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Die Ausweitung der Kampfzone

Das „vereinigte Europa“ macht sich heut­zu­tage nicht nur in mehr oder weniger gla­mourö­sen Feierstunden und Sonn­tags­­­reden bemerkbar, sondern auch im sozia­len Bereich. Nachdem mit Beginn dieses­ Jahres die Sozialhilfe in der Slowakei um die Hälfte gekürzt wurde, kam es im Südwesten des Landes zu Plünderungen, worauf­hin die Re­­gie­­rung sogar die Armee einsetzte. Die „Aus­­­­schrei­tungen“ wurden vor allem von Roma getragen, es beteiligten sich aber auch andere Erwerbslose daran – denn die Kürzung betrifft alle Be­dürf­­tigen. Es handelt sich dabei also um soziale, nicht um „ethnische“ Konflikte, wie es hier­zulande in den Medien geheißen hatte.

Nicht nur im Bereich der Erwerbslosen gehen europäische Regierungen in die selbe Richtung, sondern auch in der Bildungs­branche. Daher gründeten am 3. März 2004 Studierende der größten Uni des Landes, der Comenius-Universität in Bratislava, ein Studentisches Streikkomitee (SVS). Das Streik­komitee definiert sich als apolitische Gruppierung. Die Treffen, die ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden, sind öffentlich und versammeln durchschnittlich 20 bis 30 Leute. Ein Großteil der Entschei­dungen wird im Konsens getroffen, nachdem gleich­berechtigt über Ziele und Aktivitäten diskutiert wurde.

Auf diese Weise kam am 5. Mai die größte Studierendendemonstration seit 1989 zustande. An dem Zug durch das Stadtzentrum nahmen mehr als 1.000 Studis, Arbei­terIn­nen und Rent­nerIn­­nen teil. Dieses Spektrum verdeutlicht die umfassende Be­deu­tung des Bildungswesens – das SVS legt Wert darauf, dass seine Aktivität nicht nur den gegenwärtig Studierenden zugute kommt, sondern auch der Gesellschaft all­ge­mein. Das SVS mobilisiert nun mit Info­ständen in Bratislava für einen Studi-Streik im Oktober, verteilt 20.000 Flugblätter und plant die Ausweitung der Aktivitäten auf andere Städte (z.B. Kosice) – obwohl die Beteiligung mit Semesterende nun abnimmt. Außerdem gibt es Gespräche mit der Bildungsgewerkschaft, die der Regierung mit Streik droht.

Wie bei den Protesten 2000/2001 beteili­gen sich auch in diesen Tagen Anarchisten an der sozialen Bewegung. Die Forderungen des SVS beziehen sich auf Gebühren­­freiheit des Studiums – Ende August könnte im Parlament ein Gesetz verabschiedet werden, das Studiengebühren vorsieht– , die Steigerung des Bildungs­etats (bis 2006 auf 1,33 Prozent des Bruttosozialprodukts) und der finan­ziel­len Unterstützung Studierender, sowie die Bewertung des Studiums durch unabhängige Agenturen und durch Studie­rende selbst. An diesem Forderungskatalog ist erkennbar, dass das SVS keineswegs homogen ist und noch am Anfang seiner Aktivität steht. Klar wird dabei die Notwendigkeit grenzüberschreitender Dis­kus­sion. Denn die geforderte Be­wer­tung des Studiums führt hierzu­lande zu er­höh­tem Druck auf die Universitäten, dient als Rechtfertigung von Um­struk­turie­rungen und Kürzungen und tritt den Studierenden selbst letztlich als Sachzwang entgegen – die Hoffnung einer weiter­gehenden Einflussnahme auf die Ge­staltung der Uni erfüllte sich nicht.

A.E.

Nachbarn

Wieder einfach zu bequem

Bereits in der ersten Ausgabe des Feierabend!, im September 2002, hatten wir über Tariferhöhungen der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) zu berichten. „Einfacher und bequemer!“ hieß damals die Losung zum 1. August 2002; und wir fragten uns, warum die Fahrgäste einfach zu bequem sind, sich dagegen zu wehren.

Heute, anderthalb Jahre später das selbe Bild: am 12. März bestätigt der Aufsichts­rat der LVB die „Tarifanpassung“ der Mittel­deutschen Verkehrsverbundes (MDV). Die durchschnittlich fünf­prozentige Erhöhung wird mit gestiegenen Kosten und sinkenden Einnahmen be­gründet. Letztere seien vor allem auf die Steuerreform zurückzuführen, im deren Zuge die Subventionen zum Ausbildungs­verkehr linear reduziert werden (2004 um 4% bis 2006 um 12%). Das Unternehmen reiht sich also ein in den Chor blasser Politik-Schelte und gibt die fromme Opferrolle. In der Tat aber konnte die LVB 2002 14.000 Euro Plus verbuchen, der Umsatz stieg 2002 von 60 auf 66 Mil­lionen Euro. Die „sinkenden Einnahmen“ der Presseerklärung verweist also auf sinkende Subventionen.

Das im LVB-Haushalt geschlagene Leck – fünf Millionen Euro groß – soll mit einem „solidarischen Modell“ gedichtet werden, damit die „Preissteigerungen […] in einem erträglichen Rahmen“ bleiben … und wer wollte bei solcher Rücksicht Protestgeschrei noch erheben? Um diese Wirkung zu verstärken, rechnet der MDV den Teufel an der Wand vor: allein in diesem Jahr wäre für Schüler- und Azubitickets eine Teuerung von 15 Prozent (Azubi: 3,80 Euro) nötig gewesen.

