Archiv der Kategorie: Feierabend! #20

Kameradschaften ins Wasser fallen lassen

Nachbetrachtung zum Naziaufmarsch am 1. Oktober in Leipzig

Es war ein ganz schön verregneter Samstag und man hätte sich wahrlich angenehmere Tä­tigkeiten vorstellen können, als bei ge­fühlten fünf Grad und strömendem Re­gen einen Naziaufmarsch zu verhindern. Das Wetter griff ein wenig in die Ge­stal­tung der Gegenaktionen ein; so kam es we­gen der nassen Strassen nicht zur an­ge­kündigten Sitzblockade. Blockiert wurde dennoch, weswegen Christian Worch und seine ca. 150 KameradInnen kurz nach 17 Uhr unverrichteterdinge den Heimweg an­treten mussten, ohne einen Meter der eigentlichen Marschroute nach Connewitz ge­laufen zu sein – sehr ärgerlich, wo doch be­reits in der Nacht zum 1.10. die Ka­meradschaftsseiten freier-wider­stand.net und fw-sued.net von Antifas gehackt und zahlreiche em­pfind­liche Daten auf indy­media veröffentlicht worden waren. (1)

Der Tag hatte mit einer etwa 300-leute-starken linksradikalen Demonstration durch die Südvorstadt begonnen, zu der BgR (Bündnis gegen Realität), LeA (Leipziger Antifa) und das Jugendcafé to­morrow unter dem Motto „Wer Deutsch­­­land liebt, den können wir nur hassen“ (2) auf­gerufen hatten. Nicht ganz un­um­stritten war bei einigen Teil­nehmer­Innen die von den OrganisatorInnen an­ge­dachte an­tideutsche Ausrichtung, die nicht nur im Motto deutlich wurde, sondern auch schriftlichen Spruch­vor­schlägen wie „Deutschland von der Karte streichen – Po­len muß bis Frankreich reichen“, die sich neben intellektuelle Kleinode wie „Hurra, hurra – die Antifa ist da“ reihten. Eine Minderheit der Demonstrierenden wäre aber vermutlich zu einem Diskurs über die Intentionen von LeA und BgR gar nicht mehr in der Lage gewesen, denn be­reits zu diesem Zeitpunkt war bei manchen reichlich Alkohol im Spiel.

Nach dem Ende der Demo zogen die meis­ten relativ geschlossen in Richtung List­platz, dem geplanten Startpunkt der Nazis, an dem sich bereits etwa 200 Menschen ein­gefunden hatten, um die Naziroute zu blockieren. Die Blockade am Listplatz schwoll in den folgenden Stun­den auf etwa 800 bis 1.000 Menschen an, die damit unter an­derem dem Aufruf des „Sitzen­blei­ben“-Bündnisses (3) folgten, das im Vor­feld offensiv zu einer Sitz­blockade am Nazi­startpunkt aufgerufen hatte. Das Bündnis begründete sein Vorhaben damit, dass es einerseits nicht ausreiche, sich an sym­­bolischen Aktionen zu beteiligen, dass aber andererseits dezentrale Aktionen nicht für alle in Frage kämen, die effektiv et­was gegen Nazi­aufmärsche tun und deren Verhinderung auch gegen die Staatsmacht durchsetzen wollten. Am 1. Ok­tober scheint dieses Konzept jedenfalls dank günstiger Um­stände umgesetzt worden zu sein. Auto­nome, Studierende, Schüler­Innen, Punks, aber auch einige äl­tere Leute und Familien ließen sich auf eine gemeinsame friedliche Aktion ein, hör­ten per Lauti ein wenig Radio Blau, (ein freies und selbst­or­ganisiertes Ra­dioprojekt) und lauschten den diesmal besser funktionierenden Info-Durchsagen; ei­nige beschäftigten sich leider wiederum sehr exzessiv damit, Bier zu trinken. Und nach vier Stunden wurden die wenigen ein­getroffenen Nazis schließ­lich wieder nach Hause geschickt. Eine Eskalation blieb diesmal auch deshalb aus, weil die Po­lizei es unterließ, am Listplatz einen Räumungsversuch zu unternehmen, und so wurde es denn am Ende ein geruhsamer Nach­mittag, für den die Polizei von vielen Sei­ten gelobt wurde, allerdings nicht von allen. Schließlich hatte es bereits im Vor­feld eine wahre Pro­pa­gan­da­schlacht gegeben:

Polizei-PR

Sachsens Innenminister Thomas de Maizière und Leipzigs Polizeichef Rolf Müller, denen die Kritik nach dem bru­ta­len Polizeieinsatz am 1. Mai offenbar noch nicht gereicht hatte, kündigten für den Fall ei­ner gerichtlichen Genehmigung der Nazi­demo ein „konsequentes“ Vor­gehen gegen alle Störungsversuche durch Anti­fa­schistInnen an. Das „Sitzen­blei­ben“-Bün­dnis konterte mit einem offenen Brief an die Polizei, in dem diese davor gewarnt wurde, „die Sitzblockade zu gewaltbe­glei­te­ten polizeilichen Exzessen oder als Plattform für erlebnisorientierte Über­griffe gegen Demonstranten zu nutzen“ (4). Daß sich der offene Brief stark an einer Vor­lage aus der Feder der Staatsmacht orientierte, die vor einiger Zeit an po­tentielle TeilnehmerInnen der „Bunten Re­publik Neustadt“ (ein Stadt­teil­fest in der Dresdner Neustadt) versandt wurde, schien zumindest der LVZ nicht auf­zu­fallen. Herr Müller konnte einen Wieder­er­kennungseffekt hingegen kaum öffent­lich zugeben und erstattete lieber Straf­an­zeige gegen das Bündnis, da er sich in seiner Entscheidungsfindung genötigt gesehen habe. (5)

Zu­gleich warnte er vor der Anreise von mehr als 1.000 gemeingefährlichen Stei­ne­werferInnen aus ganz Deutschland, eine Zahl, die wenig später vom Landes­amt für Ver­fassungsschutz auf 400 nach unten kor­rigiert wurde und nach dem 1. Ok­tober in der Berichterstattung von LVZ und anderen gegen null tendierte. Es konnte ja schließlich nicht sein, daß sich militante Anti­faschistInnen an der fried­lichen Ver­hin­derung eines Nazi­auf­marsches be­tei­lig­ten, während sich die groß angekündigte Sym­bolveranstaltung „Mit weißer Rose ge­gen braune Gewalt“ von Parteien, Kir­chen, „Courage e.V.“ und Stadt am Bayrischen Platz nicht nur wegen der mangelnden Beteiligung (ca. 350 Leute) als bedeutungslos erwies. Von den dort angebotenen 1000 weißen Rosen wurden wohl nur etwa 200 verkauft (!), was einige der VeranstalterInnen nicht daran hin­der­te, sich die Verhinderung des Naziauf­marsches auf ihre Fahnen zu schreiben. (6)

Bereits in den Tagen vor dem 1.10. wurden die AnwohnerInnen der Demons­tra­tions­strecke mit kleinen Zettelchen von der Po­li­zei darauf hingewiesen, dass auf der Strecke am 1.10. komplettes Halteverbot herrsche und etwaigen Aufrufen, dass es an dem Tag zu einer Sperrmüllsammlung komme und man sein Gerümpel einfach auf dem Gehweg abladen solle, keineswegs Glau­ben zu schenken sei! Vermutlich han­del­te es sich um eine besonders clevere, wenn­gleich etwas späte Reaktion auf einen ver­gleichbaren Aufruf zum 1. Mai.

Be­sonders stolz waren Stadt, Ordnungs­amt und Polizei auf ihre neue Wunder­waffe, die „Kommunikationsteams“, für die insgesamt 24 Leute von Ordnungsamt und Polizei abgestellt wurden. Deren kon­kre­ter Beitrag zur „Deeskalation“ er­schöpfte sich im Wesentlichen darin, schicke Handzettel zu verteilen, in denen hauptsächlich zur „räumlichen“ Dis­tan­zierung von Gewalttätern aufgefordert wurde.

