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Hilfe, wir werden bedroht!

Zur Versicherheitlichung der Lebenswelt

Die westliche Demokratie ist gefährdet und wir Deutschen sind besonders bedroht. Die Art der Bedrohungen sind dabei so vielfältig wie das Leben selbst: Allen voran sind natürlich all die bösen Islamisten eine Gefahr für uns, da sie vorzugsweise Terroranschläge in unserem Territorium ausführen und dabei das Leben unzähliger unschuldiger Zivilisten auszulöschen trachten. Auch der Klimawandel ist eine ernstzunehmende Bedrohung – man denke nur an die zunehmenden Umweltkatastrophen, die zu Flüchtlingswellen führen. Überhaupt, all die Migranten, die versuchen sich ein Leben in unserem Land aufzubauen, stellen eine enorme Sicherheitsgefahr dar. Würden sie alle reingelassen, dann wäre es natürlich vorbei mit dem deutschen Wohlstand, denn er müsste mit unzähligen Menschen geteilt werden. Aber auch öffentlich Fußball gucken ist heutzutage enorm gefährlich. Angesichts der unzähligen Hooligans im Stadion muss man dort ernsthaft um sein Leben fürchten. Dann gibt es noch die „gelbe Gefahr“ – also all die Chinesen, die unsere Industrie mit ihren billig produzierten Plagiaten und Textilien kaputt machen. Schlussendlich ist selbst der Hunger in Afrika eine ernstzunehmende Bedrohung für die Demokratie, den Wohlstand und die Sicherheit hierzulande: Denn er ist die Keimzelle für hoffnungslose Gestalten, die wahlweise zu fundamentalistischen Terroristen werden und Kriege anzetteln, oder Karriere als Piraten machen und unsere Handelsschiffe kapern (wie am Horn von Afrika), oder eben zuhauf illegal in ihren Booten übers Mittelmeer einreisen. Dagegen hilft nur eines: Den deutschen Wohlstand vereint mit allen Mitteln verteidigen – notfalls mit Gewalt!

Die obigen Worte klingen bitter nach und wecken sicher (zurecht) den Widerspruchsgeist des_der geneigten Leser_in. Viel bitterer ist jedoch die Erkenntnis, dass Facetten dieser Argumentation hierzulande allgegenwärtig sind und nicht nur medial produziert werden. Eine inhaltliche Debatte und Entgegnung ist zwar möglich, wird aber durch einen Aspekt enorm erschwert, den all diese unterschiedlichen Themen miteinander teilen: die Inszenierung als Bedrohung und Gefahr.

Nun ist der argumentative Umgang zur Entkräftung einer empfundenen „Gefahr“ ein recht zweischneidiges Schwert. Realistisch betrachtet ist diese meist schwer messbar oder nur statistisch erfassbar. Außerdem wird sie subjektiv ganz unterschiedlich wahrgenommen und dahinter steht ein menschliches Grundbedürfnis nach Sicherheit. Dieses Bedürfnis ist genau wie Gefühle: Ausdruck unseres Empfin­dens, existiert einfach und hat als solches seine Berechtigung. Dementsprechend lässt sich argumentativ oftmals auch kein „das ist doch falsch“ überzeugend formulieren. Wohl aber lässt sich darauf aufmerksam machen, dass in unserer Gesellschaft Sicherheitsgefahren und Bedrohungsszenarien diskursiv inszeniert werden. Wie und wo das geschieht und wem das am meisten nützt – davon handelt der folgende Artikel:

Sicherheit als Herrschaftsmittel

Bedrohungsszenarien erzielen ihre Wirkung – vor allem dann, wenn sie mit wiederkehrender Ausdauer formuliert werden. So wurde bspw. festgestellt, dass die Angst in der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen gestiegen ist. Allerdings ist die reale Gefahr, durch einen Terroranschlag ums Leben zu kommen, statistisch betrachtet 1.048 mal geringer, als durch einen Autounfall zu sterben (1). Trotzdem ist die Angst vor Terror ungleich höher als im Straßenverkehr – eine Angst übrigens, die vor dem 11. September 2001 offiziell gar nicht existierte, weil es den Diskurs um Terrorismus in der Form noch gar nicht gab (2). In Folge der „Terrorangst“ befürworten die meisten Menschen sogar die zugenommene Polizeipräsenz und Kame­ra­­dichte an Bahnhöfen etc. und empfinden verstärkte Kontrollen an Flughäfen weniger als Verletzung der Persönlichkeitsrechte, denn als notwendige Vorsichtsmaßnahme. Demgegenüber werden jedoch Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr (die v.a. in anderen Ländern gelten) gern als unsinnige Freiheitsbeschränkung deklariert und Fahren unter Alkoholeinfluss gilt nicht selten als Kavaliersdelikt. Wie kann es nun sein, dass ein statistisch betrachtet geringeres Sicherheitsrisiko (Terroranschlag) weitaus einschneidendere Einschränkungen der Freiheitsrechte zur Folge haben kann, als eine vergleichsweise viel größere Gefahr (Autounfall) je haben würde?

Nicht an diesem Beispiel, aber mit dieser Problematik bzw. dem gesellschaftlichen Sicherheitsdiskurs hat sich in den 90ern die Kopenhagener Schule, allen voran Barry Buzan und Ole Waever beschäftigt (3). Dabei haben sie aus konstruktivistischer Perspektive unter dem Begriff der „Versicherheitlichung“ (securization) ihre Beobachtungen zu einer Theorie formuliert, die zur kritischen Auseinandersetzung anregt. Sicherheit definieren sie dabei nicht als Bedürfnis oder Zustand, sondern als „Sprechakt“, der eine soziale Wirklichkeit konstruiert. Sie konstatieren, dass die Darstellung bestimmter Themen als Sicher­heits­problem oder Bedrohung diesen eine besondere, existentielle Aufmerksamkeit verleiht und eine Art Ausnahmezustand suggeriert, der außergewöhnliche Mittel und Maßnahmen dagegen rechtfertige. So beeinflusst die Kommunikation und der Diskurs die Realität, und führt als „Notwehr“ konstruiert zu einer „Dringlichkeitsaktion“, die nachhaltige Auswirkungen auf die Beteiligten hat. Themenfelder und Lebensbereiche zu „versicherheitlichen“ bedeutet also den gesellschaftlichen Diskurs dahingehend zu beeinflussen, dass er primär aus einer sicherheitspolitischen Perspektive geführt wird und dank einer Dramatisierung außergewöhnliche Maßnahmen durchgesetzt werden können. So wird bspw. das Thema Fußball zunehmend von der Debatte um Gewalt und die Gefahr durch Bengalos dominiert und dramatisiert. Als Folge davon lassen sich Maßnahmen wie z.B. Gesichtsscanner prima durchsetzen (siehe Artikel S. 4f).

Buzan und Weaver haben auch untersucht, wer derlei Sicherheitsdiskurse fördert und warum. Demnach sind es jene herrschenden Eliten aus der Politik und wichtige Entscheidungsträger anderer Bereiche, die sowohl den Einfluss besitzen, bestimmte Thematisierungen zu fördern, als auch ein Interesse an der Durchsetzung der „außergewöhnlichen Maßnahmen“ haben, um Kontrolle ausüben zu können.

Beispielhaft dafür ist die Migration, die gerne als mögliches Bedrohungsszenario oder Gefahr dargestellt wird. Damit werden nicht nur Abschiebungen, sondern auch Abschottungsmaßnahmen rund um Europa gerechtfertigt, durch die tausende Flüchtlinge jährlich ihr Leben verlieren. Historisch betrachtet ist das Phänomen der Migration jedoch so alt wie die Menschheit und hat vor allem zur Entwicklung selbiger enorm beigetragen. Als „Gefahr“ wurde sie vor allem erst mit der Durchset­zung der nationalstaatlichen Herrschaft und den damit verbundenen Grenzziehungen deklariert.

Überträgt man diese Theorieperspektive der Kopenhagener Schule noch auf das Terrorismus-Autounfall-Beispiel, erschließt sich (wenn auch nicht erschöpfend), warum die Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr vergleichsweise gering sind: Automobilverkehr wird nicht primär als Sicherheitsrisiko betrachtet, sondern vielmehr als positiver Wirtschaftsfaktor. Demgegenüber wird der Islam schon lange als Bedrohung und Feindbild inszeniert, seit 9/11 als Terrorismus kategorisiert und zur primären Sicherheitsgefahr hochstilisiert. Rechtfertigen lassen sich damit nicht nur innenpolitische Kontrollinstrumente, sondern auch kriegerische Interventionen. Weitere, z.B. wirtschaftliche Interessen müssen, mit Verweis auf den Terror, dann ja nicht mehr offengelegt werden.

Versicherheitlichung von Entwicklungspolitik

Auch jenseits dieser speziellen, recht neuen sozialkonstruktivistischen Betrachtungsweise lässt sich die Ausweitung der Sicherheitslogik auf diverse Themenfelder feststellen, wie bspw. auf die Entwicklungspolitik. Mit Hilfe des erweiterten Sicherheitsbegriffes, der sich vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges durchgesetzt hat, wurde zuerst die Landesverteidigung räumlich und inhaltlich entgrenzt. Das bedeutet, dass sich Sicherheitspolitik nicht mehr auf die Verteidigung territorialer Grenzen beschränkt, sondern heute „unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird“, wie es Verteidigungsminister Struck bereits 2002 formulierte. Inhaltlich werden auch globale ökonomische, ökologische oder soziale Probleme als Sicherheitsgefährdungen begriffen, denen präventiv begegnet werden „muss“. So gefährde bspw. die Armut (gerade in Ländern mit geringer staatlicher Souveränität) auch die Sicherheit in Deutschland, da diese zur „Keimzelle des Terrorismus“ würden oder „Flüchtlingswellen“ auslösen könnten. Damit werden nicht nur militärische Interventionen begründet, sondern zugleich originäre entwicklungspolitische Zielsetzungen und humanitäre Motivationen für die jeweiligen Herrschaftsinteressen des Westens vereinnahmt.

Doch die Akteure der staatlichen Entwick­lungs­­zusam­men­­arbeit öffneten zum Teil selbst Tor und Tür für diese Vereinnahmung und Ver­sicher­heit­lichung, denn sie nutzten in den 90ern wieder stark das „Sicherheitsargu­ment“, um nach Ende des Kalten Krieges nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken (4). Die innerstaatlichen Kriege in den 90ern, wie in Ruanda, Somalia und Ex-Jugoslawien ermöglichten der Entwicklungs­zu­sammen­arbeit dann in Verbindung mit sicherheitspolitischen Argumentationen einen erneuten Bedeu­tungs­zuwachs, angesichts der Debatten um humanitäre Interventionen und notwendige Krisenprävention. Aus zivilgesell­schaft­licher Initiative heraus wurde zudem der Begriff der „menschlichen Sicherheit“ geprägt, um damit eine höhere Aufmerksamkeit für entwicklungspolitische Themen, wie bspw. mangelhafte Ernährung, fehlende Gesundheitsversor­gung und soziale Ungleichheit einzufordern, die neben der physischen Gewalt das Leben jedes Menschen beeinträchtigen.

Doch die einst forcierte sicherheitspolitische Verbindung (die im Falle der „menschlichen Sicherheit“ nur semantisch, aber nicht der selbstbezüglichen Sicherheitslogik folgend ausgerichtet war) kam wie ein Bumerang zurück und frustet heute vor allem viele nichtstaatliche Akteure aus der Entwicklungszusammenarbeit und Friedenspolitik. Die beklagte sicherheitspolitische Vereinnahmung erfolgt vor allem im politischen Sprachduktus. Zum Beispiel wenn militärische Interventionen humanitär begründet werden, obgleich dies oftmals als Feigenblatt für viele andere Interventionsinteressen steht. Oder wenn Gelder für Armutsbekämpfung bereit gestellt werden, weil „wir“ sonst fürchten müssen, zu viele Flüchtlinge zu bekommen. Damit erfolgt eine Entsolidarisierung, die schon allein einem humanistischem Weltbild, welches auf das gleichwertige Leben aller Menschen rekurriert, widerspricht. Ganz abgesehen von der historischen Verantwortung, die der Westen angesichts der Kolonialgeschichte eigentlich zu tragen hätte.

Auch auf der Handlungsebene wird inzwischen zunehmende Versicherheit­lichung von NGOs beklagt, bspw. wenn, wie in Afghanistan geschehen, die Mittelvergabe für Entwicklungsprojekte an die Bereitschaft gekoppelt wird, mit der Bundeswehr zusammen zu arbeiten und Projekte nur in den Regionen gefördert werden, wo auch deutsches Militär zugegen ist (5). Auch das generell gestiegene entwicklungspolitische Engagement in Krisengebieten und sog. „gescheiterten Staaten“, steht symptomatisch für eine zunehmend sicherheitslogische Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit.

Blick in die Glaskugel

Die Vereinnahmung von Themenfeldern aus Wirtschaft, Umwelt, Politik und Gesellschaft als Sicherheitsthematiken hat bereits diverse, vielschichtige Auswirkungen, die hier nur angerissen werden können. Nimmt man dazu die Perspektive der Kopen­ha­gener Schule ein und schaut unter dem Aspekt der Versicherheitlichung auf unsere zukünftige Gesellschaft, wird das Bild jedoch noch düsterer. Denn dann werden wohl unverhältnismäßige, repressive, vom Staat ausgehende Maßnahmen weiter zunehmen. Innenpolitisch gibt es ja noch jede Menge Spielraum den Überwachungsstaat zu perfektionieren – ganz im Sinne des eigenen Schutzes, versteht sich. Außenpolitisch wird im Namen der Sicherheit auch heute schon fleißig interveniert und dies wahlweise als humanitärer Einsatz (zur Sicherheit der einheimischen Bevölkerung) oder als „Kampf gegen den Terrorismus“ (die Bedrohung) legitimiert. Der militärische Einmarsch in Mali, der bereits (zurecht) als zweites Afghanistan imaginiert wird, ist ein aktuelles, trauriges Beispiel hierfür. Aber auch da gibt es noch Spielraum, wie bspw. die steigenden Investitionen der EU in den Aufbau von Kampftruppen belegen. Die Rüstungsindustrie hierzulande wächst auch gern weiter. Die Aufrüstung des benachbarten Algerien mittels deutscher Waffenexporte ist ein gutes aktuelles Beispiel dafür, wie deutsche Wirtschaftsinteressen als sicherheitspolitische Notwendigkeiten verkauft werden – schließlich wolle man ja verhindern, dass sich der Krieg in Mali nach Norden (also Richtung EU) ausbreite (6).