Nun soll hier gar nicht gegen eine kollektive Übernahme von Lasten argu­men­tiert, aber darauf hingewiesen wer­den, dass es sich hierbei nicht um Solidarität handelt.1 Die nämlich ist freiwillig und könnte sich entwickeln, wenn es zum Beispiel darum geht, auf die außerdem an­gekün­digten „Einsparungen“ zu reagieren.2 Auch der letzte bequeme Fahrgast sei erinnert: wenn der Zeitplan gestrafft wird, kommt das Sicherheit und den FahrerIn­nen nicht zugute; und wenn im Zuge der Ein­sparungen die Löhne der FahrerInnen auch sinken, werden die Tic­kets nicht billiger – wie die LVB uns allen demonstriert!

Die Tariferhöhung muss übrigens, soviel sei zum vermeintlichen „Rückzug des Staates“ gesagt, vom Regie­rungs­präsidium genehmigt werden. Die Zustim­mung wird für Mitte Mai erwartet. Dabei wäre es weder unmöglich noch absurd, die Fahrscheine einfach abzuschaffen. Über die Leip­ziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV) hält die Stadt Leipzig nämlich 95 Prozent der LVB. Im Aufsichtsrat der LVV sitzen Mitglieder sämtlicher Parteien und großer Gewerk­­­­schaften und bestimmen so über die konzeptionellen Leit­­linien der Arbeit verschiedener kommunaler Unter­nehmen, auch der LVB. Im belgischen Hasselt ist der öffent­liche Verkehr seit Jahren gratis, der Autoverkehr und die Zahl der Unfälle sanken, wodurch sich auch die Lebensqualität in der Stadt verbesserte. Die Zahl der Fahr­­gäste ist auf das Achtfache gestiegen – das Bedürfnis ist da. So ließen sich also nicht nur mehr als 800.000 Euro an Unterhaltskosten für Automaten einsparen, son­dern auch recht aufwendige Maßnahmen für auto­gerechten Stadtbau; um nur einige Aspekte zu nennen.

Mit den Fahrpreisen steigt indes in Leipzig auch die Zahl derer, die sich die Fahrt eigentlich nicht mehr leisten können. Die „Dunkelziffer“ der „Schwarzfahrer“ ist natur­­gemäß schwer zu bestimmen. Seit die LVB die Vergehen strikter verfolgt und Strafanzeigen stellt, stiegen die Fälle für die Justiz auf ein Rekordniveau von zuletzt (2003) 9982. Neben Geldstrafen droht den Ertappten eine Haft von zwölf Monaten! Aber auch wer die Geld­strafen nicht zahlen will, oder kann, muss in den Knast: 1 Tagessatz à 10 Euro = 1 Tag in Haft. Das sind nicht wenige, so stieg die Belegung des Leipziger Gefängnisses binnen eines Jahres um mehr als 57 Prozent auf über 126 Prozent der Kapazität. 500 Menschen sind dort ein­gepfercht, wo dem Konzept zufolge nur 400 vegetieren sollten. So denkt man im Rathaus inzwischen darüber nach, das Justizprogramm „Schwitzen statt Sitzen“ anzuwenden: gemeinnützige Arbeit, um die Geldstrafe abzubauen, statt Gefängnis; Zwangsarbeit bei der Stadt­reinigung, ABM-Kräfte sind wohl nicht mehr billig genug …

A.E.

Lokales

Mut zur Klasse

Unruhe gibt es auch „im Osten“, etwa bei der SCP Neusiedler Papierfabrik Ruzom­berok. Nach Angaben von Beschäftigten hat die Gewerkschaft versagt, weil sie gegen den Konzern, der auch in Österreich, Ungarn, Südafrika etc. Fabriken unterhält, keine angemessen Lohnerhöhung durchsetzte. Also gründeten fünf ArbeiterInnen im September 2004 zunächst ein Petitions-Komitee (PC). Mehr als 1.200 Kol­legIn­nen, rund 90% der Belegschaft, unterzeichneten die Petition, in der Lohnerhöhungen zum ersten mal öffentlich eingefordert werden. Das Management reagierte ablehnend und drohte mit Entlassungen, weil das Unternehmens-Image durch die PC-Veröffentlichungen Schaden genommen habe.

Im Oktober wurde das PC zu Verhandlungen eingeladen. Sie bekamen allerdings eine Rüge wegen „Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin“ und konnten ihre Sachen packen, bevor man sie vor die Tür setzte.

Am 23. September hatte das PC eine Versammlung organisiert, zu der 300 Arbei­terInnen kamen. Sie beschlossen, in dem Werk eine neue Gewerkschaft zu grün­den. Erstmals versuchen sich Arbei­terInnen in der Slowakei an anderen Formen der Organisation: Entscheidungen wer­den auf Vollversammlungen getroffen, die Funktionäre sind jederzeit absetzbar, bekommen den Durchschnittslohn.Die Stimmung ist so kämpferisch, dass auch die Betriebsbesetzung erwogen wird…

19 Mitglieder des PC und der neuen Gewerkschaft Papier, die im November mit 350 Mitgliedern offiziell registriert wurde, wurden bisher entlassen. Die Forderungen sind klar: Wiedereinstellung, Anerkennung der Papier und Lohnerhöhung, wie das PC sie forderte.

A.E.

sozialer protest

Monopol erneut bestätigt

Seit dem 13. Juni 2004, ist in Leipzig eine neue Polizeiverordnung in Kraft, die eine gewisse Art öffentlicher Kommunikation ein weiteres Mal kriminalisiert. Der Erlass über „Sicherheit und Ordnung“ wurde am 19. Mai im Stadtrat beschlossen und zeichnet sich vor allem durch Pflichten bzw. Verbote für BürgerIn­nen und weitere Befugnisse für die Polizei aus. So ist es untersagt, in Parks zu übernachten und/oder zu urinieren. Hundehal­terIn­nen haben von nun an mit Polizeikontrollen zu rechnen, ob sie die vorgeschriebenen Kotbehältnisse mit sich führen. Die Ausweitung der Zuständigkeiten der Polizei, das Eindringen der Verwaltung in die geringsten Nischen ge­­sell­schaftlicher Angelegenheiten, nimmt in der Verordnung groteske Züge an. Es drängt sich die Frage auf nach der Henne und dem Ei: sind die BewohnerInnen der Stadt unfähig zur Interaktion, dass es solcher Regelwerke bedarf; oder schaffen erst solche Edikte die unmündige Borniertheit?