Auch der Rest der 2000 eingesetzten BeamtInnen war nicht ganz untätig, son­dern stellte über den gesamten Tag 2754 Iden­titäten fest, durchsuchte dabei 705 Personen und 1012 mitgeführte Ge­päck­stücke, erteilte mindestens 452 Per­sonen ei­nen Platzverweis für eine Zone, die sich ca. 100 Meter zu beiden Seiten der Nazi­route erstreckte, und entzog 78 Leu­ten vor­übergehend die Freiheit. An­ge­sichts der 22 unterstellten Straftaten am 1.10., von denen 14 auf vorhersehbare Verstöße ge­gen das Versammlungs- und das Be­täu­bungs­mittelgesetz sowie auf Be­lei­di­gungen ent­fielen, schien das wohl an­gemessen, irgend­wie muss die Zeit ja rumgehen, wenn man (aus Angst vor dem nächsten Skan­dal?) nichts gegen die anti­fa­schis­ti­schen BlockiererInnen unter­nehmen darf. (7)

frau lutz

(1) www.de.indymedia.org/2005/10/129338.shtml
(2) www.nadir.org/nadir/initiativ/bgr/pages/011005.htm
(3) www.linxxnet.de/sitzenbleiben/
(4) www.linxxnet.de/sitzenbleiben/offener_brief.html
(5) LVZ-Online 09.10.2005
(6) z.B.: www2.igmetall.de/homepages/leipzig/courage.html
(7) www.polizei.sachsen.de/pd_leipzig/2795.htm

Brauner Herbst – Aufmarschchronik

Da der Tellerrand antifaschistischer Praxis mitunter an den Toren der Stadt liegt, sei hier auszugsweise dokumentiert, was in der Provinz, aber auch international sonst so passiert ist. Auch wenn all dies „nur“ symbolische Straßenbekundungen sind – der Feind schläft nicht vor der Tür.

3. September – Berlin: Um die 100 „freie“ Kameraden marschieren am Antikriegstag auf Ausfallstrassen nach Marzahn, allen voran Christian Worch (s.o.).

17. September – Athen: Nach dem Verbot eines Faschofestivals in Südgriechenland wollen 80 Faschisten (darunter auch NPD-Kräfte) in der Hauptstadt protestieren, werden aber von Antifa und Polizei daran gehindert.

1. Oktober – Halberstadt: Insgesamt vier mal greifen betrunkene Nazis eine Antifa-Demo gegen den rechten Laden der Stadt an, blockieren die Route und versuchen am Abend, das Wohnprojekt Zora zu stürmen, was nicht gelingt; die Polizei dreht Däumchen.

70 Nazis marschieren am selben Tag in Alzey bei Mainz, nicht ohne aktiven Widerstand. Motto der „Bürgerinitiative Rheinhessen“: „Stoppt die Ausplünderung des deutschen Volkes – Wir sind nicht das Sozialamt der Welt!“

2. Oktober – Görlitz: Auf der Altstadtbrücke nach Zgorzekc wird von 200 Antifa­schistInnen wenigstens die Abschlusskund­gebung einer 60-köpfigen Nazidemo namens „Deutsch­land ist größer als die BRD“ verhindert.

8. Oktober – Friedrichs­hafen: „Gegen Polizeiwillkür und Repression“ demonstrieren 180 Nazis u. a. mit Attac-Fahnen zu Ton-Steine-Scherben. Gegen den Willen von zeitweise bis zu 1700 Protes­tierenden wird der Marsch von der Polizei brutal durchgesetzt.

Zeitgleich dürfen in Eisenach 300 Faschos aufmarschieren, die 250 Antifas hatten keinen Erfolg, 400 BürgerInnen protest­ierten symbo­lisch.

14. Oktober – Wernigerode: Nach gewalt­samen Übergriffen auf alternative Jugendliche und einer Schlägerei mit Skin­heads mobili­sieren Nazis aus dem Harzraum inner­halb einer Woche 200 Kameraden auf eine Demo „Gegen roten Terror und gesell­schaftliche Denkverbote“.

15. Oktober – Schönebeck: Ein Mob mit vielen Gesichtern des Vortages in Wernige­rode marschiert am Folgetag „Für härtere Strafen gegen Kinderschänder“, am Abend können sie sogar spontan und ungehindert durch die Magdeburger Innenstadt demonstrie­ren.

Schon vor Beginn wird hingegen am selben Tag eine faschistische Veran­staltung in Toledo, (Ohio, USA) aufgelöst: um die 50 Mit­glieder des „National Socialist Move­ment“ wol­l­en gegen angeblichen Terror schwar­zer Jugend­licher bzw. jüdischen Einfluß auf Politik und Polizei protest­ieren, werden aber durch den massiven Widerstand Jugend­licher und bürgerlicher Gruppen daran gehindert.

22. Oktober – Pankow: 500 empörte Antifa­schistInnen können nicht verhindern, dass 150 Nazis vorbei an einem ehemaligen jüdischen Waisenhaus vorbei eine Demons­tra­tion abhalten.

In Den Haag (Nieder­lande) protestieren 60 Faschisten gegen die Einschrän­kung der Meinungsfreiheit, Deut­sche sind mit Laut­sprecherwagen vertreten, Blood-and-Ho­nour-Fahnen sind gehisst.

29. Oktober – Göttingen: 200 Nazis müssen nach ein wenigen Metern ihre Demonst­ration auflösen, weil unzähl­ige Barrikaden die Route blockieren, wobei insgesamt ca. 5000 Gegner­Innen in der Stadt sind.

„Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen!“

Antirassismus im StuRa

Ein StudentInnenrat ist nur für universitäre Politik zuständig. Und dort gibt es ja wohl keine rassistischen Vorurteile. Oder doch? Auch wenn es in Leipzig im Gegensatz zu manch anderer Universität leider kein direktes Referat für Antirassismusarbeit gibt, konnte auch in diesem Semester wenigstens eine Anlaufstelle für dieses Thema besetzt werden: mit Rico Rokitte, 26, seines Zeichens Student der Erziehungs- und Politikwissenschaften sowie der Philosophie. Feierabend! hat nachgefragt, wie der so tickt und was er vor hat…

FA!: Wie bist du zum Thema Anti­rassismus gekommen?

R.: Ich glaube, wenn du anfängst, dich mit der Perversion unserer „zivilisierten“ Ge­sellschaft zu beschäftigen, kommt Rassis­mus als ein krankhafter Auswuchs (von Tausenden) sofort heraus. Für mich ist es nur ein Teilgebiet, mit dem ich mich be­schäftige, wenn auch jetzt mehr. Aber da es im StuRa keinen Bereich „Ver­än­derung der Gesellschaft“ gibt, ist Anti­rassis­mus mein momentanes Hauptthema.

FA!: Wofür steht die Stelle im StuRa und was willst DU draus machen?

R.: Die AntiRa-Stelle im StuRa ist erst rela­tiv neu (ein halbes Jahr) und deutsch­land­weit in StuRas/Astas auch nicht oft ver­treten. Bisher hatte eine sehr kompe­tente Studentin (Sylvia) diese Stelle inne, die sie auch mitgegründet hatte. Ich glaube, für sie war Anti-Rassismusarbeit erst mal eine Aufarbeitung anti­faschis­tischer und antirassistischer Strukturen an der Uni. Und durch den Versuch einer öffentlichen Diskussion ein Problem­be­wusstsein zu schaffen.

Die Mitarbeit im StuRa ist für mich des­wegen wichtig, weil ich denke, dass man die Diskussion in den Organisationen und Be­trieben führen und nicht nur von außen kri­tisieren sollte. Und gerade in der Stu­dierendenschaft mit ihrem ach so toleran­ten Mäntelchen gibt es viel zu tun.

FA!: Was für ein „Mäntel­chen“?

R.: Ich denke und lese, dass Studenten als to­lerant, offen etc. gesehen werden. Dies ist aber praktisch nicht so, auch wenn sich na­tionale, rassistische und autoritäre Um­triebe anders äußern als außerhalb der Uni – keine Skins, keine offene Gewalt etc.. Im Gesamten jedoch sieht es auch nicht an­ders aus – die durch die Soziali­sation ge­setzten Verknüpfungen werden meist un­reflektiert weitergeführt. Auch wenn es sich nicht überall in einer Mitgliedschaft in Burschenschaften und Corps oder an­deren perversen Unter­drückungs­ver­bin­dungen äußert. Ich denke, dass die meisten Studenten sich unter einem AntiRa-Sprecher jemanden vorstellen, der gegen jegliche rassistischen Auswüchse vorgeht und informiert. Ich werde sicherlich Informationen über und die Bekämpfung von auftretendem Rassis­mus weiterhin vorantreiben, halte das aber allein für zu kurzatmig. Es ist wichtig, gegen Nazis, Nationale und Gewalttäter zu kämpfen, aber ich denke, es muss darüber hin­aus­gehen. Besonders hier an der Universität (in einem Bildungsbetrieb) sind viel mehr Ein­flussmöglichkeiten vorhanden.

Anti-Rassismusarbeit ist bei mir stark mit Prä­vention und einer lebens­welt­orien­tier­ten Sichtweise verbunden. Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen, die aus Uninformiertheit, nie erlebter Demokra­tie, Unmündigkeit und autoritärer Struk­tu­ren in der Gesellschaft besteht.

Ne­ben der Erstellung von Readern zu Burschenschaften, Rassismus an der Uni etc. möchte ich dieses Semester damit be­ginnen, einen Diskurs über Gesellschaft und Rassismus zu eröffnen. Praktisch kann das zu Beginn nächsten Jahres durch einen an­visierten Kongress, bzw. einem Work­shop­­wochenende zu diesem Thema ge­schehen. In Zusammenarbeit mit den Fach­schaften und weiteren studentischen Gruppen soll da praktisch unser ei­gener Ein­fluss, z.B. durch spätere Berufe, ana­ly­siert und verbildlicht werden. Das be­trifft vor allem Pädagogen, Soziologen u. a..