Auch die Entwicklungszusammenarbeit könnte noch weiter versicherheitlicht werden, indem sie z.B. der Verteidigungspolitik untergeordnet würde. In der Folge gäbe es nur noch Mittel für Entwicklungshilfe, wenn sie direkten sicherheitspolitischen Nutzen hätte – oder die Soldaten würden ihre Arbeit gleich mit erledigen, um das Ansehen der Truppe in der Bevölkerung zu steigern. In Ansätzen ist dies leider heute schon keine realitätsferne Utopie und Einige sprechen bereits von einer Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit.

Wachsam sein

Leider lässt sich auf gesamtgesellschaftliche Diskurse nur schwerlich Einfluss nehmen, und die Möglichkeit, mittels des Sicher­heits­diskurses Maßnahmen zu legitimieren, die den Interessen der herrschenden Elite in die Hände spielen, wird es wohl noch so lange geben, wie es herrschende Eli­ten geben wird. Dennoch ist dies kein Ap­pell dafür, die Hände in den Schoß zu le­gen: Schließlich gibt es genügend Einzel­maß­nahmen, gegen die sich Mobilmachung lohnt. Wie beispielsweise die deutsche Unterstützung für den Mali-Einsatz oder die Waffenexporte, die nicht nur nach Al­gerien, sondern in die ganze Welt gehen.

Darüber hinaus lohnt es sich wachsam zu sein und Sicherheitslogiken dort zu hinterfragen, wo sie einem_r begegnen: im ganz banalen Alltag. Eine kritische Haltung ist zwar an sich noch kein Widerstand, wohl aber die Voraussetzung dafür. Und in der nächsten Diskussion um vermeintliche Bedrohungen, kann man mit dieser Haltung vielleicht auch jemanden mehr überzeugen, nicht alles zu schlucken, was da so gesellschaftlich suggeriert wird.

momo

(1) Die Zahl beruht auf einer amerika­nischen statistischen Erhebung. Derzufolge ist die Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben 12.571 mal und selbst von einem Polizisten erschossen zu werden 8 mal höher, als durch einen Terroranschlag ums leben zu kommen.
newsblaze.com/story/20090221100148tsop.nb/topstory.html
(2) Zwar wurde das Wort Terrorist auch bspw. für die RAF verwendet, allerdings hat sich ein Diskurs um Terrorismus erst mit 9/11 etabliert.
(3) Die sog. „Kopenhagener Schule“ bzw. Copenhagen school of security studies umfasst eine Gruppe von Wissenschaft­ler_innen, die sich aus konstruktivistischer Perspektive kritisch mit dem Phänomen Sicherheit auseinandersetzen. Begründer und prominente Vertreter dieser Denkrichtung sind Barry Buzan, Ole Waever und Jaap de Wilde, deren (nachfolgend erläuterte) Theorie 1998 als Buch unter dem Titel „Security. A New Framework for Analysis“ erschien.
(4) Schon die „Erfindung“ von Entwicklungshilfe war sicherheitspolitisch motiviert und wurde während des Ost-West-Konfliktes dementsprechend genutzt: Gelder oder Leistungen wurden an (potentielle) Verbündete verteilt, um den eigenen Machtkorridor gegenüber dem Systemgegner auszubauen. Nach Ende des Kalten Krieges stand daher auch der Nutzen von Entwicklungshilfe zur Debatte, zumal sie auch (unabhängig vom Sicherheitskalkül) kaum auf „Erfolge“ verwiesen werden konnte.
(5) In dieser 2010 vom BMZ (Entwick­lungs­­minister Niebel) verfassten Ausschreibung, auch unter Afghanistan-Fazilität bekannt, werden jährlich 10 Millionen Euro für zivile Projekte von NGOs bereit gestellt, sofern diese im Sinne der „vernetzten Sicherheit“ kooperieren und sich regional auf die Gebiete der Bundeswehr konzentrieren. Viele NGOs kritisierten dies, u.a. der Dachverband VENRO:
www.venro.org/fileadmin/redaktion/dokumente/Dokumente_2010/Home/Juli_2010/VENRO-Stellungnahmr_AFG-Fazilitaet_final.pdf
(6) Hintergründe zum Mali-Einsatz,siehe z.B. GWR 375, Januar 2013 & www.imi-online.de/

Theorie & Praxis

E-Petitionen: Fluch oder Segen?

Im World Wide Web stolpern wir inzwischen ständig über die verschiedensten Petitionen. Mit unserer Unterschrift können wir fast gleichzeitig gegen Schulschließungen protestieren, versuchen konkrete Abschiebungen zu verhindern und uns gegen die GEMA stark machen. Petitionen liegen irgendwie im Trend, durch ihr „Mitmachelement“ Unterschrift sind sie Medium und Startegie zugleich. Doch ihre zweifelhafte Wirksamkeit befördert auch ihre Kritiker_innen. Entwaffnen sich damit linke Initiativen und soziale Bewegungen selbst? Oder sind E-Petitionen zur Beförderung ihrer Sache nicht doch eine (neue) Chance?

PRO:

Wer sich heutzutage erfolgreich gegen konkrete gesellschaftliche Missstände einsetzen will, kommt an Online-Petitionen nicht vorbei. So naiv eine Überschätzung der Wirkung von Petitionen zwar wäre, so fahrlässig wäre auch die generelle Ablehnung selbiger.

Ihr größtes Potential liegt in ihrer Beliebtheit, denn dadurch werden verschiedenste, aktuelle Themen und konkrete Belange in die breite Öffentlichkeit getragen. So können innerhalb kürzester Zeit Infos gestreut und Menschen mobilisiert werden – mit einer Pressemitteilung hingegen wird heutzutage kaum noch jemand hinterm Ofen vorgelockt. Zudem sind Petitionen ein Handlungsmittel „von unten“, denn jede_r kann eine Petition einrichten; dafür braucht mensch nicht einmal eine Organisation im Rücken.

Qualitativ unterscheidet sich die Petition vor allem durch ihr Unterschriftselement von der klassischen Pressemitteilung. Während man letztere lesen und wieder vergessen konnte, regt die Petition zur eigenen Positionierung an. Wird das Anliegen für unterstützenswert gehalten und die Unterschrift gesetzt, dann ist schon ein erster Schritt getan, weil Auseinandersetzung bzw. Bewusstwerdung passiert ist. Natürlich dürfen Petitionen nicht mit Engagement verwechselt werden und ersetzen dieses mitnichten. Wohl aber muss mensch diejenigen, die eine Petition unterstützen, nicht mehr vom Anliegen überzeugen – sondern kann darauf aufbauend zur weiteren Aktivierung, z.B. durch direkte Aktionen anregen, um wirklichen Druck für das konkrete Anliegen aufzubauen.

Die Petition selbst wird ja als Zeichen des Protestes und mit der konkreten Aufforderung, bestimmtes Handeln zu unterlassen/zu verändern o.ä., an den entsprechenden Schaltstellen der Macht eingereicht. Selbst wenn die Hoffnung auf Veränderung dann meist enttäuscht wird – vor allem, wenn keine begleitenden Massenproteste und Aktionen stattfanden – so hat sie dennoch einen wichtigen Effekt: Ihre Empfänger setzen sich (mehr oder weniger intensiv) mit dem Gedanken auseinander, dass ihr Handeln auf breite Gegnerschaft in der Bevölkerung stößt. Bestimmte Institutionen, wie die Ausschüsse im Bundestag, sind darüber hinaus verpflichtet aufgrund von (erfolgreichen) Petitionen den Sachverhalt erneut zu prüfen und eine weitere Stellungnahme im Bundestag abzugeben. Vor allem auf lokaler Ebene erzielen sie auch öfter ihre gewünschte Wirkung, bspw. bei der Verhinderung von konkreten Abschiebungen (1). Vor allem aber können Petitionen für uns selbst nützlich sein: zum Beispiel, um die eigene Argumentation in Alltagsdiskussionen zu untermauern. Denn es wirkt schon verstärkend, wenn nicht nur ich aus guten Gründen die EU-Richtlinie zur Wasserprivatisierung scheiße finde, sondern mit mir noch über eine Million Andere. Kurzum: selbst wenn auf die Forderungen der Petitionen nicht eingegangen wird, so spiegeln sie dennoch verbreitete Protesthaltungen und Meinungen wider und machen Stimmungen in Teilen der Bevölkerung präsent. Diese zu kennen ist wiederum eine wesentliche Voraussetzung, um nicht über sondern mit den Menschen Politik zu gestalten – egal auf welcher Ebene.

Schlussendlich fördern Petitionen auch ein allgemeines kritisches Bewusstsein. Denn es gibt auch viele im Netz kursierende Petitionen, die inhaltlich fragwürdig oder problematisch sind. Angesichts ihres „Trends“ werden es sogar zunehmend mehr. Wo mensch seinen „Otto“ drunter setzt, sollte daher wohl überlegt sein.

Festzuhalten bleibt: Petitionen sind sicher nicht DAS Element, um die Verantwortlichen zu Veränderung zu zwingen, wohl aber sind sie DAS Element, um heutzutage an der Basis ansetzend viele Menschen zu erreichen und im ersten Schritt zu aktivieren. Darüber hinaus geben sie uns und den Verantwortlichen einen Einblick in die Stimmungslage der Menschen, die nicht am Machtschalter sitzen. Petitionen daher nicht als Türöffner für weiterführendes (direktes) Engagement zu nutzen, bedeutet v.a. sich viele Chancen zu vergeben.

momo

(1) Im Sommer 2012 erwirkte eine Petition, einhergehend mit Schüler-Demonstrationen, Lichterketten und Mahnwachen das unbefristete Aufenthaltsrecht von drei jungen, aus Honduras stammenden Hamburgerinnen. www.ndr.de/regional/hamburg/fabiola117.html

Pro, weil:

# schnelle & weite Infoverbreitung „von unten“

# Positionierung und erste Aktivierung von Menschen

# Bevölkerungsmeinung wird sichtbar

CONTRA:

E-Petitionen, also Petitionen, die online eingereicht und unterschrieben werden können, sind zwar Werkzeuge des digitalen Zeitalters, doch in ihrer Organisations- und Wirkungsform nicht grundlegend anders als das analoge Pendant. Die „Petition“, vom lateinischen Substantiv „petitio“ (Verlangen, Bitte, Gesuch) und dem Verb petere (zu erreichen suchen, greifen, bitten), zeugt schon in ihrer Wortherkunft vom Wesen als reines Bittwerkzeug. Eines von Bittsteller_innen also, die sich in einer Sache an den jeweiligen Souverän richten, der darüber entscheidet. So wie das landläufige Volk früher ab und an eine Audienz beim Fürsten bekam, der sich gnädig die Sorgen und Nöte anhörte und ab und an mal ein paar Krümel seiner Gnade verteilte, so darf heute jede_r deutsche Bürger_in mit einer Petition den deutschen Bundestag, genauer gesagt seinen Petitionsausschuss beknien. Und darauf hoffen, dass der sich ab 50.000 Unterzeichner_innen die jeweilige Sache zumindest einmal anhört. Und dann meist in der Schublade verschwinden lässt.

Sich einzulassen auf diese Logik von Bitten und Gnade bedeutet schließlich, den eigenen Einfluss selbst auf genau den Rahmen zu beschränken, den der Souverän ihr einräumt. Die sprichwörtliche Macht des Volkes wird also von vornherein im Sinne der Herrschenden beschränkt und dient ihnen so als antiemanzipatorisches Ventil im Dampfkessel der stetigen Interessenkonflikte. Vorrangig die, zwischen der Bevölkerung und Staat bzw. Kapital.

Seien es Widerstände gegen Überwachungs- und Zensurmaßnahmen der Bundesregierung, wie etwa die (mittlerweile wieder zurückgenommene) Sperrung von Webseiten oder die Vorratsdatenspei­cherung, oder Petitionen gegen bestimmte Wirtschaftszweige, wie bspw. eine E-Petition zur Einhaltung der Verträge zur Abschaltung der Atomkraftwerke bis zum Jahr 2023 oder zur Abschaffung der sog. GEMA-Vermutung (1) – regelmäßig werden erfolgreiche E-Petitionen (also solche mit über 50.000 Unterschriften, die überhaupt erst vor den Bundestag kommen) von den Mächtigen abgewiesen. Besonders letztes Beispiel zeigt, dass ein mehr als dubioses Geschäftsmodell wie das der GEMA (2), solange es ins politische Konzept (hier der Urheberrechtsver­wertung/des (geistigen) Eigentums) derkapitalistischen Verwaltung, also der parlamentarischen Demokratie hierzulande, passt, auch vom Gesetz geschützt ist und sich von Petitionen nichts anhaben lässt. Bei der grandiosen Zahl von 1.863 Anti-GEMA-Petitionen, die in den letzten 14 Jahren beim Bundestag eingingen, waren nur wenige Ausnahmen, wie der Widerstand gegen die zum Scheitern verurteilte 700%ige Gebührenerhöhung für Diskotheken und Clubs, erfolgreich. Warum auch? Grundsätzliches ändert sich dadurch nichts. Nur gegen übertriebene Forderungen wird – weil unpopulär und standortschädigend – vorgegangen. Da helfen auch 62.842 Unter­zeichner_innen der GEMA-Vermutungs-Petition eben nichts, wenn der politische Wille fehlt. Erfolg sollte ja kein Argument für oder gegen die Richtigkeit einer Sache sein, bei einer konkreten Hand­lung(sstrategie) jedoch sollten wir diesen Maßstab durchaus mit anlegen. Vor allem dann, wenn Zeit, Kraft und vor allem Glaube an Veränderung anders wesentlich besser angelegt wären.