Nicht hinter jeder Ecke kann ein Polizist stehen, daher ruft das „Amtsblatt“ wieder zur Denunziation auf. Da geht es natürlich nicht nur um Häufchen oder wildes Campen, sondern um Graffiti und Plakate. Wie bereits seit 21 Monaten, ist auch künftig noch das Anbringen von „Plakaten, Anschlägen, Aufklebern“ verboten, die nicht „Ankündigungen, (und) Anpreisungen“ darstellen. Ausgenommen sind die „speziell dafür zugelassenen Flächen“ (§5) In Absatz 4 heißt es: „die Rechte Privater an ihrem Eigentum bleiben von dieser Regelung unberührt.“ Und so bleibt etwa kom­­merziellen Betreibern von Litfaßsäulen, fremde Plakate abzunehmen und die Klebe-Trupps zu verfolgen. Die Feststellung aus Feierabend! #2 gilt weiterhin: es ist „von vorneherein schonmal jeder in den illegalen Raum gedrängt, der den öffentlichen Raum zur öffentlichen Kommunikation nutzen will.“ Sofern er/sie nicht dafür zu blechen bereit ist.

 

A.E.

Lokales

Entschlossener als Andere

Im vergangenen Jahr sah sich die französi­sche Regierung, anders als die deutsche, mit einer breiten Streikbewegung kon­fron­tiert, die sich u.a. gegen die Reformen der Rente, des Bildungswesens und der Sozial­ver­sicherung der „Intermittents“ (unregelmäßig beschäftigte ArbeiterInnen der Kulturindustrie) richtete. Die An­gestellten der Bil­dungsbranche, vor allem LehrerIn­nen, gehör­ten zu den wichtigsten Teilen der Bewe­gung – ihr wichtigstes Druckmittel: Ausfall der Abiturprüfungen. Nach einer imposanten Medienkampagne über die „Ver­­ant­wortungslosigkeit“ der Streikenden, und auch aufgrund der Anwesenheit von „Ord­nungskräften“ konnten die Prüfungen durch­geführt werden. Dieser Niederlage ent­sprechend schwer waren Versuche nach den Sommer­ferien, den Protest wieder auf­zu­­nehmen. Im Schulwesen geht es vor allem um die Zahl der Hilfskräfte, sowie um die Verbesserung ihrer oft prekären Arbeits­si­tuation und um die Abwehr der so­ge­nann­ten „Dezentralisierung“: mit dem Über­­gang der Bildungshoheit an die Départements, so fürchten die LehrerIn­nen, wird einem Gefälle in Lern- und Arbeits­bedingungen Vorschub geleistet. In Lyon fanden sich die ehemals Streikenden nach den Sommerferien in einer über­gewerk­schaftlichen Runde zusammen. Die gewerkschaftsübergreifende Kooperation „Inter­syndicale“ will einen „kollektiven Kampf gegen die Prekarität fördern, der von den Prekären selbst geleitet […] und von unseren Gewerkschaften [CGT, CNT, SUD] mit den notwendigen Mitteln unter­stützt wird.“ Sie kritisieren nicht nur die soziale Unsicherheit in der Schule, sondern im gesamten öffentlichen Dienst – das Bil­dungs­wesen aber ist freilich ihr Schwerpunkt. Neben öffentlichen Ver­samm­lungen und Petitionen, kümmerten sie sich auch um einen Fragebogen der Prekären.

In dieser Situation riefen die großen Gewerk­schaften landesweit für den 25. Mai zu einem zweiten Streik- und Aktionstag auf – die erfolgreiche Mobilisierung vom 12. März sollte wiederholt werden, um zu zeigen „dass wir noch entschlossen sind“. Aber ein eintägiger Warnstreik wenige Wochen vor Ende des Schuljahres ist nicht mehr als ein gewerkschaftliches Lippen­bekennt­nis und kann kaum Druck auf die Regierung ausüben, die 2003 mehreren Streikwochen trotzte. So fand der Aufruf kaum Resonanz: es herrscht eine allgemeine Resignation. Die CNT beklagt in einer Erklärung, dass es Mitte März versäumt worden war, die Bewegung zu intensivieren. Dieser Wille, wie ihn KollegInnen in Versammlungen formu­lierten, gereichte nicht zur Tat.

A.E.

Nachbarn

Die radikalen Wurzeln des Ersten Mai

Was heute als „Tag der Arbeit“ bekannt ist, wurde 1889 von der neu gegründeten Zweiten Internationale als „Kampftag der Arbeiterklasse“ ausgerufen. Die Internationale, die soeben den libertären Flügel ausgeschlossen hatte, machte sich damit eine Forderung der amerikanischen ArbeiterInnen zu eigen: den Achtstundentag. Ironischerweise konnte gerade die anarchistische Strömung in Chicago, dem Zentrum der Achtstunden-Mobilisierung, einen starken Einfluss auf die ArbeiterIn­nen­bewegung ausüben. Heute würde das wohl als „internationaler Aktionstag“ ausgerufen werden – eine Aktionsform, die in den vergangenen Jahren wieder belebt wurde (vgl. Feierabend! #3). Die zentrale Forderung „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, was wir wollen!“ war 1856 erstmals in Australien aufgekommen, und fand direkt nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg (1865) auch unter den ArbeiterInnen der „neuen Welt“ großen Anklang.