FA!: Kann da dann jedeR hingehen?

R.: Natürlich soll dieser Kongress be­ziehungs­weise Workshop für alle Inter­essierten offen sein.

FA!: Wo außerhalb der Uni und mit wem sollte die Auseinandersetzung mit Rassis­mus vorangetrieben werden?

R.: Rassismus ist in Europa und anderswo in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Sicherlich äußert es sich bei Dozenten an­ders als bei der Studierendenschaft. Doch tragen wir fast alle diese unheilvollen Kei­me in uns. AntiRa- Arbeit muss durch alle uni­versitäre Strukturen gehen und nicht nur in der Studentenfreizeit an­setzen. Ich hoffe, dass da mit Dozenten, Fachschaften etc. eine Zusammenarbeit möglich ist. Besondere Hoffnung setze ich auf Studen­ten, die sich in bestehenden oder noch zu gründenden Gruppen finden lassen, auch um mehr als Rassismus anzugehen.

FA!: Wo sind dir im hochschulpolitischen Rahmen Grenzen gesetzt?

R.: Eigentlich darf ich den universitären Rah­men nicht verlassen und mich auch nicht in die Lehre einmischen. Das ist der Rahmen. Doch kann Antirassismus sich nicht so entfalten, wir leben ja nicht in der Uni. Praktisch sind dem aber durch Zu­­sammenarbeit und Unterstützung ein­zelner Studenten, Projekte oder Lehren­­den keine wirklichen Grenzen ge­setzt.

FA!: Danke für das Gespräch und viel Erfolg!

clara

Kino gegen Diskriminierung

Die Galerie für zeitgenössische Kunst (GfzK) ist nicht nur Schauplatz intellektueller Projekte von angesagten KünstlerInnen. Im Altbau stellt die Galerie in diesem Herbst ihre Räumlichkeiten auch für eine Filmreihe des Antidiskriminierungsbüros Leipzig zur Verfügung, das an sechs Mittwochabenden die Hauptaspekte von Diskriminierung (laut EU-Richtlinie) thematisierte: Rassistische Zuschreibung, Religion bzw. Weltanschauung, sexuelle Identität, Geschlecht, Lebensalter und Behinderung.

Im Vergleich zu zahlreichen anderen Län­dern ist Deutschland, bzw. Sachsen im Ver­gleich zu anderen Bundesländern, was seine Antidiskriminierungspolitik und –kul­tur betrifft, immer noch ein Entwick­lungs­land.“ So eine Mitarbeiterin des seit zwei Jahren existierenden Antidiskrimi­nierungs­büros Leipzig. Die Filmreihe mit dem Titel „views on discrimination“ (Sichtweisen auf Diskriminierung) sollte als Angebot „möglichst niedrigschwellig“, das hieß kostenlos in einem neutralen Raum über relativ leicht zugängliche Spiel­filme, einen Anstoß bieten, sich mit ver­schie­denen Aspekten und Problemen der Dis­­kri­mi­nie­rung zu beschäftigen.

Am 21. September ging es los mit der Doku „Blue Eyed“ (BRD 1996), die einen häufig praktizierten Workshop der ameri­ka­­nischen Lehrerin und Antirassistin Jane Elliot dokumentiert. Um Rassismus in der Praxis erlebbar zu machen, wurden die TeilnehmerInnen darin zunächst in blau­äugig und nicht blauäugig unterteilt und dann einen Tag lang unterschiedlich be­handelt. Nach vielen Stunden bloßem War­ten wurden die Blauäugigen in einem Tagungsraum permanent diskriminiert, v.a. durch die stark autoritär handelnde Elliot, die den vor ihr auf dem Boden Sitzenden im Beisein der „guten“ Teil­neh­mer­­Innen immer wieder ihre geschwächte Po­­­sition vor Augen führte. In der an den Film anschließenden Diskussion im Bei­sein eines Psychologen wurden sehr unter­schied­liche Meinungen zu dieser Art Training deutlich. Ein Anwesender hatte selbst an einem an Elliots Methode orien­tierten Workshop mit seiner Schul­klasse teil­genommen und angemerkt, dass die Er­­fahrung eher beängstigend und we­nig reflektiert wirkte. Da­­nach hätte es kei­ne kon­kre­ten Hilfe­stel­lungen zu Hand­lungs­alterna­tiven gege­ben. Die durch die Me­thode aus­ge­­übte psy­chische Ge­walt wurde von vielen Dis­kussions­teil­nehmer­Innen kriti­siert. Wie im Work­s­hop ebenfalls the­ma­­tisiert, ist dabei je­doch die Relativi­tät die­ser Gewalt zu beachten: rassistisch diskriminierte Men­schen er­le­ben jeden Tag ungleich härtere Situa­ti­onen. Auch der Entstehungskontext soll­te be­achtet werden: Die ge­sell­schaft­lichen Ver­hältnisse der frühen 60er Jahre in den USA lieferten sicher einen Hinter­grund, indem eine „härtere Gangart“ plausibler war, als hier und heute. Wie vor dem Film er­läutert wurde, ist Rassismus bei weitem kein reines Problem rechts­­ex­tremer Krei­se. Prak­ti­ziert wird er viel­mehr auf den Ebenen von Insti­tu­tionen, z.B. über den Zugang zu Bil­dung, durch öffentliche Thematisierung bzw. Tabu­isierung und auf individueller Ebene, in der Mitte der Gesellschaft, auch ohne ein aus­differen­ziertes rassistisches Welt­bild. Wenn also nach solch einem Workshoptag aus­reichend über die Er­fahrung der Dis­kriminierung reflektiert wird, kann sie den Wahrnehmungs­horizont eines Men­schen bezüglich rassistischer Alltags­situa­tio­nen durchaus erweitern.

Die Spielfilme „Yasmin“ (GB/BRD 2004) und „Uneasy Rider“ (F 2000) wurden in den folgenden Wochen gezeigt, um Religion und Behinderung im Dis­kri­mi­nierungs­kontext zu thematisieren.

Über den vierten Film, „The Laramie Pro­ject“ (USA 2002), wurde im Anschluss kontrovers diskutiert: Wie geht man mit den sich bezüglich der Toleranz und Ak­zeptanz von Homosexualität immens unterscheidenden Bewußtseinsstadien und Umgangsformen in provinziellen bzw. städtischen Lebensräumen um? Ist ein tolerierendes Umfeld gleich ein Garant für ausreichenden sozialen Kontakt zu Gleich­ge­­sinnten? Im Film wird zwar die Thema­tik der sozialen Konstruktion von Ge­schlecht nicht behandelt, dafür bietet er aber einen, wenn auch sehr emotionalen Einblick in die Auswir­kungen eines homophoben (Ab­neigung gegenüber oder Angst vor Homo­sexuali­tät) ge­sell­schaft­lichen Klimas.

Speziell um die Ungleichbehandlung von Frauen drehte sich „Girl­fight“ (USA 2000), in dem es um den Auf­stieg einer jungen Sport­lerin in der männer­domi­nier­ten Welt des Boxens geht. „Montags in der Sonne“ (Spanien 2002) bildete Ende Oktober mit dem Aspekt Alters­dis­kri­mi­nierung den Abschluss der Reihe.

Auch wenn die zahlreichen BesucherInnen für das jeweilige Thema meistens schon sensibel waren, ließen sich doch oft Positionen vertiefen und Perspektiven er­weitern. Das Anti­dis­kriminierungsbüro ist zufrieden und möchte in Zukunft weiterhin mit Seminaren, Plakat­kam­pagnen und Beratungs­ange­bo­ten für ein umfassendes Anti­dis­kri­mi­nierungsgesetz und für den horizontalen Abbau jedes diskriminierenden Verhaltens arbeiten. Ob aber die fällige Umsetzung der euro­päischen Richtlinien oder mehr politischer Wille, wie es sich das Büro wünscht, an strukturellen Ausgrenzungs­mechanismen und einer verbrecherischen Migrations­po­li­tik etwas ändern würde, steht auf einem anderen Blatt.

clara

Kontakt:
Antidiskriminierungsbüro e.V., Haus der Demokratie, Bernhard-Göring-Straße 152
04277 Leipzig, Fon: 0341/3065145, info@adb-sachsen.de

Harte Bandagen in der Defensive

Streik in Zwickau

 

Was für viele ArbeiterInnen im Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) schon Realität ist, das soll auch bei den Städtischen Verkehrbetrieben Zwic­kau (SVZ) durchgesetzt werden: nämlich ein in verschiedene Gesellschaften aufgespaltenes Unternehmen. Über die Gegenwehr der 270 ArbeiterIn­nen in Form einer außer­­ordentlichen Betriebsversammlung Ende November 2004 berichtete Feier­abend! in Ausgabe #16.

