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Sicherheit im Doppelpack

Zwischen NATO-Gipfel und Innenministerkonferenz

Herrschaftskritiker_innen und Gipfel­stürmer_innen können schon mal ihre Sachen packen: 2009 stehen gleich zwei Großereignisse ins Haus, die genug Anlass zum Protest geben. So soll der jährliche NATO-Gipfel dieses Mal in Frankreich und Deutschland über die Bühne gehen. Die Konferenz selbst wird am 3. und 4. April 2009 in Strasbourg stattfinden, die „Geschäftsessen“ der Vertei­digungs­minister hingegen in Baden-Baden, 50 Kilometer von Strasbourg entfernt. Und im Herbst 2009 werden sich die europäischen Innenminister in Stockholm treffen, um dort den Rahmen für die Sicherheitspolitik der EU in den nächsten Jahren festzulegen. Dabei haben beide Veranstaltungen mehr mit­ei­nander zu tun, als mensch auf den ersten Blick vermuten würde.

Militärische Weltpolizei…

Der NATO-Gipfel soll nicht nur das 60jährige Bestehen des Bündnisses feiern. Es stehen auch weitreichende Veränderungen auf dem Programm. Die geplante Abschaffung des bisher geltenden Vetorechts soll künftige militärische Missionen vereinfachen, diese könnten in Zukunft auch ohne UN-Mandat möglich sein.

Auch die strategischen Richtlinien für die nächsten Jahre sollen dort festgelegt werden. Wie die aussehen könnten, macht ein von fünf ehemaligen Generälen verfasstes Strategiepapier (1) deutlich, das im April 2007 unter dem Titel „Towards A Grand Strategy For An Uncertain World“ („Hin zu einer umfassenden Strategie für eine unsichere Welt“) veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, auf das vorbereitet zu sein, was sich nicht vorhersagen lässt (…) Den westlichen Alliierten steht eine lange, andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer Gesellschaften und ihrer Lebensart bevor. Deshalb müssen sie Risiken auf Distanz halten, während sie ihre Heimatländer beschützen.“

Als mögliche Bedrohungen, vor denen die westlichen Gesellschaften präventiv mit militärischen Mitteln geschützt werden sollen, sehen die NATO-Strategen dabei den internationalen Terrorismus und das weltweite organisierte Verbrechen, mögliche Unruhen als Folge von Nahrungs­mittelkrisen, aus dem Klimawandel resultierende soziale Konflikte ebenso wie massenhafte illegale Einwanderung.

An dieser Aufzählung sieht man bereits, wie stark sich die Rolle des Militärs seit dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West gewandelt hat. Ein Angriff einer feindlichen Armee auf die „westlichen Gesellschaften und ihre Lebensart“ gehört jedenfalls nicht zu den angeführten Szenarien. Stattdessen sollen soziale Konflikte militärisch „bearbeitet“ werden. Die NATO (so das Konzeptpapier) müsse sich „zu einem effizienteren Instrument für die Analyse der sozio-ökonomischen Bedingungen entwickeln, die Sicherheitsproblemen zu Grunde liegen“ – natürlich nicht, um an den Ursachen etwas zu ändern, sondern um die Symptome besser bekämpfen zu können. Ziel ist es, potentielle Bedrohungen schon im Vorfeld zu erkennen und „präventiv“ zu bekämpfen. Aufgabe der NATO bei der Intervention in Krisenregionen soll es sein, für Stabilität in den betroffenen Staaten und die Errichtung von „Good Gover­nance“ zu sorgen, den „freien und gerechten Handel“ und den Zugriff auf Rohstoffe zu sichern – kurz gesagt, neue Märkte und Einflusszonen erschließen und dafür sorgen, dass auch dort die Kapitalakkumulation ungestört ablaufen kann.

Im Zuge dieser Entwicklung verschwimmen auch die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zusehends. Dem Strategiepapier zufolge braucht es, um den beschriebenen Gefahren erfolgreich begegnen zu können, ein Konzept von „Homeland Security“ (Heimatschutz), das beide Bereiche miteinander verknüpft – dies läuft auf die Errichtung einer „globalen Sicher­heitsarchitektur“ hinaus, bei der Militär, Polizei, Politik, Forschung und Zivilgesellschaft zusammenwirken sollen. Mit der Eindämmung bzw. Bekämpfung von Aufständen, Terrorismus und organisierter Kriminalität übernimmt das Militär immer mehr die Rolle einer „Weltpolizei“. Nicht umsonst soll z.B. die Bundesmarine mittlerweile gegen Piraten im Golf von Aden vorgehen. Die Diskussionen um den Einsatz der Bundeswehr ihm Inland bilden die Kehrseite dieser Entwicklung.

…polizeiliche Außenpolitik

In eine ähnliche Richtung denkt auch die sogenannte Future Group. Diese informelle Gruppe wurde 2007 auf Initiative Wolfgang Schäubles und des ehemaligen EU-Kommissars für Justiz und Innere Sicherheit Franco Frattini ins Leben gerufen. Neben diesen gehören ihr u.a. auch die Innenminister von Spanien, Portugal, Frankreich, Slowenien, Schweden, Ungarn, Belgien und der Tschechischen Republik an. Im Juni 2008 legte diese Gruppe den europäischen Regierungen ein Strategiepapier mit Empfehlungen für die Gestaltung der Sicherheits- und Rechtspolitik von 2010 bis 2014 vor. Das Dokument (2) trägt den schönen Titel „Freedom, Security, Privacy – European Home Affairs In An Open World“ („Freiheit, Sicherheit, Privatsphäre – Europäische Innenpolitik in einer offenen Welt“).

Darin fordern die Innenminister u.a. eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden und Geheimdienste. Vor allem der Datenaustausch soll erleichtert werden, um terroristische Bedrohungen besser abwehren zu können. Bestehende Datenbanken wie das Europol-Netzwerk EIS, das Schengen-Fahndungssystem SIS II und die Visum-Datenbank VIS sollen dafür miteinander verknüpft werden. Bis zur Realisierung dieses Traumes von der Super-Datenbank ist aber noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Nicht nur bestehende Inkompati­bilitäten bei der verwendeten Hard- und Software müssen überwunden und gemeinsame Standards bei der Datenerhebung eingeführt werden. Auch Datenschutz-Regelungen stehen den behördlichen Begehrlichkeiten noch im Wege.

Im zweiten Schritt soll es darum gehen, die so angehäuften riesigen Datenmengen (das Dokument spricht gar von einem „Daten-Tsunami“) sinnvoll zu ordnen und per Computer automatisch bestimmten Rastern entsprechend zu durchforsten. Der Wunschtraum der Sicherheitsarchitekten wäre es, diese potentiellen Gefährdungen schon im Vorfeld ausfindig machen und bekämpfen zu können. Eventuell auftauchendem Unbehagen auf Seiten der so überwachten Bürger soll propagandistisch begegnet werden: Es sei erforderlich, „den Bürgern der Europäischen Union zu erklären, wie Informationen verarbeitet und geschützt werden, auf der Basis von Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit“.

Ähnlich wie in dem NATO-Papier wird die „illegale Einwanderung“ als drängendes Problem ausgemacht. Um diese zu bekämpfen, sollen die Befugnisse der mit der Abwehr von Migrant_innen an der EU-Außengrenze befassten Frontex-Agentur erweitert werden. Dabei müssten z.B. die Kompetenzen der an den jeweiligen Einsätzen mit Schiffen und Flugzeugen beteiligten Staaten und die Verantwort­lichkeiten für Flüchtlinge, Asylsuchende und Schiffbrüchige geklärt werden. Gleichzeitig soll Frontex künftig mehr Autonomie, etwa bei der Ausbildung von Grenzschutztruppen und der Abschiebung von Migrant_innen, gegeben werden. Zudem sollen die Grenztruppen künftig auch außerhalb des EU-Territoriums, z.B. vor der afrikanischen Küste, operieren.

Denn auch die Innenminister sehen eine „wachsende wechselseitige Abhängigkeit von Innerer und Äußerer Sicherheit“. Nur logisch, dass sie sich Aufgabenbereichen zuwenden, für die sie bislang nicht zuständig waren. So fordern sie eine stärkere Einflussnahme der EU auf sogenannte „Dritt­staa­­ten“. Als „Kandidatenländer“, an denen ein besonders vitales Interesse von europäischer Seite bestünde, werden u.a. der Irak und dessen Nachbarstaaten, Afghanistan, China und Indien genannt. Innen-, Außen-, Verteidigungs- und Entwick­lungs­hilfe­minis­terien müssten zusammen­ar­beiten, um auch im Ausland etwaigen Bedrohungen begegnen zu können.

Dabei übernimmt nicht nur das Militär zunehmend polizeiliche Aufgaben – im Zuge der wachsenden „Internationalisierung von Konfliktlösungen“ findet auch eine Militarisierung der Polizei statt. So heißt es in dem Papier: „Die zunehmende Vielfalt an Bedrohungen lässt es für die EU und andere notwendig werden, mit sich überschneidenden Polizei- und Militärproblemen in Krisenregionen zurecht zu kommen.“ Entsprechend werden deutsche Polizeibeamte bald nicht mehr nur als Ausbilder in Krisengebieten tätig werden. Auch paramilitärische Einheiten der Bundespolizei sollen künftig als „Schnelle Eingreiftruppe“ bei Auslandseinsätzen dabei sein – im Rahmen der europäischen Gendarmerietruppe EGF. Eine erste Hundertschaft wird bereits im bayrischen Ort Sankt Augustin ausgebildet, weitere Einheiten sollen bis 2010 folgen.

Gegenmaßnahmen

Auch die Polizei wird also den Anforderungen der zunehmenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik angepasst. Beim Gerangel um geopolitische Einflusszonen, Rohstoffressourcen und Absatzmärkte will die EU nicht abseits stehen. Mit dem Aufbau europäischer „battle groups“ stehen mittlerweile auch die Mittel bereit, um den eigenen Interessen im weltweiten Konkurrenzkampf wirksam, und notfalls auch gewaltsam Geltung zu verschaffen.

Im Gegenzug wird auch die Innere Sicherheit verstärkt an einem militärischen Konzept des „Zivilschutzes“ ausgerichtet. Konkrete Bedrohungen treten dabei innen- wie außenpolitisch hinter allgemeine „Risi­ko­analysen“ zurück: Um ins Visier der Polizeibehörden zu geraten, reicht mehr und mehr der bloße Verdacht aus, man plane eine Straftat. Und auch das Militär will künftig nicht mehr warten, bis ein potentieller Konflikt tatsächlich eskaliert. Die Bedrohung durch den „internationalen Terrorismus“ liefert hier wie dort die Rechtfertigung dafür. Damit diese Neuausrichtung der europäischen Innen- und Außenpolitik nicht unbemerkt und unwidersprochen über die Bühne geht, formiert sich zur Zeit ein breites Bündnis antimilitaristischer und antikapita­listischer Gruppen (3).

Auch die Gegenseite bereitet sich auf den NATO-Gipfel vor. Ein Streitpunkt ist zum Beispiel die Lage und Größe möglicher Protestcamps. Der baden-württem­bergische Innenminister Heribert Rech erklärte, man werde nur geordnete Camps in überschaubarer Größe zulassen. Während das Anti-Gipfel-Aktionsbündnis bei Strasbourg und Kehl zwei Camps für bis zu 18 500 Menschen einrichten will, möchte der Innenminister nicht mehr als 1.500 Personen dulden – sonst könnte die Polizei überfordert sein.