Durch die „Leichtigkeit des Klicks“ kommt noch ein anderer Effekt negativ zum Tragen. Mussten Petitionen früher mühselig mit kopierten Listen in Fußgängerzonen gesammelt werden, so hatte dies auch einen entscheidenden Vorteil, der bei Online-Petitionen fast völlig wegfällt – das persönliche Gespräch und die inhaltlichen Diskussionen der zu mobilisierenden Menschen. So wurde der öffentliche Diskurs befeuert, ein Problembewusstsein bei vielen Menschen geschaffen, wo viele Themen heute oft nur noch in den sozialen Netzwerken des Internets an den Menschen vorbeiscrollen, ohne inhaltlich geschärftes Bewusstsein zu schaffen. Zwar gibt es die Möglichkeit, in angeschlossenen Petitionsforen zu diskutieren und wird diesen Beiträgen auch eine hohe Qualität bescheinigt. Doch finden die themenbezogenen Diskussionen dort fast ausschließlich unter schon überzeugten Petitionsnerds statt. Die sich dann mehr mit sich selbst und ihrer vermeidlichen Mitbestimmungsmöglichkeit beschäftigen, anstatt Menschen wirklich zu mobilisieren und Bewegungen zu schaffen. Und vor allem alternative Strukturen aufzubauen, die das Bitten der hohen Politik irgend­wann überflüssig machen und lernen, sich ihrer Interessen selbst anzunehmen.

shy

(1) Durch die Umkehr der Beweislast müssen Internetdienste, Konzerte, Clubs und Bars die GEMA-Vermutung widerlegen, um von jeglichen GEMA Gebühren befreit zu sein.
(2) DIE „SOLIDARPRINZIPIEN“ EINER SOLIDARGEMEINSCHAFT – Das geheime Finanzierungsumverteilungssystem der GEMA (bit.ly/YwJaWZ)

Contra, weil:

# Schein von Mitbestimmung, wirkt Selbstermächtigung entgegen

# Inhaltliche Oberflächlichkeit statt tieferer Beschäftigung

# Zeit- und Ressourcen wären anders wesentlich besser angelegt

Weltsozialforum 2013 in Tunis

Mehr als ein internationales Politevent?

Das Weltsozialforum – ein Raum der besonderen Art. Menschenmassen, die (sich) bewegen. Ein riesiges Unigelände in Tunis, auf dem sich ca. 50.000 Menschen aus 130 verschiedenen Ländern tummeln. Rund 1.200 Veranstaltungen und Workshops, in denen sich Leute aus über 4.000 verschiedenen politischen Gruppen, Organisationen und sozialen Bewegungen begegnen. Ein Raum für Austausch und Ver­netzung linker Strömungen. Doch was bewegt sich wirklich dort? Welchen Nutzen hat das WSF für soziale Bewegungen? Nur noch ein Polit­event zur transnationalen Selbstinszenierung? Angereichert mit eigenen Eindrücken aus dem tunesischen Weltsozialforum, gehe ich der Frage im Folgenden nach.

Das Weltsozialforum hat inzwi­schen Tradition. Es wurde als alternativer, antikapitalistischer Raum für soziale Bewegungen und als Gegenveranstaltung zum alljährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos 2001 ins Leben gerufen und fand zuerst im brasilianischen Porto Allegre (Brasilien) statt. Beinahe jährlich tagte es fortan an verschiedenen Orten (oft in Brasilien), wurde zwischenzeitlich dezentralisiert und multiplizierte sich auch Dank europäischer, asiatischer, afrikanischer und diverser lokaler Ableger/Foren, wie z.B. in Deutschland. Das elfte zentral ausgerichtete Weltsozialforum tagte nun Ende März 2013 in der tunesischen Hauptstadt – zum ersten Mal auf arabischem Territorium. Kein Zufall, denn die Revolutionen in den arabischen Ländern sind ein großes Thema linker Bewegungen, die sich global organisieren wollen. Und in Tunesien nahm der arabische Frühling 2011 seinen Anfang. Ebenso bewusst gewählt war das diesjährige Motto „Würde“, welches breit genug ist, politische Themen verschiedenster Art zu fassen, zugleich jedoch im Besonderen auf die Kämpfe um Frauenrechte verweist. Übrigens ein Thema, das beim tunesischen WSF, wie auch in den sozialen Bewegungen der Länder des arabischen Frühlings, großen Raum einnimmt.

Obgleich sich die Zahl der Teilnehmenden inzwischen mehr als halbiert hat, war das Themen- und Beteiligungsspektrum sehr breit aufgestellt. Die inhaltliche Ausrichtung wurde in 11 Themenschwerpunkte zusammengefasst. Diese umspannten sowohl revolutionäre Proteste und Alternativmodelle zum globalen Kapitalismus, als auch die Problematisierung von Rassismus und Diskriminierung, „geistiges Eigentum“ und die Freihandel- und Schuldenspolitik des Nordens sowie den Kampf für Bewegungsfreiheit, umfassende Demokratisie­rung, Naturschutz, Gemeingüter, Umweltgerechtigkeit und eine friedlichere Welt durch die Abschaffung militärischer Basen, Atomwaffen und besetzter Gebiete (1).

Ganz konkret gab es Podiumsdiskussionen, Vorträge, Workshops und Runde Tische, auf denen wahlweise theoretische, eher wissenschaftlich-politisch orientierte Diskurse stattfanden oder sich zu ganz praktischen Themen ausgetauscht wurde. Viele Veranstaltungen drehten sich um den arabischen Frühling, bspw. die Rolle des Islam in den arabischen Revolutionen oder die Kritik an der EU, die neoliberale und hegemoniale Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel der Entwicklungspolitik fördert. Oftmals stellten auch die verschiedenen Gruppen ihre Arbeit in den Vorträgen vor oder koppelten dies mit spezifischen Fragestellungen. So besuchte ich bspw. eine Veranstaltung, in der sich Gewerkschaften aus verschiedenen Ländern vorstellten und über die notwendige Unabhängigkeit zur Regierungspolitik für ihre gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit reflektierten. Ein von tunesischen Frauenbewegungen organisierter Runder Tisch war besonders bewegend, denn dort wurde konkret über gemeinsame Forderungen diskutiert, die in der künftigen Verfassung festgeschrieben werden sollen. Sprachlich waren jedoch gerade jene Veranstaltungen, bei denen heiß unter Basisaktivist_innen diskutiert wurde, oftmals eine Herausforderung. Zwar wurde sich stetig um arabische, französische, englische und spanische Übersetzung bemüht, doch war dies nicht immer möglich.

Neben den inhaltlichen Veranstaltungen fanden auch zwei Demonstrationen durch Tunis statt, zum Auftakt eine riesige und wortgewaltige Frauenversammlung, zudem Ausstellungen, Informationsstände und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. Auch spontan fanden immer wieder Menschen zusammen, die gemeinsam Musik machten, Kundgebungen und kurze Demonstrationen über den Unicampus veranstalteten.

Ansichten

Das Spektrum der beteiligten Organisationen und Menschen war sehr breit und reichte von systemerhaltenden sozialpartnerschaftlich orientierten Institutionen, über antikapitalistische Gruppierungen bis hin zu militanten und zum Teil auch nationalistischen Strömungen. Letzteres fiel mir vor allem im Hinblick auf den Israel-Konflikt negativ auf. Zwar gab es auch sehr konstruktive Veranstaltungen, in denen israelische und palästinensische Aktivist_innen Perspektiven für ein Zusammenleben ausloteten und sowohl die Besetzungs- und Siedlungspolitik Israels, als auch die militanten Gegenschläge der radikalen Palästinenser_innen kritisierten. Allerdings gab es eben auch Jene, die dem israelischen Staat keinen Platz auf der globalen Landkarte einräumen wollen, und ihrem Hass bspw. durch eine auf dem Boden liegende israelische Fahne, auf der jede_r rumtrampeln konnte, Ausdruck verliehen. Insgesamt schien mir, als sei der palästinensische Befreiungskampf ein Thema, unter dem sich die globale Linke gemeinsam sammelt – die meisten jedoch ohne den rassistischen Umkehrschluss, den Menschen in Israel ihr Existenzrecht abzusprechen. So z.B. fiel mir bei der riesigen Frauenversammlung auf, dass die (nicht wenigen) Sprechchöre, die sich gegen die hegemoniale Politik des Staates Israels richteten, dann zu vereinzelten Stimmen wurden, wenn sie antisemitische Inhalte implizierten.

Generell fiel auch auf, dass sich viele der Bewegungen im globalen Süden auf ihre Nation oder Ethnie beziehen, um für soziale und politische Rechte zu streiten. Zwar überrascht das nicht, da Diskriminierungen meist anhand jener Grenzziehungen stattfinden, allerdings besteht auch hier schnell die Gefahr des Umkehrschlusses, sprich der Überhöhung der eigenen „Volksgruppe“, mit diskriminierenden Auswirkungen für die jeweils Konkurrierende. Perspektiven einer Weltgesellschaft in der die Menschen als Gleiche gelten und keine Diskriminierung aufgrund ihrer „Kultur“ stattfindet, wurden zwar von den Veranstaltern formuliert, wirkten jedoch vor Ort angesichts der nationalen und ethnischen Selbstdefinierung der Gruppen manchmal wie ein verbaler Platzhalter ohne inhaltliche Füllung. Richtig antinationale Meinungen waren eher selten sichtbar. Mit Blick auf die Geschichte in den einzelnen Regionen ist dies nicht verwunderlich, zugleich offenbart es einmal mehr die Unterschiedlichkeit der jeweiligen linken Bewegungen. Dennoch, das WSF ist zwar unglaublich heterogen, wohl aber keine Ansammlung nationalistischer Bewegungen. Im Anspruch eint sie die Vision einer Weltgesellschaft ohne Unterdrückung; eine (antikapitalistische) Welt, in der soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und die Freiheit der Individuen gewährleistet sind.

Aussichten

Doch welchen Nutzen hat das WSF überhaupt – und vor allem für wen? Ist es heute noch ein Begegnungsraum zur Stärkung von sozialen Bewegungen oder lediglich ein Tummelplatz verschiedenster Gruppierungen, die mit ihrer Teilnahme nur noch Partikularinteressen verfolgen?

Gegenseitiger Austausch, sprich das voneinander Lernen sowie die Vernetzung zu anderen Aktivist_innen im globalen Raum – diese zwei Aspekte sind wesentlich für die am Sozialforum Beteiligten. Das ist einerseits nützlich für die eigenen lokalen Auseinandersetzungen und bietet andererseits die Möglichkeit, Visionen einer „besseren Welt“ im globalen Rahmen anzugehen. Angesichts global verbreiteter Ausbeutungs- und Diskriminierungspraktiken, die oftmals durch das geteilte kapitalistische Bezugssystem in Verbindung miteinander stehen, ist diese Perspektive auch wichtig, um Verbesserungen auf lokaler Ebene langfristig und nachhaltig durchsetzen zu können.

Gleichzeitig soll das WSF linke Kräfte nach innen und außen stärken. Die Wirkung nach innen ist zweifelsfrei feststellbar, denn jede_r Dagewesene war beeindruckt von den Menschenmassen. Ich und unsere kleine IG Metall Delegation inkusive. Einen Eindruck von ihren sozialen Kämpfen mitzubekommen, gibt neue Energie und macht Mut, dass sich der Einsatz für die eigenen Visionen lohnt, dass mensch damit nicht alleine steht. Und die Kraft, die der WSF-Raum dadurch bündelt, wirkt nach und strahlt weit.

Inwieweit diese Kraft auch nach außen strahlt, ist jedoch fraglich. Zum Einen liegt das daran, inwiefern auch die dort verhandelten Inhalte wieder in die lokalen Gruppen und Organisationen getragen werden – und das wiederum hängt stark von der jeweiligen (Basis-)Anbindung der Teilnehmenden ab. Zwar wurden auch viele der Veranstaltungen per Livestream ins Netz übertragen, doch eine weitreichende Wirkung kann durchaus (noch) bezweifelt werden. Zum anderen spielt die internationale mediale Aufmerksamkeit eine große Rolle, um sowohl die Daheimgebliebenen zu stärken, als auch jene zu erreichen, die bisher wenig Berührungspunkte zu alternativen Visionen einer gerechteren Wirtschafts- und Sozialpolitik hatten. Leider jedoch hat sich die allgemeine mediale Außenwirkung in den letzten zehn Jahren extrem verringert. Von einem Presserummel rund um das WSF kann kaum die Rede sein. Wer sich nicht für die Thematik interessiert und linke Seiten und Zeitungen liest, bekommt z.B. hier in Deutschland nichts mit – abgesehen von einem kurzen, inhaltsarmen Bericht in den Tagesthemen.

Das Weltsozialforum wurde zudem mit dem Anspruch ins Leben gerufen, ein Raum für soziale Bewegungen zu sein und ihren antikapitalistischen Kampf zu stärken. Diesen Anspruch kann es prinzipiell nur sehr bedingt erfüllen. Eben weil das WSF meist an einem zentralen Ort statt­fin­det, an den oft nur Jene reisen, deren Or­­ganisationen es finanziell unterstützen kön­nen, ist es kein Raum, in dem sich Gras­wurzelbewegungen vernetzen und direkt voneinander lernen können. Zunehmend ist es hingegen eine Zusam­men­kunft von Funktionsträgern, die ab­hän­gig von ihrer Organisation mehr oder weniger nah an und mit der Basis arbeiten.