Zu dieser Zeit setzte eine Modernisie­rungs­welle im amerikanischen Wirtschaftsleben: der Schwerpunkt verlagerte sich vom handwerklichen und agrarischen Sektor zur Großindustrie. Am Anfang des Wirtschaftswunders hatte der Krieg gestanden: Subventionen, Schutzzölle und Staatsaufträge. Chicago, die „weiße Stadt“ im Norden des Landes, war schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein ökonomischer Knotenpunkt gewesen: der zentrale Umschlagplatz für Mais und Weizen, Sammelplatz für Schlachtvieh und Bauholz. Weiterhin entwickelte sich in Chicago die Stahlindustrie, die in der Waggonfabrik Pullman und der Erntemaschinenfabrik McCormick verkörpert war. Beschleunigt wurde die Modernisierung der Stadt auch durch den Großbrand von 1871, der binnen drei Tagen die Innenstadt verwüstete. In den folgenden zwei Jahren herrschte Arbeitskräftemangel, was die Position der ArbeiterInnen stärkte. Doch 1873 brach auch hier die erste Wirtschaftskrise der USA ein, die – verstärkt durch die Krise in Europa – zu massiver Arbeitslosigkeit bzw. Kurzarbeit und einer Senkung des Lohnniveaus um 20 Prozent (1873-79) führte. Noch im selben Jahr erlebte Chicago eine erste große Arbeitslosendemonstration. Die Polizei knüppelte die 20.000 TeilnehmerInnen auseinander, an den Folgen der Schläge starben zwei Menschen. Von der landesweiten Krise beson­ders betroffen waren auch die ArbeiterIn­nen der Eisenbahngesellschaften, letztere hatten seit 1873 die Löhne durchschnittlich um 25 Prozent gesenkt. Als im Juni 1877 weitere Lohnkürzungen angekündigt wurden, begannen im Osten des Landes Streiks, die sich zu einem Generalstreik gegen Niedrig­löhne und Arbeitslosigkeit ausweiteten. Gegen die Eisenbahner wurden Bundestruppen und die Nationalgarde eingesetzt: 13 Streikende wurden getötet. In Chicago wurde der Streik Ende Juli im Blut von 24 Toten und mehr als 200 Schwerverletzten erstickt. Im Jahr darauf schenkte die Industriellenvereinigung Citizens’ Association der Stadtverwaltung zwei Maschinengewehre!

In dieser gesellschaftlichen Situation kam es 1880 in der Sozialistischen Arbeiterpartei zu Auseinandersetzungen über die Legitimität der bewaffneten Arbeitermilizen, die jüngst verboten worden waren. Die Revolutionäre lehnten den Wahlkampf aus taktischen Gründen zwar nicht ab, bot sich darin doch eine gute Gelegenheit, ihre Ideen zu verbreiten; sie waren jedoch von der Notwendigkeit bewaffneter Organe über­zeugt. Die „Propaganda der Tat“ verstanden sie jedoch nicht als politisches Atten­tat, sondern als bewaffneten Massenaufstand. Auf einem Kongress, in Pitts­burgh 1883, fanden sich Delegierte aus 26 Städten zusammen und gründeten die International Working Peoples’ Associa­tion (IWPA), die die gewerkschaftliche Organisation in ihr Revolutionsmodell einbezog: Nach der Zerschlagung des Kapitalismus sollten die auf lokaler und regionaler Ebene existierenden Gewerkschaften die Keimzellen einer neuen Gesellschaft bilden, die eine staatliche Struktur nicht mehr kennen sollte. Dieses Sozialismusverständnis war einerseits von Marx’ Analyse der ökonomischen Verhältnisse geprägt, andererseits wurde eine geistig-moralische und kulturelle Revolution in ihrer Bedeutung der Umwälzung der Besitzverhältnisse gleichgestellt.

Dass die IWPA in ihrer Radikalität großen Zuspruch erhielt, lag zum einen daran, dass die Revolutionäre ihre Vorstellungen nicht dogmatisch verfolgten, sondern durchaus bereit waren, auch aktuelle Tagesforderungen – z.B. den Achtstundentag – zu unterstützen. Zum anderen war die blutige Repression seitens des Staates und der Arbeitgeber fast alltäglich, und doch war die kollektive Aktion unvermeidlich. Denn wenn auch der Achtstundentag gesetzlich verankert war, bedeutete das noch lange nicht, dass er auch durchgesetzt wäre. Für immerhin 40.000 Arbei­terInnen war die Arbeitszeit schon auf einen dritten Teil des Tages reduziert worden – nun hieß es: alle oder keiner. Vom ersten Mai an sollte der Achtstundentag überall durchgesetzt werden. August Spies, Chefredakteur der einzigen sozialrevolu­tionären Tageszeitung, der deutschsprachigen „Arbeiter-Zeitung“, betonte als Redner auf der 80.000er Demo: „Ja, zwanzigtausend organisierte, bewusste und entschlossene Lohnarbeiter sind ein schwerwiegenderes Argument als die allerlogischsten und schönsten ökonomischen Beweisführungen.“ In der Folge kam es, wie schon 1867 im Rahmen der ersten Acht-Stunden-Kampagne, zu einem Generalstreik.

Nach einem Angriff der Polizei am 3.5.1886 auf die Streikposten der McCor­mick-ArbeiterInnen waren wieder zwei Tote zu beklagen. Die am folgenden abgehaltene Protestversammlung auf dem Haymarket, bzw. der Polizeieinsatz dort, wurde zum Ausgangspunkt dramatischer Ereignisse: das erste Bombenattentat der US-Geschichte tötete einen Polizisten, sechs weitere starben im Kugelhagel ihrer Kollegen. Daraufhin initiierte die Polizei Razzien und Massenverhaftungen im revolutionären Milieu. Die Staatsanwaltschaft erhob Klage gegen acht Wortführer, und wollte damit der sich formierenden ArbeiterInnenbewegung ein für allemal den Garaus machen – mit vier Hinrichtungen, einem Selbstmord und dreimal 7 Jahren Haft.

A.E.