Zudem sollen schon im Vorfeld des Gipfels großflächige Kontrollen durchgeführt werden, um z.B. zu verhindern, das Waffen auf das Campgelände geschmuggelt werden. Mutmaßliche Gewalttäter will man mit strengen Meldeauflagen und Aufenthaltsverboten fernhalten. Um die jeweiligen Veranstaltungsorte in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden werden Sicher­heits­zonen eingerichtet. Es wird davon ausgegangen, dass das Stadtzentrum von Strasbourg während des Gipfels komplett gesperrt und selbst für Anwohner nur mit Passierschein zugänglich sein wird.

Einen Zaun wie in Heiligendamm wird es wohl weder in Strasbourg noch auf deutscher Seite geben. Einem kürzlich veröffentlichten Sicherheitskonzept für Baden-Baden zufolge soll es dort um die absolute Sperrzone herum eine weitere Sicherheitszone mit starker Polizeipräsenz geben, um das „Einsickern“ von „Störern“ zu verhindern. Die Bundeswehr soll sich derweil um die „Sicherheit im Luftraum“ kümmern – ob darunter (wie in Heiligendamm) auch Aufklärungsflüge über die Protestcamps verstanden werden, ist derzeit noch unklar. Ebenfalls ist angedacht, die Grenzübergänge zwischen Deutschland und Frankreich an diesem Wochenende zu sperren. Hoffen wir mal, dass dieses Konzept nicht aufgeht und sich im April genügend viele Gegen­de­mons­trant_innen in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden einfinden, um den großen wie den kleinen Sicherheitsstrategen die Suppe gebührend zu versalzen.

(justus)

(1) als PDF ist das Dokument im Internet unter euro-police.noblogs.org/gallery/3874/grand_strategy.pdf zu finden

(2) siehe euro-police.noblogs.org/gallery/3874/eu-futures-jha-report.pdf

(3) Mehr dazu unter gipfelsoli.org und euro-police.noblogs.org

Im Unterholz der Moderne (1)

Religion, Vernunft, Ideologie

Gut 200 Jahre ist es her, dass Imma­nuel Kant seine berühmte Forderung, „Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen“, erhob und Auf­klä­rung als den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Schon der Begriff „Aufklärung“ („enligh­tenment“ im Englischen) verweist auf den hehren Anspruch des Unterfangens: Alles soll vom Licht der Vernunft durchleuchtet, die Gesellschaft nach den Regeln der Rationalität umgestaltet werden. Damit ist aber längst kein Zeitalter universeller Vernunft angebrochen. Zwar haben die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen ihr Monopol auf die letztgültige Erklärung der Welt verloren – die Religiosität ist mit dem Verlust des christlichen Monopols aber nicht verschwunden.

Im Gegenteil lassen sich sogar Anzeichen für einen religiösen roll-back, ein erneutes Erstarken des Glaubens ausmachen. Nicht nur in islamisch geprägten Teilen der Welt gewinnen fundamentalistische Be­wegungen an Bedeutung. Auch hier­zu­lande bemühen sich die christlichen Kirchen, verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Wie das ausschaut, konnte man vor kurzem in Leipzig beobachten, in der Debatte über das neugebaute „Paulinum (siehe FA! # 31). Auch die pro-tibetischen Proteste im Vorfeld der Olym­­pi­schen Spie­­le in Peking 2008 dürften nicht nur mit den Lebensbedingungen der tibetischen Bevölkerung, sondern auch mit der kaum von Sachkenntnis ge­trübten Popularität des Dalai Lama zu tun gehabt haben (1).

Die heutigen Erscheinungsformen der Religiosität sind freilich nicht einfach nur irrationale Restbestände in einer ansonsten durch und durch rationalen Gesellschaft – eine solche Sichtweise würde das Statische der Religiosität zu sehr betonen. Selbst wenn die jeweiligen Glaubensinhalte und Praktiken gleich bleiben, kann die Funktion, die sie in einer bestimmten Gesellschaft haben, stark variieren. So wäre es z.B. absurd zu glauben, die religiöse Praxis neuheidnischer Gruppen, die sich auf alte germanische oder keltische Religionen beziehen, sei mit der ihrer Vorbilder identisch, egal wie sehr mensch sich dabei um genaue Rekonstruktion von Riten und Glaubensvorstellungen bemüht. Auch die Selbstwahrnehmung religiöser Gruppierungen, die sich als Hüter einer „ewigen Wahrheit“ begreifen, ist also illusorisch. Im Gegensatz dazu soll hier die Religiosität (bzw. einige ihrer Spielarten) als soziales, sehr „diesseitiges“, zeit- und ortsgebundenes Phänomen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.

Einkaufsbummel im Weltanschaungsladen

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich Form und Funktion der Religiosität in den letzten 100 Jahren gravierend verändert haben: Wie so ziemlich jeder Teil der menschlichen Ex­is­tenz ist heute auch sie zu einer Sache des Marktes geworden. Wer ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sinnstiftung und weltanschaulicher Orientierung hat, kann sich aus dem Sortiment die Ware aussuchen, die ihm oder ihr am ehesten zusagt. Im Zuge der Säkularisierung hat sich neben den etablierten Kirchen eine Marktlücke für ein ganzes Spektrum „parareligiöser“ (2) Strömungen aufgetan. Als Oberbegriff für dieses Spektrum hat sich das Schlagwort „Esoterik“ eingebürgert – gerade weil der Begriff ebenso diffus ist, wie die Sache, die er bezeichnet, soll er auch hier weiter verwendet werden. In ihrer Vermitteltheit über den Markt ist die Esoterik trotz aller Rückgriffe auf ältere Traditionen ein genuin modernes Phänomen, eine in gewissem Sinn wirklich „neue“ Form von Religiosität. Als solche soll sie im nächsten Heft genauer unter die Lupe genommen werden – hier sollen zunächst einige theo­re­tische Vorannahmen geklärt und der ge­sell­schaftliche Kontext dieser neuen Form der Religiosität un­­tersucht werden.

Dieses Unterfangen stößt allerdings auf Schwierigkeiten – zuallererst die Unübersichtlichkeit des zu beackernden Feldes. Bleiben wir noch kurz bei der Esoterik. Dieser Begriff bezeichnet ein loses Bündel von Gruppierungen, Weltanschauungen und Praktiken, dessen kleinster gemeinsamer Nen­­ner der diffuse Glaube an im Ver­bor­genen wirkende „höhere Kräfte“ ist – egal, ob diese nun als personifizierte Mächte (Gottheiten, Engel, Seelen usw.) oder abstrakter als „kosmische Energie“ oder „Schicksal“ begriffen werden. Sonderfälle (z.B. UFO-Gläubige und Weltverschwörungstheo­retiker_innen, deren Literatur in Buchhandlungen ebenfalls unter dem Schlagwort „Esoterik“ einsortiert wird) müssen dabei mitbedacht werden. Von diesem weltanschaulichen Minimalkonsens abgesehen, gibt es aber auch große Unterschiede – die jeweiligen Praktiken können körperzentriert sein oder im Gegenteil auf eine „reine Geistigkeit“ abzielen, in stark individualisierter Form oder in festen Gruppenstruk­turen ablaufen, diese Struk­turen wiederum können flache Hierarchien aufweisen oder um eine autoritäre Gurufigur zentriert sein usw.

Die Schwammigkeit des Gegenstandes ist aber nicht nur durch die Vielzahl der weltanschaulichen Angebote bedingt, sondern verweist auf ein immanentes Problem von Religiosität unter den Bedingungen der Moderne. Um dieses zu erfassen, müssen wir uns das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Rationalität und Irrationalität im religiösen Denken ein wenig genauer ansehen.

Religion als Weltanschauung, als „Theologie“ im weitesten Sinne, als System von Aussagen also, baut sich auf Dogmen, willkürlich gesetzten und rational nicht weiter begründbaren Basisbehauptungen, auf. Logisch lassen sich diese weder widerlegen noch beweisen – man kann höchstens glauben, eine bestimmte Aussage entspräche der Wahrheit. Tut mensch das, kann man allerdings auf dieser Basis durchaus folgerichtig weiterargu­men­tieren. Hat man z.B. die Behauptung „Die Bibel ist Gottes Wort“ akzeptiert, ist es nur logisch, sich z.B. über das Wesen der Engeln Gedanken zu machen – die werden schließ­lich auch in der Bibel erwähnt (was natürlich nicht beweist, dass es Engel wirklich gibt). Eben weil religiöse Gruppierungen zur Vermittlung ihrer Ansichten nicht auf die Sprache als wichtigstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation verzichten können, sind religiöse Weltanschauungen immer eine spezifische Verbindung von Irrationalität und logischer Rationalität (Logik ist schließlich vor allem eine Sache des präzisen Sprachgebrauchs).

Die religiösen Weltanschauungen zugrundeliegenden Dogmen geraten so lange nicht als bloße Behauptungen in den Blick, wie entweder der Kreis der Gläubigen so nach außen abgeschottet ist, dass seine Mitglieder gar nicht erst mit der Möglichkeit anderer Weltsichten konfrontiert werden, oder eine strafende Instanz existiert, die Abweichungen vom „rechten Glauben“ mehr oder weniger gewaltsam unterbindet. Beide Bedingungen sind in den westlichen Industrienationen heute kaum noch gegeben – ein hohes Maß an Mobilität, allgemeine Schulpflicht, neue Kommunikationsmedien usw. machen völlige Abschottung schwierig, und das Verbrennen von Menschen auf öffentlichen Plätzen wird mittlerweile zu Recht als barbarische Praxis angesehen. Zudem ist der Religion mit den Naturwissenschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen, die den großen Vorteil hat, nicht nur vage Versprechungen für das Jenseits, sondern auch praktische Ergebnisse im Diesseits liefern zu können.

Die fundamentalen Dogmen verlieren damit an Verbindlichkeit, die sorgfältig konstruierten religiösen Aussagensysteme geraten ins Wanken. Eben das ist der Grund, warum die religiösen Vorstellungen heute zunehmend abstrakter werden, sich religiös denkende Menschen immer seltener zu klaren Aussagen bezüglich des Wesens des „Göttlichen“ hinreißen lassen – die Religiosität zieht sich im Zuge der Säkularisierung und der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften auf weniger angreifbare Positionen zurück. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der im Zorn gelegentlich mit Blitz und Donner dreinhaut, wird z.B. ersetzt durch die Idee einer abstrakten höheren Macht. An eine solche unpersönliche „höhere Macht“ glauben laut der Shell-Jugendstudie von 2006 19% der Jugendlichen in Deutschland, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 33% (an einen persönlichen Gott glauben dagegen nur noch 22%). So ließe sich Esoterik auch definieren: als Religiosität von Leuten, die aus einem säkularisierten Milieu stammen, aber trotz fehlender oder geringer Bindung an eine Kirche ein vages Bedürfnis nach „Spiritualität“ haben. Es fragt sich nur, woher dieses Bedürfnis kommt.

Dafür müssen wir uns den gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem diese neue Form der Religiosität steht. Denn ob mensch sich den Schöpfer der Welt nun als etwas grantigen älteren Herrn oder als fliegendes Spaghettimonster vorstellt, ist zunächst mal beliebig – nachprüfen lässt sich die Behauptung im einen wie im anderen Falle nicht. Wenn sich jemand für die eine oder die andere Art des Glaubens entscheidet, ist diese Entscheidung in erster Linie sozial bedingt, z.B. dadurch, dass die entsprechende Religion ein hohes Ansehen genießt, die eigenen Eltern dieser anhängen oder dass sie bestimmte individuelle Bedürfnissen bedient. Wäh­len wir ein anderes Beispiel: Wenn ich behaupten würde, Gott wäre mir er­schie­nen und hätte mir befohlen, kleine Kin­der zu töten und aufzufressen, so würde mir wohl jeder(r) entrüstet widersprechen – widerlegen ließe sich die Aussage nicht, aber weil sie anerkannten gesell­schaft­lichen Normen zuwider läuft, würde niemand sie überzeugend finden.