Damals hatte der Stadtrat den Beschluss gefällt, die SVZ zu privatisieren – die Betroffenen und ihre Vertreter (ver.di & Betriebsrat, BR) hatten von diesem Vorhaben erst aus der Zeitung erfahren. Nun stand am 29. September 2005 erneut ein Ratsbeschluss an: es ging um die Aufspaltung und Teilprivatisierung der Betriebe. In der 50seitigen Vorlage wird explizit befürwortet, die Lohnkosten zu senken, um das Sparziel von 1,5 Millionen Euro bis 2009 zu erreichen – dafür sprach sich auch der Ortsvorsitzende der Links­partei.PDS aus! Durchgebracht wurde der Antrag in einfacher Mehrheit mit den Stimmen der CDU und der Unternehmerpartei „AG Zwickau“ (zusammen 17) – abgesehen von drei Abgeordneten der CDU/SPD/Grünen, enthielten sich die übrigen Volksvertreter (insgesamt 19), darunter auch die der Linkspartei.PDS. Die Ratssitzung erschien wie eine Neuauflage der Vorführung im November 2004: die Hände hoch, die Hände runter, und aus. Keine Diskussion.

Demnach wird die Geschäftsführung der SVZ als 100%iges Tochterunternehmen eine „SVZ Betriebsgesellschaft“ gründen, von der rückwirkend (!) zum 1. Mai 2005 etwa 220 der 270 ArbeiterInnen übernommen werden sollen. Der Bürgermeister (CDU) will davon einzig Abstand nehmen, falls dadurch die Abschreibung von Gewinnen der Stadtwerke gefährdet wäre.

Gegen den fortgesetzten Angriff auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen traten die ArbeiterInnen am Donnerstag, den 29.9. in einen Streik, zu dem ver.di aufgerufen hatte. Die Entschlossenheit ist, nach Angaben des Gewerkschaftssekretärs Steinforth, groß – 94 Prozent der gut 200 Gewerkschaftsmitglieder sprachen sich am Donnerstag (29.) für die Fortsetzung des Streiks aus. Es waren in der kurzen Zeit auch KollegInnen aus Chemnitz, Dresden und Leipzig angereist, um ihre Solidarität zu bekunden – das gibt zwar Mut, aber es blieb bei Worten.

Am Freitag Abend, um 20 Uhr wurde der Streik „ausgesetzt“, denn das Arbeitsgericht Zwickau hatte die Bewegung in einer einstweiligen Verfügung als illegalen „politischen Streik“ qualifiziert. Dem Gewerkschaftsse­kretär wurde Beugehaft angedroht. Infolge eines Ge­richts­beschlusses („einstweilige Verfügung“ ist ja eben nur eine vorläufige Stellungnahme) hät­­te sich jedeR ArbeiterIn einzeln von der Justiz verfolgt gesehen. In der Belegschaftsversammlung – jede andere Entscheidungsinstanz wäre angesichts der Resultate der Urabstimmung ein Skandal gewesen – gab es zwar auch Stimmen, die sagten man solle die Aktion offiziell abbrechen und dennoch, sozusagen „spontan“ weiterführen – dazu aber kam es am Samstag nicht.

Gleichzeitig bot die Stadtverwaltung Gespräche für Mittwoch, den 5.10. an – dabei handelte es sich aber um „‘n Stück­chen Verarschen“ (Steinforth): nachdem der Bürgermeister bekannte, dass er kein Mandat hätte, wurden die Verhandlungen unterbrochen, bevor sie begonnen hatten. Schon eine „Verständigung“ infolge des wilden Streiks im November 2004 hatte sich als Luftnummer erwiesen, die „gar nichts gebracht“ (BR) hat. Die Stadtverwaltung verfolgt also eine Strategie der Verzögerung, wenn sie an den Verhand­lungs­tisch bittet. Gleichzeitig bahnen sich neue Auseinandersetzungen an, wenn der Stadtrat Ende Oktober über Massenent­lassungen (300-500 Beschäftigte) im Öffentlichen Dienst Zwickaus entscheidet. Die massiven Angriffe des Stadtrats drängen die „Arbeitnehmervertreter“ auf ungewohntes Terrain, beschränken sich gewerkschaft­liche Mobi­li­sierun­gen im Betrieb doch vornehm­lich auf tarifliche Auseinandersetzungen.

Steinforth sagte Feier­abend!, man wer­de sich in Zukunft auf ei­ne Taktik der „Nadelstiche“ verlegen. Mit kurzen, und über­ra­schenden Ak­tionen soll eine Zeitspanne genutzt werden, die sich angesichts der Rechts­lage bietet: eine einstweilige Verfügung der Staatsmacht braucht etwa einen Tag, um erlassen zu werden. Damit sollen juristische Sanktionen umgangen werden.

 

A.E.

Harte Bandagen in der Defensive – Teil 2

Streik bei Infineon

Am 24. 10. 05 traten die 800 Arbeiter­Innen von Infinion in München-Perlach in einen unbefristeten Streik. Sie wollten damit gegen die Schlie­ßung und für höhere Abfindungen kämp­fen. Die Chipfabrik, die nach heute überholten Standards arbeitet, soll geschlo­ßen werden.

Nachdem am Montag keiner der an­gekarrten Streikbrecher in das Werk gelangte, wurden am Tag darauf ca. 20 „Arbeitswillige“ mit Polizeieskorte durch die Streikkette geschleust. Dabei gerieten Streikende und Polizei aneinander, wobei ein Staatsdiener seine Dienstwaffe zog und ein Streikender von einem Bus angefahren wurde.

Dass sich der Import von Streikbrechern nicht rechnet, zeigen die 200.000 Euro Sachschaden, die die Ersatzarbeiter, eigentlich Ingenieure, an einem Tag durch Unkenntnis anrichteten. Beendet wurde der Streik am 31.10.05 mit dem Beschluß, das Werk zwei weitere Jahre zu betreiben.

Radioaktiv in die Zukunft?

Der nächste Castor rollt Ende November

Seit Mitte dieses Jahres ist es im Rahmen des (seit April 2002 geltenden) so gen­annten Atomausstieggesetzes verboten, abgebrannte Brennelemente aus deutschen Atomkraftwerken (AKW) in Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) zu transportieren.

Wiederaufarbeiten heißt, dass von den abgebrannten Elementen aus zivil genutzten Leistungsreaktoren Uran (96%), Plutonium (1%) und die restlichen Spaltprodukte (3%), die den eigentlichen Atommüll ausmachen, getrennt werden. Die Wiederaufbereitung, also Herstellung von reinem Uran und Plutonium, wurde ursprünglich entwickelt, um Atom­bombenmaterial herzustellen. So war zum Beispiel die Atombombe auf Hiroshima eine Uranbombe. Im Rahmen der zivilen Nutzung der Kernenergie wird heute vor allem Plutonium zu neu­en Brennelementen verarbeitet.

Die für deutsche AKW Be­treiber relevanten WAAs befinden sich in La Hague, Frankreich und Sellafield, Großbritannien. Im Wissen um das baldige Verbot der Transporte beeilten sich die Betreiber, noch vor in Kraft treten des Gesetzes ihre Lager zu leeren. Damit werden die Kernelemente noch auf Jahrzehnte weiter verarbeitet werden.

Der dabei entstehende, nicht mehr verwertbare, hochradioaktive Müll wird in Castor­behältern dann wieder nach Deut­schland zurückgekarrt. Da sich bis heute noch keine Lösung für eine endgültige Lagerung gefunden hat, wird das strahlende Erbe der Atomwirtschaft in Zwischenlagern gestapelt. Eines dieser Lager befindet sich in Gorleben, wo der Müll auch nicht „entsorgt“, sondern nur oberirdisch gelagert wird, um im Bergwerk des Salzstocks Gorleben versenkt zu werden.

Nachweislich ist dieser Ort nicht zur Lagerung geeignet, da es schon zum Einsturz eines Schachtes kam und sich daraufhin Grundwasser im Inneren sammeln konnte. Diese Art von Unfällen kann jederzeit wieder passieren, was zur Folge hätte, dass das Grundwasser radioaktiv verseucht würde, die Folgen einer solchen Katastrophe kann sich jeder ausmalen. Vielleicht passiert es nicht morgen oder übermorgen, aber was ist in 10 Jahren oder in 100 Jahren? Bei der enormen Halbwertszeit der zu lagernden Stoffe stellt sich die Frage gar für die nächsten 1 Millionen Jahre.