Soziale Bewegung

Bei DHL arbeiten wir an 365 Tagen 24 Stunden

Die Freude war groß, als das DHL-Management am 9. November verlaut­barte, dass das erweiterte europäische Drehkreuz des Logistikunternehmens 2008 am Flughafen Halle-Leipzig angesie­delt werden soll. Närrisches Frohlocken: „Ich bin völlig aus dem Häuschen! Ein unglaublicher Erfolg!“, meldete sich OBM Tiefensee zu Wort. Auch die sonstige veröffentlichte Meinung gibt sich rückhalt­los enthusiastisch. Wer freut sich da, worüber? Das Handelsblatt (9.11.2004) zitiert u.a. den ver.di-Bundesvorstand, die DHL-Ansiedlung in Leipzig sei ein „Signal für den Standort Deutschland“ (1). Ist es Begeisterung, die bisher schon mehr als 9.000 Bewerbungen motivierte?

Zuerst jedoch ein kurzer Blick auf den Hintergrund: DHL – der Firmenname leitet sich von den Initialen der drei Männer ab, die das Unternehmen 1969 in San Francisco gründeten – ist ein Tochterunternehmen des Deutsche Post World Net (Deutsche Post, Postbank, u.a.): 1998 wurde es von dem Konzern mehrheitlich, 2002 komplett über­nommen. Im April vor­letzten Jahres, während ArbeiterInnen in Hamburg, Bremen und Dortmund unter verdi-Anleitung für eine Lohner­höhung streik­ten, wurden die Firmen DHL, Danzas und Deutsche Post Euro Express zu der heute bekannten Marke DHL Express & Logistik zusammengefasst – während die Verhand­lungen mit ver.di über eine Fusion der Unternehmen, bzw. den dabei vorgese­henen Stellenabbau im Juli 2004 vorerst abgebrochen wurden. Derzeit unter­hält DHL weltweit 250 Flugzeuge und ein dementsprechend dichtes Netz an Sortier­zentren – insgesamt 160.000 Arbei­terIn­nen halten den Laden am Laufen, 10.000 davon in der BRD (2). Bevor die Sendungen in eins der beiden deutschen Sortierzentren in Köln oder Frankfurt/M. kommen, werden sie schon in sechs Gateways, darunter in Leipzig, vorsortiert. Danach werden die Sendungen zum derzeitigen kontinentalen Hauptumschlagplatzes (HUB) in Brüssel geflogen. Eben dieses Drehkreuz sollte erweitert werden – die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung wurden Ende Oktober jedoch für gescheitert erklärt.

Am 21.10. waren also noch die Stadträte von Vatry und Leipzig „im Rennen“ um enorme Investitionen bis 2008 und um mehr als 3.500 Arbeitsplätze – während­dessen wurde im Brüsseler HUB, der seit 1985 existiert, die Arbeit niedergelegt (vgl. Demo in Brüssel, S. 7). Darüber fand sich in der hiesigen Presse kein Wort. Anfang November ist dann klar: Bis 2012 will der Konzern – DPWN konnte 2003 einen Umsatz von 40 Milliarden Euro verzeich­nen – in der Leipziger Region 250 Millio­nen Euro investieren (3).

Hinzu kommen zumindest knapp 71 Mio. Euro aus EU-Kassen, die bereits im April 2004 für Leipzig bewilligt waren, etwa 35 Mio. Euro aus dem sachsen-anhaltinischen Landeshaushalt – unbekannt, wieviel der Sächsische Freistaat hinzugibt.

Außerdem sind an die Post-Niederlassung gebunden: der (evtl.) Ausbau der Bundes­straße 6 auf vier Spuren, eine Hoch­ge­schwindig­keitsbahntrasse für Frachtver­kehr zwischen Frankfurt und Leipzig, sowie die Erhöhung des Lärm­schutz­­etats um 30 auf 380 Mio. Euro. Kein Wunder, dass Tiefensee angesichts dieser Taler schwin­delig wird – gleichwohl ein Termin für den ersten Spatenstich eben­so ­wenig feststeht wie eine konkrete Auf­­listung der zu besetz­en­­den Stellen. Bis zur Inbetrieb­nahme ist es ja noch 3mal Lang­zeitarbeits­­losig­keit (d.h. 3 Jahre) hin.

Freilich mögen die 3.500 DHL-Ar­­beits­­plätze, und weitere 6.000 im Umfeld (4), in Zeiten von Massen­ar­beits­losig­keit und ALG II wie ein selig­machen­­des Glücks­versprechen erscheinen – so stark ist der Im­puls, dass binnen weniger Wochen mehr als 9.000 Bewerbungen bei der städtischen PUUL (vgl. PUUL, S. 7) eingegangen sind. Nach Angaben des Geschäftsführers Oertel seien 50 Prozent der BewerberIn­nen derzeit arbeitslos. In Kontinuität der un­säglichen Olympia-Kampagne übt sich die Lokalpresse darin, Hoffnungen zu schü­ren und das Glück auf Erden in Arbeit, Arbeit, nochmals Arbeit zu finden. Den „Arbeitgebern“ macht man sich heutzutage Untertan, man scheut nicht den Wett­kampf der Anbiederung, der Privatisierung öffentlicher Gelder, des aus ehrlicher Dankbarkeit geschmeidigen Bücklings. Dankbar wofür? Was einen Gutteil der künftigen 3.500 (Un-)Glücklichen erwar­tet beschreibt eine Reportage aus Brüssel: „Bevor er zupackt, stopft er sich noch Stöpsel ins Ohr, anders ist der ewige Lärm der Bänder nicht auszuhalten. Und dann steht er in einem Gang, der kaum mal einen halben Meter misst, fast 100 Meter lang, zwischen weiteren 100 Kolleginnen und Kollegen, die das gleiche machen, wie er: Pakete sortieren.“ (5) Freilich kann es auch anders kommen. Nicht unwahrscheinlich nämlich ist es, dass das Ma­na­ge­ment im Zuge des Neubaus auf die Automatisierung weiter Bereiche setzt – wie Arbei­terIn­nen in Brüssel vermuten. (6)