Wir sollten also die Esoterik in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen einordnen, um zu erklären, warum bestimmte Dogmen trotzdem weiterleben, in immer neuen Zusammenhängen zum Vorschein kommen, obwohl sie nicht mehr von einer kirchlichen oder staatlichen Gewalt gestützt werden.

Dabei kommen wir nicht umhin, von Herrschaft zu sprechen. Meiner These nach beruht Herrschaft nicht nur auf einer bestimmten Verteilung materieller Güter (Lebensmittel, Geld, Waffen usw.) beruht, sondern komplementär dazu auf einer entsprechenden „gesellschaftlichen Mythologie“. Herrschaft wird nicht nur durch rohen Zwang durchgesetzt – sie ist auf die Mythologie angewiesen, um sich zu legitimieren, d.h. die Leute dazu zu bringen, die über sie ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren. Entgegen einem vulgärmarxistischen Ideologiebegriff wäre diese gesellschaftliche Mythologie also nicht nur ein „Überbauphänomen“, etwas der ökonomischen „Basis“ Nachgeordnetes und aus dieser Ableitbares, sondern als konstituierenden Bestandteil eines Ge­samt­zusammenhangs von Herrschaft – die kapitalistische Ordnung der Dinge stützt die gesellschaftliche Mythologie und wird ihrerseits von dieser gestützt. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft schlägt sich diese Mythologie nicht nur in Religion und Esoterik, sondern auch im „Alltagsverstand“ (3) und im wissenschaftlichen Diskurs nieder.

Kritik der Religionskritik

Um diese doch etwas dreiste Behauptung zu stützen, greifen wir noch einmal auf ein (willkürlich gewähltes, aber hoffentlich erhellendes) Beispiel zurück. Denn unhin­terfragte Vorannahmen spuken auch dort herum, wo mensch sich auf größtmöglicher Distanz zum Glauben wähnt, in den di­versen Formen von naturwissenschaftlich fundierter Reli­gionskritik. Eine Or­ga­nisation, die sich dafür stark macht, sind die Brights Deutschland, laut Selbstdarstellung „eine basisdemokratische Bewegung, die für die Gleichberechtigung von Naturalisten eintritt“. Schauen wir uns einen ihrer Texte mal genauer an (4).

Der Artikel trägt den Titel „Gottlos auf der Suche nach Wahrheit“ und enthält durchaus sinnvolle Argumente: Der Verfasser erklärt, dass es Adam und Eva nachweislich nie gegeben hat, er zitiert einige blutrünstige Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und geiselt die „homo­phobe, sexistische, barbarische und primitive Unterdrückermoral“ der christlichen und mus­li­mischen Religion – viel­leicht etwas platt, aber nicht falsch. Sein Motto beschreibt er am Ende so: „Nichts glauben. (…) Wenn man lange ge­nug alles in Frage stellt, stehen die Chancen gut, dass man sich irgend­wann Naturalist nennt oder Bright. Ein Bright ist jemand, der nicht an Übernatürliches glaubt, nicht an Gott, den Teufel, nicht an Elfen oder den Weihnachtsmann.“

So weit, so gut – aber welchen Begriff von „Natur“ führt der selbsternannte „Naturalist“ da gegen das Übernatürliche ins Feld? Schauen wir noch mal genauer hin: So beruft sich der Autor auch auf Greg Graffin (Biologie-Professor und Sänger der Punkband Bad Religion) als Zeugen. In positivem Bezug auf einen von diesem verfassten Essay heißt es da unter anderem: „Graffin verurteilt die Leugnung der menschlichen Natur, wie sie sowohl von der Linken, etwa von Gender-Feministinnen und anderen Postmodernisten, als auch von der Rechten, vor allem der religiösen Rechten und von Rassisten, betrieben wird.“

Das ist, kurz gesagt, Nonsens – und eben deshalb aufschlussreich. So leugnen Gender-Feministinnen nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen ist, sie bestreiten bloß, dass soziales Verhalten von der Biologie determiniert ist. Nur weil Mann z.B. einen Penis hat, muss er nicht unbedingt jeden verprügeln, der einen komisch anschaut – wenn er sich so verhält, dann eher um einem bestimmten gesellschaftlichen Ideal von „Männlichkeit“ zu entsprechen (z.B. aus Angst, man würde sonst für schwul gehalten). Im Gegenzug berufen sich Rassisten stän­dig auf die „menschliche Natur“ und führen dabei exakt den Kurzschluss von Biologie und sozialem Verhalten vor, den Gender-Feminis­tin­nen kri­ti­sie­ren: So meinen Rassisten, dun­­kel­­häu­tige Men­schen wären sexuell be­son­­ders trieb­haft und könnten gut trommeln, während z.B. Juden von ihrer rassischen Veranlagung dazu getrieben würden, besonders gierig zu sein und ständig Welt­ver­schwö­­run­gen anzuzetteln.

Die ursprüngliche Argumentation Greg Graffins mag komplexer gewesen sein, als unser Religionskritiker sie wie­­dergibt (5). Dass Graffin auch der Meinung ist, die Strophe-Refrain-Form in der Musik hätte sich deshalb durchgesetzt, weil sie „eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur“ erfülle (6), zeigt jedenfalls, dass auch er offenbar Probleme hat, biologische Evolution und Kulturgeschichte auseinander zu halten. Die Neigung zu soziobiologischen Kurzschlüssen scheint er also mit den Rassisten zu teilen – seine Rassismuskritik dürfte auf den Vorwurf hinauslaufen, Rassisten würden nicht genug von Biologie verstehen.

Es fragt sich, wie weit man mit einem solchen Ansatz bei der Religionskritik kommt: Was sagt es bspw. aus, wenn man bei meditierenden buddhistischen Mönchen Veränderung in den Hirnströmen feststellt? Am Ende landet mensch noch bei der Idee eines „religiösen Gens“, welches der Schöpfer selbst uns vorsorglich eingepflanzt hat (wie clevere Theologen argumentieren könnten) bzw. uns dazu bringt, allen möglichen Unfug zu glauben (wie Rationalisten sagen würden). Im einen wie im anderen Fall stünde die Religionskritik blöd da – sie wäre dann ein ähnlich sinnloses Unterfangen wie z.B. eine Kritik des Verdauungssystems.

Mit einem biologistischen Begriff von „menschlicher Natur“, wie unser Re­ligons­kritiker ihn hier gegen die Religion ins Felde führt, stecken wir schon tief im Sumpf der gesellschaftlichen Mythologie. Es geht hier nicht bloß um eine „selbstverschuldete“, sondern um eine „fremdverschuldete Unmündigkeit“, die gesellschaftlich produziert wird. Auch wissenschaftliche Theoriebildung findet schließ­lich nicht im luftleeren Raum statt – wie bei der Religion lassen sich hier „interessierte Irrtümer“ und unhinterfragte Voraussetzungen finden.

Metaphysik der Macht

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge von Trennungen, von Ein- und Ausschlüssen. Nationalstaaten trennen zwischen Staats­bürger_innen und „Ausländern“. Die Staatbürger_innen werden ihrerseits nach biologischem Geschlecht, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben usw. sortiert. Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schließt die Verlierer von bestimmten Erwerbsmöglichkeiten aus. Das Bildungssystem selektiert Menschen je nachdem, ob sie es innerhalb einer bestimmten Zeit schaffen, sich eine vorgegebene Menge an Wissen anzueignen oder eben nicht. Das Eigen­tumsrecht trennt die Erwerbstätigen von den Produktionsmitteln, die warenproduzierende Wirtschaft trennt Menschen von den Gütern, die sie vielleicht brauchen, aber nicht bezahlen können. Staatliche und nichtsstaatliche Herrschaft trennt zwischen denen, die Entscheidungen treffen, und denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind.

Kein besonders vernünftiges System, sollte man meinen – jedenfalls kein besonders angenehmes. Dieses System von Trennungen ist nicht nur von Menschen produziert und bedarf fortwährenden menschlichen Handelns, um sich zu reproduzieren. Es erzeugt auch fortwährend Konflikte, die für die Gesellschaftsordnung potentiell bedrohlich sind und deshalb kontrolliert werden müssen. Diese Kontrolle findet dabei nur in Ausnahmefällen durch gewaltsame Unterdrückung statt (auch wenn Herrschaft darauf nicht verzichten kann), sondern eben mit Hilfe der gesellschaftlichen Mythologie. So sehr es bei genauerer Betrachtung unübersehbar ist, dass die gesellschaftlichen Trennungslinien auf menschlichem Handeln und sozialer Interaktion beruhen, so heikel ist diese Erkenntnis für diejenigen, die meinen, ein Interesse am Fortbestand dieser Trennungen zu haben. Hier kommen die oben beschriebenen „interessierten Irrtümer“ wieder in´s Spiel – wer Angst vor Veränderung hat, hat eben ein Interesse an einer Weltsicht, in der die Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse ihre Grundlage in einer ewigen „Natur“ oder „göttlichen Vorsehung“ haben.

So mögen militante Nationalisten viel­leicht gerade mit handfester Gewalt daran arbeiten, ein homogenes „Volk“ zu schaffen, indem sie diejenigen vertreiben oder umbringen, die ihrer Meinung nach nicht dazugehören (wie es z.B. in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war) – aber sie werden dabei der festen Überzeugung sein, nur das wiederherzustellen, was „schon immer“ so war. Ein anderes Beispiel: Die Rolle des Mannes als „Familienernährer“ mag ein Produkt des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts sein – dennoch werden sich genug an Geschlechterfragen uninteressierte Historiker finden, die diese gesellschaftliche Arbeitsteilung schon in der frühen Steinzeit wiederzufinden meinen, und genug Soziobiologen, die diese mit der biologischen Ausstattung des „Mannes“ bzw. der „Frau“ erklären.

Die „interessierten Irrtümer“ müssen dabei nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Komplementär dazu gibt es auch eine „interessierte Wahrheitsproduktion“. Ein Wirtschaftswissenschaftler mag vielleicht insgeheim dem liberalen Glauben an die „unsichtbare Hand des Marktes“ anhängen – er kann dennoch durchaus wahre Aussagen über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft produzieren. Der grundlegende „Irrtum“ muss in der Theorie nicht formuliert werden, er wird aber dennoch insgeheim den Lauf der Theorieproduk­tion beeinflussen. Dabei funktioniert der wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität und „Interesselosigkeit“ oft genug als subtile Ver­schleierungstaktik: Wer von sich behauptet, kein Interesse zu haben, will in der Regel, dass alles so bleibt wie es ist.

Da das wissenschaftliche Denken die beobachtbaren Fakten freilich nicht gänzlich ignorieren kann, gerät es dabei auch immer wieder in potentiell produktive Widersprüche: Es stellt sich heraus, dass die Realität sich anders verhält, als sie es der Theorie nach tun sollte – also muss nach einer Theorie gesucht werden, die die neu ins Blickfeld geratenen Fakten besser erklärt.

Dies wäre eine produktive Reaktion auf zum Vorschein kommende Widersprüche. Es gibt freilich auch eine unproduktive Art der Reaktion: die Produktion eines neuen „interessierten Irrtums“ eben.

