben und als unverbesserlich dargestellt, um damit die Legalität von Staaten mitsamt ihren anwachsenden Gewaltmonopolen zu begründen. Weder die Liberalen und Konservativen, noch die heutigen Sozialisten und viele Kommunisten bestreiten heute noch die Notwendigkeit der staatlichen Verwaltung und naturalisieren damit nicht nur die Herrschaftsverhältnisse, die durch den Staat in Gang gehalten werden, sondern auch einen schlechten Kern der menschlichen Natur.

AnarchistInnen haben dagegen immer auf einem ‚guten Menschenbild‘ beharrt und sind davon ausgegangen, dass ein friedliches, selbstbestimmtes Zusammenleben der Menschen ohne Ordnungsinstanz möglich ist und die Besserstellung des Eigenen auf Kosten des Anderen nicht Teil des ‚schlechten Menschen an sich‘ ist, sondern vielmehr einem Mangel an Kultur, Politik und Bildung entspringt, der durch den Staat nicht vermindert, sondern im Gegenteil aufrecht erhalten wird. Die Begründungen jedoch unterscheiden sich.

Landauer begreift den idealen Bund der Menschengemeinschaft als das wahre Menschliche und sieht die Kultivierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Bewusstwerdung bzw. den Perspektivwechsel jedes Einzelnen verwirklichbar. Einen anderen Ansatz bietet Kropotkin, der als Geologe um die Jahrhundertwende in Russland aktiv war und durch seine Beobachtungen der Tier- und Menschenwelt feststellte, dass es einen natürlichen Trieb unter den Lebewesen gibt, den er „gegenseitige Hilfe“ nannte (3). Damit ergänzte er Darwins Theorie darin, dass der Kampf ums Überleben kein Konkurrenzkampf zwischen den Individuen ist, sondern vielmehr, dass sich Individuen einer Art untereinander helfen (z.B. Vögel beim Winterflug, die einen Pfeil bilden, wobei die Schwächeren im Windschatten der anderen fliegen). Da diese ‚gute Tendenz‘ nach Kropotkin quasi genetisch im Menschen steckt, verweilt seine Begründung zwar auch auf der Ebene einer behaupteten ‚Natur des Menschen‘, dennoch ist der Akzent merklich verschoben. Denn da der Mensch von Natur aus eher gut als schlecht miteinander umgeht, sind die Ursachen für seinen ‚schlechten Umgang‘ eher in der Art der Einrichtung der Verhältnisse zueinander zu suchen, die ihn davon abhalten, die guten Aspekte seiner Natur zur Geltung zu bringen. Demgegenüber versucht Landauer nicht, die ‚gute Natur‘ der Menschen naturwissenschaftlich und genetisch zu begründen, sondern meint, dass die Menschen durch die Kultivierung ihres Geistes, durch die Einsicht des Einzelnen in seine Verbundenheit mit der ganzen Menschheit, befähigt werden gut zu handeln. Ohne in „Vererbungsfallen“ sprachlicher wie biologischer Art zu tappen und staatliche Ordnung zu affirmieren, spricht er dem Menschen dabei die Fähigkeit zu einer gemeinschaftlichen Kultur zu, die die ‚geistlose‘ staatliche Verwaltung durch eine ‚geistreiche‘ Selbstverwaltung ersetzt.

Beide, Kropotkin wie Landauer, schließen dabei jedoch die Individualität nicht aus, im Gegenteil. Denn solidarisches, gemeinschaftliches Handeln wird zur Voraussetzung der individuellen Freiheit, wie das Individuum in seiner Eigenheit sich die Freiheit durch die richtige Einrichtung seiner sozialen Verhältnisse zuallererst verschafft. Die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen stehen im Mittelpunkt einer anarchistischen Theorie, die davon ausgeht, dass sich eine bessere Einrichtung der Welt durch den Ausbau herrschaftsfreier Räume verwirklichen ließe. Die Attraktivität des theoretischen Anarchismus ist für mich also zweiteilig begründbar: Zum einen wegen der Prämisse, die auf ein ‚gutes‘ Menschenbild setzt und daran anschließend eine gesellschaftspolitische Perspektive des gemeinsamen und solidarischen Zusammenlebens ausbuchstabiert; zum anderen wegen des gelungenen Spagats zwischen den individuellen Bedürfnissen, die an erster Stelle stehen und dem gleichzeitig friedlichen und solidarischen Zusammenleben. Die Spannung von Individuum und Gesellschaft wird gelöst durch die Gemeinschaft, die zur Voraussetzung für die wirkliche Freiheit des Individuums wird, ebenso wie sie der individuellen Freiheit für ihren Erhalt weiterhin bedarf. Nicht nur die Freiheit von Zwängen und Herrschaft steht im Mittelpunkt, sondern auch die Freiheit zur Selbstverwirklichung. Beide bilden aber keinen Gegensatz und Widerspruch zueinander, sondern verschmelzen zur Erreichung ihres jeweiligen Ziels. Während der Liberalismus auf einen egoistischen Individualismus setzt, bei dem schwächere Individuen das Nachsehen haben, setzt der orthodoxe Marxismus auf einen kollektiven Zwang zur Vergesellschaftung, der den Bedürfnissen der Einzelnen und ihrer je eigenen Emanzipation nicht gerecht wird. Insofern hat der Anarchismus eine Zwischenposition inne, bei der niemand auf der Strecke bleibt, da sich jedeR individuell und kollektiv verwirklicht. Dass ein Versuch dazu Jetzt und Hier begonnen werden kann, lehrte Landauer, dass dieser lohnenswert ist, der Blick aus dem Fenster.

momo

(1) Gustav Landauer, „Aufruf zum Sozialismus“, hrsg. v. H.-J. Heydorn, Europa Verlag, Frankfurt (M.), Wien, 1967 [1911] bzw. Gustav Landauer, „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“; in: „Gustav Landauer: Zeit und Geist. Kulturkritische Schriften 1890-1919“, hrsg. v. R. Kauffeldt u. M. Matzigkeit, Boer Verlag, München, 1997 [1900]
(2) Ich beziehe mich in diesem Zusammenhang nicht auf den Anarcho-Kapitalismus, der als „anarchistische Abart“ zwar gegen staatliche Herrschaft ist, andererseits im Kapitalismus keine Form der Herrschaft entdeckt und auch nicht auf Max Stirner, der zwar seine Kritik am ökonomischen System andeutet, jedoch keine konkreten Anmerkungen zur Überwindung dessen macht und auch sonst Anarchismus ausschließlich mit dem Wohl des einzelnen Individuums assoziiert, ohne Berücksichtigung der Gemeinschaft. Innerhalb der libertären Diskussionen werden beide Ansätze meist ebenso wenig zum Anarchismus gezählt.
(3) Vgl hierzu insbesondere: Pjotr Kropotkin, „Gegenseitige Hilfe“. Trotzdem-Verlag, Grafenau, 1993 [1902]

Exkurs: Die Münchener Räterepublik

Nach der Novemberrevolution und im Zuge der Unruhen um die Ermordung von Kurt Eisner wurde am 7.4. 1919 die Münchener Räterepublik von Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer

ausgerufen. Die Umsetzung der freiheitlich-anarchistischen Vorstellungen war nicht möglich, weil es bereits wenige Tage später zu Putschversuchen seitens der Rechten kam, die von den Rotarmisten niedergeschlagen wurde. Im Zuge dessen setzen die Kommunisten der KPD die Zentralregierung der Räterepublik am 13.4. ab und errichteten die sog. Zweite Münchener Räterepublik unter der Leitung von Eugen Levinè. Enttäuscht von den Kommunisten und nach Ablehnung der Vorschläge Landauers, der als Beauftragter für Volksaufklärung eine Umgestaltung der Volksschulen (Abschaffung der Prügelstrafe, Einführung von Elternräten, Betonung von Kunst und Sport) und Universitäten (z.B. Streichung der juristischen und theologischen Fakultät) vorschlug, trat Landauer nach drei Tagen der zweiten Räterepublik zurück. Am 1.5. wurde diese Republik von Freikorpsverbänden blutig niedergeschlagen, ihre Vertreter wurden verfolgt und verhaftet. Von den Soldaten misshandelt starb Landauer am 2.5.1919 im Gefängnis München-Stadelheim.

Theorie & Praxis

„Hey, wir sind da“

Interview mit dem Leipziger Bündnis gegen die Integrationsdebatte

Im März diesen Jahres drängelten sich ca. 200 Menschen aus verschiedenen politischen Spektren in das RangFoyer des Centraltheaters, um einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Integration=Ausgrenzung?“ beizuwohnen. Für die Ver­an­stalter_innen, das Bündnis gegen die Integrationsdebatte [BgId], war es der erste Aufschlag, um die durch die Sarrazin-Veröffentlichung aufgeflammte Debatte mal ganz anders und breit zu diskutieren. Feierabend! sprach mit dem neuen Leipziger Bündnis über die Veranstaltung, ihren inhaltlichen Ansatz und zukünftige Pläne.

FA!: Ihr habt Euch ja im letzten Jahr im Zuge der durch Sarrazin angestoßenen Integ­ra­tionsdebatte gegründet. Was kritisiert Ihr denn an dieser Debatte?

BgId: Wir kritisieren v.a. wie sich die Debatte entwickelt hat, dass Sarrazin breiten Zuspruch in der Öffentlichkeit bekommen hat bzw. dass immer gesagt wurde: „Naja, das mit den Genen übertreibt er ja ein wenig, aber sonst hat er ja recht. Das sind Probleme über die man sprechen muss und die von Menschen, die integriert werden sollen, verursacht sind.“ Da stellt sich schon die Frage, in was sollen die Menschen integriert werden? Warum können die nicht so leben, wie sie sind? An was sollen die sich anpassen – steckt da nicht wieder so ein Leitkultur-Gedanke da­hinter? Und auch die linksliberalen Medien haben die Sarrazinschen Thesen verharmlost und gesagt: „Wir brauchen Deutschkurse, wir brauchen mehr Integration“ und abwertende Nütz­lich­keits­lo­gi­ken befördert. Die Menschen sind so ein­ge­ordnet worden in „super integriert“ und „nicht integriert“ und „nützlich“ und „unnütz“.

FA!: Was würdet Ihr alternativ statt der Integration fordern und umgesetzt sehen wollen?

BgId: Es gibt einen ganz guten Aufruf vom Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) mit dem Namen „Demokratie statt Integration“, den auch die meisten von uns unterstützen würden. Der Aufruf fordert die Gleichberechtigung aller Menschen, die hier leben, also keine unterschiedlichen Rechte und Privilegien von Menschen mit oder ohne deutsche Staats­bürgerschaft. Gleiche Rechte und Mitbestimmung für alle, gleiche Chancen und nicht eine Ka­te­go­risierung nach „ethnisch deutsch“ oder diese Einordnung in „integriert“ und „nicht integriert“. Wir möchten uns lieber für die Gleichberechtigung der Rechte einsetzen, statt den Inte­gra­tions­begriff zu befördern. Das macht auch eine demokratische Gesellschaft aus, dass es universelle Rechte gibt, die für alle gleich­er­maßen da sind und nicht ein Unterschied oder eine Zäsur gemacht wird zwischen Inländern und Ausländern.

FA!: Wie wollt Ihr diesem Ziel näher kommen und was wollt Ihr konkret erreichen? Wo verortet Ihr Euer Handlungsfeld im Spannungsfeld von Theorie und Praxis?

BgId: In erster Linie haben wir eine Notwendigkeit ausgemacht, dass dieses Thema – was ganz groß war als wir uns gegründet haben – anders angesprochen werden muss. Dass man statt von Inte­gra­tions­problemen von rassistischer Aus­grenzung reden muss, letztendlich den Spieß umdrehen muss, also nicht sagen, „es gibt Probleme, weil Leute sich verweigern“, sondern „es gibt Probleme weil Leute systematisch aus dem Bildungsweg und Arbeitszusammenhang ausgegrenzt werden“. Und es hat auch eine Verschiebung in der Sprache stattgefunden, die krass war und uns wütend gemacht hat. Also auch Leute, die man vielleicht als Bündnispartner verstehen kann, denen muss man von links Druck machen, weil sie permanent die gleiche Sprache gesprochen haben wie Sarrazin. Ihnen muss man Begriffe in die Hand geben und entgegensetzen, dass das ganze Konzept bullshit ist und dass man eigentlich über was ganz anderes reden muss.

Zudem haben wir von Anfang an beschlossen, dass wir eine Öffentlichkeit schaffen müssen, sei es durch Texte oder Veranstaltungen. Klar, wir werden nicht ganz Deutschland erreichen aber wir wollen zumindest in Leipzig eine Gegenöffentlichkeit schaffen, die kritisch darüber diskutiert und den Leuten, die sich mit der Integrationsdebatte unwohl fühlen und merken, dass das scheiße ist, dazu verhelfen sich dagegen zu positionieren, sich mit uns zu verbünden und eine kritische Betrachtung dessen zu schaffen.

FA!: Wie gestaltet sich eigentlich Eure Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Bündnissen in Leipzig? Gibt es da irgendeine Vernetzung oder Zusammenarbeit?

BgId: Wir haben bis jetzt noch mit keinem Bündnis wirklich kooperiert, aber wir sind als Einzelne auch noch in anderen Strukturen verortet und kommen aus unterschiedlichen Gruppen. Das Problem ist leider nur – wie in so vielen linken Strukturen – dass man viel vor hat, aber wenig Leute Zeit haben. Und dadurch, dass wir selbst auch in anderen Gruppen sind, haben wir auch nicht so viel Zeit für diese.

Zu Beginn des Bündnisses haben wir sehr offen im gesamten Leipziger Spektrum eingeladen und das Thema gesetzt. Da sind ein paar Gruppen gekommen, ein paar sind später wieder gegangen. Am Anfang konnten wir ja noch nicht sagen: wir haben zu spezifischen Themen eine klare Position. Wir können aber sagen, dass wir offen sind und natürlich auch gerne kooperieren.

FA!: Zu Eurer Veranstaltung, die ja ziemlich erfolgreich in der Mobilisierung war: Was wolltet Ihr mit dieser eigentlich erreichen? Und warum habt Ihr sie als Podiumsdiskussion organisiert?