Jedenfalls ist die Stimmung bei DHL nicht allzu glückverheißend: das Management übt seit Monaten Druck auf die Beleg­schaf­ten aus, indem Aufträge systematisch an Subunternehmen abgegeben werden … erste Vorboten einer verschärften Situation, denn ab 2008 wird das Briefmonopol in der BRD aufgehoben, von dem der Mutterkonzern heute noch profitiert. Die künftigen Leip­ziger DHL-Mit­arbeiterIn­nen können sich also schon jetzt einstellen auf Maloche unter „autoritärem Führungs­stil“ (7) – und die entsprechenden Ausein­ander­setzungen. Denn es ist die einfache Einsicht in den Klassenkampf, die LVZ und Tie­fen­see mit ihrer Tollerei um „Arbeitsplätze“ verdrängen wollen. Das Arbeitsverhältnis ist schließlich von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt: für DHL arbeiten fast 50 Prozent der Kon­zern­­beleg­schaft, die mehr als 50 Prozent des Umsatzes realisieren. In dem Schlüssel­sektor des Konzerns selbst, bildet wiede­rum das kontinentale Drehkreuz einen der wichtig­sten Knotenpunkte.

A.E.

(1) aus einer Presseerklärung vom 21.10.
(2) Ob diese Zahlen auch die Angestellten in Subunternehmen umfasst, ist unklar. Quelle: A. Storn, Nur der Name bleibt, Die Zeit, 2.9.04
(3) Mind. ebensoviel soll Deutsche Post World Net für die Logistiksparte von Karstadt/Quelle gebo­ten haben, deren Verkauf fürs Quartal 1/05 vorgese­hn ist.
(4) Nach Schätzungen der sächs. Regierung.
(5) D. Drewes, Wo nachts die Post für ganz Europa abgeht, 16.12.04, www.stimme.de
(6) Darauf deutet auch die erwähnte Bahntrasse hin, deren Investitionsvolu­men nach Angaben der Finan­cial Times Deutschland (27.12.04) mehrere 10 Mio Euro umfasst. Im dazugehörigen „Luftfracht-Umschlagbahnhof mit spezieller Technologie“ sollen in 15 Minuten 200 Tonnen Fracht verladen werden.
(7) Storn, Nur der Name bleibt. Die Zeit, 2.9.04

Lokales

Libertäres Afrika

Südafrika gehört (neben Nigeria) zu den industrialisiertesten Ländern Afrikas. Das Interview mit  J. Black, ZACF, wurde im Ende 2004 von der Agência de Notícias Anarquistas (Brasilien) geführt und wirft uns ein Licht, wo sonst nur Dunkel ist.

Wie steht es heute um die anarchistische Bewegung in Südafrika?

Es gibt eine kleine anarchistische Bewegung in Südafrika seit etwa Beginn der 1990er. Sie findet sich aber noch in den Kinderschuhen, obwohl libertäre Ideen in den sozialen Bewegungen der letzten fünf Jahre immer populärer geworden sind. Es gibt auch marxistisch dominierte Jugendorganisationen in Swaziland, wo sich einige Mitglieder für Anarchismus interessieren.

Wie setzt sich die Bewegung zusammen?

Die wichtigste Vereinigung des organisier­ten Anarchismus in Südafrika ist die Zabalaza Anarchist Communist Fede­ration (ZACF), die dieses Jahr ihren ersten offiziellen Kongress in Johannesburg abhielt. Die Aktivitäten der ZACF – die gebildet wird von der Black Action Group, dem Bikisha Media Collective, den Zabalaza Books, dem Anarchist Black Cross und der nun aufgelösten Zabalaza Action Group – umfassen Propaganda und Bildung, indem wir anarchistische Lite­ratur schreiben, veröffentlichen und verbreiten, und indem wir politische Bil­dungs­­foren ausrichten und an sozialen Bewegungen und Gemeinschaften ebenso teilnehmen wie an Organisationsver­suchen in Gefängnissen.

Wo liegt derzeit euer Schwerpunkt?

Zur Zeit versuchen wir, die demoralisierten und enttäuschten ArbeiterInnen zu organi­sieren, die an der WITS-Universität ausgegliedert wurden. Außerdem nehmen wir an sozialen Bewegungen teil, die sich gegen die Privatisierung der Wasser- und Stromversorung und gegen Zwangs­räumungen richten. Schließlich versuchen wir, Gefangene zu organisieren.

Bringt ihr viele Bücher und Publikationen heraus?

Die ZACF gibt „Zabalaza: A Journal of Southern African Revolutionary Anarchism“ heraus und, wenn auch nur sporadisch, den „Black Alert: Paper of the Anarchist Black Cross – Anti-Repression Network“. Wir schreiben und produzieren auch verschiedene anarchistische Flug­blätter und Kritiken, die den aktuellen Klassenkampf in Südafrika und seine Geschichte berühren, wie zum Beispiel „Class Struggles in South Africa: From Apartheid to Neoliberalism“. Außerdem reproduzieren wir viele zeitgenössische und klassische anarchistische theoretische und praktische Texte. Zabalaza Books begann jüngst auch mit der Herausgabe des Buches „African Anar­chism“ der nigeria­nischen Anarchisten Sam Mbah und I.E. Igariwey von der Aware­ness League, wie auch von „Hungary ’56“ von Andy Anderson.

Gibt es auch anarchistische Lokalitäten, oder Kulturzentren?