Um den 19./20. November 05 soll dennoch der nächste Castortransport mit 12 hochradioaktiven Behältern aus La Hague nach Gorleben rollen. Schon ab Ende August wurden deshalb Polizisten in Containern stationiert, um die Bahnbrücken der Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg zu bewachen. Dort werden die Behälter von der Bahn auf die Straße verlagert, um die letzten 20 Kilometer auf der Straße nach Gorleben zu rollen.

Wie in jedem Jahr regt sich auch 2005 dagegen Widerstand. Das gemeinsame beständige Bemühen um ein gemeinsames Ziel führt immer wieder die verschiedensten Menschen zusammen und ermöglicht einen darüber hinaus gehenden Austausch über diese und andere Missstände. Die Aktionsformen sind dabei so vielfältig wie ihre Akteure.

So finden immer wieder Demos statt, wie zum Beispiel die bundesweite Anti-Atom Demo in Lüneburg, oder Anti-Cas­tor-Spiele, wie das Volley­­ballturnier auf den Schienen. Die bisher wohl wortwörtlich „heißeste Aktion“, mit einem Schaden von 3 Millionen Euro, gab es am 28. September 05 als einige Polizeicontainer, die zur Unterbringung von 500 Polizisten gedacht waren, vollständig abbrannten. Dies blieb natürlich nicht unbeantwortet. Nach einer Anti-Atom-Demonstration am 22. Oktober 05 in Uelzen sammelten Polizisten Zigarettenstummel auf, und archivierten diese zur genetischen Datensicherung. Das gleiche geschah nach einem Ballspiel an den Gleisen zwischen Lüchow und Dan­nenberg. Weitaus tragischer endete der Protest gegen Castortransporte für Sé­bastian Briat. Der AKW Gegner wurde am 07.November 04 beim Verlassen der Gleise durch den viel zu schnell fahrenden Zug erfasst und überrollt.

Gefährlich ist also nicht nur die Strahlenintensität, die oft über den Grenzwerten liegt, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der die Transporte unterwegs sind.

Deshalb heißt es auch in diesem Jahr: Lasst den Widerstand praktisch werden und alle AKWs sofort schließen!

mendi

Magdeburg – Politik vom Richterstuhl

129a (StGB)-Verfahren gegen Linke in Sachsen-Anhalt

Der Ge­ne­ral­bundes­an­walt beim Bundes­ge­richts­hof ließ am Mor­gen des 27. November 2002 durch Beamte des Bun­des­kriminalamts und des Landes­kri­mi­nalamts Sachsen-Anhalt vier Woh­nungen in Magdeburg, Quedlinburg und Berlin durch­suchen. Am selben Tag wurden Daniel in der Wohnung seiner Mutter und Marco in Magdeburg auf offener Straße von Sonderein­satz­kommandos der Polizei überwältigt und festgenommen. Sie stan­den zu diesem Zeit­punkt in den Augen der Ermittlungsbehörden in Verdacht, bei An­schlä­gen am 18. März 2002 an Polizei­ein­rich­tungen in Magde­burg beteiligt gewesen zu sein.

Es handelt sich hierbei um zwei Brand­an­schläge auf das Gebäude des Landes­kri­mi­nal­amtes (LKA) in Magdeburg und auf Fahrzeuge des Bundesgrenzschutzes (BGS). Auf das Gebäude des LKA wurden in dieser Nacht zwei Brandsätze geworfen, die laut Polizeiangaben geringen Sachschaden anrichteten. Die Anschläge auf die Ein­satz­fahr­zeuge des Bundesgrenzschutzes schlugen fehl, da die unter den Fahrzeugen de­­ponierten Brandvor­richtungen nicht zündeten. Dadurch konnten diese von der Polizei sichergestellt und in den folgenden Prozessen als eines der Hauptbe­weismittel verwendet werden. Auf einem der Post­pa­kete, in denen die Brandsätzen depo­niert waren, wurde später bei der Unter­suchung, ne­ben denen von vielen anderen Personen, auch ein Fingerabdruck von Daniel ge­funden.

Da nach einem halben Jahr Unter­suchungs­haft für die beiden Inhaftierten sich jedoch abzeichnete, dass die An­schul­di­gungen der Generalbundesanwaltschaft vor Gericht aufgrund der dünnen Be­weis­lage nicht durchsetzbar sein werden und Daniel und Marco eine erneute Haft­prü­fung vor der nächst höheren Instanz be­antragt hatten, war die General­bun­des­an­waltschaft zum Handeln gezwungen. Um eine von ihr angestrebte Anklage nach §129a auf Bildung einer terroristischen Ver­einigung überhaupt vor Gericht zu bringen, musste diesem ein 3. Be­schul­dig­ter vorgeführt werden. So wurde am 16.4.2003 ein Magdeburger Linker – Carsten – verhaftet.

In der Anklageschrift gegen Carsten, Daniel und Marco, die im September 2003, fast ein Jahr nach den ersten beiden Festnahmen, erlassen wurde, erhob die Bundesanwaltschaft Anklage nach §129a wegen des Verdachts auf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ in deren Namen Straftaten gegen den Staat und Konzerne begangen wurden. Dieser Vereinigung, zu der nach Behauptung der Staatsanwaltschaft die drei Beschuldigten gehört haben sollen, wurden noch zwei weitere Anschläge zur Last gelegt: Zum einen ein Brandanschlag im August 2001 auf zwei Neuwagen einer Magdeburger DaimlerChrysler-Niederlassung. bei dem ein Sachschaden von 150.000 Euro entstand, zum anderen ein Brandanschlag im Februar 2002 auf zwei Fahrzeuge der Deutschen Telekom. Der Sachschaden betrug hier 30.000 Euro.

Zu den verschiedenen Taten bekannten sich jeweils verschiedene Gruppierungen. Die Staatsanwaltschaft jedoch sah hinter allen eine einzelne „Terroristische Vereini­gung“, als deren Kopf sie Marco darstellte.

Die folgende erste Verhandlung…

in der alle drei inhaftierten Linken ge­meinsam der Bildung einer terroris­ti­schen Vereinigung angeklagt wurden, zog sich bis zur Urteilsverkündung am 16.12.2003 über 13 Prozesstage hin. Am 21.11.2003, dem vorletzten Verhand­lungs­­tag, hob der vorsitzende Richter die Haft­befehle gegen die drei Hauptan­ge­klag­ten auf. In der Begründung be­zeich­nete der Richter eine Verurteilung der drei An­geklagten nach § 129a als nicht wahr­schein­lich. Hintergrund hierfür war die Auf­lösungserklärung der Gruppe, deren Zugehörigkeit sie beschuldigt wur­den, mit welcher der dringende Tat­ver­dacht der Mitgliedschaft in einer terroris­ti­schen Ver­einigung und somit der bis­herige Haft­grund entfiel. Dennoch wurden sie mit dem Urteil vom 16.12.03 zu Frei­heits­strafen von 2 Jahren und 6 Mona­ten für Marco und zwei Jahren für Daniel verurteilt. Carsten wurde aufgrund der nicht ausreichenden Beweislage freige­sprochen.

Der Senat, vertreten durch Richter Hennig, führte aus, dass es sich zwar um Indizienbeweise gehandelt habe, die aber in seinen Augen ein Gesamtbild ergäben, welches ihm die politische und moralische Gesinnung der Angeklagten klar zeige und für ihn als Beweis der Mitgliedschaft in einer der sich zu den Anschlägen be­ken­nen­den Gruppe ausreiche. Die Ver­ur­tei­lung erfolge nicht auf Grund der tat­säch­lichen Tatbeteiligung, sondern ihrer geis­tigen, die sich aus der unterstellten Mit­gliedschaft ergäbe. Ihre Verurteilung er­folg­te somit indirekt auf der Grundlage des Paragraphen 129a.

Die Staatsanwaltschaft und die Ver­tei­di­gung gingen gegen dieses Urteil in Re­vi­sion. Für die Staatsanwaltschaft war diese Ent­scheidung des Gerichts ein versteckter Frei­spruch im Bezug auf den Vorwurf der Bildung einer Terrorzelle. Vorwürfe, die sie im Verlauf der Verhandlung durch er­presste Zeugenaussagen und sich ständig vor Gericht widersprechende Polizei­be­amte zu untermauern versucht hatte. Für die Verteidigung kam ein solches Ge­sin­nungs­urteil auf Basis von haltlosen und schwammigen Indizien selbstredend nicht in Frage.

In der Revision…

wurde dann das Verfahren in drei getrenn­te Verhandlungen geteilt, um so die Mög­lichkeit zu haben, die Angeklag­ten gegen­seitig als Zeugen zu laden. Dies war zuvor in einem gemeinsamen Prozess nicht mög­lich gewesen. Das erste Revi­sions­­ver­fahren ge­gen Daniel eröffnete im April die­sen Jah­­res. Im Verlauf der Ver­hand­lung wur­den Marco und der vorher frei­ge­sprochene Carsten am 2. Verhand­lungs­tag mit Beu­ge­haft belegt, da sie sich hin­sichtlich ihrer noch laufenden Verfah­ren, abgesehen da­von jedoch prinzipiell, wei­gerten gegen Daniel auszusagen. Ein ge­nerelles Aussage­ver­weigerungsrecht nach §52a (StGB), nach dem niemand gezwungen wer­den darf eine Aussage zu machen, die ihn selbst belasten könnte, wiesen die Rich­ter mit Verweis auf die getrennten Verfahren als nicht gegeben ab. Somit konnte den beiden auf Grund des selben Paragraphen eine Freiheits- und Geldstrafe auferlegt werden.