BgId: Das erste Ziel war, uns als Bündnis bekannt zu machen, sozusagen in die Leipziger Öffentlichkeit und Szene einzutreten und zu sagen „Hey, wir sind da und haben den und den Standpunkt“. Natürlich war es eine Podiumsdiskussion, d.h. wir konnten nicht genuin unseren Standpunkt rüberbringen, sondern es sind verschiedene Positionen aufgetreten und jeder der dort hingekommen ist, hat am Ende was anderes mitgenommen. Die Podiumsdiskussion haben wir deshalb gemacht, weil wir dachten, wir können dadurch Leute präsentieren, die sich positiv zum Integrationsbegriff positionieren, aber auch Leute, die sich negativ darauf beziehen und dadurch verschiedene Seiten und Perspektiven auf Integration beleuchten. Und natürlich haben wir auch Menschen ausgewählt, wo wir wissen, dass sie einen kritischen Blick darauf haben, wie Rex Osa, der selbst aus einer Flüchtlingsinitiative kommt und sagt, „das hat nichts mit Integration zu tun, das ist Rassismus und ich muss damit jeden Tag kämpfen“. Das ist natürlich eine Position, die einigen Leuten, die da im Publikum gesessen haben, nicht so bewusst ist. Die aber wollten wir darstellen, dem auch ein Podium bieten.

FA!: Ihr habt ja auch ein inhaltlich sehr breites Spektrum an Referent_innen ausgewählt. Ging es Euch da eher um die Darstellung der Positionen-Bandbreite oder um ein großes, breites Publikum?

BgId: Ja, das hatte ein bestimmtes Ziel, nämlich nicht in dieser linken Szene zu bleiben, wo natürlich sowieso die meisten Menschen sagen, dass die Integrationsdebatte doof ist und wo sich alle relativ einig sind. Sondern eben auch die Menschen zu erreichen, die bspw. linksliberale Zeitungen wie die Zeit lesen. Und deshalb haben wir auch Leute wie Daniela Kolbe von der SPD eingeladen. Wir haben vermutet, dass wir mit ihr z.B. SPD-Wähler erreichen können, die sagen „Sarrazin hat ja teilweise recht“ und fördern, dass die einen kritischen Blick darauf bekommen. Also raus aus dieser jungen linken Szene und mehr in das bürgerliche Publikum rein.

Es ging uns auch darum auszuloten, was mit den potentiellen Bündnispartnern möglich ist, die sich mehr in der „Mitte“ verorten und zum Teil krasse Positionen vertreten. Wie verläuft so eine Debatte mit den Leuten? Das war auch ganz interessant und auch gar nicht so schlecht zu sehen, wie z.B. auch Daniela Kolbe argumentiert hat. Und klar macht die es sich ein bisschen einfach, denn wenn sie auf die SPD angesprochen wird, sagt sie „ich bin ja nicht die SPD, ich bin Daniela Kolbe“ und das gleiche mit Gugutschkow, dem Integrationsbeauftragten der Stadt Leip­zig, der sagt „ich kann keine Bundes­po­­­­li­­tik ändern, nur lokal was machen“. Da ver­stecken sie sich eben auch gerne mal. Es bringt aber durchaus etwas diese Leute mit einer anderen Sprache zu konfrontieren und die Thematik umzudrehen, also zu sagen, es gibt ganz andere Probleme, wie rassistische Ausgrenzung und soziale Pro­bleme, die zu Ausländerproblemen gemacht werden und nicht das Problem der Aus­länder, die kein Deutsch lernen wollen.

FA!: Was ist denn Euer Resümee aus der Veranstaltung?

BgId: Wir haben natürlich hinterher gemerkt, dass nicht eine klare Position herausgekommen ist, wie wir uns das so vorgestellt haben. Wir waren aber trotzdem sehr positiv überrascht, dass es eben so voll war und so unterschiedliche Menschen angezogen hat. Wir finden sie auch insofern erfolgreich, weil wir sagen können „Jetzt kann es losgehen und weitergehen, die Men­­schen haben schon was von uns gehört und wenn sie unseren Namen auf dem Flyer lesen, dann kommen sie vielleicht wieder, weil es auch schon eine spannende Diskussion war“. Inhaltlich haben wir uns gesagt, dass wir auch gerne noch eine Veranstaltung zu Fragen machen würden, die in der Podiumsdiskussion offen geblieben sind und nicht beantwortet werden konnten.

FA!: Was wären so offene Fragen, die Ihr gerne in weiteren Veranstaltungen thematisieren würdet?

BgId: Die ganze Integrationsdebatte ist ja so riesig und spricht ja viele Themen an, wie z.B. die so genannte soziale Frage oder auch Leitkultur-Geschichten. Es ging in der Veranstaltung aber v.a. um wesentliche Positionen, wie den Begriff der Integration und die derzeitige Debatte und viel mehr kann man auch nicht von einer Podiumsdiskussion erwarten. Man kann in so eine schwammige Diskussion in diesem Rahmen auch nicht intervenieren und sagen, dass man da auch eine grundsätzliche Kritik hat, auch an den zugrundeliegenden Politikvorstellungen und -modellen und dem zugrundeliegenden Rassismus als politische Realität. Deshalb muss man einzelne Themen noch mal aufgreifen. Und da ist es uns auch noch mal ganz wichtig, zu sagen, dass die deutschen und europäischen „Probleme“ v.a. soziale Probleme sind, die kul­turalisiert werden.

FA!: Würdet Ihr auch zukünftig an der Podiumsdiskussion als Medium festhalten, oder auch mal andere Formen wählen?

BgId: Es ist ganz gut als Anfangsver­an­staltung gewesen, weil man dadurch auch ausloten konnte, wie die Leute, die auch auf dem Podium vertreten waren, und die wir tendenziell ansprechen wollen mit unserer Kritik, reagieren. Zu gucken, wie funktioniert denn so eine Debatte, also was sind die Argumente, die dann letztendlich hängen bleiben. Und auch um eine Öffentlichkeit anzusprechen, die nicht kommen würde, wenn nur Rex Osa kommt.

Also als Anfang gut, aber um eine genauere Analyse vorzustellen, ist es vielleicht nicht die richtige Form. Unsere nächste Veranstaltung wird auch ein Vortrag sein und wir werden dann schauen, mit welcher Form wir unser Ziel erreichen können. Zum Beispiel auch mal einen Text schreiben, um eine politische Fundierung darunter zu legen.

FA!: Wollt Ihr Euch in Zukunft eigentlich thematisch auf die Integrationsdebatte begrenzen, so wie das auch Euer Name suggeriert? Oder wie würdet Ihr Euer gestecktes Themenfeld eingrenzen?

BgId: An dem Themenfeld möchten wir schon dranbleiben. Es ist fraglich ob der Name irgendwann hinfällig ist, weil er veraltet ist, denn die Integrationsdebatte ist abgeflaut, auch wenn die Themen noch aktuell sind und verhandelt werden, nur eben nicht mehr unter dem Stichwort. Aber Rassismus ist in unserer Gesellschaft die ganze Zeit vorhanden und wird auch nicht in ein paar Wochen weg sein. Und deshalb bleiben wir in diesen und ähnlichen Themenfeldern haften. Wir würden auch gerne noch mehr machen, haben aber leider nicht so große personelle Kapazitäten gerade. [nächste Veranstaltung: siehe Anzeige S. 5]

FA!: Gutes Stichwort: Ihr wollt also gerne mehr werden, um mehr zu machen. Wie kann man denn bei Euch mitmachen?

BgId: Wir treffen uns im Moment alle zwei Wochen, Dienstags 20 Uhr im Linxxnet. Alle Leute, die Bock haben, können uns mailen und zu uns kommen und schauen, ob das was für sie ist. Ohne Beschränkungen. [integration.blogsport.de]

Danke für das Interview!

momo

Lokales

„Eolo“

Leben und Schicksal eines italienischen Anarchisten 1918-1945

Ein neues Buch ist auf dem Markt – ein Roman, in dem das Leben des italienischen Anarchisten Eolo beschrieben wird. Das Leben eines Partisanen also, der gegen das faschistische Mussolini-Regime kämpfte. „Oh, das klingt lesenswert“, kommt mir in den Sinn – und ich freu mich auf ein Buch, das mir Hintergründe zum italienischen Anarchismus in faschistischen Zeiten vermittelt und dabei nicht als schnöde biographische Abhandlung, sondern als leichtfüßige Prosa daherkommt. „Genau das Richtige für Wissensdurst in müden Abendstunden“, denk ich mir… und werde eines Besseren belehrt.

Das dünne Büchlein im Hardcover, mit beschichtetem Papier und 19 integrierten zeithistorischen Fotos, wirkt seriös, geschichtlich und unpolitisch. Der Klappentext verspricht den gelungenen Spagat zwischen historischer Abhandlung und romanhafter Erzählung und verweist bereits auf die zentrale Message: „Ein ‘Roman’ darüber, wie Gewalt die Menschen verändert, zu neuer Gewalt führt und das Wertesystem menschlichen Zusammenlebens außer Kraft setzt“. Der Autor und Geschichtslehrer Gianni Sparapan, der wie sein Protagonist Eolo Boccato aus der italienischen Provinz Rovigo kommt, bleibt diesem Fokus immer treu. In nüchternen, wenig ausschmückenden oder ausschweifenden Sätzen, führt er durch die Lebensgeschichte des Eolo, der zusammen mit 13 Geschwistern als Sohn des Anarchisten Amerigo heranwächst. Dieser lehrt seine Kinder von Kleinauf das kritische Hinterfragen der Gegebenheiten und den begründeten aktiven Widerstand. So wie Amerigo trotz zunehmender Konflikte mit dem Regime seinen Standpunkt und seine Widerständigkeit behält, so wächst auch Eolo als willensstarker und mutiger Querkopf auf, der für seine Ideale streitet. Als Italien 1940 in den Krieg eintritt, ist der inzwischen junge Mann sogar erfreut, denn er glaubt, dass der nun folgende Widerstand das Regime zu Fall bringen würde. Selbst sein Einzug als Soldat für den Balkankrieg stört ihn da scheinbar wenig. Doch die Teilnahme am Krieg und die damit verbundenen Erlebnisse gehen an Eolo wohl nicht spurlos vorüber. Zurück in der Provinz und von den Faschisten gedemütigt, fühlt er sich erst wieder nützlich, als ihm während der politischen Unruhen um die zeitweilige Absetzung Mussolinis von Untergrundkämpfern die Waffe in die Hand gedrückt wird. Nun kommt die Gewaltspirale richtig in Fahrt. Eolo macht sich zum Chef einer kleinen Widerstandsgruppe und bekämpft die Faschisten. Frei nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ kommen auf jeden Tod eines Faschisten mehrere Vergel­tungungs­­morde. Unzählige Ereignisse folgen, in denen Menschen, egal ob Zivilist oder nicht, äußerst brutal gefoltert und getötet werden. Als Eolo schließlich Zeuge am Übergriff auf seinen Bruder wird, kennt auch sein Hass keine Grenzen mehr. Nun aber wird auch sein Kampf ein recht einsamer…

Ein Roman voller Brutalität, der wahrlich bewegt. Ein Buch, das man öfters weglegen muss und doch gleich wieder zur Hand nimmt, um mehr zu erfahren. Der kurzweilige, nüchterne Erzählstil passt zu den geschilderten Grausamkeiten: Die knappe Darstellung macht die Brutalität erträglich und ermöglicht gleichzeitig die schonungslose Schilderung vieler historischer Ereignisse auf wenigen Seiten. Das wiederum erschüttert, auch ohne dass der Autor den moralischen Zeigefinger erhebt. Der_die Leser_in wird immer wieder angeregt, über Ursachen und Eskalation von Krieg und Gewalt nachzudenken. Die Botschaft wird so nicht verfehlt. Doch hat der knappe Stil auch seine Nachteile: Wer nicht im italienischen Widerstand belesen ist, der versteht recht wenig den Kontext der Geschichte. Denn die historischen und politischen Hintergründe und Entwicklungen werden nicht erklärt, man erfährt auch wenig über die Unruhen um 1943, die wieder im Faschismus endeten, oder die Balkanoffensive. Bei letzterem stellt sich vor allem auch die Frage, wie Eo­lo mit dem Widerspruch umgeht, Seite an Seite mit den Faschisten kämpfen zu müssen. Generell fehlt es auch an grundsätzlichen Erläuterungen zum antifaschistischen Widerstand, der sicher nicht nur aus Anarchist_innen bestand. Auch wenn man dies mit dem Fokus des Autors auf die Mikroperspektive um Eolo und andere Einzelschicksale begründen kann, so fällt selbst dort auf, dass notwendige Erläuterungen zu Eolos Idealen ausgespart werden. Die Andeutungen zum anarchistischen Verständnis des Vaters, wirken da eher dürftig. Der Titel weckt hier Erwartungen, die unbefriedigt bleiben. Anderer­seits kann dem Autor so auch nicht vorgeworfen werden, den Anarchismus mit dem Faschismus gleichzusetzen, obgleich Eolo ja den Faschisten in seiner Gewaltbereitschaft schlussendlich nicht nachsteht. Diese Bilanz kann, sollte und wird nicht gezogen, da die Lupe nur ein Urteil über Eolo erlaubt. Und dieser verändert sich durch zunehmende Brutalität und hat schlussendlich nicht mehr irgendwelche (ohnehin nicht erläuterten) Ideale, sondern nur noch Hass zur Triebfeder. So richtet sich der Blick auf das Individuum und dessen (Re-)Produktion von Hass und Gewalt im Krieg, bei dem dann auch jegliche vermeintlichen Ideale in den Hintergrund treten.

Nein, als Gute-Nacht-Lektüre eignet sich der Roman nicht, wenn man Wert auf ruhigen Schlaf legt. Obgleich der Spagat zwischen Roman und Realität gelingt, eignet er sich ebenso wenig, um allgemeine Hintergründe zur italienischen anarchistischen Bewegung zu erfahren. Dennoch ist es ein gelungener, an den Realitäten orientierter Roman, der sehr eindringlich die Grausamkeiten des Krieges verdeutlicht und auch all jenen die Augen öffnet, die noch glauben, mit Mitteln der Gewalt für eine bessere Gesellschaft streiten zu müssen.

momo

Rezension

Mit der Säge am eigenen Stuhl

VolkshausVerkauf

„Gewerkschaftsarbeit braucht keine lokal aktive Basis“, scheint die Erkenntnis des DGB zu sein. Anders ließe es sich nicht erklären, dass neun Gewerkschaftshäuser, vorwiegend aus dem Osten, im Dezember 2006 vom DGB-Vorstand verkauft wurden. Ver­kauft an Cerberus, einem US-ameri­ka­­nischen Finanz­fond­unter­nehmen, dem es aus­schließlich um den profi­tab­­len Weiter­verkauf der Immo­bilie geht. Verkauft an den ka­pitalistischen Feind, der dann ein guter Freund ist, wenn nicht gerade Rede schwingend gegen ihn ge­­wettert wird, weil man ja offiziell noch auf der anderen Seite des Interessen­ge­gen­satzes steht. Dass zu­mindest einige Ar­beit­nehmerInnen sich nun von ihrer Spitze ver­­­raten und ver­kauft füh­len und in Leip­zig dagegen Sturm liefen, spricht für die Ak­ti­vistInnen. Dass es nichts ver­hindert hat, weil es nur wenige Idealisten unter den GewerkschafterInnen gibt, spricht wiederum für eine lange, basis­entfremdete Tra­dition im DGB, die mit dem Volkshaus-Verkauf diese Tendenz noch verstärkt.