Es gibt ein sehr kleines Gemeindezentrum im Motsoaledi-Town­ship von Soweto, das von Anar­chisten betrieben wird. Das ist ein kleiner Lese­­raum und eine Bibliothek, die anar­chis­­tische Literatur beherbergt. Es werden dort aber auch politische und unterhaltsame Video­s gezeigt. Die Aktivisten betreuen auch einen kleinen Gemüsegarten und bieten in jüngster Zeit eine Tagesbe­treuung für kleine Kinder an. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Gemeinde­zen­­tren, die von der Basis betrieben werden, aber nicht spezifisch anarchistisch sind – immerhin findet man auch dort anarchistische Literatur und Einflüsse unserer Ideen. Eines der wichtigsten Ziele der ZACF für die nähere Zukunft ist der Aufbau eines anarchistisch betriebenen Gemein­de­­zentrums oder Infoladens, wo wir unsere Materialien verteilen, Workshops etc. machen können.

Gibt es in Südafrika eine anarchistische Tradition?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine relativ große anarchistische Bewegung in Gestalt der anti-parlamen­tarischen Communist Party of South Africa (nicht zu verwechseln mit der reformis­tischen Communist Party of South Africa – Communist International!), des Socialist Club, der International Socialist League, der Industrial Workers of Africa, der Industrial Workers of the World South Africa und der Industrial Socialist League – sie alle wurden zwischen 1900 und 1920 in Südafrika gegründet. Außerdem gab es in Mozam­bique die Revolutionary League und anarcho-syndikalistische Gewerk­schaften, die mit der portugiesischen CGT verbunden waren und die mozambi­quanische ArbeiterIn­nen­bewegung der 1920er dominierte. Diese Traditionen im südlichen Afrika wurde durch die beiden Weltkriege und das nationalistische Regime leider ausgelöscht; ein Wieder-Anknüpfen war erst möglich, seit das Apartheid-Regime niederging und das „Gesetz zur Unterdrückung des Kommu­nismus“ aufgehoben wurde. […]

Gibt es ein anarchistisches Projekt, das du hervorheben möchtest?

Im Moment gibt es ein Projekt, dem ich mich leiden­schaftlich verbunden fühle, und zwar eine Unterstützungskampagne für inhaftierte Anti-Apartheid-Kämpfer und politische Gefangene, die noch immer in den Kerkern Südafrikas vegetieren. Die Kampagne soll dem Los dieser Gefangenen Aufmerksam­keit verschaffen, in der Hoffnung, dass wir ausreichend öffentliche Unterstützung erzeugen können, damit diese Leute amnestiert werden. Einige dieser Gefan­genen interessieren sich sehr für Anarchis­mus und wir hoffen, dass wir durch sie, über die Gefängnisorgani­sation hinaus, in die sie involviert sind, auch ihre Familien und Gemeinden erreichen können, die die repressive Rolle des Staates direkt erfahren haben.

Wird die anarchistische Bewegung in erster Linie von Schwarzen gebildet?

Das Proletariat in Südafrika ist mehrheitlich schwarz, aber aufgrund der Geschichte – mit dem mangelnden Zugang zu Informa­tionen für die unterprivilegierten Klassen und speziell die „Nicht-Weißen“ während der Apartheid – war die Mehrheit der bewussten Anarchisten tatsächlich weiß. Bis auf wenige Ausnahmen, gelang es uns erst im Zuge der Mobilisierung gegen den UN-Gipfel über Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002, Kontakte zu schwarzen Anarchisten aus den Townships aufzubauen. Sie sind erst vor kurzem mit anarchistischen Ideen in Berührung gekommen, was vor allem auf unsere Propaganda in sozialen Bewegungen zurückzuführen ist. In letzter Zeit zeigen auch einige politische Gefangene zuneh­men­des Interesse am Anarchismus, oder bezeichnen sich jetzt selbst als Anarchisten.

Was ist heute das größte Problem des Anarchismus in Südafrika?

Das größte Problem der anarchistischen Bewegung in Südafrika ist, wie vielleicht aus dem Gesagten schon hervorgeht, dass es keine anarchistische oder libertäre Massen­bewegung gibt, gleichwohl wir Kontakte haben zu sozialen Bewegungen und Gras­wurzelaktivisten in den Gemeinden. Da die Massenbewegungen von Reformisten und autoritären Sozialisten dominiert werden, haben wir es aufgrund unserer geringen Anzahl und der Begrenztheit unseres Einflusses und Budgets sehr schwer, eine praktische Alternative zum autoritären Sozialismus herauszustellen.

Wie sehen die Perspektiven aus?

Die ANC-Regierung trägt viel dazu bei, die Leute über die Rolle der Politik zu desillusio­nieren, was die Verbesserung der allgemei­nen Lebensbedingungen angeht. Und die trotzkistisch geprägte Führung des Anti-Privatisierungsforums (APF), das als soziale Bewegung aus der ArbeiterIn­nen­klasse entstanden ist1, will das APF nun als „Arbeitermassenpartei“ registrieren und zu Wahlen antreten – ein Gedanke, der heiß debattiert wurde, wobei sich in der sozialen Bewegung zwei oppositionelle Gruppen ergaben: eine libertäre und autonome, und eine autoritär-hierarchische. Diese Situa­tion könnte eine gute Gelegenheit für Anarchisten bieten, all jene Aktivisten in einer Volksfront der unterdrückten Klassen zu versammeln – orientiert an den Prinzi­pien der direkten Aktion, der Gleichheit, etc. –, die der parlamentarischen Politik ablehnend gegenüber stehen. Außerdem scheint mir die Einrichtung eines anarchis­tischen sozialen und kulturellen Zentrums äußerst wichtig, das für die ArbeiterInnen­klasse leicht zugänglich ist, damit unsere Materialien mehr Leute erreichen.

In welchen anderen Ländern des Konti­nents gibt es noch anarchistische Strömun­gen?