Und hier kommt wieder die Esoterik in´s Spiel. So ist der Glaube an Verschwörungstheorien völlig folgerichtig, wenn mensch z.B. daran festhält, Eigentum und kapitalistische Konkurrenz als naturgegeben anzusehen, aber gleichzeitig den Fakt, dass dieses Wirtschaftssystem ständig unerfreuliche Folgen nach sich zieht, nicht ignorieren kann. Der Widerspruch zwischen zwei in einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbaren Aussagen wird nicht gelöst, indem mensch seine bisherigen Erklärungsmodelle hinterfragt und verbessert – wenn mensch sowohl an Aussage a („Kapitalismus ist gut und normal“) als auch an Aussage b („Irgendwas läuft hier falsch“) festhält, bleibt als Ausweg nur der Sprung in´s Irrationale: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern eine im Verborgenen wirkende Macht, eine Verschwörung finsterer Hintermänner.

Aber Verschwörungstheorien sind nur ein Beispiel esoterischen Denkens – und nicht einmal dessen populärste Spielart. Im nächsten Heft soll anhand einiger konkreter Beispiele der Zusammenhang zwischen Esoterik und Gesellschaft, ökonomischem „Unterbau“, gesellschaftlicher Mythologie und esoterischem Denken näher untersucht werden.

(justus)

 

(1) siehe dazu u.a. Colin Goldner, „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ Alibri Verlag 1999

(2) „para-“, lat. für „halb“. Die Grenzlinie zwischen solchen parareligiösen Phänomenen und „echten“ Religionen ist relativ willkürlich, entscheidend sind dabei Kriterien wie gesellschaftliches Ansehen und Alter einer religiösen Weltanschauung, innere Systematik der jeweiligen „Theologie“ und die organisatorische Festigkeit einer Gruppe.

(3) vgl. dazu z.B. Theo Votsos, „Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci“, Argument Verlag 2001, S. 122-130

(4) Trust Magazin # 125, August/September 2007. Weitere Infos findet ihr unter www.brights-deutschland.de

(5) Graffins Essay „A Punk Manifesto“ könnt ihr unter punkhistory0.tripod/punk/id2.html nachlesen

(6) Testcard # 12, 2003, S. 107

Editorial FA! #34

„Pack die Badehose ein, nimm das Feierabend!-lein und dann nichts wie raus zum Cossi…“ Die Sonne lacht und die Redax schwitzt – weniger wegen der Hitze, sondern vielmehr, um den anberaumten Er­schei­nungstermin halten zu können, damit Ihr, liebe Feierabend!-Leser_innen, erfri­schen­­de Lektüre für die warme Jahreszeit habt.

Auf die warmen Tage werden wieder kalte folgen – da ist ein Dach über dem Kopf un­um­gänglich, am Besten ein selbstbestimm­tes: So bemühen sich Menschen in der Arnie26 um ein Hausprojekt (S.10f), in Magde­burg Besetzer_innen um ein Libertäres Zentrum (S.13), die G16 um einen dauerhaften legalen Besitzstatus (S.9) und die Asylbe­wer­ber_innen in Leipzig um die Abwendung der Abschiebung ins Containerlager (S.1/4).

Unter dem Dach des Feierabend! ist auch noch Platz für Schreiberlinge. Gerade jetzt, wo es auch in Halle zwei neue Verkaufsstellen (la carot, VL) gibt, suchen wir Hallenser Redakteure. Den Auftakt einer hoffentlich dauerhaften Halle-Seite macht ein Bericht über den Protest gegen den Thor-Steinar-Laden (S.12).

Diesmal hoffen wir übrigens auf einen super-sonder-mega-scharf-Druck des Heftes, um Euch ein wenig für die letzte Ausgabe zu entschädigen. Sorry, das war so nicht gewollt!

Zu guter Letzt: die Verkaufsstelle des Monats ist die Schatzinsel, ein sympathischer Späti im Leipziger Westen, wo es seit Neuestem auch den Feierabend! gibt.

Eure Feierabend!-Redax

Alles nur ein Spiel?!

Über das umstrittene Amateurtheaterstück ULTRAS

Im Thalia-Theater Halle plaudern die „Ultras“ aus dem Nähkästchen. 10 nette Typen zaubern da einen unterhaltsamen Theaterabend auf die Bretter, in dem sie beschreiben wie die bösen Polizisten sie verprügeln, wie sie Transparente für ihren Lieblingsverein den Halleschen Fuß­ballclub (HFC) gestalten und wie sie am Marathon für krebskranke Kinder teilnehmen. Das ganze ist so gut inszeniert, so witzig, spritzig umgesetzt, dass ich beinahe im Programmheft übersehe, dass die Figuren auf der Theaterbühne und ihre Schauspieler die selben Namen tragen. Ich will gerade aufstehen und mich der standing ovation nach der 5. Vorstellung anschließen – habe nur eben kurz das Programmheft überflogen, da wird dieser unterhaltsame, flache Abend plötzlich verwirrend emotional. Ich ahne plötzlich warum das muskulöse Vater-Sohn-Gespann neben mir meine lauten Lacher über die Selbstironie der Hooligans mit so giftigen Blicken bedacht hatte – weil es gar keine Selbstironie in dem Stück gab. Mein Gewissen löst die erste unangenehme Emotion des Theaterabends aus. Ich fühle mich manipuliert von diesen Kumpels auf der Bühne, die so gut spielten, noch dazu in einem soziokulturellen Projekt, wo ich sonst ängstliche Amateure erwarte. Sie hatten nicht gespielt.

Knappe anderthalb Stunden Theater beschreiben den Alltag und die Geschichten einer Gruppe von „Halle-Ultras“, lose an den zeitlichen Rahmen von drei Fußballbegegnungen des HFC mit anderen Teams gekoppelt. Auf der Drehbühne steht eine Fankurve, die sich rotierend in eine Wand mit Dönerbude verwandeln kann. Den Text für dieses Projekt schrieb Dirk Laucke, ein junger anerkannter Dramatiker mit einer Vorliebe für konfliktträchtige, aktuelle, soziale Themen. Das Geld für das Projekt lieferte die Bundeskulturstiftung mit 67.000 Euro.

Zwölf echte Ultrafans erspielen rasant und selbstbewusst skizzenhafte Situationen mit kurzen, pointierten Dialogen. Dazwischen moderieren sie die Übergänge an, improvisieren mit den abendlichen Gegebenheiten und verstehen es gekonnt, die Zuschauer in ihren Geheimpakt hinein zu ziehen, eine einmalige Insider-story. Dass da Amateure auf der Bühne stehen, versuchen sie nicht zu vertuschen. Der Slang ist heimatlich im Klang und ordinär in der Wortwahl. Das psychologische Mit­einander nach Stanislawski brauchen sie nicht, sie erzählen einfach nur aus ihrem Leben. Der Eine ist ARGE-Mitarbeiter, ein Anderer schafft auf dem Bau, für die Beschreibung des Seelenlebens reichen wenige Vokabeln. Trotzdem ist es kraftvoll und archaisch wenn die neun HFC-Fans es schaffen die Zuschauer des Thalia-Theaters zur Teilnahme an einer ihrer Choreographien zu bewegen. Hier wird die Begeisterung für den Sport spürbar, aber auch der schmale Grat zur Massenhysterie der jeder Grund recht ist.

Die Idee für das Projekt hatte Intendantin Annegret Hahn. Sie wollte einen kulturellen Beitrag zur präventiven Arbeit der Stadt Halle gegen die immer wiederkehrenden gewalttätigen Auseinandersetzungen der HFC-Fans leisten. Sie fragte Dirk Laucke, der sich dann gemeinsam mit Projektleiterin Kathrin Westphal in den HFC-Block begab und zu recherchieren begann. Zu Beginn seiner Arbeit saß er mit seinen Spielern im Fan-Bus. Jetzt haben diese sich von ihm distanziert und werfen ihm vor, er habe sie mit seinem zugespitztem Text in die rechte Ecke gedrängt. Gleich zu Beginn des Stückes stimmt ein „Sportjournalist“ die Zuschauer auf diese Arbeitsweise ein, indem er sie darauf vorbereitet, dass sämtliches Material des Stücks in der Realität gesammelt wurde – hier wird „dokumentarisches Theater“ gespielt. Sowohl im Publikumsgespräch als auch in der 3sat Kulturzeit und dem bereits umfangreichen Web-Diskurs wiederholen und verteidigen die Macher ihr Werk, dessen Ziel von Anfang an nur gewesen sei, das Leben der HFC-Fans auf die Bühne zu holen, einfach so.

An dieser Stelle lohnen sich zwei Fragen: „Was macht dieses Theaterstück?“, und „Was macht es nicht?“

Das Theaterstück gibt neun HFC-Fans die Gelegenheit ihre Sicht auf die Randale, die Pressereaktion, auf ihren Fan-Alltag und ihre Liebe zum HFC kund zu tun. Auf der Bühne geschieht das vor allem auf der Textebene, die Sachverhalte werden be­sprochen, auch die kritischen Themen wie Antisemitismus, Gewaltbereitschaft und Rechtsextremismus. Dafür wurde als An­ta­gonist ebenjener Sportjournalist ein­ge­setzt. Das Stück bringt uns diese Typen näher, so nah dass sie für einen wie mich, der keine Vorkenntnisse über die Ultraszene hat, zu Sympathieträgern werden, deren Freud und Leid ich auf der Bühne teile.

Das Theaterstück unternimmt hingegen nicht den Versuch einer Aufarbeitung. Die HFC-Fans bereuen nichts, sie rechtfertigen und verharmlosen nur. Die Macher haben ihren Spielern während des Prozesses keinen psychodramatischen Rollenwechsel zugemutet. Keiner der HFC-Fans musste in die Rolle eines querschnittsgelähmten Familienvaters schlüpfen, der versehentlich zwischen die Stadionfronten geraten ist. Das Stück meidet angst- und haßerfüllte Situationen, als seien Emotionen nicht der Treibstoff des Theaters sondern giftiger Nebel. Die kritischen Themen bleiben dadurch fein auf der rationalen Ebene, mehr noch, sie werden im Gegenteil durch den Sprachwitz der kecken Schauspieler sogar noch mit positiven Emotionen aufgeladen. Das Stück bietet darum nicht den leisesten Ansatz einer Katharsis – einer Reinigung. Weder in den Spielern, noch in den Zuschauern.

Ein wirkliches Signal für einen Aufbruch zu mehr Toleranz hätte stattdessen eine bewusste Fiktionalisierung von Figuren und Story, ein Rollentausch mit Opfern, die reale Erfahrung von negativen Gefühlen auf der Bühne sein können. Wenn die Zuschauer merken, die da oben auf der Bühne haben sich da echt was zugemutet, die erweitern ihren Horizont.

Die Bühne kann mehr als nur Realität widerspiegeln, sie kann ihr etwas hinzufügen. Moreno, der Erfinder des Psychodramas nannte das den „Surplus-Effekt“.

So aber bleibt mir die peinliche Scham, die ich auch beim Lesen von Nabokovs „Lolita“ verspürte, wo ich mit einem Pädophilen mitfiebere: Wie kann mir Einer symphatisch sein, der „Juden-Jena“ brüllt und sich damit verteidigt, dass alles was im Stadion gebrüllt wird, per Definition unpolitisch und nur bloße Provokation sei. Bin ich jetzt schief gewickelt, weil ich dem Typ Menschlichkeit zugestehe, nachdem ich ihn 90 Minuten auf der Bühne kennen gelernt habe?