Deshalb aber ist der Ort des Sozialforums ein wesentlicher Aspekt, denn die lokalen Basisbewegungen profitieren durchaus vom „WSF-Spirit“. Gerade in Tunis wurde dies sehr deutlich. Bis zu 80% der Teilnehmenden kamen aus Tunesien (2), auch deshalb stand die Zukunft des arabischen Frühlings vielfach im Zentrum der Veranstaltungen. Und im Gespräch mit einigen Tunesiern, die sich in ihrer Revolution 2011 engagierten, wurde besonders deutlich, wie wichtig das WSF für sie ist – nicht nur zur eigenen Stärkung, sondern auch, weil die lokale Bevölkerung mitbekommt, um welche Themen und Visionen es beim Sozialforum geht. Viele fürchten derzeit, dass die Ziele, für die sie vor zwei Jahren auf die Straße gingen – soziale Verbesserungen, Menschenrechte und politische Teilhabe – angesichts der aktuellen politischen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Parteien bzw. durch den Einfluss der islamischen regierungsbil­den­den Partei (Ennahda) gefährdet sind. Ihr Ringen um progressive Inhalte in einer neuen Verfassung, ihr Kampf um Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit jenseits globaler kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse braucht den globalen Rückenwind durch Foren wie dem WSF. Tunesische Aktivist_innen können diesen gut nutzen. Für konkrete Veränderungen basierend auf Menschenwürde. Gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. Unter dieser Perspektive betrachtet ist das WSF vor allem für lokal verortete soziale Graswurzelbewegungen nützlich und wichtig. Und es sollte auch in Zukunft in jenen Zentren stattfinden, in denen sich gerade viel bewegt. Dort wird es am meisten gebraucht.

momo

(1) Die Themenschwerpunkte ausführlich: weltsozialforum.org/2013/2013.wsf.2/index.html
(2) weltsozialforum.org/2013/2013.wsf.presse.0/2013.wsf.presse.texte/news.wsf.2013.48/

Soziale Bewegung

Waldbesetzungen von Räumung bedroht

Die Besetzungen von Wäldern und verlassenen Landstrichen, bspw. zur Verhinderung von Flughafen-, Straßen- oder Tagebau, werden zunehmend mehr zur Aktionsform konsequenter Aktivist_innen aus der ganzen Welt. Dabei geht es den meisten von ihnen sowohl um den konkreten lokalen Schutz der Natur, als auch um den aktiven Widerstand gegen allgemeine kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, durch die Menschen unterdrückt und Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerstört werden. Um diese Art des Protestes per Kriminalisierung zu unterbinden, arbeiten wirtschaftliche Großkonzerne oftmals Hand in Hand mit politischen Eliten.

Diverse Besetzungen dieser Art gibt es kurzfristig oder langjährig in vielen Ländern Europas. Aktuell sind mindestens zwei akut räumungsbedroht: der Hambacher Forst in Deutschland und La Zad in Frankreich.

Hambacher Forst

Der Hambacher Forst, ein Waldstück in Nordrhein-Westfalen, nahe Köln, wird seit April 2012 von Aktivist_innen dauerhaft besetzt, um die Rodung durch den RWE-Konzern zu verhindern. RWE betreibt direkt nebenan den größten Braunkohletagebau Europas (8.500 Hektar). Um den Tagebau erweitern zu können, sollen die Waldbesetzer_innen samt ihrer in diesem Jahr gebauten Hütten und Baumhäuser mit Hilfe deutscher Polizist_innen geräumt werden. Seit Oktober besteht akute Räumungsgefahr, denn da endete die Brut- und Setzzeit, welche die Baumrodung natur­schutzrechtlich unterbindet. Die Aktivist_innen vor Ort sind vorbereitet, ein „Unräumbar-Festival“ Ende Oktober soll weitere Menschen mobilisieren. Der Aktionskonsens ist breit, die Besetzungsformen sind kreativ, die Besetzer_innen sind entschlossen. Was es jedoch am meisten braucht, sind weitere Aktivist_innen, die bereit sind den Protest mit ihrer Anwesenheit in dieser heißen Phase zu unterstützen. Weitere Infos: hambacherforst.blogsport.de

La Zad (Zone A Defendre)

Circa 2.000 Hektar Land nahe Notre Dame in der französischen Bretagne, mehrheitlich Weide- und Waldfläche, sollen einem neuen Flughafen weichen (siehe FA!#43). Pläne dazu bestehen schon seit 40 Jahren – konkrete Drohungen gegen die dort Wohnenden wurden vom Konzern Vinci mit Hilfe der französischen Regierung seit diesem Jahr wieder verstärkt. Seit 2009 wird der langjährige Protest der ansässigen Bauern durch zahlreiche linksalternative Besetzer_innen aus aller Welt unterstützt. Ihre Anzahl hat sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht. Sie haben viele der verlassenen Häuser besetzt, neue Hütten und Baumhäuser gebaut, Gärten angelegt und allerlei selbstorganisierte Projekte und Protestformen vorangetrieben. Am 16. Oktober fanden die ersten Zwangsräumungen statt, Weitere werden in den nächsten Wochen erwartet. Die Aktivist_innen brauchen jede Unterstützung, um die Räumungen verhindern und die Plätze neu besetzen zu können. Infos zur aktuellen Lage und dem geplanten re-occupation-Aktionstag: zad.nadir.org

momo

Uebrigens

Bundeswehr rüstet auf und ab

Schießanlage im Zeitzer Forst geplant

Zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt, nahe Zeitz müssen bald ca. 7000 qm Wald einer neuen Schießanlage weichen. Satte 10 Millionen Euro lässt das Bundesverteidigungsministerium springen, um künftigen Soldat_innen in Auslandseinsätzen das scharfe Schießen unter mög­lichst geringer Wegezeit beizubringen. Die Bürgerinitiative „Kein Schuss im Zeitzer Forst“ macht dagegen mittels Unterschriftensammlung und geplantem Ostermarsch (9.4.2012) mobil. Sie bringen dabei den ganzen Zeitzer Forst als Natur- und Naherholungsgebiet in Stellung – obgleich große Teile unbegehbar sind, weil sie entweder schon von der Bundeswehr für die Übungen genutzt werden oder noch durch die ehemalige Nutzung der Sowjetsoldaten „munitionsbelastet“ sind.

Die geplanten Investitionen in Waffentechnik in Zeitz sind übrigens nur ein Bruchteil von den 1,3 Milliarden Euro, die der Verteidigungsminister Thomas de Maizière ausgeben wird, um künftig effizienter und stärker in Auslandseinsätzen agieren zu können. Die infrastrukturelle und technische Ausstattung der Bundes­wehr­standorte ist Teil einer sog. „qualitativen Aufrüstung“ der Bundeswehr (siehe FA!#40). Und sie ist die Kehrseite einer vermeintlichen Abrüstung, wie sie auch im Oktober letzten Jahres mit der Bekanntgabe der Standortschließungen suggeriert wurde. Denn von 400 Standorten werden tatsächlich 136 geschlossen und die Anzahl der Dienstposten soll von 281 500 auf 197 500 sinken. Ein Großteil dessen wird im Norden Deutschlands und in NRW abgezogen.

Die General-Olbricht-Kaserne in Leipzig bleibt uns indes leider auch in Zukunft erhalten – dafür ist ihre geografische Lage nahe dem Militärflughafen (Nato-Drehkreuz) Halle-Leipzig nur zu günstig. Allerdings soll dort die 13. Panzergrenadierdivision aufgelöst werden – das Hauptquartier quasi, das über eine ca. 11.000 Menschen umfassende Truppe sog. Stabilisierungskräfte verfügt hat, die bspw. in Afghanistan eingesetzt werden. Aber da auch hier Ab- und Aufrüstung zwei Seiten der Medaille sind, wird aus der Dienststelle eben auch gleich eine neue gebildet: das Ausbildungskommando für das Heer.

Ja, in der Bundeswehrwelt bewegt sich was – verbessern tut sich jedoch nichts. Da lohnt es sich doch mehr mit dem Ostermarsch am 7. April gegen Kriegseinsätze auf und ab zu radeln – und zwar vom Leipziger Bahnhof ab 12 Uhr über die Olbricht-Kaserne zum Nato-Flughafen.

momo

Wissenschaft, die Wissen schafft: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wissenschaftliche Forschung wird gerne – und oftmals auch zurecht – für ihre „Elfenbeinturm“-Perspektive kritisiert. Praxisnähe und Alltagspraktikabi­lität der gewonnenen Erkenntnisse werden nicht selten vermisst, auch fehlender Realitätsbezug wird der Wissenschaft gern vorgeworfen. Glücklicherweise aber halten solcherlei pauschal gefällte Urteile keiner näheren Analyse stand, da Verallgemeinerungen bekannterweise immer fehlerhaft sind. Das im Folgenden vorgestellte sozialwissen­schaft­liche Forschungsprogramm zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) widerlegt die gängige Kritik und bricht bewusst aus dem ihm zugeschriebenen „Elfenbeinturm“ aus. Obgleich die mitt­ler­weile zehn Jahre lang gesammelten Ergebnisse zu GMF noch sehr langsam über den „Rapunzelzopf“ der Forscher­_in­nen in die praktische Welt hinaus gelangen, tragen sie dennoch genügend Zündstoff in sich, um einiges an progressiven Veränderungen anstoßen zu können.

Rund die Hälfte der deutschen und auch europäischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe (1+2).

Dies ist eines von zahlreichen Ergebnissen der wohl größten und längsten deutschen Panelstudie, in die 2009 auch ausgewählte europäische Länder einbezogen wurden. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer prägte den (sperrig klingenden) Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und schuf 2002 zusammen mit Prof. Dr. Andreas Zick ein gleichnamiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Der Begriff selbst bezeichnet die Abwertung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen“ (1). GMF wird dabei als Syndrom verstanden, da sich die Vorurteilsstrukturen ähneln und ablehnende Tendenzen meist gegenüber mehreren Gruppen bestehen. Als gemeinsamer Kern des Syndroms wurde die sog. „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ identifiziert, also eine Grundeinstellung, in der die Menschen prinzipiell nicht als gleichwertig angesehen werden. In jährlich stattfindenden telefonischen Befragungen eines repräsentativen Teils der deutschen Bevölkerung (2011 wurden 2000 Menschen befragt) wurden und werden die verschiedenen Einstellungen ermittelt, um Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen analysieren zu können. Die Ergebnisse sind erschreckend und belegen v.a. das, was innerhalb der sog. Linken ohnehin lange vermutet und fortwährend angemahnt wird: Dass menschenfeindliche Einstellungsmuster in der sog. Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind.

Über 50% der europäischen und deutschen Bevölkerung meinten 2009, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei. Rund ein Viertel der 2009 befragten europäischen und 13% der deutschen Bevölkerung (2011) waren zudem der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in ihrem jeweiligen Land hätten.(1+2)

Die verschiedenen untersuchten Einstellungen des GMF-Syndroms wurden 2011 in insgesamt 12 Kategorien unterteilt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Eta­blier­ten­vorrechte, Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, und speziell auch die Ablehnung von Asylbewerber_innen und Sinti & Roma (3). Bemerkenswert daran ist zudem, dass unter dem GMF-Konzept auch gesellschaftliche Einstellungsmuster gefasst werden, bei denen Abwertungen nicht nur „kulturell“, sondern auch mit „natürlicher“ oder „sozialer“ Überlegenheit begründet werden, wie bspw. bei den feindlichen Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen oder den Etabliertenvorrechten. Letzteres hebt auf eine soziale Hierar­chi­sierung bzw. Vorrangstellung von „Alteingesessenen“ ab. Das Konzept ist generell offen für weitere hinzukommende Kategorien, sofern sie sich auch auf eine dahinter stehende „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ beziehen. Die Ergebnisse der GMF-Untersuchungen wurden jährlich bei Suhrkamp unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht und reflektiert.

Über die Hälfte der befragten deutschen Bevölkerung 2011 war der Meinung, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht daran interessiert seien, einen Job zu finden. Über 60% finden es darüber hinaus „empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“ (1).

Wie bereits angedeutet, geht es den Wissenschaftler_innen indes nicht nur darum, Ausmaße und Entwicklungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesamtgesellschaft (in fundierter und nachprüfbarer Weise) öffentlich zu machen und damit zu sensibilisieren. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt in der Analyse der Ursachen von GMF. Unter der Fragestellung, inwiefern die Veränderungen von GMF mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen, wurden so bspw. soziale Desintegration und gefühlte Benachteiligung (sog. Relative Deprivation) als Faktoren und Erklärungsansatz ausgemacht. Mit anderen Worten steht der eigene gesellschaftliche Ausschluss in engem Zusammenhang mit der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen. Denn – so die naheliegende These – wenn es einem an Anerkennung mangelt, besteht die Tendenz, sich selbst durch die Abwertung anderer wieder aufzuwerten. Dabei wird zwischen drei Aspekten von Desintegration unterschieden, die gemeinsam Einfluss auf die Abwertung bestimmter anderer gesellschaftlicher Gruppen haben: Zum einen die sozio-ökonomische Einbindung, bei der es um den eigenen Status, also die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Konsummöglichkeiten geht, die nicht nur als begrenzt, sondern v.a. auch zukünftig gefährdet wahrgenommen werden.