In dem Verfahren, das schon wieder in zweistellige Verhandlungsrunden geht, wurde von Seiten des Gerichts durch Verschleppung der Verhandlung der gesetz­liche Rahmen von 6 Monaten Beugehaft voll ausgeschöpft. Es wurden z.B. mehrere Verhandlungstage nach weni­ger als 10 Minuten beendet und eine ein­mona­tige Sommerpause eingelegt, um so eine Aussage von Marco und Carsten zu erzwingen. Dieses Verfahren läuft noch immer, das heißt noch immer sind Marco und Carsten im Gefängnis, da sie die täg­liche Frage nach ihrer Aussage­be­reit­schaft im Prozess gegen Daniel verneinen.

Schon zu Beginn der Ermittlungen…

und des sich anschließenden Ver­fahrens wurde offensichtlich, dass es sich hier um eine Profilierungsmaßnahme der Sachsen-Anhaltinischen Ermittlungs- und Recht­sprechungsbehörden handelt. Hier wur­den die nach den Anschlägen im Septem­ber 2001 auch in Deutschland ver­schärften Ge­se­­tze zur inne­ren Sicherheit da­zu be­nutzt, linke Struktu­ren zu ob­ser­vieren und zu krimina­lisieren. Im Rahmen eines 129a-Ver­fah­rens sind der Staats­­anwalts­chaft Möglich­keiten gegeben, Er­­­mittlungs­methoden anzu­wen­den, die bei anderen juris­tischen Tatbe­stän­den kei­ner gesetz­lichen Grund­lage ent­sprechen. So wurden z.B. die Freundinnen der An­ge­klagten nicht als Fami­lien­mitglieder akzeptiert, da­mit man ihnen kein Aussage­ver­weige­rungs­recht zugestehen musste. Zu­sätzlich wur­de ihnen im Vorfeld der Ver­neh­mung eine Gefängnisstrafe an­ge­droht, sollten sie sich dennoch weigern aus­zusagen. Haus­durch­­suchun­gen, Tele­fon­überwachungen und Per­so­nen­ob­ser­vierungen führ­ten desweiteren zu einer massiven Anklage- und Vor­ladungswelle in den Kreisen der Mag­de­burger Linken. Wei­ter­­hin bestand die Stra­tegie der An­klage darin, sämt­liche Ver­wandte und Freun­de vorzuladen um Prozess­­tage zu füllen, und somit dem Ge­richt eine Zeit­auf­schiebung als prozess­­aus­füh­rendes Or­gan zu ver­schaf­fen. Den ent­scheiden­den Be­weis konnten diese Zeu­gen nicht lie­fern. Alles was sie zu Pro­tokoll gaben, waren Aussage­ver­wei­­ge­rungen und Alibi­be­stätigungen, die schon im Prozess zuvor nicht anerkannt wur­den. Die Androhung der Aussageer­zwingungs­haft für die ge­ladenen Zeugen und die Anwen­dung auf Daniel, Marco und Carsten sind fragwürdige rechts­staatliche Mittel, die jedoch in Ver­fah­ren gegen Grup­pierungen, vornehm­lich aus der linken Szene, sehr oft ange­wen­det werden.

Es ging in diesem Verfahren nie um die Wahr­heitsfindung bezogen auf die Brand­an­schläge, sondern um die Auf­recht­er­hal­tung eines durch die Staatsanwaltschaft er­richteten Konstrukts einer terroris­tischen linken Gruppe. Die Methoden, solche Kon­strukte zu fingieren und auf­recht zu erhalten, liegen in den Händen derer, die in ihren jeweiligen Schlüssel­po­si­tionen ihre Definitionsmacht anwenden und aus­führen.

Der Aufwand, der bei den Ermittlungen und den Gerichtsverfahren betrieben wur­de, muss sich im Sinne der Anklage na­türlich rechnen und es darf nicht passieren, dass solche Ver­fahren mit Frei­sprüchen enden.

etap

Unterstützung, aktuelle Infos, Quellen unter: www.soligruppe.de

Der Paragraph 129

Der §129 ist seit seiner Einführung 1822 ein politisches Instrument. Der §129 StGB ist über 180 Jahre alt und hat seine späten Wurzeln im Kaiserreich: 1878 wurde er bekannt als das so genannte „Sozialistengesetz“, das Bismarck zur Bekämpfung der Sozialdemokratie einführte. In der Weimarer Republik wurde die staatliche Verfassung als Schutzgut in den Paragraphen mit aufgenommen und in der BRD der 50er und 60er Jahre spielte der §129 jetzt erstmals unter der Gesetzesüberschrift „kriminelle Vereinigung“ eine wichtige Rolle im Rahmen der Kommunistenverfolgung, besonders nach dem KPD-Verbot 1956. Zur Bekämpfung der RAF wurde eigens der §129a geschaffen, bis heute die wichtigste Norm im politischen Strafrecht, der eigentlich nach den RAF-Prozessen wieder abgeschafft werden sollte. Der §129a setzt Mitgliedschaft, Unterstützung und Werben für eine „terroristische Vereinigung“ unter Strafe. 2001 wurde der §129b eingeführt und kriminalisiert ausländische „terroristische Vereinigungen“. Die Abgrenzung zu Befreiungsbewegungen obliegt der Staatsmacht und wird nach politischen Eigeninteressen vorgenommen.

Der §129-129a-129b ist ein Sonderrechtssystem

Mit dem §129 wird nicht eine Person für eine nachgewiesen begangene Straftat kriminalisiert. Um nach §129 belangt zu werden, muss gar keine Straftat begangen worden sein. Allein die Mitgliedschaft in einer zu kriminalisierenden Vereinigung reicht für eine hohe Haftstrafe aus. Als Mitgliedschaft wird bereits gewertet, wer Kontakt zu anderen „Mitgliedern“ hat. Eine Vereinigung muss aus mindestens drei Mitgliedern bestehen. Nach der Strafprozess­ordnung besteht bei Ermittlungen nach §129 die Möglichkeit zu großflächiger Telefonüberwachung, zu Großrazzien in Wohnblocks, zur Errichtung von Kontrollstellen im Straßenverkehr und auf öffentlichen Plätzen mit der Möglichkeit zur Identitätsfeststellung und Durchsuchung auch bei Unverdächtigten sowie zur Anordnung der sog. Schleppnetzfahn­dung mit der Möglichkeit zur Massenspeicherung von Daten und zur Rasterfahndung. Bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts wegen §129a darf die Untersuchungshaft verhängt werden, auch wenn ein Haftgrund wie Fluchtgefahr gar nicht vorliegt.

Editorial FA! #20

Da sind wir wieder, 15 Tage später als geplant, aber dafür mit altbekannter Rou­tine. Sechs Wochen sind dann doch verdammt knapp, um den ganzen logis­tischen Apparat des Feierabend! auf Touren zu bringen, unsere Lust und Inspiration mit einbegriffen. Nach wie vor sind wir deshalb darauf angewiesen, daß sich mehr Leute an dem Projekt beteiligen, auch wenn wir mit dem aktuellen Heft wieder einige neue Schreiberlinge be­grüßen können. Also Großstadtindianer dieser Welt, macht Euch auf …

Bei der Vorbereitung der Ausgabe 20 haben wir viel grundsätzlich über Inhalt und Form des Heftes nachgedacht. Die Gespräche waren wie immer hitzig, am Ende fruchtbar und mündeten prompt in zwei neuen Rubriken. Unter der Lupe wollen wir den Blick auf hiesige Projekte lenken und über Anspruch, Organisation und Geschichte informieren. Den Anfang macht ein lebensnaher Bericht über die Gieszerstraße 16. Desweiteren haben wir ein neues Forum für unsere LeserInnen konzi­piert, auf dessen Erfolg/Mißerfolg wir schon ganz gespannt sind.

Unser Plenum steht im übrigen jedem offen und kann bei Interesse jederzeit besucht werden (gelegentlich auch von Redak­tionsmitgliedern). Schreibt uns einfach flink eine Email an feierabendle@web.de und wir teilen euch den nächsten Termin mit.

Diesmal liegen auch die schon im letzten Heft erwähnten Broschüren zum Thema Genua‘01 mit bei.

Fäustlinge raus und ab in den Winter!