Das 1905 entstandene Leipziger Volkshaus ist ein Meilenstein in der Geschichte der Ar­­beiterbewegung. Zwei mal erbauten es die Ar­beiterInnen mit ihrem so genannten „Ar­­bei­tergroschen“ neu, nachdem es 1920 beim Kapp-Putsch (1) und 1945 von einer Bom­be zer­stört wurde. Bis 1990 vom FDGB (2) ge­nutzt, fiel die Immobilie nach der Wiedervereinigung der Treuhand zu und wur­de 1993 zusammen mit acht an­deren ost­deut­schen Gewerk­schafts­häu­sern von der Ge­sell­schaft für Gewerbe­immo­bilien (GGI) ge­kauft, welche bis De­zem­ber noch eine Im­mo­biliensparte der BGAG (3) war und jetzt im Paket mit ins­ge­samt 46 Objekten der In­vest­ment­ge­sell­schaft Cerberus gehört. Der jüng­ste Ver­kauf ist dabei lediglich die Spitze des Eis­ber­ges in der Geschichte des ver­kauf­ten Tafel­silbers der Gewerkschaften (siehe näx­ten Artikel).

Konsequenzen

Das Volkshaus wird heute, neben der gleich­­namigen Kneipe und zahlreicher Büros vor allem als Veranstaltungsort so­wohl von Ge­werk­schaftsaktivistInnen, als auch von an­deren politischen Gruppen ge­nutzt, um In­for­mationsveranstaltungen, Se­mi­nare und Plena durchzuführen. Ins­be­­sondere bei Naziaufmärschen ist das Volks­­haus ein be­liebter Sammelplatz um Rou­ten der Nazis Rich­tung Connewitz zu blockieren. Dies kann sich nun (zumin­dest rechtlich gesehen) schwieriger ge­stal­ten, und auch andere po­li­tische Aktivi­täten, selbst Transpis an den Haus­wänden könnten vom neuen Besitzer unter­bunden wer­den. Auch wenn heute die Nutzungs­mög­lichkeiten von Haus und Hof durch Basis­aktivistInnen nicht ausgeschöpft wer­den, so ist der Verkauf des zentral ge­le­gen­en Ortes ein Tritt in den Arsch all jener, die seit Jahren versuchen für die In­ter­essen der Ausgebeuteten lokal ein­zu­stehen und Gewerkschaftsarbeit von un­ten zu organi­sieren. Doch für die DGB-Spitze scheinbar kein großer Verlust im Ver­gleich zum fi­nan­ziel­len Gewinn, der offi­ziell das durch Mit­gliederrückgang ent­standene Haushaltsloch aus­gleicht. Selbst vor Kündigungs­droh­ungen schrec­kte diese nicht zurück, wenn ge­­werk­schaft­liche Funktionäre sich öffent­lich den Ent­scheidungen des DGBs wider­setzten und gegen die Veräußerung mobil mach­ten. Und auch jene AktivistInnen, die me­dien­wirksam gegen Pri­va­ti­sier­ungen mobi­lisieren, machen sich zu­künf­tig wohl lächerlich wenn sie hinter der Gewerk­schafts­fahne laufen, wo doch selbst das ge­werk­schaftseigene Haus in­zwischen keines mehr ist.

Proteste

Obgleich der Verkauf erst am 18.12.2006 schriftlich besiegelt wurde, war er bereits im September beschlossene Sache, wurde von den Verantwortlichen aber weder kommuniziert, noch mit den Betroffenen in irgendeiner Weise abgestimmt. Die Empör­ung darüber war bei der Leipziger Basis dementsprechend groß, zumal diese über die Leipziger Volkszeitung erst am 21.9. vom geplanten Verkauf erfuhr. Ausgehend von der Gewerkschaftsbasis formierte sich daraufhin zeitnah die Initiative Stoppt den Verkauf der Gewerk­schafts­häuser und rief zu einer symbo­lischen Besetzung des Volkshauses auf. Viele AktivistInnen verbrachten am 26.10. die Nacht in und vor dem Volkshaus und versuchten mit Unter­schriften­sammlungen auf den unhaltbaren Be­schluss aufmerksam zu machen und eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, zumal von allen anderen betrof­fenen Städten kein Zeichen des Wider­standes ausging. In einer außer­ordentlichen Delegierten­ver­sammlung und Protest­kundgebung am 15.11. sollten die ver­antwort­lichen Vorstandsmitglieder des DGB und der BGAG Stellung dazu nehmen, allerdings hielten diese es nicht einmal für nötig, überhaupt zu erscheinen. Frei nach dem Motto „kommt ihr nicht zu uns, steigen wir euch aufs Dach“ fuhr daraufhin ein Bus mit rund 50 Gewerkschafts­aktiv­istInnen am 22.11. in die DGB-Zentrale nach Berlin, um ein Gespräch mit dem dafür zuständigen Bundes­vor­stands­mit­glied zu führen. Dieser versuchte die auf­ge­brachten LeipzigerInnen mit dem Ver­sprechen, das Problem im Bundes­vorstand noch einmal zur Sprache zu bringen, zu be­sänf­tigen. Die scheinbar aus Angst extra en­ga­gierte Security begleitete die ‚Reise­gruppe Berlin‘ nach zweistündiger Audienz schluss­end­lich unverrichteter Dinge aus dem Haus. Am 6.12. wurde daraufhin zu einem offenem runden Tisch in Leipzig eingeladen, um wei­tere Aktionen gegen den Verkauf des Leip­ziger Hauses zu planen, wie zum Beispiel die Mahn­wache am 19.12. Dort konnte nur noch traurig Bilanz gezogen werden, denn be­reits am Tag zuvor ging der Besitz an Cer­berus, dem Höllenhund in der griechischen Mythologie, über.

Auch wenn die Chancen auf einen Rückkauf des Volkshauses schlecht stehen, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn in diesem Jahr finden die Gewerkschaftstage4 der ver.di und der IG Metall in Leipzig statt. Eine brei­te innergewerkschaftliche Dis­kussion um ei­gene politische Ausrichtung ist notwendig, denn einmal mehr hat sich gezeigt, was sich hin­ter dem rhetorischen Schleier der selbsternannten Kampf­organisation verbirgt. Dass der Ausverkauf von 100 Jahren Arbeitergeschichte und der damit ver­bun­dene Verrat an der eigenen Klasse insgesamt auf so wenig Widerstand stößt, liegt vielleicht aber auch daran, dass außer ein paar Leipzigern kaum jemand mehr so idealistisch ist zu glauben, der DGB agiere gegen das Kapital.

momo

(1) Der von Teilen der Reichswehr durchgeführte Putsch in der Zeit der Weimarer Republik richtete sich insbesondere gegen die politischen Parteien, welche den Versailler Vertrag durchzusetzen versuchten und im Rahmen dessen den Abbau der bewaffneten Kräfte forcierten.
(2) Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, zentraler Gewerkschaftsbund der DDR
(3) Beteiligungsgesellschaft der Gewerkschaften AG, Immobilientochterfirma des DBG
(4) Der Gewerkschaftstag ist das höchste beschluss­fassende Gremium der Mitglieds­gewerkschaften und tagt aller 4 Jahre. In der Bundes­jugend­kon­ferenz der IG Metall Jugend (7% der Ge­samt­mit­glieder) wurde bereits im Januar beschlossen, das Volkshaus zurück zu kaufen und dement­sprechend einen Antrag an den Gewerkschaftstag einzureichen.

Lokales

Venezuela und die bolivarianische Revolution

Ein emanzipativer Prozess von unten?

Über die Veränderungen in Venezuela und die ausgerufene bolivarianische Revolution (1) wurde in verschiedensten Medien viel geschrieben und geurteilt. Erneut angeheizt wird die Debatte durch den unhaltbaren Pakt mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinejad, der durch seine Ablehnung der US-amerika­nischen Politik, von Hugo Chávez als „Bruder im Kampf gegen die US- Hegemonie“ bezeichnet wird. Damit diskreditiert er nicht nur sich selbst als Politiker, der vorgibt auf der Seite der Unterdrückten zu kämpfen, sondern stellt auch die ohnehin heiß diskutierten politischen Prozesse in Venezuela in Frage. Der vene­zolanische Staat, der Emanzipation und Partizipation der mittellosen Bevölkerung fördern will, unterstützt zeitgleich eine Diktatur im Iran, welche sämtliche emanzipatorischen Bewegungen im eigenen Land unterdrückt und Minderheiten tagtäglich diskriminiert. Bei näherer Betrachtung der Prozesse im Landesinneren ist das nicht der einzige Widerspruch, in dem sich das neue Venezuela und die partizi­pative Demokratie bewegen. Inwiefern kann sie dem formulierten Anspruch der Eigenverantwortung seiner Bürger/innen gerecht werden? Dort ist die Rede vom Sozialismus des 21. Jahrhundert, doch wie wird dieser in der Spannbreite zwischen sozialstaatlichen Maßnahmen, einem kubanischem Sozialismus und einer Selbstorganisation der Bevölkerung definiert?

Vor einer genaueren Betrachtung der innenpolitischen Prozesse, um zu unter­suchen, inwiefern die Bevölkerung aktiv die neue Gesellschaft mitgestalten kann und wie diese neue Gesellschaft von der Bevölkerung definiert wird, sollte Eines gesagt sein: Der armen Bevölkerung geht es im Zuge der bolivar­ianischen Revolution wesentlich besser als noch vor fünf Jahren. Wenn wir diesen Fakt aus unserer Kritik ausklammern, gehen wir nicht nur an der Wirklichkeit der mittellosen Bevöl­kerung und an den Schwierigkeiten des statt­findenden Prozesses vorbei, wir stellen uns zudem auf ein theoretisches Fundament, das die Hand­lungs­motivation der Bevölkerung nicht versteht, sie aber belehren will. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, unter Beachtung dieser Prämisse, progressive Kritik an bisher unterlassener, falscher oder inkonsequenter Politik in Venezuela zu üben.

Sozialismus des 21. Jahrhundert

Nachdem 2000 die neue Verfassung ratifiziert wurde, rief Chávez den Sozialismus des 21.Jh. in Venezuela aus. Seitdem ist der Terminus in aller Munde und verweist auf Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich des Landes. Zum einen ist dabei von sogenannten Misiones (2) die Rede, die in den Gebieten Bildung, Gesundheit, Ernährung und Arbeit wesentlich zur Verbesserung der Situation der wirtschaftlich armen Bevölkerung beigetragen haben. So beträgt die Analphabetenquote heute zum Beispiel nur noch 3%. Finanziert werden die Misiones durch die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der vor dem Putsch 2002 Geldumschlagplatz der Oligarchie Venezuelas war und von der Regierung Chávez umstrukturiert wurde. Die zweite Grundlage des Sozialismus des 21. Jahrhundert basiert auf ökonomischen Veränderungen, die Partizipation anregen und Privatisierungstendenzen entgegenwirken sollen und realisiert sich in Betriebskollektivierungen und -verstaat­lichungen sowie der Umverteilung des Landbesitzes. Es gibt kein festgeschriebenes Konzept dieses neuen Sozialismus, vielmehr bezeichnet er ein sich ent­wickeln­des Modell, welches von den Menschen selbst durch ihre Partizipation in den Betrieben, bei den Misiones, in autonomen regionalen Zirkeln (nude´s (3)) und neuen, selbstorganisierten Medien mit Leben gefüllt werden muss.

Die Sozialprogramme allein machen natürlich keine Revolution aus, zumal sie zwar von den Menschen getragen, jedoch vom Staat ins Leben gerufen und finanziert werden. Vielmehr könnte man das ganze auch als radikale sozialstaatliche Maßnahme betrachten, die weder den Kapitalismus direkt angreift, noch seine Wurzeln zerstört. Auch wenn die parallel existierenden alternativen Strukturen den Profit aus privatkapitalistischer Wirt­schafts­weise mindern, so fördern sie vornehmlich auch den Ruf nach einem starken Staat, der für soziale Maßnahmen zu sorgen hat und stärken den Präsidenten Chávez in seinem Amt. Dessen große Popularität erweckt den Eindruck, dass die Bevölkerung keine regierungsunabhängige Politik anstrebt, sondern sich vielmehr auf die Politik von Chávez verlässt, ja sogar blindlings folgt. Dem würde nicht einmal der Präsident selbst widersprechen wollen: „Ich bin weder Marxist, noch glaube ich an die proletarische Revolution. Denn ich sehe in keinem Lande der Welt die Arbeiter den Kampf gegen den Kapitalismus anführen“. (4) Dennoch spielt die Partizipation und Mitbestimmung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle darin, ist sozusagen das Aushängeschild für das Neue am Sozialismus des 21.Jahrhundert. Die Beteiligung in den angesprochenen Bereichen ist tatsächlich sehr hoch, die Menschen füllen den bolivarianischen Prozess mit Leben, stehen mit Taten und Ideen dahinter und nutzen die neuen Möglichkeiten. Doch inwiefern emanzipieren sie sich dabei von ihrer Unterdrückung, ohne das Zepter im selben Zuge an einen neuen „Verantwortlichen“, diesmal den Staat abzugeben?

Partizipation, Selbstorganisation und Autonomie?

Im Zuge der Entwicklung einer neuen Verfassung wurde 1999 die partizipative Demokratie eingeläutet. Überall in Venezuela entstanden Zirkel von Menschen verschiedener Schichten, die gemeinsam ihre Forderungen und Wünsche dis­kutierten und einbrachten. In sieben Volksabstimmungen wurde dann die Verfassung im Jahr 2000 verabschiedet. Für viele Menschen ist sie Ausdruck ihrer Stimme, sie wissen, dass sie sich darauf berufen können, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte und Mitbestimmung geht. Zudem war sie der erste Schritt der neuen Regierung, die Mündigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an der Entwicklung in Venezuela zu fördern. Wer aber glaubt, nun könnten die Menschen autonom ihre Rechte wahrnehmen, der hat die Rechnung ohne die staatliche Regulationshand ge­macht:

In der Verfassung fest­ge­schrie­ben ist bspw. die Be­strebung zur Kollektivierung von Betrieben, ein Wort bei denen un­dogmatisch linke Herzen höher schlagen und mensch den Duft von Autonomie der Arbeiter/innen und Selbstorga­nisation zu schnuppern glaubt. Tatsächlich werden Betriebe auch kollektiviert, allerdings handelt es sich dabei bisher weder um Schlüsselindustrien, wie das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, noch um völlig unabhängige, neue Strukturen, die erkämpft werden. Vielmehr sind es brachliegende, ehemalige Betriebe, die kollektiviert werden, oder aber Unternehmen, die sonst Konkurs anmelden würden. Die Besitzverhältnisse werden dann zwischen Belegschaft, Unternehmensleitung und Staat anteilig der Neuinvestitionen zur Wiederaufnahme der Produktion ausgehandelt. Investiert der Staat viel Kapital, dann gehört ihm auch mehr vom Betrieb. Zwar vergrößert sich die Mitbestimmung in den Betrieben, Arbeitsbedingungen werden besser und das hat auch positive Auswirkungen auf die Arbeiter/innen anderer, privatkapitalistisch betriebener Unternehmen. Beispiele für besetzte Betriebe und vollständige Autonomie der Lohnabhängigen gibt es bisher allerdings kaum, zumindest nicht dokumentiert. Dass die Regierung Chávez ihre Bevölkerung dahingehend nicht frei agieren lässt, wird bisher eher fadenscheinig mit der Gefahr „von außen“, sprich kapitalistischen Interessen innerhalb und außerhalb Venezuelas begründet, die den gesamten bolivar­ianischen Prozess gefährden könnten.