Zum zweiten ist die politische Einbindung oder negativ der politische Ausschluss – sprich gefühlte Macht- und Einflusslo­sig­keit bei (gesellschafts-)politischen und institutionellen Belangen – ein Faktor sozialer Desintegration. Empirisch betrachtet haben Menschen mit wenig Interesse an politischer Partizipation oftmals auch eher GMF-Einstellungstendenzen (4). Anders ausgedrückt, spiegelt sich die Frustration und Resignation über die eigene Einfluss­lo­sigkeit auf die Politik wohl auch in der der Abwertung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wider.

Als dritter Aspekt sozialer Desintegration wird die „personale Dimension“ oder „sozial-emotionale Einbindung“ benannt, bei der es um eigene soziale Netzwerke geht bzw. um eben jene fehlende unterstützende Gemeinschaft, die nicht nur zur Selbstverwirklichung motivieren kann, sondern zudem Orientierung bietet und Sinn stiftet.

Darüber hinaus wurde empirisch auch nachgewiesen, dass fehlender Austausch mit als vermeintlich fremd wahrgenommenen Menschen Ungleichwertigkeitsvorstellungen begünstigt. Des weiteren befördern auch autoritäre Strukturen sowie Flexibilitätszwang und fehlende soziale Normen und Regeln GMF-Einstellungen. Insbesondere bei jenen Menschen, bei denen auch soziale Hierarchien Teil der eigenen Ideologie sind, ist die allgemeine Befürwortung von menschenfeindlichen Aussagen besonders ausgeprägt.

Mehr als 60% der Befragten in acht europäischen Ländern sind der Meinung, „dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ sollten. Fast ein Drittel dieser meinen zudem, dass es eine „natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen“ gäbe. (2)

Im europäischen Vergleich von 2009 wurde übrigens festgestellt, dass in den Niederlanden die geringsten GMF-Tendenzen zu beobachten sind, während in Polen und Ungarn die Vorurteilsstrukturen am ausgeprägtesten sind. Insgesamt wurden repräsentativ Menschen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Portugal sowie den benannten Ländern befragt. Deutschland liegt im internationalen Vergleich insgesamt – trotz mitunter großer Unterschiede was die (In-)Toleranz einzelner Gruppen betrifft – eher im Mittelfeld.

54% der Deutschen stimmten 2011 der Aussage „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit Weniger zufrieden geben“ zu (1).

Diese Aussage, die in der deutschen Studie unter „Etabliertenvorrecht“ kategorisiert und analysiert wird und wie eine altbekannte Stammtischparole klingt, wird wahrscheinlich auch gegen das GMF-Konzept als solches eingewandt – nämlich dann, wenn es um Schlussfolgerungen aus der „neuen“ GMF-Forschung gehen soll. Oder warum findet die Veröffentlichung derartiger alarmierender Ergebnisse über Feindseligkeiten in der Gesamtgesellschaft so wenig Beachtung in der Politik?

Mit dem Forschungsprogramm wurden drei große Ziele verfolgt (5). Zum einen sollte für die in der Mitte der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen sensibilisiert werden. Die umfangreichen – hier nur exemplarisch herausgegriffenen – Ergebnisse sollen erinnern und zum präventiven und ggf. intervenierenden Handeln anregen, um derlei Haltung nicht zum Normalzustand werden zu lassen. Doch statt angesichts der Ergebnisse tatsächlich massiv in integrative Programme und andere Präventionsmaßnah­men zu investieren, bei denen v.a. junge Menschen ein gleichwertiges Miteinander erleben und schätzen lernen, wird lieber dem Verfassungsschutz und der Polizei vertraut, die sich erst dann melden, wenn die Ideologie soweit gefestigt ist, dass sie zu menschenfeindlichen Handlungen geführt hat.

Zum zweiten nahm das Forschungsprogramm v.a. gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, um deren Einfluss auf GMF zu untersuchen. Die dahingehend aufbereiteten Ergebnisse rund um soziale Desintegration bieten jede Menge Anregungen für Veränderungen im politischen System und im Bereich der sozialen Sicherung. Daraus könnten sogar Forderungen abgeleitet werden, die nicht nur den Parlamentarismus als solchen ins Schwanken bringen, sondern auch das allgemeine kapitalistische Leistungsprinzip samt sozialer Vereinsamung kritisieren und diesem einen Selbstermächtigungsprozess entgegensetzen. Allerdings lassen sich auch realpolitische Verbesserungen mit dem GMF-Konzept in der Rückhand diskutieren, die mit stärkeren sozialen Leistungen und Netzwerken beginnen, einen Bogen zu mehr direkter Demokratie schlagen und beim bedingungslosen Grundeinkommen ihren Höhepunkt feiern könnten.

Zum dritten soll mit der Forschung zu GMF auch auf die Bedeutung generalisierender Ideologien, wie die der sozialen Hierarchisierung, hingewiesen werden. Das kritische Hinterfragen von Einstellungen und der dahinter liegenden Ideologie ist nicht nur eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern könnte auch gegen staatlich gesteuerte institutionalisierte Diskriminierung gewendet werden. Denn wenn bspw. erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber_innen gesetzlich geregelte Leistungen erhalten, die insge­samt 225 € nicht überschreiten (inklusiver aller Sachleistungen) und einer Residenzpflicht unterworfen sind, dann findet eine eklatante Ungleichbehandlung und soziale Hierarchisierung gegenüber den anderen in Deutschland lebenden Menschen statt, die zumindest Anspruch auf ein (mager bemessenes) Existenzminimum haben und Bewegungsfreiheit besitzen. Auch die Abschiebung von Flüchtlingen (hauptsächlich Roma) nach Serbien während des winterbeding­ten „Ausnahmezustandes“ Mitte Februar, ist für die dort größtenteils unerwünschte Bevölkerungsgruppe mitunter lebensgefährlich und zeugt von einer dahinter stehenden Ideologie, die dieser Menschengruppe keinen großen bzw. gleichrangigen Wert beimisst (6).

Schlussendlich ist durch die GMF-Forschung auch ein theoretisch fundiertes und empirisch geprüftes Konzept entstanden, das durchaus Potential hat, die Probleme, die sonst gemeinhin unter Rückgriff auf das Extremismusmodell erklärt werden, begrifflich und inhaltlich aus einer neuen Perspektive zu erfassen. Das GMF-Konzept setzt an den dahinter stehenden Werten an, die sich von tendenziellen Un­gleich­wer­tig­keits­vorstellungen zum gefestigten ideologischen Weltbild – wie bei Neonazis – wandeln können. Damit macht es Feindlichkeiten schon in ihrer „Keimzelle“ sichtbar – nicht erst wenn der Rechtsbruch erfolgt. Das rückt nicht nur Vorurteile aus der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus, sondern eröffnet auch eine Reihe an Handlungsstrategien und Möglichkeiten der Übertragung in die Praxis. Als eine „echte Alternative“ zum Extremis­mus­mo­dell kann GMF laut Kausch/Wiedemann zwar nicht in Stellung gebracht werden, weil der Begriff keine Unterscheidung zwischen Alltagsdiskriminie­rungen und organisiertem Neonazismus zulässt und keine gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der Bewertung von Ungleichwertigkeit eine Rolle spielen (7). Zudem bleibt ein quantitativ-empirischer Ansatz immer beschränkt in seinen Möglichkeiten komplexe Zusammenhänge und Ursachen zu erklären und müsste theoretisch und interdisziplinär weiter unterfüttert werden. Eine Weiterentwicklung des GMF-Konzeptes könnte diese und weitere Defizite durchaus beheben, andererseits ist es auch müßig, darüber zu diskutieren, da seitens der Politik der Wille fehlt, sich vom Extremismusmodell zu lösen. Natürlich ist es politisch praktikabler und bequemer, die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ (FDGO) zum Maß zu nehmen und all jene als extremistisch zu brandmarken, die gegen sie verstoßen (siehe FA! #39 & 41).

Gerade diese Verengung auf die FDGO ist wohl einer der Hauptgründe, warum das GMF-Forschungsprogramm auch im Gesamten ein sozialwissenschaftliches Randthema bleiben wird. Mit dem GMF-Konzept wird der Finger in die Wunde gelegt und gesellschaftliche Einstellungsmuster der Ungleichwertigkeit werden problematisiert. Damit begibt sich die wissenschaftliche Forschung weg vom Elfenbeinturm in ein gesellschaftlich relevantes und politisch kontrovers besetztes Feld. Wen wundert es dann, wenn es auch Bestrebungen gibt, diesen „Elfenbeinturm“ weiter abzuriegeln und den „Rapunzelverdächtigen Haarwuchs“ der For­scher­_in­nen zu begrenzen?!

momo

(1) „Deutsche Zustände“. GMF-Langzeituntersuchung, Zusammenfassung: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf
(2) „Europäische Zustände“2009, Zusammenfassung: www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/studie.pdf
(3) Mit der Kategorie „Roma und Sinti“ wird auf Antiziganismus rekurriert (und an anderer Stelle auch so benannt). Obgleich die Bezeichnung „Sinti und Roma“ unzureichend ist, da wesentlich mehr Gruppen von Zigeuner_innen bestehen, die sich nicht darunter subsumieren lassen, ist diese Kategorisierung mit Blick auf den Wortlaut in der empirischen Studie erklärbar. Denn, analog zum Alltagsgebrauch, werden Roma&Sinti stellvertetend bzw. synonym zum NS-belasteten Zigeuner-Begriff verwendet.
(4) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/SozialeDesintegration.html
(5) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/GesZiele.html
(6) www.proasyl.de/de/news/detail/news/abschiebungen_nach_serbien_trotz_kaelte_notstand/
(7) Kausch und Wiedemann analysieren in ihrem Beitrag „Zwischen ‘Neonazismus’ und ‘Ideologien der Ungleichwertigkeit’.“ in: „Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells“ (Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) 2011) u.a. die Tauglichkeit von GMF als begriffliche Alternative zum Extremismusbegriff. Die fehlende Integration gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird dabei u.a. als GMF-Defizit kritisiert. Damit ist gemeint, dass bspw. die Diskriminierung von Asylbewerber_innen von der Mehrheitsgesellschaft den gleichen Stellenwert bekommt, wie bspw. die „Deutschenfeindlichkeit“ einer türkischen Minderheit hier.

Theorie & Praxis

„Antimuslimischer Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft“

Interview mit dem Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus Leipzig

Eine wissenschaftliche Studie belegte jüngst, was viele bereits vermuteten: Die deutsche Bevölkerung ist im Vergleich zu einigen anderen europäischen Nachbarn ganz schön islamophob. Dabei drückt sich die höhere Intoleranz gegenüber Religionen wie dem Islam (verglichen mit Frankreich, Dänemark, Portugal und den Niederlanden) nicht nur in negativen Vorurteilen gegenüber Muslim_as aus, sondern bspw. auch darin, dass nur knapp die Hälfte aller Befragten allen religiösen Gruppen die gleichen Rechte einräumen würden (1). Ohne derartige Studien zum Anlass zu nehmen, wohl aber in Anlehnung an zu beobachtende Tendenzen und Ereignisse, gründete sich bereits 2010 auch in Leipzig ein Netzwerk, das sich den Kampf gegen die sog. Islamophobie auf die Fahnen schrieb. Dieses bislang relativ unscheinbare „Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus Leipzig“ (NIR) kommt jetzt jedoch in Fahrt. Anlass für uns, ein Interview mit einer ihrer Aktivist_innen zu führen:

FA!: Das „Netzwerk gegen Islamo­phobie“ gehört schon seit längerem zur politischen „Landschaft“ in Leipzig. Allerdings seid Ihr (momentan) im öffentlichen Raum recht wenig wahrnehmbar. Was beschäftigt Euch generell und aktuell? Habt ihr Aktivitäten geplant?

NIR: Unser Netzwerk gibt es jetzt seit einem Jahr und wir haben uns anfänglich darauf konzentriert, in Leipzig auf uns aufmerksam zu machen. Wir haben uns mit anderen Leipziger Organisationen getroffen und einige Vorstellungsvorträge gehalten. Danach waren wir allerdings mit uns selbst beschäftigt. Wir mussten theoretische und organisatorische Grundlagen schaffen und haben uns in internen Workshops auf unsere Arbeit vorbereitet. Jetzt sind wir endlich soweit, zu beginnen! Wir haben die nötigen Interviewvorlagen entwickelt und unsere Aufruf-Flyer sind noch warm vom Druck. Gerade sind wir also in der span­nen­den Pha­se: Jetzt können wir Menschen, die anti-mus­­li­mi­schen Ras­sismus er­fahren muss­ten, in­ter­­viewen und ihre Fälle auf unserer Website dokumentieren. Ich gebe zu: Wir sind sehr stolz auf unsere Flyer und sehr aufgeregt, nach intensiver Vorbereitung unsere Interviews zu führen und damit etwas gegen die Diskriminierung von MuslimInnen in unserer Umgebung zu tun.

Außerdem haben wir gerade einen Thea­ter­workshop organisiert, der praktisch in die Methode des Forumtheaters einführt. Wir wollen als nächstes ein selbst geschriebenes Stück über Islamophobie an einem öffentlichen Ort in Leipzig aufführen und die Zuschau­erInnen in das Stück einbeziehen. Das soll dann so ablaufen: Erst wird dem Publikum ein Konfliktverlauf vorgestellt und dann kann es im zweiten Anlauf in die Szenen eingreifen und damit die Handlung verändern. Wir wollen eben auch mit Theateraktionen im öffentlichen Leipziger Raum für antimuslimischen Rassismus sensibilisieren. Wir werden also wahrnehmbarer!

FA!: Welche Ziele verfolgt ihr als Netzwerk und wie bzw. warum habt ihr euch gegründet?