Und dem muskulösen Vater-Sohn-Duo bleibt die berauschende Bestätigung, dass ihre „Ultras“ sogar zur Schauspielerei taugen. Das Publikum ist tief gespalten. Die einen distanzieren sich, zu ihnen gehört die Bürgermeisterin der Stadt Halle, die von der Intendantin forderte, das Stück müsse entweder geändert oder abgesetzt werden. Zu ihnen gehört auch die Bundeskulturstiftung, der plötzlich leid tut, dass ihr Geld diesmal keinen Preis gewinnt. Die anderen verteidigen das Stück. Stimmen aus dem Webforum und diversen Kritiken klingen so: „Künstler sollten die ungeschminkte Wahrheit zeigen.“, „Künstler brauchen nicht zu moralisieren.“, „Das Theater braucht mündige Zuschauer, die sich bewusst mit dem Stoff auseinander setzen.“, „Dank dem Thalia-Theater wird der Diskurs um den HFC nun öffentlich geführt und die Täter aus der Fankurve sitzen in den samtenen Sesseln während der Publikumsdiskussion und können nicht weg!“

Die Frage ob die HFC-Ultras nun rechtsradikal, antisemitisch, ausländerfeindlich und chauvinistisch sind, kann das Stück nicht glaubwürdig verneinen. Die Macher fügen der Wiederholung von bereits Erlebtem nichts Neues hinzu.

(M S)

Kommunen: Selbstermächtigung oder -isolierung?

Die Idee der Kommune wird bereits seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert, da sie auf der einen Seite Sehnsüchte nach Unabhängigkeit, persönlicher Entfaltung und kollektiver Selbstermächtigung weckt, allerdings andererseits Befürchtungen von internen Abhängigkeiten und Abschottungsprozessen gegenüber der „Außenwelt“ hervorruft.  Ebenso umstritten ist es, ob es politisch sinnvoll sei, für die Gründung von Kommunen als Mittel zur langfristigen Überwindung des Kapitalismus, zu streiten. Oder sind sie diesem vielmehr von vornherein unterlegen? Fördern nun Kommunen kapitalistische Herrschaftsstrukturen oder ist sie deren beispielgebender Gegenentwurf?

PRO

Die weitverbreiteste Mär über die „Kom­mune“ beginnt in etwa so: „Hinter sieben Bergen, bei den sieben Zwer­gen …“ und wird von einer urba­nesken Bohemé kolportiert, für die „revolutionär“ höchstens noch ein Prädikat für eine neue Kneipe auf der gewohnten Partymeile bedeutet. Sachlich betrachtet, ist die förderal organisierte, kommunale Selbstverwaltung dagegen der realistischste Gegenentwurf zum modernen Flächenstaat mit seinen zähen und korruptionsanfälligen, zentralen Verwaltungsapparaten. Und die politische Vorstellung eines Netzwerkes dezentraler, unabhängiger Kom­munalverwaltungen, die vielfältige, vitale Austauschbeziehungen miteinander pflegen, ist tatsächlich älter und historisch weitaus wirksamer gewesen, als die krude Idee eines allumfassenden, beständig mehr Ohnmacht produzierenden, römischen Leviathans. Sei es nun im politischen Leitbild der griechischen Polis, in den vormittelalterlichen Christengemeinden, in den unzähligen neuzeitlichen Siedlungs­be­wegungen, im Städtebundgedanken, in den Anschauungen der frühen SozialistIn­nen, in der Kibbuzim-Bewegung der Neo-Israeliten oder etwa in der Bolo-Bolo-Utopie der AnarchistInnen. Immer dann, wenn man ernsthaft die politische Mitbestimmung und damit zwingend verbunden, die Verantwortung der gemeinschaftlich organisierten Individuen, also die Selbstermächtigung jedes Einzelnen, ins Zentrum politischer Überlegungen rückt, wird mensch letzt­lich bei der Vorstellung eines Netzwerkes selbstverwalteter Kommunen enden. Nicht anders der anti­kapi­ta­listische Kampf des Kommunismus der Arbeiter UND Bauern, deren revo­lutionä­rer Fixstern nachwievor die Pariser Com­mune von 1871 ist. In diesem mo­dernen Idealbild kommunaler Selbstverwaltung spielt die direkte Kontrolle der landwirtschaftlichen Grundversorgung ebenso eine Schlüsselrolle wie die gemeinschaftliche Verfügung über Werkzeuge bzw. Produktionsmittel, um Güter des alltäglichen Be­darfs herstellen und/oder mit anderen Kom­munen tauschen zu können, und so eben von den zentralen Verteilungsmecha­nis­men des korrupten Staates bzw. des ausbeutenden Kapitals unabhängig zu sein. Man mag die Möglichkeiten solcherart lo­kaler Autonomie vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten, omnipräsenten Rechtsstaates aktuell ungünstig einschätzen, allein diese Einsicht entbindet uns nicht von der politischen Verantwortung, für zukünftige Generationen die Experi­men­tierräume zu erkämpfen und zu verteidigen, die sie dereinst befähigen werden, zu besseren politischen Verhältnissen miteinander fortzuschreiten.

Das politische Ideal der Kommune ist deshalb nicht nur für die weitere Entwicklung der sterbenden Industrienationen von entscheidender Bedeutung. Es ist auch eine zentrale Kategorie, wenn in Zu­kunft wirklich Ernst gemacht werden soll mit einer auf Ge­genseitigkeit be­ruhenden Entwicklungszusammenarbeit zwischen mehr und weniger technisch bzw. kulturell entwickelten Regionen rund um den Globus. Das Leitmotiv aufklärerischer Exportschlager sollte deshalb nicht Nation-Building sondern vielmehr Kommunen-Building heißen. Die Kommune ist dabei jedoch gleichzeitig kei­ne universelle Lösung mit genauen Parametern, sondern lediglich eine gemeinsame Richtung. Der Grad und die Art und Weise der jeweiligen Kommunalisierung muss von Gruppe zu Gruppe und von Re­gion zu Region nach eigenen Ansprüchen und Herausforderungen selbst bestimmt werden. Das betrifft ihre Größe, um politische Mit­bestimmung und individuelle Selbstbestimmung zu gewährleisten, das betrifft das Maß an landwirtschaftlicher und energetischer Subsistenz, um eine unabhängige Grundversorgung sicher zu stellen, und das betrifft die Menge an betrieblicher Gemein­schaftsproduktion, um durch Austausch alle weiteren Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass die Arbeit hierfür zur Qual wird.

Die selbstverwaltete Kommune, ob nun als Aussteigerprojekt müder Großstädter oder als Genossenschaft von Bauern und Bäuerinnen, ob als besetzte Fabrik oder Kleingärtner-Syndikat, ist also nach wie vor die einzige vernünftige Antwort, die mensch den revolutionären Geistern dieser Erde geben kann, wenn sie nach mehr Selbstbestimmung, mehr politischer Mitbestimmung und damit nach mehr lokaler Autonomie verlangen.

(clov)

CONTRA

Neben anderen Aktionsformen war und ist auch der Aufbau von Kommunen ein beliebtes Mittel der libertären Bewegung, um der herrschaftsfreien Gesellschaft ein Stück näher zu kommen. Die lange Tradition dieses Ansatzes sagt freilich wenig über seine Brauchbarkeit aus. Um die zu beurteilen, muss man zunächst wissen, was man mit der Kommune erreichen will. Mögliche Ziele wären z.B. Abkopplung von der kapitalistischen Ökonomie, Propaganda der Tat, Herrschaftsfreiheit in der kleinen Gemeinschaft, Überwindung des Systems durch Aufbau einer Parallelökonomie.

Wenn Leute sich angesichts der herrschenden Zustände in ihre eigene geschützte Ni­sche zurückziehen, mag das im Rahmen der jeweiligen Biographie ein vernünftiger Schritt sein. Das heißt nicht, dass es auch politisch sinnvoll ist. Der Versuch, den Kapitalismus durch den Aufbau einer Pa­rallel­öko­nomie zu über­winden, ist je­denfalls zum Scheitern ver­urteilt – die ka­­pi­talistische Öko­nomie ist we­ni­ger kon­kur­renz­orien­tierten Wirt­schafts­formen stets überlegen, wenn es darum geht, sich im­mer neue Bereiche der Welt ein­zuverleiben. Selbst eifrige Propagandisten des Kommunelebens (wie G. Landauer) machten sich da keine Illusionen, die Entwicklung z.B. der israelischen Kibbuz-Bewegung hat es auch praktisch bewiesen.

Auch was die Propaganda durch die Tat, das praktische Beispiel angeht, ist der Wert des Kommu­ne­modells gering. Die Ab­kopplung von der kapitalistischen Öko­­nomie und die Konstruktion einer ge­schlos­senen Einheit von Arbeitsplatz, Wohn­­ort, Politgruppe und Freundeskreis führt dazu, dass mensch sich auch von de­nen abkoppelt, die durch das eigene Beispiel überzeugt werden sollten. Dies gilt um­so mehr, da das Kommunemodell vor allem auf den ländlichen Raum zuge­schnit­ten ist – in der Stadt gibt es schließ­lich kaum einen Grund, warum mensch z.B. am Arbeitsplatz auch noch wohnen sollte.

Zudem garantiert die kleine Gemeinschaft keineswegs Herrschaftsfreiheit. Auch sie kann einen repressiven, von starren Hier­ar­chien geprägten Charakter annehmen. Die freie Assoziation setzt nämlich nicht nur die Freiwilligkeit des Eintritts in eine Ko­operation voraus, sondern ebenso die Mög­lichkeit, aus der so entstandenen Vereinigung auch wieder auszutreten. Diese Mög­lichkeit muss nicht nur theoretisch be­stehen (als flapsiges „Du kannst ja gehen, wenn dir was nicht passt!“), sondern auch praktisch, d.h. ohne dass dies (wo­mög­lich untragbare) negative Folgen für das Individuum hat. Nur dann ist die tatsächliche Freiwilligkeit einer Zusammen­ar­beit gewährleistet. Die Struktur der Kom­mune mit ihrer Kopplung aller wichtigen Lebensbereiche steht dem entgegen: Wer mit einem Schlag seinen Lebensunterhalt, seine Wohnung und sein soziales Umfeld zu verlieren droht, überlegt im Kon­fliktfall dreimal, ob er der Mehrheit widerspricht oder sich nicht doch eher unterordnet.

Mehr noch: Wenn jemand eine Möglichkeit suchen würde, um eine Gruppe von Menschen in größtmöglicher ökonomischer Abhängigkeit zu halten, die lückenlose Überwachung nicht nur der Gruppe als ganzer, sondern auch die wechselseitige, alle Lebensbereiche umfassende Kontrolle der Gruppenmitglieder untereinander zu gewährleisten, so könnte derjenige nur schwer ein Modell finden, dass besser dafür geeignet wäre als die Landkom­mune.

Soweit wird es in den meisten Fällen nicht kommen. Es geht mir auch nicht darum, irgendwelche Horrorszenarien zu entwerfen – der Punkt ist, dass die Struktur der Kommune nicht geeignet ist, im Falle des „Größten Anzunehmenden Unfalls“ dem Entstehen neuer Herrschaftsverhältnisse entgegenzuwirken, sondern diese im Gegenteil noch verstärkt. Das „System“ aussperren zu wollen ist nutzlos – wenn man sich selbst dabei einsperrt, wird es gefährlich.