Ähnlich wie die Kollektivierung wird auch die Landumverteilung „von oben“ gesteuert und bisher alles andere als radikal umgesetzt. Laut Verfassung steht den Familien für Ackerbau und Viehzucht Landbesitz zu; gibt es nun Familien oder Kollektive, die von diesem Recht Gebrauch machen möchten, dann werden ihnen vom Staat Flächen zugeteilt. Meist handelt es sich dabei aber um Gebiete, die dem Staat selbst gehören oder aber nachweislich brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern sind, die über viele Jahre nicht bewirtschaftet wurden. Landbesetzungen, wie sie von der MST (5) aus Brasilien bekannt sind und die auf die unhaltbare Situation aufmerksam machen, indem sie radikal enteignen, bleiben bisher aus. Denn: Vater Staat regelt das schon.

Wirklich unabhängig agieren bisher nicht einmal die neu gegründeten Gewerkschaften, denn die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen ähneln eher einem zerstrittenen Haufen als einer Union. Nachdem die alten Gewerkschaften abdanken mussten, weil sie vor und während des Putsches die Oligarchie unterstützten, wird sich nun um Einfluss und Kompetenzen innerhalb der Neuen gestritten. In puncto Mitbestimmung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben sie bisher jedenfalls nichts erreicht. Was an Arbeitskonditionen verbessert wurde, ist gesetzlich durch die Regierung Chávez veranlasst. Innerhalb der venezolanischen Bevölkerung wird dementsprechend auch wenig über autonomes gewerkschaftliches Handeln nachgedacht, denn durch den Staat ist das nun scheinbar überflüssig geworden.

Doch gibt es auch Beispiele „wirklicher“ Selbst­organisation in Venezuela, die nicht staatlich kontrolliert oder reguliert wird, dennoch gewollt ist. Ein Beispiel dafür sind die regionalen Medien, die finanziell und ideologisch vom Staat unabhängig arbeiten und bei denen immer mehr Menschen aller Schichten für die Leute in ihren Barrios senden und berichten. Das nötige Handwerkszeug dafür eignen sie sich gegenseitig an – gesendet wird, was selbst interessiert.

Auch durch die entstehenden regionalen Zirkel (nude – Netzwerke) verschafft sich die Bevölkerung Gehör. Autonome, unabhängige Gruppen gründen sich, die politisch, kulturell oder bautechnisch Veränderungen in ihrem Umfeld anstreben. Wenn gewollt, dann kann bei bestimmten Projekten finanzielle Unterstützung vom Staat eingefordert werden, muss aber nicht.

Reiseziel: Unbekannt

Es scheint nun so, als können die Venezolaner/innen zwar am Prozess partizipieren; autonomes und selbstorganisiertes Handeln wird ihnen allerdings nur dann zugesprochen, wenn es für den Staat keine Gefahr darstellt und dessen Einfluss gestärkt bleibt. Es stellt sich hier schnell die Frage, ob es überhaupt ein staatliches Interesse an linker Kritik gibt: Innerhalb Venezuelas gibt es nur eine kleine Gruppe Anarchist/innen, die sich vornehmlich um die Zeitung liberario (6) sammelt und oftmals von den Chavistas (7) stark kritisiert wird, weil ihre Kritik der Opposition in die Hände spielen würde. Auch ist der Glaube an die Notwendigkeit einer starken Führerfigur ebenso weit verbreitet, wie die Forderung nach einem starken Sozialstaat, der die Belange der Bevölkerung regeln soll. Die Gefahr, die Macht in den Händen Weniger birgt, wird dabei gerne übersehen, solange man dem Präsidenten vertraut. Einzig auf ihn zu bauen, ist jedoch gefährlich, obgleich im Fall von Venezuela die eingeleiteten innenpolitischen Maßnahmen bisher vertrauenserweckend wirken. Der Bevölkerung Venezuelas bietet sich dennoch die Möglichkeit diese positiven Veränderungen zu nutzen, um dann einen Schritt weiter zu gehen. Denn das Handwerkszeug für eine autonome und eigenverantwortlich handelnde Bevölkerung erhalten sie gerade: Ernährung, Bildung und Organisationsmöglichkeiten auf regionaler, betrieblicher und medialer Ebene bieten den Rahmen für ein großes Potential. Von den Menschen dort genutzt, stellen sie eine Waffe gegen all diejenigen Bestrebungen dar, welche die venezolanische Bevölkerung wieder unmündig machen wollen. Wenn diese Waffe nun genutzt wird, eigen­ver­ant­wortlich und unabhängig von Chávez für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu kämpfen, dann ist das ein Schritt Richtung emanzipativer Gesellschaft. Daran scheidet sich auch der Weg, des Sozialismus im 21.Jahrhundert. Die Frage ist, inwiefern die Menschen in Venezuela bereit sind die gestellten Weichen zu nutzen.

Ein Anzeichen für Emanzipation und selbstbestimmtes Denken wäre z.B. ein „Nein“ der Venezolaner/innen zur Kumpanei zwischen den Präsidenten Chávez und Ahmadinejad, die sich derzeitig nach dem Motto: „die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“ verbrüdern. Denn die Politik, die im Iran betrieben wird, ist unvereinbar mit den Prinzipien einer befreiten Gesellschaft, so wie sie Venezuela für sich und andere Unterdrückte fordert. Dass dies bisher nicht geschah, liegt sicherlich auch an den Informationen, die der Bevölkerung medial verabreicht werden. Hier hat mensch die Wahl zwischen oppositionell (private Sender mit Hetzkampagnen gegen die Regierung), staatlich oder regional (autonom). Ein venezolanischer Freund und überzeugter Chavist meinte einmal, dass der bereits begonnene 4. Weltkrieg ein Medialer sei, der die Menschen je nach kapitalistischen Interessen manipuliert. Dementsprechend achtsam sollten er und seine Genoss/innen dann aber auch gegenüber den „vertrauenswürdigen“ und scheinbar „interessenlosen“ staatlichen Medien sein …

momo

(1) Der Name bolivarianische Revolution lässt sich auf den Nationalhelden Simón Bolívar zurückführen, der im 19.Jahrhundert in verschiedenen Ländern Lateinamerikas mehrere Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft führte und gewann. Er steht in Venezuela für Antiim­perialismus, progressive Sozialvorstellungen und ein vereintes Lateinamerika.
(2) misiones: Sozialprogramme, die zum einen Hunger und Armut lindern (barrio dentro: kostenlose medizinische Hilfe von kubanischen Ärzten in unmittelbarer Nähe, mercal: staatliche Märkte, die Lebensmittel bedeutend billiger anbieten als Supermärkte) und zum anderen Bildung von Alpha­betisierung bis Universitätsabschluss für jede/n zugänglich machen (mision robinson, rivas, sucre). Private Unis, Ärzte, Supermärkte existieren jedoch weiterhin parallel zu den neuen, alternativen Strukturen.
(3) nude: „Núcleos de Desarollo Endógeno“ – selbstorganisierte, lokale Netzwerke zur nachhaltigen Entwicklung.
(4) zitiert in Wildcat 72, „Umstrittene Spielräume“.
(5) MST: „Movimiento Sem Tierra“ – Landlosenbewegung in Brasilien.
(6) siehe auch: jungle world Nr.30, 26.07.2006 „Das ist unser Geld“.
(7) Anhänger/innen der Regierung von Chávez werden meist als Chavistas bezeichnet.

Geschichte Venezuelas innenpolitisch ab 1958:

+++1958: Beginn der Demokratie. Die zwei größten Parteien AD und COPEI teilen sich für Jahrzehnte die Macht +++ 1980er Jahre: stetiges sinken des Ölpreises, Korruption und fehlende Strategien manifestieren die wirtschaftliche Krise, die auf die Unterschichten abgewälzt wird. Soziale Bewegungen werden von Regierungsseite zunehmend unterdrückt +++ 1989: Caracazo – Aufstände und Plünderungen für mehrere Wochen in Caracas. In gewaltsamen Niederschlagungen seitens der Polizei, sterben ca. 1000-1500 Menschen. Beginn der bolivarianischen Bewegung, einer neuen Opposition von unten +++ 1992: gescheiterter militärischer Putschversuch, dessen Anführer Hugo Chávez Frías die Verantwortung dafür übernimmt und so zur Symbolfigur des Widerstandes wird +++ 1998: Chávez gewinnt überraschend mit 56,5% der Stimmen die Präsidentschaftswahlen +++ 1999/2000: Erarbeitung einer neuen Verfassung mit deren Verabschiedung der Beginn der bolivarianischen Revolution ausgerufen wird +++ 2001: Erste Sozialmaßnahmen (misiones): Bildungs- und Agrarreform +++ 2002: Putschversuch seitens der Opposition, weil das staatliche Erdölunternehmen PDVSA umstrukturiert werden soll. Der Putsch scheitert durch massive Initiative von Bevölkerung (Unterschicht) und Militär. +++ 2002/2003: Ein weiterer Umsturzversuch misslingt +++ 2003: Umstrukturierung des Erdölkonzerns und Ausweitung der misiones +++ 2004: Ein von der Opposition organisiertes Referendum bestätigt Chávez mit 58% der Stimmen im Amt+++

Uruguay: Da bewegt sich was…

Treffen autonomer Basisbewegungen aus Lateinamerika im Februar 2006

Was passiert eigentlich gerade in Lateinamerika? Das öffentliche Interesse ist größer geworden, in den Medien wird wahlweise von progressiven, kommunistischen oder auch diktatorischen Staatschefs berichtet und Begriffe wie Armut, Militarisierung oder Freihandelsabkommen tauchen immer wieder auf. Doch wie wird damit vor Ort umgegangen? Wo steht die Basis, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten sehen sie und wie läuft die Vernetzung? Anlässlich des 4. lateinamerikanischen Treffens autonomer Basisbewegungen soll hier nun kurz über die Ergebnisse berichtet werden:

So facettenreich wie die Landschaft ist wohl auch die ökonomische, soziale und politische Situation der einzelnen Länder und Regionen. Allerdings gibt es, neben den von Armut begrenzten Lebensumständen, auch gemeinsam zu bewältigende Probleme, wie zum Beispiel die fortgeführten Privatisierungen von Grundgütern wie Wasser und andere so genannte „Strukturanpassungsprogramme“ (1). Aber auch die Schuldenbezahlung und Gespräche über das Frei­handels­abkommen ALCA (2) sowie bilaterale Vereinbarungen stehen auf der politischen Tagesordnung in Lateinamerika. Linke Basiskräfte sehen sich zudem mit der stetig zunehmenden innerstaatlichen Mili­tarisierung und einer Kriminalisierung so-zialer Proteste konfrontiert. So genannte „progressive“ Regierungen haben ebenfalls keinen Para­digmen­wechsel herbeigeführt, selbst wenn es dort vereinzelte soziale Kampagnen gibt, welche die Lebensumstände der armen Bevölkerung verbessern. Mit großen Versprechungen wird so auf die Unterstützung „des Volkes“ gebaut, während man sich doch gleichzeitig mit dem neoliberalen Modell arrangiert, wie zum Beispiel in Brasilien, Argentinien, Chile oder Bolivien. Eine zunehmende Institutionalisierung sozialer Bewegungen und die Bürokratisierung der Gewerkschaften wird hierbei zum Problem, da sich die Linke am fehlenden „klaren Feindbild“ zersplittert.

Mit diesen Problemen konfrontiert, trafen sich 65 verschiedene autonome Basisgruppen aus Uruguay, Argentinien, Chile, Brasilien und Bolivien, um sich über die Situation und die Perspektiven des sozialen Kampfes auszutauschen. Die Gruppen aus dem vornehmlich libertären und kommunistischen Spektrum, die sich NGO- und parteiunabhängig organisieren, diskutierten über Selbstorganisation, Klassenkampf und den möglichen Aufbau von „poder popular“ („Volksmacht“). Sie entwickelten dabei sowohl abstraktere als auch konkrete Hand­lungsstrategien. Die wichtigsten Eckpunkte sind die Organisierung der Unorganisierten, die Zusammenführung der zersplitterten „Linken“ an gemeinsamen Zielen und Projekten, der Aufbau von unabhängigen Partizipationsbereichen und die Unterstützung autonomer sozialer Bewegungen. Der „ideelle Kampf der sich erkennenden Klasse“, und die Stärkung sozialer Werte wie Solidarität sind weitere Anknüpfungspunkte, um den kapitalistischen Verhältnissen mit einer vereinten Gegenmacht der Basis entgegen zu treten. Als konkrete Mittel wurden hierbei die direkte Aktion, direkte Demokratie und solidarische, gerechte, hierarchielose Zusammenschlüsse festgehalten.

Neben dem regelmäßigen Austausch von Informationen und Besuchen beschlossen die Gruppen auch, gemeinsam gegen die Vereinbarungen zu dem Freihandelsabkommen mit Europa im Mai zu mobilisieren, da es sich um ein Problem mit großer Tragweite handelt.

Das nächste Treffen findet voraussichtlich Ende Februar 2007 in Chile statt und hat seinen Sinn vor allem in der Stärkung und Vernetzung der Beteiligten, denn man ist sich über die Komplexität des Aufbaus einer lateinamerikanischen, starken und bewussten Basisbewegung durchaus im Klaren.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Probleme der compañeros auf der anderen Seite des großen Teiches sind zwar räumlich weit entfernt, unterscheiden sich von den unserigen jedoch nur marginal. Voneinander lernen, sich informieren, neue Denkansätze und Anknüpfungspunkte finden oder solidarische Aktionen starten, kann eine Waffe sein. Dort wie überall.

momo

Der Text ist eine Zusammenfassung aus den veröffentlichten Ergebnissen des 4. lateinamerikanischen Treffens autonomer Basisbewegungen. Da kaum davon berichtet wurde, weil es außerhalb des öffentlichen Interesses stand, könnt ihr unter feierabendle@web.de detailliertere Infos (auf spanisch) bekommen.
(1) IWF („Internationaler Währungsfond“) und Weltbank binden Kreditvergabe oder Schuldenausgleich weitgehend an die Durchführung liberaler Reformen, Privatisierungen und Handelsöffnungen; so genannte „Strukturanpassungsprogramme“. Die lateinamerikanischen Länder haben sich fast alle in den 70er Jahren durch Kredite bei IWF und Weltbank verschuldet, sind aber durch die hohen Zinsen theo­re­tisch immer noch an die Verträge gebunden, obgleich sie z.T. inzwischen das 20-fache eingezahlt haben.
(2) ALCA ,spanisch: Àrea de libre Comercio de las Américas (englisch: FTAA; Free Trade Area of the Americans), ist eine gesamt­amerikanische Frei­handelszone die alle 34 Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika umfassen soll. Planungen dazu existieren seit 1991, die Verhandlungen sind jedoch noch nicht abgeschlossen.