NIR: Unser Ziel ist natürlich, gegen die Diskriminierung von MuslimInnen in unserer Umgebung zu kämpfen. Die Ermordung von Marwa el-Sherbini in einem Dresdener Gericht war für uns alle ein Zeichen, dass die sogenannte Integra­tionsde­batte mit ihrer stereotypen Darstellung von Mus­limInnen auch zu realer Gewalt führen kann. Rassismus gegen muslimische Menschen ist theoretisch nicht genügend aufgearbeitet worden. Andere Formen von Rassismus, wie beispielsweise gegenüber schwarzen oder jüdischen Menschen, ist in unserer Gesellschaft glücklicherweise geächtet. Dies wollen wir auch für anti-muslimi­schen Rassismus erreichen, denn leider sind rassistische Äußerungen über Muslime bisher kein Tabu, sondern geradezu im Trend.

In unserem Netzwerk arbeiten Menschen mit unterschiedlicher Motivation. Auf unsere Homepage haben wir Texte von Mitgliedern veröffentlicht, die ihre persönliche Motivation für ihre antirassistische Arbeit beschreiben.

FA!: Wie groß ist Euer Netzwerk und wie viele bzw. welche Gruppen gehören dazu? Oder besteht Ihr eher aus sog. Einzelpersonen? Wie gut seid Ihr mit anderen linken Gruppen in Leipzig vernetzt? Gibt es gemeinsame Aktivitäten?

NIR: In unserem Netzwerk sind wir etwa 20 Leute und ja, wir sind eher sogenannte Einzelpersonen. Einige sind natürlich auch links organisiert, aber bei weitem nicht alle. Die wichtigste Gruppe in Leipzig ist für uns die Chro­nikLe, mit der wir zusammenarbeiten. Die ChronikLe dokumentiert bereits sehr erfolgreich auf ihrer Homepage rassistische, diskriminierende Ereignisse in Leipzig und Umgebung. Seit kurzem sind wir ebenfalls Redakteure ihres Archivprojekts und können Vorfälle anti-muslimischer Diskriminierung auf ihrer Seite veröffentlichen. Diese Kategorie gab es zuvor auf ihrer Seite nicht. Dann sind wir noch mit dem Antidiskriminierungsbüro vernetzt. Diese Kooperation ist uns sehr wichtig, da wir Diskriminierungsopfern weder psychologisch noch juristisch helfen können.

FA!: Wo würdet Ihr Euch innerhalb der „Landschaft“ sog. linker Leipziger Gruppen und Initiativen verorten?

NIR: Wir verstehen uns nicht als linke Gruppe, die den Rassismus von Rechten aufzeigen möchte. Antimuslimischer Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft und auch bei sogenannten Linken zu finden.

FA!: Stoßt Ihr auch auf (unerwarteten) Widerstand bei anderen Menschen und lokalen Initiativen, aufgrund Eurer klaren Eingrenzung, anti-muslimischen Rassismus zu thematisieren?

NIR: Bisher haben wir viele positiven Reaktionen und von den sogenannten Anti-Deutschen hat uns auch noch keiner angegriffen. (Aber ich glaube kaum, dass uns das Conne Island zu einer Diskussion einladen würde.)

FA!: Was versteht Ihr genau unter der sog. Islamophobie, der Ihr entgegentretet, und welchen Stellenwert hat dabei der Islam als Religion für Euch? Anders gefragt: Inwiefern/wann würdet Ihr generelle Religionskritik auch als Islamophobie beurteilen?

NIR: Wir verstehen unter Isla­mo­phobie Rassismus gegenüber Mus­limInnen. Diesen Rassismus wollen wir aufzeigen und bekämpfen. Uns geht es dabei nicht darum, das Bild über den Islam „richtig zu stellen“. Wir können und wollen nicht für den Islam oder Mus­limInnen sprechen.

Natürlich ist Religionskritik legitim. Aber was geläufig als Islamkritik verstanden wird, führt häufig zu pauschalisierenden Aussagen über Mus­limInnen in Europa und Menschen von Marokko bis Indo­nesien. So beispielsweise, wenn die Analyse von islamischen Texten aus dem Mittelalter die Lebensweise und -vorstellungen von heute auf der ganzen Welt lebenden MuslimInnen erklären soll. Wenn also der Islam auf Grund­lage von religiösen Texten seiner Entste­hungs­zeit als in sich abgeschlossener Kulturkreis mit patriar­chalen, frauenfeind­lichen oder homo­phoben Vorstellungen konstruiert wird, dann hört Religionskritik auf. Das Absurde ist ja gerade, dass „dem Islam“ von sogenannten Islamkritikern vorgeworfen wird, Menschen zu diskriminieren, mit dem Resultat, dass musli­mische Menschen diskriminiert werden. Marwa el-Sherbini wurde umgebracht, weil sie ein Kopftuch trug und das Kopftuch als Zeichen islamischer Unterdrückung von Frauen gelesen wird. Durch unsere Interviews wissen wir von mus­limischen Frauen, die Kopftuch tragen, dass sie häufig auf der Straße belästigt und angegriffen wer­den und sich daher kaum vor die Tür trauen. Ich will damit sagen: Islamkritik, so wie sie betrieben wird, hat direkten Einfluss auf das Leben von MuslimInnen in Deutschland. Und nochmals: Marwa el-Sherbini wäre nicht ermordet worden, wenn diese Form von „Religionskritik“ ihr nicht die theoretische Grundlage bereitet hätte.

FA!: Wann und wo kann man Euch treffen, um mitzumachen?

NIR: Wir treffen uns jeden zweiten Donnerstag um 19 Uhr im Seminargebäude der Universität, im Raum 125. Auf unserer Homepage findet ihr den aktuellen Termin (nir-leipzig.de).

FA!: Vielen Dank für das Interview 🙂

NIR: Vielen Dank für Euer Interesse!

momo

Lokales

…und aufsteh´n bei Sonnenaufgang

Proteste, Bewegungen und Streiks in Nicaragua

Streiken…Wer streikt? Für was? Für wen? An wen gerichtet? Und wie?…. Nicaragua, ein Land so fern und doch so nah… eine Streikkultur, die uns nicht fremder und doch vertrauter zugleich erscheinen könnte. Lebensumstände, die so „ganz andere“ sind und der Mensch, der förmlich über die Auswirkungen des Kapitalismus bei jedem Schritt stolpert, auch ohne hinzugucken. Der Alltag ist geprägt vom täglichen Überlebenskampf, in den Zeitungen wird hauptsächlich über die korrupten Machenschaften der Politiker geredet und ab und zu gibt es kollektive Proteste. Während meines Aufenthaltes 2005 beeindruckten mich besonders die Streiks über die ich im Folgenden berichten möchte und in die ich vor allem durch Gespräche mit Betroffenen und Nachrichten in Zeitung und TV einen Einblick bekommen konnte. Die drei Proteste, die jeweils von Lehrer/innen, Landarbeiter/innen, Busfahrer/innen und Studis ausgingen, sind auch ein Spiegelbild unserer eigenen Realität, da es einige Parallelen zu den Protesten und Streiks hier zu Lande gibt. Auch wenn gravierende Unterschiede im Niveau der Ausbeutung bestehen, so ist das systemimmanente Profitstreben doch gleich und auch Probleme, die sich in der Organisierung und Solidarität, der Art des Kampfes, den Forderungen, den Zielen und Reaktionen ergeben, ähneln sich.

Mit langem Atem gegen Vergiftung

Ende Januar brachen über 1000 Landarbeiter/ innen (zum Großteil in der „Asotraexdan“( 1) organisiert) aus Chinandega zu einem tagelangen Fußmarsch in die Hauptstadt Managua auf, ein „marcha sin retorno“ (Marsch ohne Rückkehr), um dort so lange zu verharren, bis ihre Forderungen an die Regierung erfüllt sein würden. Die Bauern aus dem Norden – genauer gesagt die Bananenpflücker/innen – harrten zum Teil 8 Monate aus, um von der Regierung Ausgleichszahlungen für gesundheitliche Schäden zu bekommen, die jahrelang durch das hochgefährliche Pestizid Nemagón (siehe unten) ausgelöst wurden.

Dieses Warten sollte lange dauern. In Zelten aus dünner Plastikfolie campierten sie (z.T. in der Regenzeit) vor dem Regierungsgebäude, schliefen in Hängematten oder auf dem Boden auf engstem Raum und konnten ihr Überleben nur durch die Solidarität der einheimischen Bevölkerung und einiger internationaler NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) sichern. Die Forderungen, die sie an die Regierung stellten, waren: kostenlose Gesundheitsversorgung für die Geschädigten, Pensionen für Menschen, die durch das Gift keine Erwerbsarbeit mehr ausführen können, Maßnahmen zum Schutz der Natur und Unterstützung durch die Regierung bei Klagen gegen die transnationalen Unternehmen. Durch verschiedene Aktionen und Hungerstreiks versuchten sie zusätzlich Druck auszuüben, obgleich ihr Protest ohnehin nicht ignoriert werden konnte, zumal das mittelgroße Gelände, auf denen in größter Armut 1000 Menschen monatelang campierten, deutlich sichtbar war. Trotzdem dauerte es 3 Monate bis die Regierung einlenkte. Weil es allerdings schon so oft in der Geschichte Nicaraguas bei leeren Versprechungen blieb, harrten einige hundert aus, bis das dortige Parlament, die Nationalversammlung, die Forderungen auch absegnete. Dies geschah dann im August, acht Monate nach dem Beginn des Aufstandes der Betroffenen. Ein Sieg zur Linderung der Qual, wenn auch ein kleiner im Vergleich zu den Toten und Opfern.

Streiken für den Mindestlohn

Anfang des Jahres streikten auch über 80% der Lehrer/innen landesweit für bessere Gehälter, die Schule fiel für ca. 1,2 Millionen Schüler/innen ca. einen Monat lang aus. Aufgerufen dazu hatte die Lehrergewerkschaft ANDEN und durch Protestmärsche, friedliche Straßenaktionen und einer Großdemonstration mit 15 000 Beteiligten versuchten die Lehrer/innen Aufmerksamkeit zu erregen. Der Präsident hatte lange Zeit nur ein müdes Lächeln dafür übrig, wie zum Beispiel bei einer kleinen Spontandemonstration, wo er meinte: „Geht mit Gott, aber geht, Jungs“. Vom Arbeitsministerium diffamiert, wurden ihre Gehälter ab der zweiten Streikwoche einbehalten und man drohte mit Entlassungen. Das Gehalt eines/r Grundschullehrers/in beträgt ca. 1140 Cordoba (69,5 US $) monatlich, deckt nicht einmal 50% der Grundbedürfnisse einer Familie und liegt weit unter dem zentralamerikanischen Verdienstdurchschnitt für Lehrer/innen von ca. 375 US $. Die bereits erkämpften und vielfach zugesagten Gehaltserhöhungen im nicaraguanischen Bildungssystem aber wurden, mit dem Verweis auf die leeren Staatskassen, nie umgesetzt, was letztendlich zum Streik führte.

Eine Einigung wurde dank der Ausdauer der Lehrer/innen schlussendlich dann doch erzielt und man hob den Lohn auf 1820 Cordoba an, mit dem Verweis darauf, dass die versäumten Stunden nachzuholen seien. Obgleich sie ihre Forderungen nicht in vollen Umfang erfüllt sahen und Grundbedürfnisse bei Weitem nicht gedeckt sein würden, traten die ca. 30 000 Lehrer/innen ihren Dienst wieder an, da die Überlebensnotlage, ohne Lohn, bei den meisten über alle Grenzen hinweg ausgereizt war.

Mit Mollys gegen Preiserhöhung

Anders bzw. schneller reagierte die Regierung bei dem dritten großen Streik im Jahr 2005, als Teile von Managuas Straßen eine Woche lang brannten und die Polizei „höchste Alarmstufe“ ausrief. Dem anfangs unbefristeten „friedlichen“ Streik der Busfahrer/ innen (denen sich auch die Vereinigungen der Taxifahrer/innen und die Gewerkschaft FNT(2) anschloss) um die stark erhöhten Erdöl-/ bzw. Benzinpreise, folgten Verhandlungen zwischen der Regierung, dem „Nationalen Rat der Universitäten“ (CNE) und den Busunternehmer/ innen, die jedoch erfolglos blieben. Dadurch radikalisierte sich der Protest und die Studierenden bastelten Bomben und Molotowcoctails, verbrannten Busse und Polizeimotorradräder und brachten die Stadt zum Qualmen. Die extreme Gewalt, die von der Polizei brutal erwidert wurde, brachte dennoch die von den Akteuren geforderte Subvention der Buspreise durch den Staat und die Stadt Managua mit sich, ebenso wie das Versprechen, sich nach günstigeren Energiequellen, wie denen aus Venezuela, umzusehen.

Konkret ging es um von der Regierung festgesetzte Fahrpreise in der Stadt Managua, die aufgrund des verteuerten Benzins nicht mehr gehalten werden konnten, die Menschen allerdings nicht in der finanziellen Lage waren eine Erhöhung zu tragen (umgerechnet sprechen wir von 2,5 Eurocent Fahrpreisaufschlag – 0,5 Cordoba). Neben Solidarisierungsbewegungen gab es aber auch gewaltvolle Auseinandersetzungen zwischen Busfahrer/ innen und Studierenden als letztere die Busse anzündeten und aus den Bussen, als Reaktion darauf, Steine und Bomben auf die Uni flogen. Die (grundlose) sich aufwiegelnde Konfrontation zwischen den eigentlich betroffenen Gruppen schwächte allerdings in dem Moment die Bewegung und die Regierung konnte sich kurze Zeit beruhigt „zurücklehnen“. Nach einer Großdemonstration aber, an der sich unter anderem auch viele Arbeiter/innen der FETSALUD (3) beteiligten, und sowohl den Preisanstieg bei Erdöl, als auch bei den Grundwaren anklagten, wurde der Forderung nach Subventionierung der Fahrkarten durch die Regierung Folge geleistet.

Und nun?