(justus)

Sachbearbeitermoral

Ein Betroffenenbericht

Wenn mensch am frühen Morgen Post von Arbeitsamt im Briefkasten findet, diese öffnet und folgende Zeilen liest: „Sehr geehrter Herr Soundso, bitte kommen Sie am 21.04.2009 um 9:30 in die Arbeitsgemeinschaft Leipzig, blablabla…“, dann ist der gerade noch freudig begonnene Tag sachgerecht ruinieren. Der strahlendblaue Morgenhimmel verfärbt sich grau, der Kaffee schmeckt plötzlich nach Dieselöl, der Frühstückstoast nimmt eine gummiartige Konsistenz an. (Übrigens: Warum beginnen diese Anschreiben immer mit „Sehr geehrter“ und „bitte“, wenn die Drohung durch die auf der Rückseite desselben Blattes abgedruckte „Rechtsfolgenbelehrung“ doch kaum zu übersehen ist? Ich schätze, es hat was mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun…)

Aber es hilft alles nichts: Zum angegebenen Zeitpunkt finde ich mich am vereinbarten Ort ein, und verlasse diesen etwa zwanzig Minuten später zähneknirschend und mit finsterem Blick. Würde mir in diesem Moment ein Bekannter über den Weg laufen, er würde erschreckt zurückweichen und ausrufen: „Meine Güte! Was haben sie mit dir gemacht?“ Natürlich ist es nicht zu leugnen: Mein Interesse daran, mich für miese Bezahlung zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen zu bewerben, tendiert großzügig gegen Null. Allgemeinwohl hin oder her – Grünanlagenpflege stinkt einfach! Aber wie soll ich das dem Sachbearbeiter begreiflich machen? „Ach nee, lieber nicht…“ ist in jedem Fall die falsche Antwort.

Dann holt der Sachbearbeiter nämlich tief Luft und setzt eine vorwurfsvolle Miene auf. Ich weiß schon, was jetzt kommt: Sachbearbeitermoral. Nicht dass er damit viel erreichen würde – moralische Vorwürfe wirken nun mal nicht sehr überzeugend, wenn der Sachbearbeiter im selben Atemzug damit droht, mir das Existenzminimum wegzukürzen. Und überhaupt, liest der Mensch denn keine Zeitung? 15 Prozent Arbeitslosenquote in Leipzig, Finanzkrise, und überhaupt der ganze Scheiß mit Kapitalismus und so – da kann man doch schon mal keine Arbeit haben! Je eher man sich dran gewöhnt, um so besser!

Aber nein: „Herr Soundso, Sie leben hier von Steuergeldern – und das, Herr Soundso, kann einfach nicht sein.“ Sagt der Sachbearbeiter. Als ob das ein Argument wäre! Die Bundeswehr finanziert sich auch durch Steuergelder und kauft sich davon Panzer, die dann in Afghanistan oder so von irren Is­la­mis­ten zu Klump ­geschossen werden bzw. selbst dazu dienen, dort Sachen kaputt zu machen. Ich dagegen, ich tue wenigstens keinem was zuleide.

Obwohl ich gestehen muss, dass auch in mir mitunter Gewaltfantasien brodeln und rumoren, wenn ich die Höhle des Sachbearbeiters verlasse. Wäre ich selbst ein Moralist wie mein Sachbearbeiter oder wie Heinrich Böll (dem ja Gewaltfantasien auch nicht fremd waren, siehe „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“), dann würde ich beim Hinausgehen in meinen Bart brummeln: „Mein Sachbearbeiter ist ein böser Mensch. Nicht nur, dass er mir das Existenzminimum kürzt – nein, er heuchelt dabei auch noch! Möge er mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden!“ Nun ja, man kennt ja solche Gewaltfantasien… Und man weiß: Wenn Moralisten durchdrehen, dann stürzen sie sich am Ende mit Flugzeugen in irgendwelche Hochhäuser oder machen sonst was für verrückte Sachen.

Nachdem ich also drohend in meinen Fanatikerbart gebrummelt habe, würde ich nach Hause gehen, mir über Ebay eine Schusswaffe besorgen und dann daran gehen, meinen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen – als ehemaliger Grün­an­lagenpfleger weiß ich schließlich, wie es ausschaut, wenn etwas mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss.

Aber zum Glück für meinen Sachbearbeiter bin ich kein Moralist. Ich bin im Grunde meines Herzens ein netter Mensch, der unschöne Blutbäder verabscheut und versteht, dass es nicht Bosheit ist, die den Sachbearbeiter zu seinem Verhalten treibt, sondern schlichte Blödheit. „Schön und gut“, werden einige von euch jetzt fragen, „aber was lernen wir nun daraus?“ Zwei Dinge, die euch in eurem späteren Leben noch sehr nützlich sein werden, liebe Kinder! Zum einen, dass Sachbearbeiter im richtigen Moment lieber mal die Klappe halten sollten – dass Risiko, dass ihnen irgendwann jemand gegenüber sitzt, der ihre Moralpredigten ernst nimmt, ist einfach zu groß. Zum anderen, dass Gewaltfantasien zwar lustig sind, dass aber die Idee, alle blöden Menschen mit Blut und Feuer vom Angesicht der Erde zu fegen, nicht wirklich praktikabel ist – schon allein darum, weil so ein Verhalten beweisen würde, dass man selbst nur ein dummer Moralist ist.

(justus)

Wirkungsloser High-Tech-Schrott

Ein Jahr sollte die Testphase für die beiden Drohnen dauern, die die sächsische Polizei seit Februar 2008 einsetzt. Diese ferngesteuerten, mit Kameras bestückten Kleinstflugkörper sollten vor allem der Überwachung der Fanmassen bei Fußballspielen und Demonstrationen dienen. Die Drohnen kamen nach Angaben der Landesregierung im Jahr 2008 in 11 Fällen zum Einsatz – nicht nur bei Fußballspielen, sondern auch bei einer Fahndung nach Einbrechern in der Sächsischen Schweiz und in Leipzig bei den Ermittlungen im „Fall Michelle“ (siehe FA! # 30).

Der Nutzen der neuen High-Tech-Geräte ist nach der langen Erpro­bungs­phase zweifelhaft, wie der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo in der Ant­wort auf eine Anfrage der Grünen (1) zugab. So hätte die „bisherige Anwendungserprobung (…) nicht zu straf­recht­lich verwertbaren Aufnahmen“ geführt. Die von den Droh­nen gelieferten Bil­der taugen also scheinbar nicht zur Iden­tifizierung einzelner Personen – es wä­re aber auch möglich, dass Buttolo mit die­ser Erklärung nur heikle Datenschutzdebatten vermeiden wollte. Über die von ihm behauptete präventive Wirkung der Überwachung mit Drohnen konnte oder wollte Buttolo ebensowenig Angaben ma­chen wie dazu, in welcher Relation der Nut­zen der Geräte zu den laufenden Kosten von etwa 76.000 Euro im Jahr steht.

Ob­wohl es also bisher scheinbar keine Kontrolle der mit den Drohnen erzielten Erfolge gab, will die Landesregierung das Pi­lotprojekt um ein Jahr verlängern. Eine weitere Drohne wurde angemietet, um so „die Einsatzmöglichkeiten eines Nachfol­ge­modells unter verschiedenen Wit­te­rungs­bedingungen“ testen zu können. Im Klar­text: Die alten Droh­nen haben nichts gebracht, mal sehen, was die neuen so können.

Ein erster Test hat mög­li­cher­weise am 1. Mai in Leip­zig stattgefunden – jedenfalls sollen dort nach Angaben von Teil­nehmer_innen der an diesem Tag stattfindenden arbeitskritischen Demonstration (siehe FA! #33) Drohnen eingesetzt worden sein. Eine diesbezügliche Anfrage der Linken läuft zur Zeit. Wir werden euch auf dem Laufenden halten.

(justus)

 

(1) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_15653_-1_1_3_.pdf

(2) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_13892_-1_1_3_.pdf

Spielen erlaubt!

KIWEST Bau- und Aktivspielplatz Leipzig e.V.

Stellen wir uns vor, wir sind in diesem spannenden Alter zwischen 6 und 13. Wir haben Energie und dauernd Lust alles Mögliche zu entdecken und auszuprobieren. Die Hälfte unserer Zeit müssen wir leider in der Schule rumsitzen und langweilige Sachen aufschreiben und auswendig lernen, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt ist Nachmittag und wir haben frei, Zeit also… aber wohin gehen wir eigentlich? Auf den Spielplatz wo die Jugendlichen rumhängen und die Kleinkinder im Sandkasten sitzen? Spielen auf der Brachfläche? Wurde gerade eingezäunt. Sportverein oder Musikschule? Schon wieder Leistung für Erwachsene erbringen, kostenpflichtig sogar. Auf dem Bürgersteig hin- und herlatschen? Play­station? Fernsehen?

Wenn für Kinder Welt und Sozialisation so aussehen, ist es höchste Zeit für einen Bau- und Aktivspielplatz! Hier ist alles ganz anders als in der leistungsorientierten Schulwelt oder der kommerzorien­tierten Medienwelt. Ein Bau- und Aktivspielplatz ist ein (pädagogisch betreuter) Freiraum, wo Kinder selbstbestimmt spielen, basteln, bauen, gärtnern, Tiere umsorgen, kochen, backen, diskutieren, chillen und nebenbei lernen können, was das Zeug hält. Ausgegangen wird dabei vom Ansatz der demokratischen Bildung, dass das Interesse des Kindes an Eigenverantwortung und kreativer Entfaltung auch das einer demokratischen Gesellschaft sein sollte. Das klingt utopisch, ist aber an vielen Orten Realität: So gibt es etwa in Dresden acht Jugendfarmen (Schwerpunkt Tierhaltung) und Aktivspielplätze, in Stuttgart 22, in Berlin 53 und in Leipzig Einen.

Daher gründeten wir im Januar 2008 den KIWEST Bau- und Aktivspielplatz Leipzig e.V. (was soviel heißen sollte wie Kinderwerkstatt aber besser klang). Unser Ziel ist es seitdem, einen Bau- und Ak­tiv­spielplatz im strukturschwachen Leip­ziger Stadtteil Plagwitz aufzubauen und die Lokalpolitik davon zu überzeugen, dass solch ein Angebot, wie in anderen Kommunen auch, finanziert werden muss. Einige Finanzierungsmöglichkeiten entpuppten sich zwar als Seifenblasen, aber immerhin liegt dem Jugendhilfeausschuss in Zusammenarbeit mit dem RAA Leipzig (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) nun ein Antrag auf kommunale Förderung vor, über den Ende des Jahres abgestimmt wird.

Seit dem 1.10.2009 haben wir das Gelände auf der Klingenstraße 10 in Plagwitz von der LWB gepachtet. Hier läuft bis zum Beginn der kommunalen Förderung ein ehrenamtliches Vorläuferprojekt. Nach der langwierigen Vor­­arbeit, einer Informa­tions­ver­an­stal­tung, Infoständen, einer Unterschriftensammlung, dem Ausbau eines Bauwagens, Verhandlungen mit dem Jugendamt, dem Amt für Stadtent­wicklung und der LWB kann es also endlich losgehen!

Seitdem ist jeden Samstag von 10 bis 17 Uhr euer freier, pädagogisch betreuter Bauspielplatz im Leipziger Westen geöffnet. Momentan bieten wir hauptsächlich Holzbau an. Es soll nach und nach um Lehm- und Weidenbau, Garten, Werkstätten und zwei niedliche Kaninchen ergänzt werden. Kleinere Kinder können gerne kommen, sollten aber ihre Eltern mitbringen. Gebastelt wird natürlich bei jedem Wetter, draußen oder im warmen Bauwagen bei Tee und Keksen.

(jo)

Brief an die LeserInnen

Lieber Johannes Knauss, lieber sisyphos,

ein wenig überrascht es uns schon, dass der Feierabend! gleich an zwei Stellen des Cee Ieh #161 prominent Erwähnung findet – dass im kopflastigen Connewitz auch wieder praxisorientierte Literatur gelesen wird, hätten wir gar nicht erwartet. Es freut uns deswegen umso mehr, dass auch Ihr nicht nur mitbekommen habt, dass es eine sogenannte „Finanzkrise“ gibt, sondern auch, dass wir bereits in unserer vorletzten Ausgabe einen Artikel dazu im Heft hatten.