ESF 2008: Ist die andere Welt noch möglich?

Ein Bericht vom Europäischen Sozialforum in Malmö, Schweden

Vom 17.-21.9. fand das Europäische Sozialforum (ESF) im schwedischen Malmö statt. Zum fünften Mal luden ver­schiedenste Organisationen, wie Frauen-, Um­welt- und Friedensbewegungen, Ge­werkschaften und auch Parteien ein, um über soziale und ökonomische Alternati­ven zum herrschenden kapitalistischen Sys­­tem zu diskutieren, Netzwerke zu stär­ken und Erfahrungen auszutauschen. Hi­sto­risch entstanden Sozialforen als sozial­kri­tische Gegenveranstaltung zu den all­jähr­lich stattfindenden Weltwirtschaftsfo­ren: 2001 fand das erste Weltsozialforum in Porto Alegre (Brasilien) statt und bereits 2002 gab es das erste Europäische Sozial­forum in Florenz (Italien). Die ca. 70.000 Teil­nehmenden fanden dort ihren Kon­sens im Protest gegen den Irakkrieg und streu­ten so Aktionismus, Mut und Auf­bruch­stimmung, dass eine andere Welt nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Doch wie sieht es heute mit der Bewegung in den Sozialforen aus?

Dabei sein ist alles?

Unter dem gleichbleibenden Motto „Eine andere Welt ist möglich“ folgten ca. 10.000 Aktivist/innen dem diesjährigen Auf­ruf nach Malmö, um an den mehr als 200 Workshops teilzunehmen und über The­men­gebiete wie Migration, Militari­sie­rung, soziale Rechte, Nachhaltigkeit, Par­ti­zipation und Freiheit, Diskri­mi­nierung, ökonomische Alternativen, Massen­me­dien und soziale Bewegungen zu diskutie­ren. Obwohl doppelt so viele Menschen er­wartet wurden und die Zahl der Teilneh­menden persönlich schwer einzuschätzen war, da die Veran­stal­tungsorte quer durch die Innenstadt gestreut lagen, schienen die Workshops relativ gut besucht zu sein. Die hohe Anzahl der international teilneh­men­­den Organisationen sorgte für eine brei­te Mischung aus Menschen, die sich in verschiedenen Themenbereichen enga­gieren – das Spektrum im deutschen Kon­text reichte dabei bspw. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Friedensrat über die IG Metall und Attac bis hin zu Greenpeace und der Interventionistischen Linken.

Abgesehen von einer international getra­genen Gewerkschaftsjugend-Initiative, die im Rahmen des Forums erstmalig einen Ju­gendbereich mit verschiedenen Veran­staltungen einrichtete und mobilisierte, traf man jedoch verhältnismäßig wenig ba­sisengagierte junge Menschen auf dem offiziellen Forum. Wenn vorhanden, kon­zentrierten sich diese vielmehr beim Action-Network das sich hauptsächlich aus anarchistischen, autonomen und links­radikalen Gruppen und Aktivist/in­nen zusammensetzte und ebenfalls ver­schie­dene Workshops und Aktionen durch­führte. Um dem Einfluss der fi­nanzstarken Organisationen zu entgehen und trotzdem den ESF-Rahmen für die Thematisierung eigener, radikalerer In­halte zu nutzen, organisierten sie sich außer­halb des offiziellen Programms. Mit dieser Ab­spal­tung – die nicht gegen die Themen oder basisorientierte Aktivist/in­nen des ESF gerichtet war – wollten sie ihren Protest an der zunehmenden Büro­kra­tisierung und Vereinnahmung der ESF-Vor­be­reitung durch etablierte Großorga­nisationen verdeutlichen, die oftmals Hie­rar­chiefreiheit, Selbstorganisation und ra­di­kalere Systemkritik mit dazugehörigen Protestformen nicht billigten.

Nur eine Frage der Methode?

So organisierte das Action-Network eine Demo gegen Abschiebung mit Picknick-Blockade vor dem Migrationsbüro, eine Straßen- und Autoblockade gegen den wirtschaftlich und gesellschaftlich geför­derten Klimawandel und eine „Reclaim the streets party“, bei der ca. 700 Aktivist/innen musikalisch begleitet durch die In­nenstadt zogen, Graffiti sprayten, Straßen bemalten und auch die ein oder andere Fensterscheibe der umliegenden Banken ein­warfen. Auffällig hierbei war das Ver­halten der Polizei, die sich nahezu unbe­merkt in den Seitenstraßen positionierte, die Menschenmasse bis zum monumen­ta­len Hilton-Hotel gewähren ließ und nicht durch offensive Präsenz provozierte. Erst als sich viele Stunden später die Mu­sik­wagen und Leute zunehmend verab­schie­deten und sich die Straßenparty dem Ende neigte, eskalierte die Konfrontation zwischen den maximal 100 übrig gebliebe­nen Vermummten und den nun agieren­den Beamten. Sogar mit Pferdestaffel aus­ge­rüstet, wurde den Prophezeiungen der schwe­dischen Presse – die bereits seit Wo­chen die wahrscheinlichen Gewaltausein­an­dersetzungen auf dem ESF hochstili­sier­te – nun Genüge getan. Die entstandenen Bilder von schwarz gekleideten Aktivist/in­nen reichten dann auch aus um das So­zialforum medial zu kritisieren, statt über die Inhalte zu berichten. Neben diesen Ak­tio­nen, die vom Action-Network ini­tiiert wurden und die im Grunde gegen den Kapitalismus und für die Zurück­er­oberung des öffentlichen Raumes für die Menschen gerichtet waren, boten selbige auch einige Workshops an, bei denen Er­fahrungen über die Situation der Frauen, Pre­karisierung und Kämpfe am Arbeits­platz, Besetzungen und soziale Zentren aus­­getauscht wurden und Möglichkeiten zukünftiger Mobilisierung – wie z.B. zum Klimagipfel in Kopenhagen (Dänemark, Dez.2009), dem Natogipfel in Straßbourg (Frankreich, Apr. 2009) und dem G8-Gip­fel in Italien 2009 – diskutiert wurden. Im Gegensatz zu vielen Seminaren und Work­shops im offiziellen ESF-Programm gab es bei diesen „radical assemblies“ keine ausschweifenden Podiumsdiskussionen. Vielmehr wurden nach kurzen Einfüh­run­gen kleinere Stuhlkreis-Runden gebildet, in denen sich die Teilnehmenden – sofern sie der englischen Sprache mächtig waren – austauschen konnten und jede/r auch zu Wort kam und eigene Erfahrungen ein­brachte. Atmosphärisch gemütlich war zu­dem die Räumlichkeit des alternativen Zen­trums, in denen die Veranstaltungen statt­fanden, die stark an die G16 in Leip­zig erinnerten.

Den Höhepunkt des ESF sollte die ge­mein­­same Abschlussdemo bilden, zu der tat­sächlich weitere 5000 Menschen an­reisten und die unter dem Motto „Power to the people – against capitalism and environmental destruction. Another world is possible“ stand. Ein bunter und strec­ken­weise lauter Demozug mit ca. 15.000 Teil­­nehmenden aus allen linken Spektren zog dabei mehrere Stunden und Kilometer „fried­lich“ quer durch Malmö hin zu ei­nem großen Waldstück, auf dem eine Büh­ne stand und verschiedene Musiker/innen und Künstler/innen den Abend aus­klingen ließen.

Wo liegt das Problem?

Alles in allem ein interessantes Happe­ning. Doch kann man beim ESF nun noch von einer Veranstaltung sprechen, die deut­liche Zeichen setzt und dem Protest gegen die herrschenden Verhältnisse Ausdruck verleiht? Was bringen solche Konferenzen noch und wie wirken sie? Natürlich bietet das Sozialforum die Möglichkeit, mit Menschen aus verschiedenen Hintergrün­den über wichtige politische Themen zu diskutieren. Auch sollte die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Netzwerke zu stär­ken, nicht unterschätzt werden. Den­noch haben die Sozialforen seit Florenz 2002 an Wirkmächtigkeit und Auf­bruch­stimmung verloren. Während da­mals der Irakkrieg im Mittelpunkt stand und die zahlreichen Teilnehmenden auf das gemeinsame Aktionsziel einte, zu ei­nem globalen Protesttag gegen den Irak­krieg aufzurufen, dem am 15.2.2003 welt­weit ca. 30 Millionen Menschen folgten, haben die Sozialforen heute nicht mehr die­se Außenwirkung. Symptomatisch da­für ist die allgemeine internationale Presse, die mittlerweile nicht einmal mehr vom ESF berichtet. Die relativ geringe Anzahl von 10 000 Teilnehmenden spricht dabei ebenfalls Bände. Ursachen hierfür lassen viel Interpretationsspielraum, allerdings den­ke ich, dass auch die Art der Organisa­tion und Be­tei­li­gung hierbei eine Rolle spielt. Seit der sukzessiven Abspaltung von Gruppen, die seit dem ESF in London 2004 sichtbar ist, sind auch die offiziellen Teil­nehmer­zahlen zurück­ge­gan­gen und es kommt zu we­niger inter­na­tionaler und ge­mein­schaft­licher Praxis. Das ESF hat schein­bar für diejenigen an Reiz verloren, die tatsächlich in der Welt was bewegen wol­len und Impulse dafür – aufgrund der Versteifung durch Institutionalisierung – dort vermissen. Die Folge davon ist ein Fo­­rum ohne Output in Form von z.B. wirk­­mächtigen, inter­na­tio­na­len Großak­tio­­nen. Das Action-Network hat im Mal­mö den Rahmen sinn­voll genutzt und nicht gegen das ESF gearbeitet, sondern mit den Interessierten ge­mein­sam andere Me­thoden und In­halte probiert. Und sei­ne Attraktivität rührte nicht zuletzt aus dem Interesse an wirksamen Aktionen mit Basis­enga­gierten. Zwar gab es diesmal ei­nen Jugendbereich auf dem Forum, in denen vielfach junge, ehrenamtlich enga­gier­te Gewerkschafter/innen Veranstal­tun­gen zu ihren Themen durchführten, al­ler­dings blieben die Podien des restlichen Forums oftmals von Funktionär/innen be­setzt. Und auch die Parteienpräsenz war ein Thema, das meines Wissens, außer vom Action-Network nicht einmal mehr kritisch diskutiert, geschweige denn unter­bunden wurde. Jedoch zeigt vor allem die Ak­ti­vität dieses Netzwerkes, welches das So­zialforum nutzte, um sowohl nach außen zu wirken, als auch nach innen Kon­takte zu knüpfen, dass solche interna­tio­nalen Treffen wie das ESF weiterhin sinn­voll sind. Gleich­zeitig bereicherten sie dieses nicht nur durch ihr Aktions- und Be­wegungspotential, sondern er­mög­lich­ten zudem, durch ihre Offen­heit den „offi­ziellen“ ESF-Teil­nehmer/innen ge­gen­über, auch Einblicke darin, wie Works­hops und Ak­tionen basisdemokratisch, kreativ und selbst­bestimmt durch­geführt werden kön­nen.

Vielleicht sind es auch diese beiden, sich ge­gen­seitig beein­flussen­den Faktoren, die zur Er­lah­mung von solch inter­nationa­len Treffen geführt haben: Die Insti­tutio­nali­sie­rung und Büro­kra­ti­sierung auf der ei­nen Seite, die zur Abspaltung aktio­ni­stischer und ra­di­ka­lerer Grup­pen führte und deren Ab­spal­tung auf der ande­ren Sei­te, die eine ver­stärkte Institutio­nalisie­rung des ESF durch Groß­orga­ni­sationen (die ja die übrig ge­blie­benen sind) zur Folge hatte. Bei einer der­ar­tigen Teilung, die in einem „offi­ziellem“ und „in­offiziellem“ Pro­gramm mündet, werden wechselseitige Lern­prozesse natürlich erschwert und jeg­licher Be­wegungs­charakter, der sich eben auch durch Vielfalt auszeichnet, wird im Keim erstickt. Obgleich in Malmö auch eine Vermischung stattfand und die Dif­fe­renzen zwischen Action-Network und ESF nicht im Vordergrund standen, kann von einer dort ausgehenden Aufbruchs­stimmung im Moment trotzdem nicht die Rede sein. Dennoch bringen solche Tref­fen etwas, denn sie bieten den Raum, um über den eigenen Tellerrand zu schauen und Erfahrungen und Kontakte auszu­tau­schen, die in zukünftigen Auseinander­setzungen von Relevanz sein können. Ge­rade die hier mögliche breite Vernetzung von verschiedenen Menschen, Gruppen und Organisationen macht das ESF zu einer sinnvollen Veranstaltung. So wird auch ein stückweit das Bewusstsein ge­stärkt, nicht allein zu sein mit den Vor­stellungen, dass eine andere Welt tatsäch­lich möglich und von vielen Menschen auch gewollt ist.

momo

Alles nachhaltig oder was?