Im Kontext der riesengroßen Armut, Korruption der Regierenden und des offenen Kapitalismus ist mir auf der einen Seite die Machtlosigkeit der Menschen bewusst geworden, zum Anderen aber auch die Energie, durch den Unmut über die bestehenden Verhältnisse, die in jedem/r Einzelnen/r steckt und zu langen Kampf befähigt. Um ohne Essen und Dach über dem Kopf einen so langen Atem haben zu können, braucht es so denke ich, sowohl die eigene, innere Überzeugung das „Richtige“ zu tun, als auch die Solidarität der Bevölkerung. Ein Feuer, das durch Organisierung und Bildung genährt werden kann und somit auch Wirkung erzielt, wenn die Menschen ihre Lage erkennen, sich zusammenschließen und für ihre gemeinsamen Interessen kämpfen.

Parallelen zu „europäischen Verhältnissen“ lassen sich zum Teil in dem Aufbau von scheinbaren Konfliktlinien zwischen der betroffenen bzw. ausgebeuteten Bevölkerungsschicht finden, die immer eine Schwächung der Bewegung zur Folge haben. Auch der Unterschied zwischen gewaltvollen Protesten, die zu schnelleren Ergebnissen führen, und friedlichen, lang anhaltenden Streiks, die nur langsam Mühlen in Bewegung setzen, ist auffällig. Die Trennlinie zwischen der Bevölkerung auf der einen Seite und dem korrupten Staat auf der anderen scheint für viele klar zu sein, obgleich immer wieder Hoffnungen in ihn projiziert werden, was sich vor allem in den Forderungen ausdrückt. Der Adressat ist immer der Staat, vielleicht, weil er ein greifbarerer Angriffspunkt ist, als transnationale Firmen bzw. das kapitalistische System. Vielleicht aber auch, weil es vielen nicht so sehr bewusst ist, dass das herrschende Wirtschaftssystem eben auch Ursache für die miserablen Lebensbedingungen ist.

Schade auch, dass es meist nur in Forderungen endet, wo eigentlich das Potential zu mehr besteht, in Nicaragua wie überall…

Zeiten verändern sich

Ich möchte gern mit einer kleinen Anekdote schließen, die ein wenig verdeutlicht, dass ein gelebter Protest Realitäten verändert. Durch das Potential vieler Menschen, die sich aus Überzeugung kollektiv verweigerten, standen die „Mächtigen“ machtlos da:

Zum zweiten Mal in der Geschichte Nicaraguas sollte im Jahr 2005 die Uhr auf Sommerzeit umgestellt werden, weil die Regierung meinte, dadurch Energie sparen zu können und dachte, dass mit den USA auf einer Zeithöhe zu sein auch von Vorteil wäre. Die Tatsache, dass in Nica die Sonne immer um 6 Uhr auf- und untergeht war dabei eher nebensächlich, ebenso, dass die angrenzenden Nachbarländer Honduras und Costa Rica ihre „alte Zeit“ behielten.

Nun denn, so sollte die Zeit umgestellt werden, leider wusste nur keiner so recht wann. War es nun Sonntag oder Montag? Vor oder zurück? Gesprächsthema war es allemal, weil jeder irgendetwas wusste, egal woher. Als es dann Dienstag zumindest in den städtischen Gebieten einigermaßen klar war wie, hieß das aber noch lange nicht, dass auch so gerechnet wurde. Nun gut, die Busse fuhren ´ne Stunde früher, die Menschen in festen Arbeitsverhältnissen gingen eine Stunde zeitiger zur Arbeit (und schalteten morgens dann eben das Licht ein), aber gerechnet wurde noch lange nicht so. Fragte ich jemanden nach der Zeit, so nannte man sie mir, meistens mit dem Nachtrag „alte Zeit“, denn gewöhnen wollte sich keiner so recht dran, und die Uhr ist bei den meisten auch nie umgestellt worden. Besonders auf dem Land konnte man tollen Kampfesreden lauschen, wenn die Menschen über die Blödsinnigkeit der Zeitumstellung schimpften. Fortan lebte Nica für einige Monate in zwei Zeiten, die meisten in der „alten Zeit“ die „Offizielleren“ in der „neuen Zeit“. Irgendwann war dann auch den Regierenden die Sinnlosigkeit und Wirkungslosigkeit der Zeitumstellung bewusst (zumal der Energieverbrauch sogar anstieg) und man kehrte auch offiziell zur „alten Zeit“ zurück. Eigentlich hätten sie´s besser wissen sollen, denn schon vor fünf Jahren scheiterte der Versuch den Nicaraguaner/innen etwas aufzuzwingen von dem niemand, außer der Regierung, überzeugt ist.

momo

(1) „Asociacion de trabajadores y ex trabajadores del banano afectado por Nemagón“ (Vereinigung der Nemagón-Geschädigten Bananenarbeiter/innen und -exarbeiter/innen)
(2) „Frente Nacional de los Trabajadores“ (Nationale Arbeiterfront), ein, der sandinistischen Partei (FSLN) nahestehender Zusammenschluss von Gewerkschaften
(3) „Federación de Trabajadores de la Salud“ (Gewerkschaft der Arbeiter/innen im Gesundheitssektor)
Quellen:
www.nicaragua-forum.de
www.labournet.de
www.npla.de
www.nicaragua-verein.de
Zahlen und Fakten auf den entsprechenden Seiten widersprechen sich zum Teil aufgrund schwer zugänglicher und widersprüchlicher Berichterstattung vor Ort.

Nicaragua – historische Facts

+ + Ab 1522 spanische Kolonialisierung an der Westküste + + 1633 Besiedlung der Atlantikküste durch die Briten + + ab 1823 Unabhängigkeitserklärungen zentralamerikanischer Staaten + + 1823-63 Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen. Die Verhandlungen über die Rechte für den (die zwei Meere verbindenden) Kanalbau führen zur Intervention der US-Amerikaner, die 1910 Präsidenten Zelaya stürzten und den Präsidenten Díaz einsetzten + + 1927-33 Befreiungskrieg zwischen der Guerilla des General Augustino Sandino gegen die USA + + Nach Abzug der US-amerikanischen Truppen, Mord an Sandino und der Guerilla durch die neu entstandene „Nationalgarde“ + + 1936 Oberbefehlshaber der Nationalgarde, General Somoza García, putscht sich zum Präsidenten, Beginn einer langjährigen Familiendiktatur. Korruption, Repression, Verelendung und Bereicherung der Familie Somoza folgen. Als Partner der USA unterstützt dieser logistisch US-Interventionen in Zentralamerika + + 1961 Gründung der FSLN „Frente Sandinista de liberación nacional“ – sandinistische Befreiungsfront, Guerillatruppe + + 1972 Erdbebenkatastrophe. Ein Großteil der internationalen Hilfsgelder landen in Somozas Taschen + + 1972-79 FSLN gewinnt immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung, es folgen: politischer Generalstreik, Volkserhebungen in den Städten, Besetzung des Nationalpalastes und Guerillakampf. Krieg + + 1979 Somoza flieht nach Miami, die Sandinisten ziehen in Managua ein. Auflösung des Staatsapparates und der Nationalgarde, ein kollektiver Staatsrat JGRN „Junta de Gobierno de Reconstrucción Nacional“ wird eingesetzt. Verstaatlichung des Besitzes des Somoza-Clans, der Banken und des Außenhandels und Alphabetisierungskampagne folgen + + Wiederbewaffnung der geflüchteten Nationalgardisten („Contras“), durch Unterstützung der USA + + 1984 trotz zunehmender Contra-Angriffe gewinnen die Sandinisten die Wahl mit absoluter Mehrheit + + 1985-89 Contrakrieg und Wirtschaftsblockade der USA. Durch hohe Opferzahlen, Inflation, Versorgungsnotstand und Elend verlieren die Menschen den Glauben in die sandinistische Revolution + + 1990 FSLN verliert die Wahlen, der Krieg wird beendet + +

Exkurs: Nemagón

Die gesundheitsschädigende Chemikalie Nemagón (DBCP) wurde seit den 60ern von den Bauern auf den Plantagen eingesetzt, obwohl ihre gefährliche Wirkung bereits 1958 festgestellt, und das Mittel in den USA 1979 verboten wurde. Um allerdings aus den Lagerbeständen noch Profit schlagen zu können, verkaufte man sie an zentralamerikanische Staaten weiter, wo sie bis Mitte der 80er Boden, Grundwasser und Unterboden verseuchte. Bis heute sind bereits mehr als 1000 Menschen gestorben, 17000 sind geschädigt, leiden an verschiedenen Tumoren, an Erblindungen, Nervenstörungen und Haar- und Fingernagelausfall. Aber auch Unfruchtbarkeit und Missbildungen bei Neugeborenen sind Folgen des Pestizids, dessen gesundheitsschädigende Wirkung weder von den transnationalen Herstellern (Dow Chemical Company, Shell Oil Company), noch von den Vertreibern (Standard United Fruit Company, Dole Limited, Del Monte, Chiquita Brand) bis heute anerkannt wird. Um öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden, streben diese transnationalen Firmen eher Vergleiche an, wenn es zu gerichtlichen Prozessen kommt.

Nachbarn

Freiwillig dem Staat verpflichtet

Über die problematische Nutzlosigkeit des neuen Bundesfreiwilligendienstes

 

Ein Hoch auf den Erfindungsreich­tum der Bundesregierung, genauer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)! Dank der Bundeswehrreform (siehe FA!#40) bekam auch Kristina Schröder im BMFSFJ nun die Möglichkeit sich zu beweisen und die langen staatlichen Finger in ein neues Experimentierfeld zu stecken. Denn da den Wohlfahrtverbänden nun die Zivildienstleistenden abhanden kommen, mussten neue Strukturen geschaffen werden, um den sozialen Sektor möglichst billig mit willigen Arbeitskräften am Leben zu erhalten. Unter dem Motto „Nichts erfüllt mehr als gebraucht zu werden“ wird deshalb jetzt für den Bundesfreiwilligendienst (BFD) geworben. Der einstige Zwangsdienst soll damit also auf freiwilliger Basis fortbestehen. Doch was auf den ersten Blick als innovative zivilgesellschaftliche Engagementförderung daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als äu­ßerst problematische Neustruktu­rierung, auf die selbst Wohlfahrtsverbände, freie Träger und Gewerkschaften schimpfen.

Doch von vorn: Seit dem 1. Juli können Menschen jeden Alters in der Bundesrepublik zum sog. Bufdi werden und einen freiwilligen „Dienst an der Gesellschaft“ leisten. Stein des Anstoßes war hier das Sparpaket 2010, das nicht nur die Bundeswehrreform, sondern mit der Wehrpflichtaussetzung nun auch die Zivildienstreform nach sich zog. Statt jedoch dies als Chance zu nutzen und ganz neue Wege im maroden Sozialdienstleitungssystem zu beschreiten, wurde der – für manche Wohlfahrtsverbände exis­tenz­bedrohliche – Wegfall des zivilen Dienstes lediglich durch die Umwandlung in einen freiwilligen Dienst kompensiert. So schob man das ehemalige Bundesamt für Zivildienst dem BMFSFJ zu, das es zum Bundesamt für Familie und zivilgesell­schaftliche Aufgaben machte, die Beamtenschaft übernahm und mit dem BFD betraute. Doch so einfach geht die Rechnung dann leider doch nicht auf.

Großer Käse

In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Eindruck, das größte Problem mit dem BFD bestünde in der fehlenden Anzahl von engagierten Menschen, die auch ohne Zwang gern Gutes tun. Denn für den BFD bewarben sich bis zum 1. Juli lediglich 3.000 Jugendliche. Rechnet man noch die 14.300 Männer hinzu, die ihren Zivildienst freiwillig verlängert haben, stehen den 35.000 freien BFD-Stellen lediglich 17.300 Bufdis gegenüber. Und das könnte zahlreichen Einrichtungen mit Zivi-Tradition, wie Krankenhäusern, Pflegeheimen usw., schnell zum Verhängnis werden. Auch wenn das tatsächlich ein aktuelles Problem ist, greift die gerne bemühte Unterstellung, dass die Jugend kaum mehr Interesse am Gemeinwohl hege, hierbei viel zu kurz. Denn sie blendet nicht nur ökonomische Zwänge und die im kapitalistischen Ellbogenkampf erforderlichen zielstrebigen Lebensentwürfe aus, sondern lässt vor allem die Art der Tätigkeiten außer Acht. Denn mit dem Wechsel vom Zivi zum BFD änderte sich bei den allermeisten Stellen nur das Etikett, nicht das Profil. Viele der noch freien Stellen sind in relativ unbeliebten Bereichen angesiedelt und reichen von Krankenhaus- über Altenpflege bis hin zu stupiden Fahrdiensten. Sie sind also entweder recht anstrengend, freudlos und undankbar, oder aber gähnend langweilig und ohne Herausforderung. Zwar soll der BFD laut Papier jetzt als „Lerndienst“ und „wohl­fahrt­licher Hilfsdienst“ verstanden werden, al­ler­dings sieht die Realität eben ganz an­ders aus. Die künftigen Bufdis sollen als billige Arbeitskraft lediglich die Lücken, die durch die fehlenden Zivis entstehen, stopfen. Die Spannbreite der Arbeit in diesen Lücken reicht da­bei von tatsächlichen Hilfstätigkeiten bis hin zu sehr anspruchsvoller Arbeit, die eigentlich einer beruflichen Qualifikation bedarf. Während erstere Jobs wenig mit einem „Lerndienst“ gemein haben, sind letztere vor allem arbeitsrechtlich fragwürdig. In beiden Varianten wird zudem oftmals gegen die BFD-Richtlinie, ‘reguläre Arbeitsplätze nicht zu verdrängen’, verstoßen. Nicht nur das wurde von Gewerkschaften am BFD kritisiert, sondern auch das damit beförderte Lohndumping und die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Bei einem monatlichen Taschengeld von maximal 330 Euro für die Bufdis, scheint die Kritik an­gesichts des Tätigkeitsprofils berechtigt – auch wenn es sich ansonsten vortrefflich darüber streiten ließe, inwiefern Ehrenamt vergütet werden sollte (… und aus kapitalismuskritischer Sicht die Schaffung von Arbeitsplätzen ohnehin ganz anders zur Debatte stünde). Die neue Arbeitssituation unterscheidet sich also insgesamt nicht von der alten zu Zivi-Zeiten. Dass es dadurch an Freiwilligen fehlt, ist mehr als verständlich. Wer will sich schon freiwillig zu etwas verknechten lassen, was ihm selbst wenig bringt? Leider wurde hier die historische Chance verpasst, lange bestehende Missstände in den Ex-Zivi-Arbeitsfeldern endlich zu beheben.