Dass uns dort im dritten Satz dilettan­tischerweise das Relativpronomen „die“ abhanden gekommen ist, bitten wir hier­mit zu entschuldigen – es wird hoffentlich nicht wieder vorkommen. Aber mit dem Stil ist das ohnehin so eine Sache: Manche bevorzugen eben

VWL-Jargon

und andere bauen lieber Schachtelsätze wie Adorno. Dass Euch unsere

naturmetaphorische Drastik

nicht gefällt, können wir durchaus verstehen. Wir sind aber auch weiterhin der festen Überzeugung, dass wir „Erdrutsch“- und sonstige Metaphern nicht dem Focus oder Spiegel online überlassen dürfen. Gleiches gilt für die Forderung nach mehr

Anstand

und

Moral

die Ihr aus unserem Text herauslesen zu können glaubt. Irgendjemand muss ja die Fahne hochhalten, wenn jetzt sogar schon der Papst mit Holocaustleugnern rumkungelt. Und für Texte über Wertakku­mulation und den tendenziellen Fall der Profitdingens gibt´s ja schließlich immer noch das Cee Ieh.

Noch was? Ach ja: Ein richtig grober Schnitzer ist Euch unterlaufen, wenn ihr meint, wir würden unseren Leser_innen das sogenannte „Islamic banking“ empfehlen. Hättet Ihr noch zwei-drei Sätze weiter gelesen, wäre auch Euch aufgefallen, dass dem keineswegs so ist. Aber Schwamm drüber, da war wohl nur Eure allem Anschein nach ziemlich niedrige Aufmerksamkeitsspanne dran schuld – wenn man Eure Zitierweise als Maßstab nimmt, scheint Ihr ja von unserem Text nur einzelne Wörter gelesen zu haben. Wir jedenfalls werden Euer Heft auch weiter­hin aufmerksam lesen und hoffen, dass Ihr dasselbe tut.

Es empfiehlt sich,

Euer Fachmagazin für verkürzte Kapitalismus­kritik

Reisebericht: Turkey – Imagined Community

Von Freiheiten und Unfreiheiten in der Bosporus-Metropole

Ich schreie und wache auf. Unsere kleine Tiger-Katze beißt gerade herzhaft in meine Hand wie in einen saftigen Rinder­braten und glotzt mich dabei triumphierend an. Es ist morgens um sieben in Galata/Istanbul und ich habe Uni. Wie immer zu spät stolpere ich aus dem Haus. Nur der Regenschirm- und Tempo­ta­schen­­tuchverkäufer, der Granatapfel-Saftpresser an der Ecke und der Kuttel-Schneider haben bereits ihre Rollläden hochgefahren. Die Luft ist kalt. Es riecht nach nassem Stein. Von irgendwo weht eine Börekschwade in meine Nase. Heerscharen von scheinbar schlaflosen Straßenkatzen, fressen sich durch die Müllreste vom letzten Abend. Ich laufe den steilen Hang zum Hafen runter, die Sonne geht über dem Bosporus auf, taucht die unscharfen, von Nebel umhangenen Silhouetten der Moscheen auf der anderen Seite der Meeresenge in ein milchiges Gelb. Die Angler stehen schon seit Stunden auf der Galatabrücke, um sich ihre Brötchen zu fischen. An der neuen Fährstation (die alte ist vor einigen Wochen mal eben bei einem Sturm im Bosporus versunken) treffe ich zwei slowenische Kommilitoninnen. Bei Çay (Tee) und Sesamkringeln schaukeln wir auf die asiatische Seite zum Bus­bahn­hof. Wir haben Glück, der Bus steht noch da. Eine Duftskala billiger Parfums und Körpergerüche zieht an meinem mal­trä­tierten Riechorgan vorbei, wie die Be­ton­wüste von Hochhäusern und Autobahnkreuzen an meinen Augen.

Die Gebäudearchitektur…

…der asiatischen Seite besticht durch ihre schamlose Funk­tio­na­li­tät. Shoppingmalls und Hochhauskom­plexe, die in ihrer Ästhetik an den Gropius-Bau von Berlin erinnern, sind so un­sensibel in die Landschaft gesetzt, dass sich nur das zäheste Gestrüpp und die mutigsten Gräser am Rande der mehr­stöckigen Schnellstraßen ein bisschen Grün zutrauen. Die kilometerlangen Autoschlangen ziehen bleiern Richtung Horizont, aus dem die Häuserschluchten tauchen wie steinerne Riesen einer Dystopie. Je weiter unser Bus in den Nordosten vordringt, desto häufiger ragt ein Minarett wie eine verzierte Giftpfeilspitze aus dem Betonmeer, um sogleich wieder von ihm verschluckt zu werden. Vor dem protzigen Eingangsportal spuckt der Bus die gleichmütige Studentenmasse aus. Vor dem Eingang steht ein Sicherheitsbeamter, der jedes Auto, das auf den Campus fährt, inspiziert und mit einem Spiegel unter den Fahrzeugboden schaut um zu sehen, ob auch niemand eine Bombe druntergebastelt hat. Wir zeigen unsere Studi-Karte und laufen in Richtung Seminargebäude.

Wir haben „Anthropologie der modernen Türkei“. Unsere Professorin ist Leiterin des Instituts, eine international anerkannte Anthropologin, die so beschäftigt ist, dass während des Unterrichts mindestens fünfmal ihr Telefon klingelt. Sie ist leicht un­ter­setzt, lächelt immer freundlich und ist so opportunistisch wie das Amen in der Kirche. Es ist der letzte Kurs vor der Endklausur. Sie erkundigt sich nach unserem Wohlbefinden: „Ah Irmak, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen“ und dann danach, wie wir ihr Seminar – zu dem sie persönlich ganze vier Mal erschienen ist – fanden. Ein paar verhaltene Stimmen mel­den sich zu Wort. Sie hätten sich mehr aktuelle Themen gewünscht. Die Kurden werden angesprochen, über die während des gesamten Semesters kein einziges Wort fiel. Ein Student platzt heraus: „Die jungen Leute, die zur PKK gehen sind so gehirn­gewaschen wie die Diamantengräber in Afrika.“ Gut, danke. Der Nächste bitte.

Das „Armenierthema“…

…wird angesprochen. Eine kleine Rückschau: Vor ein paar Tagen hat sich ein Redakteur der türkischen linksliberal-antinationalistischen Tageszeitung Radikal das erste Mal öffentlich für den Genozid an den Armeniern entschuldigt. Die Rede ist hier nicht von einem Pamphlet oder einem Brief, sondern lediglich von fünf mageren, aber bekennenden Zeilen, in denen folgendes geschrieben steht: „Mein Gewissen erlaubt es nicht, teilnahmslos gegenüber dem großen Unglück zu bleiben, das die osmanischen Armenier 1915 erlitten, oder es zu verleugnen. Es weist dieses Unrecht zurück, teilt für sich Gefühl und Schmerz meiner armenischen Brüder, die ich um Verzeihung bitte.“ Für die türkische Presselandschaft, aber vor allem für AnhängerInnen des türkischen Staates ein Skandal (1). Im Netz zirkulierte die Entschuldigung als Petition unter türkischen Intellektuellen schon Tage im Voraus und wurde innerhalb weniger Wochen von mehreren 10.000, einschlägigen NGO’s und Prominenten unterschrieben. Nicht jeder, der wollte konnte sein Signum hinterlassen. Eine meiner anderen Professorinnen beispielsweise muss damit rechnen ihre Stelle zu verlieren, wenn sie unterschreibt, was sie gern tun würde. Die Yeditepe-Uni ist eine Privatuni. Gegründet von Dalan, einem ehemaligen neokonservativen Bürgermeister Istanbuls, produziert sie massenweise unkritische StudentInnen mit zahlungswilligen Eltern, die, wenn sie etwas zu sagen haben, den hegemonialen Konsens und Nonsens runterbeten, der ihnen während ihrer schulischen und universitären Karriere ein­geimpft wurde.

Zurück im Seminarraum. Eine Studentin, die die Entschuldigung nicht gelesen hat, meldet sich zu Wort und sagt: „Professor, wenn wir uns für etwas entschuldigen, das nur ein normaler Krieg [casual war] war, aber definitiv kein Genozid, dann fangen sie an Geld und Territorium zu fordern. Wir können und sollten das nicht tun!“ Dann erzählt sie von ihrem Großvater, einem Soldaten und seinen furchtbaren Erlebnissen im Vernichtungskrieg ge­gen die Armenier, woraufhin unsere Professorin ihrerseits von Ver­wandten und Bekannten und ihren furchtbaren Erlebnissen im Krieg gegen Griechen und Gruppen vom Balkan berichtet und dann sagt: „Jeden Tag sterben Menschen in dieser Welt. Wer ent­schuldigt sich dafür, sie getötet zu haben?“. Damit ist die Dis­kus­sion beendet. Vielleicht dauert es noch weitere 100 Jahre, bis dieses Thema auch an türkischen Privatunis diskutiert werden kann.

Vorgestern war ich mit meinem Freund das erste Mal im kleinen Büro der türkischen Grünen Partei, die erst vor ein paar Monaten gegründet wurde. Als wir gehen wollten, kam eine Frau schreiend in den Raum gerannt. In ihren Augen Verzweiflung, Wut, Hoffnungslosigkeit. Wie sich herausstellte, hatte sie soeben erfahren, dass das türkische Innenministerium „höchstpersönlich“ die Website der oben beschriebenen ArmenierInnen-Petition gehackt hatte und nun frei über deren Inhalt und (Nicht-)Weiterverbreitung verfügen kann. Ob jetzt Tausende mit Hilfe des § 301 wegen „Verunglimpfung des Türkentums, des Staates und seiner Organe“ (das türkische Pendant zum deutschen § 129a) angezeigt werden, wie bereits 462 Personen, inklusive den Youtube-Betreibern (2), dieses Jahr vor ihnen? Würde sich dann vielleicht etwas tun in der morschen, von Tabus durchzogenen Gesellschaft der Türkei, in der nicht nur kritische Journalisten ihre Nachrichten zwischen den Zeilen vermitteln müssen und täglich um Job und Leben bangen?

Es ist Mittagspause. Ich gehe mit einem Freund in die Mensa, die original aussieht wie ein Burger-King-Ableger. An den Wänden hängen riesige LCD-Flachbild­schirme, es läuft Werbung und MTV. Wir tratschen und lästern über die verwöhnten, handtäschchenschwingenden Kids der Yeditepe, die den Campus leidenschaftlich gerne mit einem Laufsteg verwechseln. Mensch versucht sich abzugrenzen. Ich gehe auf die Toilette und versuche mir einen Weg durch die Massen von sich eindeodorierender und Lippenstift nachziehender Mädels zu bahnen. An der Wand hängt eine Haarglättmaschine. Für umgerechnet 50 Cent kann sich frau hier ihre Wellen aus der Frisur bügeln.