Eure Feierabend!-Redax

Leben, Lieben, Lachen, Selbermachen

Zur Frage der Selbstorganisierung des Projekts Gieszerstraße 16

Die Anfänge: Hausbesetzung als künstlerisches Mittel

Am 19. April 1997 besetzte eine Gruppe junger Menschen eine seit 6 Jahren leerstehende Villa in der Karl-Heine-Straße 4. Sie initiierten dies künstlerisch als ein Hochzeitsschauspiel zwischen ihnen als Bräutigam Arthur und der Villa Karla als Braut. Damit wollten sie ausdrücken, dass die Verbindungen zwischen Kunst und Wohnen mit Spaß an Verantwortung und Selbstorganisation sich nicht widersprechen. Karla bekam von ihrem Bräutigam Hände, Lippen, Herz, Adern, ein Antlitz aus Pappmachee, ein Hirn aus Watte und ein Lie­bes­ver­sprechen. Ihr gemeinsames Leben sollte auf Geben und Nehmen, Glück und Harmonie basieren. Kar­la gab Arthur den Raum, sich selbst zu realisieren und im Gegenzug wollte Arthur stets für Karla da sein, um sie vor Verwahrlosung und Verfall zu retten.

Dieser Ehe hat jedoch der Münchener Hausbesitzer und die sogenannte „Leip­ziger Linie“ der Stadt widersprochen, die nicht mehr sahen als eine illegale Hausbesetzung, welche unter keinen und sei es noch so gut gemeinten Umständen geduldet werden kann. Es kam zur Räumung von Karla durch ein riesiges Polizeiaufgebot. Die Scheidung war vollzogen, jedoch die Liebe blieb erhalten, sowie die Feststellung, dass für selbstorganisierte und -verwaltete Wohnfläche, Kunst und Projekte Raum gebraucht wird. Die hausbesetzenden KünstlerInnen trugen ihren Protest in die Öffentlichkeit. Zum Beispiel wurde vorübergehend das Gewandhaus mit Ketten versperrt, um in der Trauer einer verlorenen Liebe nicht alleine zu sein. Bis zu Konzertbeginn wurden die Karten­besitzerInnen mit kostenloser Straßen­kunst, Gauklern, Gesang, Bongo-Rhyth­men, Transparenten und Informationen abgelenkt. 1997 bis 1998 wurde weiterhin die heimlose Kunst mit vielen anderen kreativen Aktionen auf die Straßen der Innenstadt gebracht. Dieser Protest blieb nicht ohne Auswirkungen – der damalige Jugendamtschef Wolfgang Tiefensee räumte ein, dass die Stadt Leipzig zu Gesprächen über Ausweichprojekte bereit wäre.

Ein langjährig leerstehendes Industriegelände in der Gießerstr. 16 in Leipzig-Plagwitz wurde bald selbst gefunden und eine neue Liebe begann. Die Stadt Leipzig als Eigentümer war zu Gesprächen bereit und es kam zu Verhandlungen. Die ehemaligen hausbe­setzenden Künstler wurden zu Ini­tiatoren des Pro­jekts G16. Im April 1999 erhielten sie als Verein „Stadtteilförderung, Wohnen und Kultur e.V.“ einen einjährigen Besitz-Überlassungs­vertrag für dieses 3600 qm große Gelände mit alten Fabrikgebäuden, die teilweise unter Denkmalschutz stehen. Nachdem der Vertrag im April 2000 auslief, sprach das Grundstücks-Verkehrsamt eine weiter­führende Duldung aus und die Nutzung des Geländes für selbstorga­nisierte Wohn-, Kultur, und Werk­stattprojekte konnte weitergehen. Die Organisierung als e.V. war und ist eine vorteilhafte Voraussetzung für Verhandlungen und juristisches Instru­ment, um mit der Öffentlichkeit Kontakt zu halten. Nach innen fungiert sie jedoch nicht als direkter Vorstand, da angestrebt wird, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Die Sanierung der Gebäude und der Erhalt der Projekte wurde ernst genommen. Dafür sind in der Ver­gangenheit Fördermittel von Bund und Europäischer Union beantragt und für einzelne Projekte auch bereitgestellt worden. Verhandlungen über den Besitzstatus mit der Stadt sind seit den Anfängen eines der größten Probleme des Projekts, welches bisher glücklicherweise noch immer geduldet wird. Wer heute 190.000 Euro der Stadt Leipzig für dieses Gewerbegrundstück bietet, kann morgen schon der neue Eigentümer sein. Die Zukunft bleibt also ungewiss.

Was bedeutet Selbstorga­nisation für die Gieszer 16? Ansprüche und Realität

Die G16 ist leider meist nur bekannt für ihre preisgünstigen abendlichen Kon­zertveranstaltungen, bil­ligen Getränke, großen Tanzflächen und erhöhten Sitzmöglichkeiten. Auf die Klobrillen sollte man sich zum späten Abend bzw. frühen Morgen aber nicht mehr setzen und festes Schuhwerk wäre auch angebracht. Das dämmrige, flackernde oder blitzend-grelle Licht lässt nicht immer zerschellte Bierflaschen erkennen. Der Kickertisch ist stets besetzt und das Warten auf die nächste Runde wird gerne durch das Schlürfen eines Cocktails verkürzt. Oft wird veganes Essen angeboten oder es gibt auch kleine Stände, wo Platten und CDs, Klamotten und Aufnäher erworben werden können. Doch welcheR abendliche BesucherIn denkt am nächsten Morgen daran, wer aufräumen wird oder fragt sich, ob es wohl einen Grund für die Veranstaltung gab? Wer schaut hinter die Kulissen?

Die G16 bezeichnet sich als „kulturelles Zentrum zur Förderung emanzipatorischer Gesellschaftskritik und Lebensart“. Es ist ihr Anspruch, Kunst und Kultur nicht kommerzialisieren zu wollen und ein selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben und Arbeiten umzusetzen. Die 14 BewohnerInnen und viele andere Nutzer­Innen organisieren und verwalten das Projekt in Eigeninitiative, freiwillig und unentgeldlich. Selbstorganisation heißt Verantwortung für­ein­ander und für das Projekt zu übernehmen und sich im Alltag zu unterstützen. Dies zielt auf ein praktisches Handeln mit möglichst weitgehender Eigen­ständigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Kapitalismus bedeutet Selbstorganisation, sich der Verwer­tungslogik zu entziehen und aus eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten heraus zu überleben und zu agieren. Die G16 finanziert sich hauptsächlich über Spenden und häuft Geld nur an, um hoffentlich in naher Zukunft das Gelände von der Stadt kaufen zu können. In bürgerlichen Kreisen wird Selbstorganisation auch oft verklärt als Selbstständigkeit verstanden. Ziel eines selbstorganisierten Projeks ist jedoch mehr Miteinander, gegen den gesellschaftlichen Mainstream der Isolation, Entfremdung, Diskriminierung, Rollenzuschreibung und Aus­grenzung. Entscheidungen werden in freien Vereinbarungen getroffen, die ohne strukturelle und personale Zwänge zustande kommen. Selbstorganisation heißt, dass Menschen zum Zwecke der gegenseitigen Unterstützung und gemeinsamen Nutzung von Ressourcen zusammenkommen.

Diese Ansprüche stehen leider noch zu oft im Gegensatz zur Realität. Schnell bleiben viele anfallende Aufgaben am und um das Projekt an wenigen Leuten hängen. Theoretisch kann sich jedeR mal als BaumeisterIn, ManagerIn, Werk­statt­betreiberIn, VeranstalterIn etc. ausprobieren. Auf ein Spezialistentum, wo die eine Seite keine Ahnung hat, was die andere tut und mensch nur gegenseitig die Produkte konsumiert, kann verzichtet werden. Viele Aufgaben, die Selbst­disziplin erfordern, müssen erledigt werden. Ob Dächer reparieren, Wände neu ziehen oder ver­putzen, Räume be­heiz­­­­­­bar machen, Holz sägen und hacken, Bürokram und Schrift­­­­­­ver­kehr, Müll re­cy­­celn, Aufräumen … technische und strukturelle Maßnahmen sind grundsätzlich nötig, um den langfristigen Erhalt des Projekts zu sichern. Es ist kein Widerspruch, daran auch Spaß haben zu können, da keiner allein dasteht und notwendige Aufgaben gemeinsam erledigt werden können. Jedoch sind dies alles zeitaufwendige Arbeiten und für Genuß und Kreativität bleibt weniger Zeit. Daraus entstehen Schwierigkeiten, wenn es für bestimmte, immer wieder anfallende Aufgaben keine(n) Freiwillige(n) gibt. Sachen bleiben liegen und werden, wenn diese nicht direkt im Blickfeld stehen, auch leider schnell vergessen. Dann hat es auch ein Prinzip wie die gegenseitige Unterstützung schwer, dieses Defizit auszugleichen. Es werden noch viele fleißige Hände und Ideen gebraucht, die dieses riesige Projekt unterstützen. Auf der anderen Seite entsteht damit auch wie­derum folgendes Problem: Der Weg zu einer Übereinkunft wird schwieriger, je mehr Menschen an einer Entscheidung und Lösungsfindung teilhaben und noch schwieriger, wenn diese nach dem Konsensprinzip getroffen werden. Das heißt nicht, dass es un­möglich wird. Funktionierende Kommunikations- und Informations­strukturen würden den Prozeß, einen Konsens zu finden, erheblich vereinfachen. Leider werden Diskussionen von Einigen nur als ärgerlich und aufwendig verstanden. Schnell fällt mensch zurück in das Gefühl der Gleichgültigkeit und Kommunikation wird zum Meckern über Andere, über den Dreck überall, das Fehlen von An­sprech­par­tnern und Öffentlichkeitsarbeit. Vorwürfe sind schnell formuliert und Aus­einan­dersetzungen werden noch zu oft durch Rückzug oder Resignation umgangen.