Über die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und nachhaltiger Entwicklung

Wer heute mit der Zeit gehen will, muss sein Handeln nachhaltig ge­stal­ten. Oder es zumindest als solches be­zeich­nen. Wenn die deutsche Industrie als „Marktführer beim nachhaltigen Wirt­schaf­ten“ Preise verliehen bekommt (1), wenn Bundeskanzlerin Merkel sich welt­weit als Umweltministerin profiliert und Nachhaltigkeit zum Leitprinzip ihrer Poli­tik erklärt (2), wenn Greenpeace im Rah­men des „Bergwaldprojektes“ zu nachhal­ti­ger Wiederaufforstung hiesiger Wälder mo­bilisiert (3) und wenn A SEED für nach­­haltiges Konsumverhalten eintritt (4), dann scheint zumindest hierzulande die Zukunft – selbst ohne eigenes zutun – schon nachhaltig gesichert zu sein. Fragt sich jetzt, wie diese Zukunft konkret aus­sehen soll, denn das neue Modewort wird in den verschiedensten Lebens­bereichen inflationär und für vielerlei Maßnahmen oder Strategien ge­braucht, die anderen ver­deutlichen sollen, sie wä­ren langfristig be­trachtet eine „gute Sa­che“. Be­sonders im Bereich der Ent­wick­­­lungs­­po­litik ist Nachhaltigkeit bzw. nach­haltige Ent­wick­lung heutzutage aus der Debatte nicht mehr wegzudenken. Der Begriff wird auch hier nicht nur von nichtstaat­li­chen Orga­ni­sationen (NGOs), staatlichen und wirt­schaft­lichen Akteuren äußerst positiv be­setzt, son­dern zudem als internationaler Kon­­sens weltweit gefeiert. Suggeriert wird eine Einigkeit in entwicklungspolitischen Ziel­vorstellungen und Handlungsorientie­run­gen, die praktisch jedoch nicht besteht: Denn während die kommerzielle Privati­sie­rung öffentlicher Güter wie bspw. Was­ser vom Internationalen Währungsfond (IWF) als „Maßnahme zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung“ be­trachtet und gefördert wird, klagen kritische NGOs – wie bspw. weed (5) – selbiges als nicht nach­haltig, sondern vielmehr zerstörerisch für Mensch und Umwelt an. Was verbirgt sich also hinter einem Begriff, der grundle­gen­de Orientierungsrahmen nicht zu ver­ei­nen mag und dem sich dennoch alle ver­schreiben? Warum beansprucht die Gras­wur­zel­organisation A SEED ebenso wie die Bundesregierung das Prädikat der Nach­haltigkeit, wenn sie doch beide un­ter­­­­schiedliche Vorstellungen der „guten Sa­­che“ haben? Ist der Begriff zur hohlen Phra­se verkommen oder stecken dahinter nicht vielmehr differierende Ideen und Ideo­logien, um die noch gestritten wird? Was der Begriff inhaltlich impliziert, wel­che Kontroversen sich bei der Konkretisie­rung der vermeintlich gemeinsamen Ziele offenbaren und welche Akteure derzeit die Deutungsmacht des Diskurses besitzen, soll hier Thema sein.

Eine zarte Pflanze…

Beginnen wir beim Ursprung des Wortes: Bereits im 18. Jahrhundert wurde Nach­hal­tig­keit im Kontext der Forstwirtschaft verwendet und bedeutete von den Er­trä­gen einer Substanz selbst zu leben, also von den Zinsen und nicht vom Kapital. Im­pliziert wurde damit, dass nur soviel abgeholzt wird, wie gleichzeitig wieder an­gepflanzt werden kann – also ein Verhal­ten, das nicht nur umweltschonend wirkt, sondern auch Erträge langfristig sichert. Im Zeitalter der Industrialisierung und des aufschwingenden Kapitalismus, wo wirt­schaft­liches Wachstum Profit und Wohl­stand versprachen, spielten diese Aspekte dann erstmal keine Rolle mehr. Die Be­grenztheit der Rohstoffe dieser Erde war angesichts zunehmend geweckter Kon­sum­bedürfnisse ein zu ver­nachlässigender As­pekt. Erst mit der Be­we­gung der 68er kam auch ein bewusster Umgang mit der Natur auf die po­li­tische Agenda der Akti­vist/in­nen. Die damalige Umweltbe­we­­gung forderte vor allem eine Ab­kehr vom wirtschaftlichen Wachstums­para­digma, sprich einen radikalen System­wechsel, ver­bunden mit einer Änderung der Lebens­sti­le weg von der nur materiel­len Wert­orien­­tie­­run­g. Die Botschaft war klar: Ma­chen wir weiter wie bisher, wer­den zukünf­tige Generationen diese Welt nicht mehr genießen können, da sie schlicht­weg ver­braucht wäre.

Durch die erste Ölkrise 1973 inspiriert, wurde die Rohstoffver­knap­pung dann auch erstmalig in Wirt­schaft und Politik diskutiert und es folgten in den 70ern mehrere internationale Konferenzen, die auch die Forderungen der Umweltbewe­gung aufgriffen. Die Er­geb­nisse dieser Konferenzen fanden aller­dings später – wahrscheinlich wegen ihrer inhaltlichen Radikalität – kaum Beach­tung. Die Um­weltproblematik blieb je­doch ange­sichts zunehmender Ressour­cen­ver­knappung und den ersten sicht­ba­ren Auswirkungen des Klimawandels auf dem Tisch und sollte unter dem Schlag­wort einer „nach­hal­tigen Entwicklung“ welt­weit in den Griff bekommen werden. Am inter­natio­nalen runden Tisch der In­te­ressengruppe „Um­weltschutz“ versam­mel­ten sich des­halb 1987 Vertreter von Staa­ten, Wirt­schafts­unternehmen und NGOs und de­fi­nierten ihr neues Leitbild als „eine Ent­wicklung, die die Bedürfnisse der Gegen­wart befriedigt, ohne zu riskie­ren, daß künf­tige Generationen ihre eige­nen Be­dürf­nisse nicht befriedigen kön­nen“ (6). Wie solch eine Entwicklung aus­zusehen hätte, blieb dabei, aufgrund der in­haltlich kon­troversen Vorstellungen, offen und wur­de erst später vor allem auf nationaler Ebene konkretisiert.

…beginnt zu wachsen …

Im Zuge der letzten 20 Jahre gewann der Begriff Nachhaltigkeit nicht nur an Popu­larität, sondern wurde sowohl in weitere Be­reiche übertragen und integriert, als auch mit inhaltlichen Konzepten und Stra­­te­gien gefüllt. So steht eine global nach­­haltige Entwicklung heute für einen Um­­gang mit Natur, Gesellschaft, Wirt­schaft und Politik, der langfristig den Er­halt selbiger sichert. Im entwicklungs­poli­tischen Kontext spielen zudem Aspekte der Partizipation und Selbstermächtigung eine Rolle, wenn es um Strategien zur nach­­haltigen Entwicklung geht. Dieser brei­te, mehrere Dimensionen umspannen­de Rahmen erklärt zum einen die Weitläu­figkeit des Diskurses, impliziert aber ande­rerseits auch mögliche und nötige um­fang­­reiche Veränderungen in allen Lebens­bereichen.

Die Kunst bei der Etablierung des Leit­bil­des zur nachhaltigen Entwicklung be­steht vor allem in der kohärenten Verbin­dung der Ziele aus den verschie­denen Dimensionen miteinander, die wiederum zu aufeinander abgestimmten Handlungs­stra­tegien füh­ren sollen. Eine große Her­aus­forderung, die je nach konkretisierter Ziel­stellung auch an den bestehenden Ver­hältnissen kräftig zu rütteln vermag, sofern sich die Aus­gestalter nachhaltiger Ent­wick­lung einig wären. Doch gerade hier liegt das Prob­lem: Es besteht kein pro­gressi­ver Kon­sens darin, wie eine zukunfts­fähige Gesellschaft aufgebaut sein müsste, welche Verteilungs­me­cha­nismen existie­ren sollen, nach welchen Prinzipien ge­wirt­schaftet wird, wie politische Einfluss­mög­lichkeiten strukturiert sind und in­wie­­weit natürliche Rohstoffe überhaupt noch angetastet wer­den dürfen. Die Spann­­breite der mög­lichen Positionen ist breit und spiegelt da­bei auch verschiedene (alte) ideologische Kontroversen wider, die allerdings durch die Integration in die Um­weltdimension neu an Brisanz gewin­nen.

… bis der Rasenmäher kommt.

Die wohl substanziellste Kontroverse des Dis­kurses besteht dabei zwischen den Er­fordernissen, die notwendig sind, um den nächsten Generationen die Natur zu er­hal­­ten und den Vorstellungen einer nach­haltigen Wirtschaftsweise, die sich gleich­zeitig auf Wachstumsorientierung bzw. Ka­­pi­talismus gründet. Mit anderen Wor­ten variieren die Vorstellungen erheblich, in­wie­weit wir sowohl unseren Lebensstil und die Konsumbedürfnisse, als auch die all­gemeine Wirtschaftsweise verändern müs­sen, um die Umwelt und das mensch­liche Überleben darin zu sichern. Die ra­di­kalen Prota­go­nisten der 70er Jah­re wa­ren sich darin einig, dass im Rah­men des kapitali­stischen Systems, in dem Wachs­tum und Gewinnmaxi­mierung die trei­ben­­den Fak­to­ren sind, kein nachhal­ti­ger Umwelt­schutz erreicht werden kann, da ständiges wirt­schaftliches Wachstum immer an ei­nen übermäßigen Ressourcen­ver­brauch ge­koppelt sein wird. Oder anders ausge­drückt: „Wenn es alle Länder schaffen wür­­den, dem industriellen Vorbild zu fol­gen, dann wären 5-6 Planeten vonnöten, um als Bergwerk und Müllhalde für die Wirt­schaft herzuhalten“ (Wolfgang Sachs). Statt dessen forderten sie sog. „Null­­wachstum“, also eine gesamtgesell­schaft­­liche Abkehr vom hiesigen Wirt­schafts­system, verbunden mit einer Ände­rung der Lebensstile weg vom stumpfen, unnötigen Konsumismus. Solche Forde­run­gen stießen – welch Wunder – auf we­nig Gegenliebe bei Wirtschaftslobbyisten. Dort herrscht – durch derzeitige Erfolge op­­ti­­mistisch gestärkt – bis heute die Über­zeu­gung, dass eine schrittweise Entkopp­lung des wirt­schaft­li­chen Wachstums vom Ressourcen­ver­brauch möglich wäre und ausreichen würde, um künftige ökolo­gische Katas­trophen zu verhindern. An einer kapitalis­ti­schen Wirtschaftsweise bräuch­te sich demzufolge nichts zu än­dern, da sich Investitionen in ressourcen­spa­rende, neue Technologien, wie bspw. das schadstoff­arme Auto langfristig für Wirt­schaft und Umwelt rentieren würden. Dieser Ansicht sind auch die herrschenden Politiker/innen hierzulande, zumal die deut­sche Wirtschaft bereits Erfahrungen mit ressourcensparenden und umwelt­freund­­lichen Technologien hat, und die Re­gie­rung weiß, dass diese als Export­schla­ger auch Geld in die Staatskassen spü­len können. So wird auch das Engagement der konservativen Kanzlerin in Bereichen der Umweltpolitik auf internationalen Gip­­feln erklärbar. Um den zukünftig boomen­­den Sektor anzukurbeln, werden dann auch mal neue Richtlinien einge­führt, wie bspw. die kürzlich verabschie­de­te, die den Kauf schadstoffarmer Auto­mo­bile mit bis zu zwei Jahren Steuer­be­freiung belohnt. Das dies eher ein Kon­junk­tur­programm für die wachstums­orien­tierte Wirtschaft angesichts der Fi­nanz­krise ist und weniger mit den eigent­lich notwendigen Um­welt­zielen zu tun hat, wird schon allein da­ran deutlich, dass diese Autos zwar we­niger Kohlenmonoxyd ausstoßen, jedoch wei­terhin das Klima mit ihrer hohen CO2-Emission belasten. Nichtsdestotrotz sind sich Wirtschaft und Politik hierzu­lande einig, dass mit genü­gend Investi­tio­nen in klimafreundliche und ressourcen­spa­rende Technologien die schlimm­sten Um­weltauswirkungen ver­hin­dert werden können. Mischt man dazu noch ein paar globale Abkommen, wie das Kyoto-Protokoll, dann wäre das schon machbar und angesichts der Vorreiterrolle Deutsch­lands in neuen, umwelt­schonen­den Tech­nologien auch wirtschaftlich pro­fi­tabel. Da­gegen wirkmächtig anzukom­men und radikalere Schritte einzuleiten ist schwer, denn die Aktivist/innen der Um­­weltbewe­gung, die den Zusammen­hang zwi­schen Umweltzerstörung und Ka­pita­lis­mus thematisieren sind eher Man­gel­­wa­re. Während es in den 70ern noch nahezu unvorstellbar war, dass ressourcen­sparende Technologien, wie sie heute existie­ren, über­haupt produzierbar sind, sind die Meisten heute eingelullt vom Tech­­nik­wahn, der sicher auch in schlimm­sten Zei­ten das Überleben der Menschheit si­chern werde (fragt sich nur wer da über­lebt…).

Die Stimmen der Befürworter eines radi­ka­len Wandels sind jedenfalls wieder sehr lei­se geworden, spätestens seit die Grünen als Partei Karriere zu machen begannen und sich Frau Merkel interna­tional als „Um­­welt­ministerin“ profiliert und dabei Deutsch­land zum Vorzeigeland in Sachen Nachhaltigkeit deklariert. Zwar gibt es noch einige Netzwerke, wie bspw. auch A SEED, die unter „nachhaltiger Entwick­lung“ eben auch die Abkehr von einer ka­pi­ta­­listischen Wirtschaftsweise verstehen, da permanentes Wirtschafts­wachs­tum nicht ohne Ressourcen­ver­brauch funk­­tioniert, allerdings versin­ken sie im in­ternationalen Machtpoker nahezu in der Bedeutungslosigkeit.

Weg mit dem Mäher!