Struktursalat

Ein weiteres Kernproblem, das vorzugs­weise hinter verschlossenen Türen am Runden Tisch mitunter heftig diskutiert wurde, betrifft die „Konkurrenzgefahr“ zwischen dem BFD und dem Freiwilligem Sozialen bzw. Ökologischen Jahr (FSJ/FÖJ). Diese bereits seit den 60er Jahren bestehenden Dienste werden zwar vom Staat finanziell unterstützt, aber zu 100% von Wohlfahrtsverbänden und freien Trägern organisiert und erfreuen sich im Gegensatz zum BFD recht großer Beliebtheit. Auch hier gibt es ca. 35.000 Plätze, allerdings ca. 60.000 Bewerber_innen jährlich. Das weckt sicherlich nicht nur Neidgefühle im Familienministerium, sondern offenbart auch die Parallelstruktur dieser als innovativ gepriesenen BFD-Reform (die eine Sinnfrage unweigerlich nach sich zieht).

Umso notwendiger waren daher Verhandlungen zwischen dem BMFSFJ und den Trägern des FSJ/FÖJ, die dann auch bis in die Sommerpause hinein miteinander um eine gemeinsame Ausrichtung und Gleichstellung rangen und stritten. Hierdurch sollte zum einen verhindert werden, dass sich tatsächlich die durch Doppel­struk­turierung drohende Kon­kurrenz­situation als solche etabliert, und zum anderen sollte eine „Aufteilung“ der Freiwilligen erreicht werden, so dass auch die freien BFD-Stellen eine Besetzung finden. Letzteres wurde zwischenzeitlich zum größten Streitpunkt, da das Ministerium eine 3:2 Quote forderte, d.h. die freien Träger verpflichten wollte, für je drei FSJ-Stellen auch zwei BFD-Stellen einzurichten. Als der Bund auch noch drohte, die bestehenden FSJ/FÖJ-Stellen nicht weiter finanziell zu unterstützen, wenn diese Forderung nicht erfüllt würde, war der Aufschrei und Ruf von „Erpressung“ und „Wortbruch“ auch bei den großen Verbänden wie DRK, Caritas, AWO und dem Paritätischen Bund sehr groß. So wurde am Ende ausgehandelt, dass eine feste Kopplung oder Quote nun nicht eingeführt wird. Die Gelder für die angenommenen FSJ­ler_innen fließen und im Gegenzug werden die Wohl­fahrts­verbände und Träger aber freiwillig bis Ende Oktober 8.000-10.000 Verträge über den BFD abwickeln. Bis 2013 soll es dann ein Verhältnis von 1:1 zwischen BFD und FSJ-Stellen geben.

Ansonsten wurde der BFD in vielerlei Hinsicht mit den FSJ/FÖJ-Richtlinien abgeglichen, so dass die Unter­schie­de nun marginal sind. Grund­sätz­lich aber kann man in jeder Altersklasse den Bufdi machen (auch in Teilzeit), während das FSJ/FÖJ auf Jugendliche bis 27 Jahren beschränkt ist. Die Entlohnung bei den Älteren und das Verhältnis zu anderen Modellen wie Bürgerarbeit und allgemeinen HartzIV-Zwängen sind aber weitere, noch im Detail zu klärende Baustellen im Ministerium (siehe Kasten). Auch kann ein BFD zu jeder Zeit begonnen werden, während das FSJ/FÖJ immer zum 01.09. des Jahres beginnt. Ein großer Unterschied zwischen FSJ/FÖJ und BFD besteht aber noch in der inhaltlichen Ausrichtung der freien Stellen: Während das FSJ/FÖJ tatsächlich immer als Lerndienst begriffen wurde, bei dem die Freiwilligen weniger Arbeitsplätze füllen, sondern eher wachsen, ihre Persönlichkeit und verschiedene Kompetenzen ausbilden sollten, wurde der Zivi als Alternativdienst zum Waffengebrauch eingeführt und – wie bereits erläutert – als Hilfsdienst an der Gemeinschaft konzipiert. Das eigene Lernen und Entwickeln stand dabei im Gegensatz zum FSJ/FÖJ nicht im Vordergrund.

Staatskompott

Das neue Nebeneinander von staatlicher und freier Trägerschaft im Bereich der freiwilligen Dienste stellt ein weiteres ernstzu­nehmendes Problem dar: Denn mit der Einführung des BFD geht auch eine gewisse Verstaatlichung zivil­gesell­schaft­lichen Engagements einher. Auch wenn die FSJ/FÖJ-Stellen schluss­end­lich mit aus der Staatskasse finanziert werden, lag die inhaltliche Ausrichtung und Durch­führung dieses Diens­tes sowie die Weiterbildung der Jugendlichen bisher vollkommen in den Händen der freien Träger und Wohl­fahrts­ver­bän­de. Das ermöglichte nicht nur Tätigkeiten in regierungsfernen, zivilgesellschaftlichen Sektoren, sondern v.a. auch die kritische Distanz zu manchen staatlichen Regelungen und Handhabungen und die Möglichkeit, dies auch in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Im Gegensatz dazu gehen die im BFD organisierten Freiwilligen mit dem Staat einen Vertrag ein und verpflichten sich ihm gegenüber zum Dienst an der Gemeinschaft. Mit den bisherigen Verhandlungser­geb­nissen zwischen BMF­SFJ und den Trägern von FSJ/FÖJ wird die Trennung zwischen staatlich und zivilgesell­schaft­lich organisierten Bereichen jedoch erheblich aufgeweicht. So werden künftig drei der für FSJ/FÖJ und Bufdis obligatorischen fünf Weiter­bildungs­semi­nare von den Zivil­dienst­schulungs­heimen inhaltlich und organisatorisch ausgerichtet. Ob die dortige Beamtenschaft, die vorher unter der Obhut des Verteidigungsminis­teriums stand, ihre Seminarinhalte grundlegend verändern wird, ist jedoch fraglich. Auch mit der Verpflichtung der Träger, BFD-Stellen im ähnlichen Umfang zu organisieren, verschwimmt diese Trennung. Schluss­­endlich ist die Gefahr auch groß, dass der in Verantwortung der freien Trägerschaft liegende Freiwilligendienst langfristig durch den staatlich organisierten BFD verdrängt wird und sich die staatliche Einmischung auch auf diesen bisher relativ freien Bereich der Jugendbildung erstrecken wird.

Bittere Pille

Bei all diesen mit dem BFD einhergehenden Problemen stellt sich die Frage nach der Sinn- und Zweckhaftigkeit dieser neuen staatlichen Struktur ganz besonders. Statt mit dem Ende des Zivildienstes über wirkliche Reformen und Alternativmodelle im sozialen Bereich nachzudenken und bspw. die freiwerdenden Gelder zu nutzen, um sowohl mehr FSJ/FÖJ-Stellen schaffen zu können, als auch den Wohlfahrtsverbänden die Neueinstellung von Mitarbeiter_innen mit angemessener Bezahlung zu ermöglichen, wurde hier eine sinnentleerte aber problematische Doppelstruktur geschaffen, die zum Ersten alte Zivi-Missstände mit neuem Logo fortschreibt, zum Zweiten den bereits bestehenden und sinnvoller konzipierten Freiwilligendiensten Konkurrenz macht und zum Dritten auch einen ernstzunehmenden staatlichen Eingriff in einem vorher unabhängig geregelten Bereich bedeutet. All das wiegt jedoch im Bundesministerium nicht so viel wie eine mög­lichst unkomplizierte Umstrukturie­rung, die eine weitere Beschäftigung der Beamten im Bundesamt für Zivildienst und den Erhalt der dazugehörigen Einrichtungen ermöglicht. So wurde ein neues bürokratisches Monstrum geschaffen, für den sich die freien Träger auch noch zur Schützenhilfe freiwillig zwangsverpflichten lassen. Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich damit langfristig nicht selbst ins Bein schießen und dem staatlichen BFD nicht gänzlich das Feld überlassen bleibt.

momo

Exkurs: Vom Hartzer zum Bufdi?

Auch als Hartz IV-Empfänger_in kann ein BFD in jedem Alter absolviert werden. Analog zu den Jugendfreiwilligendiensten können bisher aber nur schlappe 60€ pro Monat anrechnungsfrei hinzuverdient werden. Vielfacher Protest und die Einsicht, dass man einen Anreiz braucht, um die freien BFD-Stellen schnellstmöglich aufzufüllen, führte dazu, dass der anrechnungsfreie Satz voraussichtlich auf 175 € aufgestockt wird. Eine Gesetzesinitiative soll es dazu im Spätsommer geben. Ob dann auch alle jugendlichen BFD/FSJ/FÖJler_innen anfangen, sich ihren Unterhalt vom Jobcenter zahlen zu lassen, wird sich noch zeigen. Ungeklärt ist auch, wie sich das frisch eingeführte Modell der „Bürgerarbeit“ inhaltlich vom BFD unterscheiden soll. Denn die Bürgerarbeit umfasst ebenso gemeinnützige Tätigkeiten – die natürlich keine regulären Arbeitsplätze verdrängen – und soll ca. 34.000 neue Stellen schaffen. Bei einer 30 h/Woche (wahlweise auch 20 möglich), würde der/die Beschäftigte nach Abführung von Sozialbeiträgen (außer der Arbeitslosenversicherung) mit ca. 730 € netto monatlich nach Hause kommen. Abgesehen davon, dass Hartzer­_­innen zur Bürgerarbeit verpflichtet werden können, während beim BFD die Freiwilligkeit ja schon auf dem Etikett steht, gibt es so wenig Unterscheidungsmerkmale, dass auch hier der Verdacht einer sinnlosen Doppelstruktur mit Konkurrenzcharakter recht nahe liegt. Doch etwas nützliches hätte auch der BFD: Gesetzlich betrachtet gibt es keine Verpflichtung, während der Bufdi-Zeit reguläre Arbeit aufnehmen zu müssen und die Freiwilligen sind auch von der Vermittlung befreit. Denn analog zur FSJ/FÖJ-Regelung wird der Freiwilligendienst als „wichtiger persönlicher Grund“ gewertet, der der Arbeitsaufnahme entgegensteht. Andersherum kann man jedoch als Bufdi jederzeit selbst fristlos kündigen, um einen anderen Job anzunehmen.

Die NATO, dein Freund und Helfer

Unser modernes Märchen: Die NATO unterstützt im Namen der Menschenrechte die in Libyen unterdrückte Bevölkerung mit einem Militäreinsatz, der nach knapp sechs Monaten dermaßen erfolgreich ist, dass Gaddafi gestürzt und Libyen befreit ist. Der gute Westen siegt über den bösen arabischen Despoten in einem unterentwickelten Land und bringt wirtschaftlichen Aufschwung mit. Auf die NATO werden Lobeshymnen gesungen – sie ist in der Bevölkerung nun so beliebt wie nie zuvor. Die versammelte Medienwelt schimpft derweil im Chor auf die deutsche Enthaltsamkeit während des Einsatzes und ruft schon laut nach der nächsten NATO-Intervention, um Syrien zu retten.

Während diese Mär Gefahr läuft, tatsächlich so in der Geschichtsschreibung festgehalten zu werden, lohnt ein Blick auf die wahrhaft märchenhaften Details: Kann man tatsächlich von einem Erfolg sprechen, bei 50.000 Toten seit der NATO-Intervention? Welche Form von Freiheit wurde hier für wen gewonnen? Wer übernimmt jetzt eigentlich – von der internationalen Gemeinschaft gestützt – die Macht im Land? Und warum sollten die Menschenrechte in Nordafrika auf einmal so wichtig sein, dass der Westen dafür Soldatenleben und Milliarden an Geldern investiert?

Da jedoch bekanntlich die Gewinner_innen die Geschichte schreiben, ist all das gerade nicht wichtig. Auch nicht, dass Menschenrechte lediglich als moralisches Etikett bespielt werden, um hintenrum eigene ökonomische und sicherheitspolitische Interessen zu befriedigen. Hinter verschlossener Tür geben sich derzeit verschiedene Staaten und Unternehmen die Klinke in die Hand, um Marktzugänge, Ölressourcen und die Kontrolle über Migrationsströme zu sichern. Darüber hinaus eröffnet das neue, von der breiten Bevölkerung getragene, glänzende Image der NATO als Ordnungspolizei Tür und Tor, um weitere UN-Resolutionen zu dehnen oder zu umgehen und im Namen der Menschlichkeit Kriege zu führen.

Vor allem aber vergessen die begeisterten Erzähler_innen unseres modernen Märchens vom Frieden durch Militär immer gerne, dass all diese Kriege gar nicht so geführt werden könnten, gäbe es nicht die Milliarden schwere westliche Waffenproduktion und ihren Export. Das zu unterbinden wäre ein wirklicher Schritt zur globalen Gewaltreduzierung. Leider nicht profitabel. Daher wohl zum altbackenen Märchen verdammt.

momo