„Das Leben ist ein Jammertal.“ Schluß damit! Die G16 feiert Ende April 2006 mit dem legendären, alljährlichen Festival ihren achten Geburtstag und es werden noch viele folgen. Schon so einige Projekte und Ideen haben die G16 verlassen, dafür haben sich neue etabliert und es wird auch weiterhin ständig ein Kommen und Gehen geben. Früher oder später passiert es dann schon automatisch, dass mensch erkennt, dass er oder sie mehr Gefühl für den Umgang mit z.B. Holz hat und andere haben eher „zwei linke Hände“. Manche können stundenlang Bücher lesen, am Computer arbeiten, Texte verfassen und andere gehen zur Probe. Doch die Bewohner- und Nutzer­Innen verbindet die Sorge, um den Erhalt von Freiraum im G16 Projekt und den Wunsch nach Geselligkeit und individueller Entfaltung.

Darum gilt wie so oft: Lassen wir uns nicht organisieren, sondern organisieren wir uns gelassen!

droff

+ + + Vorhandene und geplante Strukturen des Projekts G16 + + +

Die Werkstätten sind eines der wichtigsten Projekte, dass die praktische Selbsthilfe ermöglichen soll: Menschen können bauen, produzieren oder sich handwerklich betätigen ohne sich in den Kreislauf aus Geldverdienen und Konsum begeben zu müssen. Geräte, die nur ein paar Mal im Jahr benutzt werden, stehen hier allen zu Verfügung. So entstehen Begegnungen und Auseinandersetzungen, durch welche ein verantwortlicher Umgang mit Geräten und Werkzeugen geübt werden kann, die nicht im Besitz des Einzelnen sind. Aufgrund des bevorstehenden Umzugs, ist die Holz- und Bastelwerkstatt momentan nur für kleine Arbeiten benutzbar. In absehbarer Zeit wird diese dann in der ehemaligen Ruhebar, vom Innenhof begehbar, wieder für alle regelmäßig geöffnet haben. Die Fahrradselbsthilfewerkstatt scheint gerade nicht gebraucht zu werden und wurde bis auf weiteres (jemand müsste sich ans Herz fassen und dafür Ver­antwortung übernehmen) geschlossen.

Das Atelier bietet Platz für Ausstellungen von Text und Bild oder die Arbeit daran für verschiedenste Personen, Gruppen, Initiativen und Vereine.

Der Sport- und Bewegungsraum wird bisher genutzt von Leuten, die Breakdance (Die. und Do. 16 bis 18 Uhr) und K-Fu (Die. bis Do. 18:30 bis 20:30 Uhr) trainieren. Bei Interesse am Breakdanceworkshop oder an K-Fu kontaktiert Jana über 0176-23176595 und/oder kommt in der Gieszer zu den jeweiligen Zeiten vorbei. Nachdem sich die Akrobatikgruppe fast vier Jahre in der G16 getroffen hat, zieht diese nun über den Winter in die Südvorstadt, wo sie ihren Workshop weiter­führt. Bei Interesse könnt ihr superstine@web.de kontaktieren.

Das Lesecafé soll nach der Sanierung im vorderen Gebäude als Teil eines Tages­cafés untergebracht sein, welches die gemeinsame Bibliothek der Be­wohner­Innen des Projektes beherbergen und der Öffentlichkeit als Leihbibliothek sowie als Buch- und Infoladen dienen. Jeden Sonntag Nachmittag soll es dann auch wieder Kaffee, Kuchen und Lesungen geben.

Die Elektronik- und Multimedia­werkstatt (http://mme.gieszer16.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HomePage) ermöglicht elektronische Vernetzung und Informationsaustausch. Alle Interessierten können die zur Verfügung stehende Technik (PCs, Multimedia für Video- und Audioschnitte, Scanner, Digicam) nutzen, um eigene Ideen zu verwirklichen. Bei Interesse ist Dirk euer Ansprechpartner und Montags von 15 –19 Uhr in der Werkstatt im Vorderhaus neben dem Umsonstladen zu erreichen. Über das Leipziger-Freifunk Netzwerk bekommt auch die G16 einen Zugang zum world wide web. („freifunk.net ist eine nicht kommerzielle, für jeden offene Initiative zur Förderung freier (Funk) Netze im deutschsprachigen Raum. freifunk.net ist Teil einer internationalen Bewegung für freie, drahtlose Funknetze auf Basis der Wireless Local Area Networks (WLAN). Ziel aller freifunk.net Aktivitäten ist die Verbreitung freier Netzwerke und die Förderung der lokalen sozialen Vernetz­ung. Neben Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung zum Thema Freie Netze sehen wir es als unsere Hauptaufgabe Anlauf- und Verteilstelle zu sein. Damit freie Netze entstehen, muss es einen Raum geben, wo sich Menschen treffen und austauschen können. Diesen wollen wir zur Verfügung stellen.“)

Die drei Musikproberäume, durch die Künstler in jahrerlanger Eigeninitiative aufgebaut, werden heute von ca. 50 MusikerInnen genutzt. An jedem ersten Sonntag im Monat findet das Proberaumplenum um 19 Uhr im Plaque, Industriestraße 97, statt.

Der Kostümverleih ist leider vorübergehend geschlossen. Nach der Neueröffnung stehen wieder allen die fast 200 Kostüme, die von Theatern und Oper gespendet wurden, zum Verleih bereit.

Der Recyclinghof ist von der Schraube bis zur Heizung mit Materialien aller Art gefüllt. Weil es entweder „modernen“ Standards nicht mehr genügt oder weil Ansprüche gestiegen sind, wird in der heutigen Wegwerfgesellschaft vieles vernichtet, was eigentlich noch eine längere Nutzungsdauer vor sich hätte. Schaut mal vorbei, ob auch für euch noch etwas zu gebrauchen ist.

Der erste richtige Umsonstladen in Leipzig wurde am 9. Oktober 2005 im Vorderhaus eröffnet. Alles, was nicht mehr gebraucht wird, aber noch funktioniert und weiterhin nutzbar ist, kann hierher gebracht werden, um von anderen dann wieder kostenlos mitgenommen zu wer­den, auch ohne etwas zu geben. Alles Weitere erfahrt ihr jeweils an jedem Montag und Donnerstag von 15 bis 20 Uhr vor Ort oder per Email: umladen@gmx.net oder schaut auf die Homepage: www.umsonstladen-leipzig.tk.

Die Veranstaltungsräume sollen meist unbekannten Gruppen, Bands und KünstlerInnen Auftrittsmöglichkeiten bieten. Die Räume stehen für alle, die Parties, Konzerte, Theaterauftritte, Performances, Lesungen und Vorträge etc. organisieren wollen, zur Verfügung. Die Kunst kann schön, hässlich, chancenlos, revoltierend, kritisch, politisch, tadelnd etc. sein. Zur Koordination der diversen Termine trifft sich eine VeranstalterInnengruppe jeden Dienstag um 20:30 Uhr im Büro im Vorderhaus, um selbst oder mit den jeweiligen VeranstalterInnen zusammen die Veranstaltungen durchzusprechen und umzusetzen. Bei Interesse kommt vorbei oder kontaktiert sie unter: v-gruppeG16@gmx.de.

Die privaten Wohnräume werden derzeit von 12 Erwachsenden, 2 Kindern und 10 Hunden genutzt, die Lust an einem selbstorganisierten Wohnprojekt haben. Derzeit und eigentlich immer aktuell ist das Bauen, Reparieren und Sanieren, wofür jederzeit noch fleißige Hände benötigt werden. Momentan wird an der Rekonstruktion des Daches, Ausbau des Backstage, der Wohnräume und am Umbau der ehemaligen Ruhebar zur Holzwerkstatt gearbeitet. Jeden Mittwoch um 20:30 Uhr findet das NutzerInnentreffen im Büro statt, welches Fragen, Probleme und Anliegen um das Projekt klärt und für alle offen ist.