Wir haben „Politische Anthropologie“, ein Lichtblick am grauen Horizont, denn unsere Professorin ist ein wahres Goldstück und im Gegensatz zur Leiterin des Instituts ist ihr sehr viel an kritischem Denken gelegen und sie gibt einen feuchten Dreck darauf was „die Yeditepe sagt“. Sie ist Türkin mit griechischem Hintergrund, ist mit einem Italiener verheiratet, forscht seit Jahren über Zypern und die zypriotische Diaspora und hat an der London School of Economics gelehrt, bevor sie von Heimweh getrieben wieder nach Istanbul zurückgekommen ist. Wir lesen Foucault, Gramsci, Hobsbawm, Žižek und Arextaga, lernen u.a. was der türkische „Sub-Staat“ ist, welche prominente Rolle das Militär hier spielt und mit welchen Instrumentarien ein Staat seine Leute an sich bindet und kontrolliert. Es ist eines dieser seltenen Seminare, in denen mensch sich von Geistesblitzen getroffen der Erleuchtung nahe wähnt. Ein Rausch. Unsere Professorin erzählt gerade von Susurluk, einer türkischen Stadt, in der Anfang der 90er Jahre ein Auto in einen LKW raste. Als die vier Opfer des PKW’s geborgen wurden, von denen nur ein einziger überlebte, fand mensch die folgende Passagierkonstellation vor: Abdullah Catli, einer der größten Mafia-Bosse der Türkei und gleichzeitig Mitglied von MIT (dem türkischen Geheimdienst), Hüssein Kodcada, der türkische Polizeichef, der Abdullah Catli einen „grünen“ Reisepass (3) und eine Waffenlizenz verschafft hatte, Sedat Bucak, ein Parlamentarier und eine Prostituierte. Von den genannten vier überlebte nur der Parlamentarier, dessen Familienclan in den darauf folgenden Wochen von Horden Journalisten von seinem Krankenbett fernhielt. Die Journalisten, die nach monatelanger Recherche über den Fall, der sicherlich für das zynische Verhältnis der Bevölkerung zu ihrem Staat mitverantwortlich ist, einschlägige Informationen sammeln konnten, wurden über kurz oder lang von „Unbekannten“ getötet. Ich schaue aus dem Fenster und denke daran wie ironisch Atatürks Leitspruch für „seine“ Türken unter diesen Umständen anmutet: „Ne mutlu Türküm diyene“ (Wie glücklich ist jemand, der sagen kann er ist ein Türke). Mein Blick fällt auf den Gipfel eines Berges (ein recht ungewöhnlicher Anblick in Istanbul), der gleich neben unserem Campus thront. Auf dem Berg steht ein Strommast. Daneben weht eine überdimensionale türkische Flagge (ein recht gewöhnlicher Anblick in Istanbul). Neben der Flagge ist ein überdimensionales Portrait Atatürks installiert, das den Strommast an Größe übertrifft. Die Türkei (die Mutter), und ihr Staat (der Vater) stehen an oberster Stelle, über ihr steht Atatürk (der Übervater), darüber gibt es nur noch Himmel und Allah.

Die Schule ist aus…

…und mein Kopf voll. Vor dem Eingang wartet Yunus, ein kurdischer Freund, der mich heute seinem Vater vorstellen will. Wir brausen mit seinem Motorrad Richtung Maltepe, einem Viertel auf der asiatischen Seite. Auf der Schnellstraße fahren wir durch das Meer roter Rücklichter, zwischen denen waghalsige Blumen- und Sesamkringelverkäufer ihre Produkte feilbieten. Zwischen den laufenden Motoren mutieren ihre Rufe zu stummen Schreien. Es riecht nach Feuer und Abgasen, die konturlosen Hochhäuser flimmern wie Geister in der Luft. Yunus balanciert sein Motorrad virtuos wie ein Seiltänzer durch den stehenden Verkehr und kommt mir in diesem Moment vor wie ein apokalyptischer Reiter. In „Wahrheit“ ist er Notfallapotheken-Schildaustauscher und verdient dabei sehr wenig. Das macht ihm nichts aus, sagt er, denn er lebt gerne wie ein „cingene“ auf der Straße, pennt mal hier, mal dort und kann sich auf eine Reihe guter Freunde verlassen. So wie auf den Wasch­ma­schinen­verkäufer, vor dessen Laden wir jetzt halten und der ihm auf einen Scherz hin einen 50 Lira-Schein in die Hand drückt. Wir gehen Köfte essen. Im Lokanta hängen die obligatorischen Fernseher (die Türken sind weltweit, nach den US-Amerikanern, die Nation mit dem höchsten Fernsehkonsum) in denen Arabesk-Klassiker laufen. Arabesk-Musik ist hier so etwas wie der türkische Blues; türkische Lyrik („das Leben meint es nicht gut mir“, „ich hab kein Geld und keine Frau“) mit arabischen Melodien, gesungen von Männern, die in ihren pathetischen Videoclips meist den Tränen nahe sind. Es ist zum Heulen.

Kurze Zeit später stehen wir vor der Arztpraxis seines persischen Vaters. „Halt die Augen auf“, sagt Yunus augenzwinkernd, „wir gehen jetzt ins Paradies“. Die Tür geht auf, vor uns steht ein bleicher Mann (Yunus selbst hat die dunkle Haut seiner kurdischen Mutter), in weißem Kittel, der zwei Köpfe größer ist als Yunus. „Hos­geldiniz, kommt rein“, sagt er und strahlt wie der Weihnachtsmann höchstpersönlich. Wir treten ein – ins Paradies. Der lange Flur ist gesäumt von Plastikblumen in den schillernden Farben des Regenbogens. Auf einem kleinen goldenen Tisch­chen steht ein auf alt gemachtes Telefon aus silbernem Plastik, das an ein leuchtendes Aquariumsäulenimitat angeschlossen ist, in dem Plastikfische schwimmen. Er bittet uns in den Salon, aus dem klassische Musik kommt. Wir nehmen auf der knallvioletten exquisiten Polstercouchgarnitur Platz. Auf der anderen Seite des Raumes steht eine Staffelei, auf der ein Riesenbild eines anonymen Babys thront. An den Wänden hängen kitschige Birkengemälde. Der Doktor kommt in den Raum geeilt, serviert uns Kaffee, Sahnekuchen und gefüllte Weinblätter. „Sie haben aber viele Blumen“, sage ich, weil mir grade nichts Blöderes einfällt. „Ja, das ist persische Kultur, wir haben einen Sinn für das Schöne“, sagt er, schaltet die Musik aus und bedient einen Apparat, aus dem künstliches Vogelzwitschern trällert. „Ach so“, antworte ich, „ich dachte immer die persische Kultur ist berühmt für ihre Lyrik“. Bei dem Stichwort steht er auf und bringt mir ein Buch, aus dem er handgeschriebene persische Liebesgedichte rezitiert. Dann fragt er, ob ich gerne in die Disco gehe. Als ich bejahe, schaltet er die Vögel aus und steht jetzt mit der Fernbedienung vor seinem Plasmabildschirm, legt Trance-Techno ein und fordert mich zum Tanzen auf. Fassungslos ob der absurden Situation lehne ich lachend ab. Das scheint ihn nicht weiter zu stören und er fängt an wie ein 20jähriger das Tanzbein zu schwingen, bewegt den Kopf im Takt der monotonen Beats. Wenn er mir später nicht den Operationsraum seiner Praxis (er ist Internist), den Schrank mit chirurgischen Instrumenten und das Wartezimmer gezeigt hätte, ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich in einer Arztpraxis befinde. Höchstens bei einem durchgeknallten Psychiater, dessen Patienten durch die paradiesische Aura seiner heiligen Hallen geheilt werden. Irgendwie fühle ich mich erstaunlich frisch, als wir seine Praxis verlassen.

Um 22:00 bin ich in Taksim zum Abendessen verabredet. Als ich die Istiklal-Cadessi (sowas wie der Istanbuler Kuhdamm) betrete, sehe ich, wie vorwiegend männliche Studenten von Polizisten kontrolliert werden. Alexis lässt grüßen. Die Studenten-Proteste in Griechenland, die dem Tod des 15-jährigen Alexis folgten, der unlängst in Athen von den Kugeln so genannter Sicherheitsbeamter tödlich getroffen wurde, lösen Panik beim türkischen Staat aus. Kontrollen unter Studenten werden verschärft durchgeführt, denn KritikerInnen werden nicht geduldet. 1984 im Jahr 2008.

Vor einigen Wochen wurde ein junger Mann auf der Straße verhaftet. Er war Mitglied einer linken Organisation und verteilte Flyer, die auf den Fall seines im vorigen Jahr gefolterten Freundes aufmerksam machten. Sein Freund hatte damals wie er selbst Flyer verteilt, um auf den desolaten Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei aufmerksam zu machen. Er wurde daraufhin von so genannten Sicherheitsbeamten in Gewahrsam genommen, gefoltert und ist seitdem querschnittsgelähmt. Sein Freund, der den Fall seines Freundes nun kürzlich bekannt machen wollte, wurde seinerseits ebenfalls während der Gewahrsamnahme gefoltert. Nach einigen Tagen erlag er seinen Kopfverletzungen und starb. Allein in diesem Jahr sind bereits fünf Minderjährige durch Schusswaffen der Polizei in der Türkei ums Leben gekommen – abseits massenmedialer oder internationaler Wahrnehmung. Wenn ich die „Robo-Cops“ mit ihren gezückten abschussbereiten MG’s sehe, wie sie vor der Moschee posieren, den Finger immer am Abzug, spüre ich ernsthafte Aggressionen in mir aufsteigen.

„Ein Land zwischen…

…Tradition und Moderne“, heißt es sooft in deutschsprachigen Medien über die Türkei, die den Nahen Osten mit Europa verbindet. Aber wo ist die von Atatürk und seinen kemalistischen NacheiferInnen so hochgepriesene Moderne? Wird sie von den technoiden „Robo-Cops“ verkörpert? Stakst die Moderne auf der Istiklal Cadessi, der Konsum-und Partymeile Istanbuls, in Minirock und Highheels ohne den geringsten Plan, was außer Minirock und Highheels noch modern sein könnte? Sitzt die Moderne in der Cafeteria auf unserem Campus vor dem LCD-Flachbildschirm und zockt Playstation während der Pause? Arbeitet sie in Etiler in gläsernen Hochhäusern und verabredet sich abends im avantgardistischen Kosmo­politenviertel auf Sushi und italienischen Weißwein und redet über die furchtbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise?

Und die Tradition, wo ist die Tradition? Wartet die Tradition in den heruntergekommenen Vierteln von Tarlibasi oder Sulukule auf den Abriss ihrer „illegalen“, selbst gebauten Häuser? Feiert die Tradition mit einem ungeheuerlichen Aufmarsch an Sicherheitskräften den Tag der Unabhängigkeit von den Alliierten? Liegt die Tradition in Form einer traditionellen ^alvar-Hose im Regal eines Textilienverkäufers – made in China? Oder spielt die traditionelle Musik etwa in einer der unzähligen türkischen Bars, in denen sie auch Champagner reichen, weil man ja seinen fremden Gästen was bieten muss?

Die Türkei (oder zumindest die wenigen Teile, die ich bislang kennen gelernt habe) ist mehr als nur eine gespaltene Gesellschaft. Sie ist zersprungen, wie die unzähligen Teile eines gebrochenen Spiegels und sie ist schizophren. Mit Sicherheit wird es noch eine Weile dauern, bis ich hier durchsteige – durch das Minenfeld der tabuisierten Diskurslandschaft, durch die 1001 Widersprüche, durch die abermillionen Details, durch die Sprache der Straße und die der Hochschule. Aber ich bin zuversichtlich. Die Rampen und Schlaglöcher des Alltags machen mich vertraut mit dieser Welt. Und ich habe ein paar wichtige Gefährten gefunden: eine super-knorke Mitbewohnerin, eine geniale türkischen Ersatzfamilie und süperbe Freunde aus allen Himmelsrichtungen. Alles wird gut. Inshallah.

(Klara Fall)