Die progressive Vision einer nachhaltigen Gesellschaftsordnung ist im Gegensatz zur gängigen nicht angebots- sondern nach­fra­georientiert, was nicht nur eine Um­wäl­zung der kapitalistischen Wirtschafts­weise impliziert, sondern auch die Her­stel­­lung von nutzlosen oder über­schüssi­gen Produkten – die im Bereich der Le­bens­­mittelindustrie bspw. auch zuhauf ent­­sorgt werden und trotzdem für einzelne Unternehmen noch profitabel sind – ver­hindert. A SEED vernetzt sich z.B. daher, um durch gemeinschaftliche Sub­version bzw. direkte Aktionen auf die zer­störe­rischen Folgen des Kapitalismus auf­merk­sam zu machen. Allerdings setzen sie auch an der Alltagspraxis im Kleinen an und mo­bi­lisieren für einen radikalen Wandel der Lebensstile, der sich nicht in Energie­spar­lampen oder effizienteren Autos er­schöpft, sondern blin­den Konsu­mis­mus bekämpft. So soll bspw. das Auto nicht Statussymbol, sondern Nutz­fahr­zeug sein, das nur unter voller Besetzung wirklich an­nähernd nachhaltig an­gewen­det wird. Auch Fleischkonsum und Flugreisen sind da­bei Themen, die von vielem im Alltag ver­ändert werden könnten und der Natur insgesamt helfen. Doch wie bereits beim Auto – das für eine nachhaltige Ent­wick­lung eigentlich abgeschafft werden müsste – be­reits deutlich wird, sind solche Vor­schläge vielleicht gut gemeint aber oftmals konkret schwierig umsetzbar. Angesichts des desaströsen Zustands öffentlicher Ver­kehrsmittel bspw. müssten nicht nur Meh­dorn und Co abgesetzt werden, sondern viel­mehr völlig neue Finanzie­rungs­­kon­zepte erarbeitet, Infrastruktur wieder aus­ge­baut sowie herrschende Pendler­struk­­turen abgeschafft und Ar­beitsverhältnisse radikal verändert werden. Daher kann ein progressiver An­satz auch nur darin be­stehen, sowohl die kapitalis­tischen Verhält­nisse anzuklagen und Netzwerke gegen die­se zu stärken, als auch Bewusstsein im all­täglichen zu er­zeugen. Angesichts unse­rer hochindivi­dua­lisierten Gesellschaft, deren Bewohner zudem unter kapitalis­tischen Verhältnissen sozialisiert wurden, ist klar, dass ein solches Umden­ken weder von heute auf morgen ge­sche­hen kann, noch jemals als politischer Konsens „von oben“ verab­schie­det werden wird. Denn der Konsens zwischen den Lob­byisten in Wirt­schaft und Politik be­steht im quali­ta­tiven Wachstum, das nichts anderes als eine ökologische Moder­nisierung, sprich Öko­kapitalismus, ist. Die­jenigen besitzen leider auch die Deu­tungsmacht über den Begriff der nachhaltigen Entwicklung, der eigentlich auch auf progressive Inhalte rekurrieren könnte. Im Grunde ist Nach­haltigkeit das beste Argument gegen Kapi­talismus bzw. die Ausbeutung von Mensch und Natur. Und auch darüber hinaus kann mensch damit für Emanzi­pa­tion, Dezen­tra­lisie­rung und Selbstbe­stim­mung in wei­te­ren Kontexten argu­men­tie­ren. Eine nach­­haltige Gesell­schafts­ord­nung würde lokale Netzwerke fördern, da sie sich allein schon wegen der Siche­rung der Grundver­sorgung verstän­di­gen müssen, um Trans­port­wege gering zu halten. Selbster­mächti­gungsprozesse, weg von zentra­len Re­gierun­gen wären eben­­so un­um­gäng­lich, wie die Abschaf­fung von lohn­ar­beits­zen­trierten Ausbeu­tungs­­­ver­hält­­nis­sen. Denn eine zukunfts­fähige Gesellschaft jetzt und später bedeutet nicht die Kon­ser­vierung der Natur auf Kosten des Men­schen, sondern ein Leben in Einklang mit dieser. Eine Umsetzung dessen bedarf ra­di­kaler Veränderungen aller Lebensbe­rei­che, so auch die Diskus­sion darüber, was un­ter sozialer Gerechtig­keit verstanden wer­­den soll und wie sich der Reichtum in der Gesellschaft zu verteilen hat. Ange­sichts der politischen Verhältnisse, in de­nen bspw. Wettrüsten zum Standard­reper­toire gehört, schließt eine Diskus­sion um nachhaltige Entwick­lung auch Anti­mi­li­ta­rismus, Bekämpfung von Macht­po­litik und ein Konzept des Zusammen­le­bens jen­seits von Staat und Nation ein. So zu­min­dest könnten die Diskussionen verlau­fen, die in den 70ern angelegt waren und mit denen sich heute nur vereinzelte Grup­pen beschäftigen. Ein Zusammen­den­ken ver­schiedener The­men­be­rei­che fin­det da­bei selten statt, vielmehr wird vom hiesigen Politnik die ökologische Proble­matik oft­mals als „Nebenwiderspruch“ ab­getan. Ma­xi­mal solidarisiert mensch sich noch mit Anti-Castor-Protesten, überlässt dann jedoch das Feld den „Ökos“, die ins­geheim belächelt werden. Diejenigen die sich we­ni­ger mit Politik beschäftigen und denen die Umwelt nicht egal ist, geben sich hin­ge­gen oftmals der Illusion hin, dass mensch mit Mülltrennung schon den ein­zig möglichen Beitrag geleistet hätte.

Schluss mit dem Etiketten­schwindel!

Die Debatte um eine nachhaltige Ent­wick­lung hat nicht nur die entwick­lungs­poli­tischen Zielsetzungen in Bezug auf är­me­re Länder verändert, sondern auch die hie­sige Entwicklung und Wirtschaftsweise in Frage gestellt. Der Westen hat, durch den zer­störerischen Umgang mit der Na­tur, sei­ne gewünschte Vorbildfunktion für die Ent­wicklung anderer Länder verloren. So ge­sehen, kann ihre Debatte um Nach­hal­tigkeit auch als ihr Versuch der Ima­ge­hei­lung betrachtet werden, da die neuen effi­zien­ten Technologien verspre­chen, die ent­standenen Schäden wieder gut zu machen, würden sie weltweit expor­tiert werden. Dass einzelne Staaten – und insbesondere die sog. Entwicklungsländer – dabei nur Eigeninteressen der Indu­strieländer ver­mu­ten, da sie bereits Jahr­zehnte l­ang auf Kosten dieser ausgebeutet wurden und zu Rohstofflieferanten für de­ren Industria­li­sie­rung degradiert waren, wäh­rend ihnen jetzt die eigene Entwick­lung bzw. Indu­stria­lisierung mit dem Ver­weis auf die Um­welt verwehrt bleiben soll, ist nachvoll­zieh­bar. Daher verbinden sie mit nachhal­tiger Entwicklung auch kei­nen progres­si­ven Diskurs, obgleich sie von den Um­welt­auswirkungen am stärksten be­troffen sind und sein werden. Schon deshalb sollte die Deutungsmacht von Nach­haltigkeit nicht in den Händen hie­si­ger Machthaber ver­bleiben, denn sie ver­stümmeln die progressiven Möglichkeiten einer Verän­derung der Gesellschafts­ord­nung und re­du­zieren sie auf ihr „business as usual“. Des­halb wäre es zumindest ein An­fang, den Begriff der Nachhaltigkeit wie­der mit radikalen Inhalten zu besetz­ten. Die Eti­kette „Nachhaltigkeit“ ver­spricht in ihrer Anwendung derzeit mehr als sie zu halten vermag. Nur weil nicht das drin steckt, was drauf steht, liegt die Lösung al­lerdings nicht darin das Etikett zu ver­werfen. Viel­mehr müsste da der Etiketten­schwindel endlich auffliegen!

momo

(1) Der Bundesverband der deutschen Indu­strie (BDI) verleiht alljährlich einen Umwelt­preis an hiesige Wirtschaftsunternehmen, wie Bayer und Henkel im Jahr 2008, die Tech­no­logien entwickeln, die umweltschonender bzw. engergiesparender sind: www.bdi-online.de/de/fachabteilungen/10183.htm

(2) Siehe: www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2007/11/2007-11-27-konsultationen-zur-nachhaltigkeitsstrategie.html

(3) Siehe: www.greenpeace.de/themen/umwelt_wirtschaft/weltgipfel_2002/artikel/nachhaltigkeit_handeln_statt_langer_reden/

(4) A SEED (Action for Solidarity, Equality, Environment, and Diversity Europe) ist ein 1991 gegründetes radikales Netzwerk junger Menschen, die sowohl Aktionen und Kampag­nen gegen Umweltzerstörung und für soziale Gerechtigkeit organisieren, als auch Trainings-, Diskurs- und Vernetzungsmöglichkeiten mit sog. Grasrootorganisationen fördern. Mehr unter: www.aseed.net

(5) weed ist eine 1990 gegründete NGO, die sich mit Ursachen der Umwelt und Armuts­prob­leme beschäftigt, sich in nationalen und inter­nationalen Netzwerken engagiert und v.a. in Deutschland mehr Bewusstsein für einen notwendigen Wandel schaffen will. Siehe auch: www.weed-online.org/themen/finanzen/20815.html

(6) Aus dem Brundtland-Bericht der „Welt­kom­mission für Umwelt und Entwicklung“ 1987

Militarisierung vor der Haustür

Die ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“)* beschäftigt sich seit einiger Zeit u.a. mit dem Leipziger Flughafen, denn dieser wird momentan auch für die militärische Nutzung ausgebaut. Welche Pläne derzeitig in BRD und EU umgesetzt werden und welche Rolle Leipzig bei der zunehmenden Militarisierung einnimmt, soll das folgende Interview beleuchten. Dieses Tonbandinterview mit M. und L. aus der ig3o wurde im gegenseitigen Einvernehmen im Nachhinein der Schriftsprache angenähert.

 

FA!: Warum ist der Leipziger Flughafen für euch derzeitig Thema?

 

L: Der Flughafen Leipzig/Halle wird gerade ausgebaut, es entsteht eine neue Landebahn mit dem Ziel, dort ein Luftdrehkreuz ein­zurichten. Zum einen für DHL (1), zum an­deren ist es aber auch so, dass sich die NATO an diesem Flughafen beteiligen möchte, indem sie Charterflugzeuge dort stationiert.

 

FA!: Was für Pläne hat die NATO da genau?

 

L: Die NATO hat einen Chartervertrag mit ein­em russisch/ukrainischen Transportunternehmen über das Chartern von Großraum-Transport-Flugzeugen abgeschlossen. Es geht da insgesamt um sechs Antonov-124-Maschinen, die ab Herbst diesen Jahres zur Ver­fügung stehen sollen. Zwei davon werden permanent in Leipzig stehen und vier wei­tere stehen dann an den Heimatflughäfen Kiew und Uljanowsk.

 

FA!: Sollen die Antonovs in Leipzig auch für militärische Einsätze verwendet werden?

 

L: Das ist quasi das Hauptproblem. Sie sind hier stationiert und sie stehen eben für militärische Zwecke zur Verfügung. Es wird auch ein Teil des Flughafens für diese Flieger und die Abfertigung reserviert sein. Und wir können dann damit rechnen, dass hier Kriegsgeräte verladen werden.

M: Und die Antonovs sollen auch innerhalb von 72 Stunden einsatzbereit sein, um so ein schnelles „Eingreifen“ weltweit zu ermöglichen.

 

FA!: Mit welchem Hintergrund wird gerade jetzt in der Gegend aufgerüstet?

 

L: Der Hintergrund ist, dass bereits im Jahr 2000 bei der NATO-Tagung in Prag beschlossen wurde, den strategischen Trans­port­bedarf der NATO-Staaten bis 2012 sicherzustellen, weil die europäischen NATO-Staaten für Auslandseinsätze bisher keine Lufttransportkapazitäten haben. Bisher lief fast alles über Seetransporte, aber in neueren Kriegen „braucht“ man Lufttransporte. Und von den NATO-Staaten haben ausschließlich die USA Lufttransportkapazitäten für mi­litärische Zwecke. Erst ab 2012 wird zusätzlich der neue Militär-Airbus A400 M zur Verfügung stehen, und bis dahin muss sich die NATO eben mit Charterflügen behelfen. Es geht eben um die militärische Aufrüstung.

 

FA!: Wogegen richtet sich eure Kritik speziell?

 

L: Unsere Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Ausbau militärischer Kapazitäten. Also das ist halt ein Fall, wo Aufrüstungspolitik konkret vor unserer Haustür stattfindet, und das hat irgendwie noch niemand so richtig mitbekommen.

Es gibt jetzt erste Reaktionen von Gruppen, die ganz verblüfft sind, dass es in Leipzig bzw. Schkeuditz bald ein NATO-Drehkreuz für internationale Einsätze und wahrscheinlich auch für neue Angriffskriege geben wird. Und das ist ein Punkt, wo man die euro­päische Aufrüstungspolitik bzw. die NATO-Rüstungspolitik kritisieren kann. Zumal diese Transportkapazitäten hauptsächlich für die europäischen Staaten zur Verfügung stehen und auch von EU-Projekten genutzt werden können. Es werden gerade schnelle Eingreiftruppen – sowohl in NATO-Strukturen als auch in EU-Strukturen – geplant, bei der NATO die „Rapid Reaction Force“ und bei der EU die „Battle Groups“. Die „Battle Groups“ sollen bis 2007 aufgestellt sein. Das passt genau in diesen Zeitplan, wenn Ende Oktober die ersten Flieger hier stationiert werden können. Es ist auch so, dass die Bundesrepublik dieses Projekt unter ihrer Führung ausgearbeitet hat und im Prinzip diejenige ist, die es am stärksten vorangetrieben hat.

M: Zumal sich die BRD damit ein dauerhaftes Zugriffsrecht auf die Flugzeuge sichert, denn bisher musste sie alle Maschinen einzeln chartern, um zum Beispiel nach Afghanistan fliegen zu können, und jetzt stehen die hier bereit. Deutschland will auch 20 Millionen Euro im Jahr zahlen, um dann permanent auf sie zugreifen zu können.

L: Die Bundesrepublik bringt so die größte Summe für die Charterflugzeuge auf und hat dann auch die größten Nutzungsrechte.

M: Da kann man dann nicht nur die EU und die NATO, sondern auch die Rolle Deutschlands kritisieren.

Ja wir denken, dass das viele Gruppen interessieren könnte, und dass man da eventuell was zusammen machen könnte. Während es bei DHL eher zweifelhaft ist, ob das andere Gruppen so interessiert.

 

FA!: Gibt es denn von eurer Seite aus auch Kritik am Flughafenausbau wegen des DHL Drehkreuzes?

 

M: Das ist eigentlich ganz interessant, auch wenn es jetzt für uns nicht so der Hauptanknüpfungspunkt ist. Aber wenn man sich mal anguckt, was die DHL dafür erhalten hat, dass sie sich hier überhaupt ansiedelt, ist das schon ´n ziemliches Ding. Der Flughafenausbau kostet insgesamt ungefähr 380 Millionen Euro. Die DHL erhält zudem die Garantie für einen 24 Stundenbetrieb für die nächsten 30 Jahre. Und dann hat sie von der Landesregierung in Dresden noch weitreichende Zusagen für eine noch bessere Anbindung des Airports an das Straßen- und Schienennetz erhalten. Das kostet ja auch wieder viel Kohle, die der Bund und das Land tragen werden. Zusätzlich bekommt sie noch Fördermittel über 70 Millionen Euro. Also, das ist schon fett. Und wenn man dann so guckt, was „wir“ dagegen von der DHL erhalten… Sie versprechen da 3500 direkte Arbeitsplätze und 7000 indirekte Arbeitsplätze im Umfeld, wobei es aber schon Studien gibt, die belegen, dass das völlig aus der Luft gegriffen ist. Vor allem, wenn man sich die Arbeitsplätze anschaut, die es beim DHL-Drehkreuz in Brüssel gibt : 50 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten da auf Teilzeit für vier Stunden in der Nacht. Und auch der DHL-Postchef Klaus Zumwinkel hat ja auf die Frage der LVZ: „Gibt es einen Standortvorteil Ost?“ geantwortet: „Nüchtern betrachtet, der einzige und wesentliche sind die niedrigeren Löhne.“ Billigjobs halt.

 

FA!: OK, ihr sagt ja, dass eure Stoßrichtung jetzt weniger DHL und die Arbeitsbedingungen bzw. Subventionen sind, sondern eher die NATO und Militärnutzung. Aber ist der Flughafenausbau für die DHL nicht auch für die NATO von Nutzen?

 

L: Die DHL-Bedingungen sind natürlich vorteilhaft, weil irgendwann zwei Landebahnen fertig sind, die 24 Stunden am Tag genutzt werden können. Nachts fliegen zu können ist halt auch eine Voraussetzung für militärische Nutzung.

 

FA!: Und bis wann soll alles fertiggestellt sein?

 

M: Also das Drehkreuz soll Anfang 2008 eröffnet werden.

FA!: Wem gehört eigentlich der Flughafen?

 

M: Der Hauptanteilseigner am Flughafen ist mit 94% die Mitteldeutsche Flughafen AG, und da sind wiederum der Freistaat Sachsen mit ca. 73% und das Land Sachsen Anhalt mit ca. 14% die Hauptanteilseigner. Ansonsten gibt es noch mehrere Städte und Landkreise, die direkt und indirekt Anteile besitzen: Dresden, Halle, Leipzig, der Landkreis Delitzsch, Leipziger Land, die Stadt Schkeuditz. Im Prinzip ist der Flughafen ein Unternehmen der öffentlichen Hand, kein Privatunternehmen.

 

FA!: Gibt es denn schon Gruppen außer euch, die sich mit dem Flughafen beschäftigen?

 

M: Es gibt die IG Nachtflugverbot, die ist vor allem in den betroffenen Dörfern organisiert. Ihre Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den Nachtfluglärm, und sie fordert ein Flugverbot von sechs Stunden in der Nacht. Einzelne Mitglieder haben jetzt aber auch die militärische Nutzung ins Blickfeld genommen, richten sich auch dagegen und hatten eine Veranstaltung mit Monika Runge von der PDS zur militärischen Nutzung organisiert.

 

FA!: Und arbeitet ihr mit denen zusammen?

 

L: Wir versuchen momentan noch Kontakt aufzunehmen. Das ist nicht ganz so einfach. Das sind alles Leute von den Dörfern aus der Einflugschneise, wir sind hier alle in der Stadt irgendwie, da ist es schwierig was zusammen zu machen, zumal sie auch eine andere Stoß­rich­­tung und andere Aktions­­formen haben.

 

FA!: Und was plant ihr jetzt konkret, oder was ist euer Wunsch was passieren sollte und was man machen könnte?

 

M: Der erste Schritt ist erst mal informieren, weil man immer wieder hört, dass die Leute das einfach nicht wissen. Schön wäre auch, ein Bündnis von verschiedenen Leipziger Gruppen auf die Beine zu stellen

L: Es ist auch sehr schwierig, wirklich was effektiv dagegen zu machen und das in irgendeiner Weise zu verhindern. Die IG Nacht­flugverbot versucht das Ganze auf dem juristischen Weg zu machen, was auch nicht so sehr aussichtsreich erscheint. Es würde aber die militärischen Pläne zunichte machen, wenn es ein Nachtflugverbot gäbe, was sehr erfreulich wäre. Aber es ist bisher nicht gesagt, dass es soweit kommt.

M: Die IG Nachtflugverbot klagt ja hier vor dem Bundesverwaltungsgericht, und im Sommer müsste es da eine Entscheidung geben.

 

FA!: Ja genau, was sind denn so die nächsten Termine, wo man dann Anknüpfungspunkte finden könnte?

 

M: Das ist das Schwierige, denn irgendwie ist ja alles entschieden, bis auf die eine Klage vor´m Bundesverwaltungsgericht. Was die IG Nachtflugverbot zusätzlich überlegt, ist konkret gegen die militärische Nutzung zu klagen.

L: Die gehen beide Wege. Was sie tatsächlich machen, ist gegen die Stationierung der Militärflugzeuge aufgrund des Lärms klagen, also nicht gegen das gesamte Ausbauprojekt und das DHL-Drehkreuz. Die Antonov 124 ist das größte und lauteste Flugzeug der Welt, und die IG Nachtflugverbot versucht da, vor Gericht zu erwirken, dass die nicht stationiert werden dürfen.

Das Andere ist aber eben der militärische Teil, der gegen den „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ (2) verstößt. Aber bei der Klage besteht das Problem, dass alle Beteiligten, also auch der Flughafen selbst, diese Transportfirma, die NATO und eben auch das sächsische Innenministerium sagen: es sei ja ein ziviler Chartervertrag, es gehe ja bloß um den Transport des Kriegsgerätes durch eine zivile Transportfirma und sei damit vollkommen in Ordnung so.

M: Das ist ja auch ein bisschen unsere Schwierigkeit, dass wir noch nicht so einen richtigen Anknüpfungspunkt gefunden haben, wo man konkret noch Entscheidungen beeinflussen kann. Aber tun sollte man trotzdem was dagegen.

L: Man könnte versuchen, den Flughafen „anzugreifen“, wenn jetzt alle Entscheidungen irgendwie nichts bewegen. Leipzig hat sich beispielsweise im Irakkrieg als Friedenshauptstadt präsentieren wollen, und gleichzeitig ist es eben so, dass vor den Toren der Stadt Militärkapazitäten entstehen, die für neue Kriege da sind. Und von der Olbrecht-Kaserne in Leipzig aus sind auch schon Auslandseinsätze nach Afghanistan geleitet worden. Also auf der einen Seite gab es große Anti-Kriegs-Demonstrationen, auf der anderen Seite ist Leipzig ein wichtiger Militärstandort, der bei diesen Demonstrationen keine Rolle gespielt hat. Und wenn man das mehr in den Mittelpunkt rückt und den Leuten bewusst macht, was gerade hier jetzt passiert, gibt’s da glaub ich auch schon Potenzial, das man für Aktionen gewinnen kann, um am Image des Flughafens zu kratzen. Was denen dann vielleicht auch irgendwann nicht mehr egal ist.

M: Ja, inhaltlich dazu zu arbeiten und dann gemeinsam protestieren.

 

FA!: Danke für das Interview!

 

momo

(1) DHL ist ein Paket- und Brief- Express- Dienst. Der weltweit größte Express-Versender gehört seit 2002 dem Konzern Deutsche Post World Net. (vgl. FA! #16, Jan/ Feb ´05)
(2) Abschließende Regelungen zur deutschen Wiedervereinigung, worin gesagt wird, dass in Ostdeutschland keine ausländischen Truppen und Atombomben stationiert werden dürfen.

* Was ist eigentlich ig3o ?

Das Kürzel ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“) bezieht sich auf die Entstehung der Gruppe im Vorfeld des Naziaufmarsches am 1.10.2005 in Leipzig. Akteure aus verschiedenen Zusammenhängen schlossen sich zu einem Bündnis zusammen, das zu einer Sitzblockade aufrief, um den Naziaufmarsch zu verhindern.

Nach gelungener Zusammenarbeit beschloss man, sich weiterer Themen wie dem Flughafenausbau oder den Kürzungen im Leipziger Haushalt anzunehmen. Mit dem Ziel, soziale und politische Prozesse zu kritisieren, zu verändern oder zu verhindern, konzentriert sich die ig3o zwar auf vor Ort greifbare Themen, organisierte aber auch eine Veranstaltungsreihe mit Podiumsdiskussion zum „bolivarianischen Prozess“ in Venezuela und beteiligte sich an der Demo „Bewegungsfreiheit für Alle. Festung Europa niederreißen“. Ungern würde sie „als die Gruppe, die nur dafür zuständig ist, Naziaufmärsche zu verhindern“, wahrgenommen werden. Dennoch beschäftigt sie sich momentan wieder damit, diesmal zum 1. Mai, wo es erneut ein Bündnis und zentrale Gegenaktivitäten gibt, um den Marsch der Rechten zu stoppen. Die ig3o versteht sich als antikapitalistisch und internationalistisch, sucht zudem immer noch einen Namen und würde gern mehr als acht Leute werden.

Homepage: ig3o.fateback.com

Anti-Extremistische Gesinnungsprüfung!

Das AKuBiZ Pirna und die bundesdeutsche „Extremismus“-Politik

Die gruselige „Extremismus“-Debatte hat sowohl für staatliche Behörden als auch für antifaschistische Initiativen und Vereine einen neuen Höhepunkt erreicht: In Zukunft müssen Organisationen, die finanzielle Mittel von einigen landes- und bundesweiten Förder­programmen nutzen wollen, eine „anti-extremistische Grundsatzerklärung“ unterschreiben. Dass diese Neuregelung auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wird und zunehmend Widerstand erfährt, ist vor allem dem Alternativen Kultur- und Bildungszentrum e.V. (AKuBiZ Pirna) zu verdanken.

Doch von vorn: Nach den letzten Bundestagswahlen verständigte sich die neue Koalition schnell darauf, dass man sich künftig nicht nur dem Kampf gegen „Rechtsextremismus“ widmen, sondern wieder verstärkt jegliche „extremistischen Tendenzen“ bekämpfen will. Daran anknüpfend wurden z.B. nicht nur neue Fördergelder für Projekte gegen „Linksextremismus“ und Islamismus bereit gestellt, sondern jüngst auch Klauseln in bestimmte Förder­programme (1) eingeführt. Darin sollen Organisationen qua Unterschrift verpflichtet werden, sämtliche Kooperationspartner auf „extremistische Tendenzen“ hin zu überprüfen und ggf. die Zusammenarbeit einzustellen (2).

Bis dato unbeachtet, wurde die Klausel am 9. November 2010 Gegenstand einer öffentlichen Debatte, als das AkuBiZ Pirna kurzfristig den mit 10.000€ dotierten Sächsischen Demokratiepreis ablehnte. Dieser zeichnet Initiativen aus, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen und wird seit 2007 von der Amadeu Antonio Stiftung, der Freudenberg Stiftung, der Stiftung Frauenkirche Dresden und der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank vergeben. In seiner Begründung kritisiert das AKuBiZ v.a. die geforderte „anti-extremistische Gesinnungsprüfung“ der Kooperationspartner, da diese sämtliche politischen Initiativen unter Generalverdacht stelle. Die vorgeschlagene Nutzung von Verfassungsschutzberichten zur Überprüfung ihrer Partner erinnere an Stasi-Methoden, sei aber auch deshalb zweifelhaft, da der VS mitunter nachweisliche Fehleinschätzungen trifft. Zudem werden Organisationen als „extremistisch“ vermerkt, deren Anspruch und Weltanschauung gesellschaftskritisch, radikaldemo­kratisch oder antikapitalistisch ist. Die Zusammenarbeit verschiedenster politischer Initiativen im Engagement gegen antihuma­nitäre Bestrebungen, bspw. zur Verhinderung von Naziaufmärschen, wäre damit blockiert und die zur Zielerreichung notwendige Solidarität zwischen den Organisationen gefährdet.

Auch das in der Klausel enthaltene Bekenntnis zum herrschenden Grundgesetz würde bestehende Missstände bspw. institutionalisierten Rassismus legitimieren. So könnten Organisationen in ihrer Kritik an der gegenwärtigen Asylgesetzgebung oder an rassistischen Polizeikontrollen mit dem Extre­mis­mus­vorwurf mundtot gemacht werden. Wenn schon eine Klausel, so die Forderung einiger Ver­eine, dann sollte diese stattdessen eine Orientierung an humanistischen Grundwerten bzw. den Menschenrechten festschreiben.

Mit der öffentlichkeitswirksamen Ablehnung des Preises zeigte das AKuBiZ Courage und befeuerte die Debatte um die wissenschaftlich umstrittene und vom VS angewendete „Extremismus“-Kategorie. Dass diese sowohl ungeeignet als auch falsch ist, hat die Leipziger INEX bereits des öfteren dargestellt (3). Denn die durch den „Extremismus“-Begriff folgende Gleichsetzung von bspw. linker Gesellschaftskritik und rassistischer Weltanschauung ist inhaltlich nicht haltbar und lediglich für den VS nützlich, um gegen politische Gegner aller Couleur vorzugehen.

Um so besser, dass sich nun Widerstand gegen diese Politik regt. Mehr noch als die aktuell laufende juristische Prüfung, inwiefern die vom Familienministerium erdachte Klausel überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist, prägen öffentliche Stellungnahmen zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen die Debatte. Das AKuBiZ fand unzählige Unterstützer_innen – von der Roten Hilfe über Antifa-Gruppen, den VVN-BdA bis hin zu Professor_innen und linksorientierten Parlamentarier_innen (4). Weiter wird in einer Online-Petition dazu aufgerufen, kollektiv die Gesinnungsprüfung zu verweigern. Denn wenn die Klausel wie geplant auf alle staatlichen Fördertöpfe ausgeweitet wird, wäre nicht nur die Arbeit vieler Vereine gefährdet, sondern es würden auch die verschiedenen Initiativen gegeneinander ausgespielt. Damit die Landschaft der politischen Träger weiterhin vielfältig und gesellschaftskritisch bleibt, hilft nur kollektiver Widerstand. Auch deshalb solidarisierten sich zahlreichen Netzwerke mit dem AKuBiZ – so z.B. das Netzwerk für Demokratie und Courage, das Netzwerk Tolerantes Sachsen, aber auch die Amadeu Antonio Stiftung, die den sächsischen Demokratiepreis selbst mit ausgerufen hatte. Die Freunde und Förderer der Stiftung spendeten jüngst sogar 10.000€ an das AKuBiZ, um diesem den Rücken zu stärken.

Bleibt zu hoffen, dass diese Initiativen größtmögliche Unterstützung finden und die Klausel zu Fall bringen. Auch wenn dies wohl keine Auswirkungen auf die generelle „Extremismus“-Kategorisierung der Bundesregierung haben wird, so würde es zumindest einigen antirassistischen Initiativen und Organisationen ihr weiteres Engagement ermöglichen und einer Spaltung linksgerichteter politischer Organisationen entgegenwirken.

(momo)

 

(1) Die beim Sächsischen Demokratiepreis eingesetzte Klausel soll in mehrere Landes- und Bundesförderprogramme eingeführt werden: Während der Freistaat Sachsen dies bereits für Weltoffenes Sachsen beschlossen hat und das Innenministerium derzeit debattiert, die Klausel auf sämtliche geförderten Vereine und Initiativen anzuwenden, verwendet sie das Bundesfamilienministerium bereits im neuen mit 24 Mio. € ausgestatteten Förderprogramm Toleranz fördern – Kompetenz stärken sowie Initiative Demokratie stärken. Auch das Bundesinnenministerium will die Erklärung als Fördervoraussetzung für das Förderprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe ab 2011 einführen.

(2) Die „Anti-Extremistische Grundsatzerklärung“: www.akubiz.de/

(3) Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (INEX): inex.blogsport.de/

(4) Unterstützerliste: ablehnung.blogsport.de/