In Nigeria existiert bereits seit einigen, etwa zehn Jahren die anarcho-syndikalis­tische Awareness League, die zur Zeit etwa 1.000 Mitglieder hat, obwohl die Zahl in letzter Zeit wohl gesunken ist. Im Jahr 2000 oder 2002 hatten sie eine eigene Radiostation eröffnet, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie noch auf Sendung ist. Die Awareness League schloss sich im Dezember 1996 der anarchistischen Internationale IAA an. In Kenia gibt es die Anti-Capitalist Conver­gence of Kenya, die meines Wissens wie die Washington DC Anti-Capitalist Conver­gence aufgebaut ist und von libertären Kommunisten, Mar­xisten und anderen Sozialisten ins Leben gerufen wurde, um „die allgemeine Öffentlichkeit mit revolutionären Ideen, Propaganda und Aktionen zu erreichen“. Außerdem hat wohl die französische Sektion der IAA, die CNT, einige Kontakte zu Anarchosyndikalisten in Algerien. Außerdem scheinen einige Gruppen in den Gewerkschaften Marokkos aktiv zu sein. Die australische Zeitschrift „Organise“ berichtete, dass auf dem XXI. IAA-Kongress im Dezember 2000 von einer Organisation in Zaire­/Kongo die Rede war. Gerüchteweise gibt es auch in Uganda, Sierra Leone und Ägypten einige, mög­licher­weise sehr wenige aktive AnarchistIn­nen. Zudem haben wir Kontakt zu marxistisch beeinflussten Revolutionären vom Swaziland Youth Congress (SWAY OCO) und der Students Union of Swazi­land, die reges Interesse am Anarchismus äußerten. Sie sehen darin ein Kampfmittel gegen das monarchistische Tinkundla-Regime, und wir hoffen, die Beziehungen weiter ausbauen zu können.

Fühlt ihr euch in die weltweite anarchis­tische Bewegung integriert?

Im allgemei­nen leistete die internationale anarchis­tische Gemeinschaft sehr viel Unter­stützung und wir stehen regelmäßig in Kontakt mit zahlreichen AnarchistInnen und Organisationen aus der ganzen Welt. Wir hatten auch Gelegenheit gehabt, einige AnarchistInnen aus Ländern wie Schwe­den, Amerika, Irak, England, der Schweiz etc. zu treffen als sie Südafrika besuchten. Die ZACF ist auch Mitglied des anarchis­tischen Netzwerks International Liber­tarian Solidarity (ILS), in dem wir regel­mäßigen Austausch pflegen. Außerdem wenden sich viele AnarchistInnen aus dem Ausland an Zabalaza Books. Ich sehe vielmehr eine Isolation in Hinblick auf die anarchistische Bewegung im Rest des afrikanischen Kontinents, wie im globalen Süden allgemein. Dort ist meines Erach­tens die Kommunikation schwieriger als im Norden.

Welche Erwartungen verbindest Du mit dem Besuch in Brasilien?

Ich will beginnen, Brüc­ken zu bauen über die Kommu­ni­ka­tions­­gräben, die zwischen den anar­chistischen Bewegungen des Südens bestehen. Ich will Netzwerke aufbauen zwischen den verschiedenen Plätzen in Brasilien und in Südafrika, die ich kennengelernt habe. Ich glaube auch, dass die Lebensbedingungen in Brasilien denen in Südafrika nicht ganz unähnlich sind, und ich möchte erfahren, wie sich brasi­lianische Anarchisten in die sozialen Bewegungen – etwa zu Wohnrecht und Bildung – einmischen. Ich möchte auch berichten über die Bedingungen in Südafrika, nach zehn Jahren von „Freiheit“ und „Demokratie“, berichten über wach­sende Ungleichheit, Neo-Liberalismus etc. Nicht zuletzt will ich Solidarität organisie­ren für unsere Kampagne für die politi­schen Gefangenen des Apartheid-Regimes.

Danke für das Interview. Ein letztes Wort?

Danke für die Gelegenheit, ein bißchen über die kleine, aber wachsende anar­chistische Bewegung in Südafrika zu erzählen. Lasst uns den Druck erhöhen!

Übersetzung ins Deutsche: A.E.

www.zabalaza.net
(1) vgl. Feierabend! #13

Nachbarn

Demo in Brüssel

Nachdem am 21.10.2004 das DHL-Management angekündigt hatte, das Kon­tinental­drehkreuz in Brüssel in drei Jahren zu verlagern und damit etwa 1.700 Arbei­terIn­nen auf die Straße zu setzen, initiier­en letztere einen spontanen Streik. Der Ausstand der TransportarbeiterInnen wird zwar von der sozialistischen Gewerk­schaft SETCa nicht unterstützt, aber die DHL-Piloten treten in Solidaritätsstreik. Der viertägige Ausstand mündet am Mon­tag in eine Betriebsversammlung, die für Freitag, den 29. Oktober, eine Demo be­schließt. Unklar bleibt aller­dings, ob der Streik bis dahin fortgesetzt werden soll – am Don­­ner­s­­tag ist nichts mehr zu sehen: keine Trans­pa­rente, keine Streikposten, keine Flugblätter.

Am Freitag sind die StraßenbahnfahrerIn­nen im Streik und ArbeiterInnen verschie­de­ner Kurierdienste nehmen an der Demo teil, insgesamt 2.000 Leute. Ein Flugblatt, das mit „ArbeiterInnen von B-Cargo“ (Eisen­­bahn-Gütertransport) unterschrie­ben ist, ruft dazu auf, die Arbeit unter der Drohung von Entlassungen zu verweigern. Die Demo geht los: die Meisten schmeis­sen mit Knallkörpern um sich und Viele trinken Dosenbier. Die Demo zieht vor das Transportministerium – die Bullen stehen in Montur und mit Wasserwerfer davor, hin­ter Stacheldraht. Junge Typen und alte Arbeiter rütteln direkt an der Sperre, werfen Knallkörper und Dosen – sie tragen ihre Arbeits­kleidung: Bomberjacken von TNT, Warn­westen von DHL. Ein paar ver­mum­men sich mit Gewerk­schaftsschals. Es hat den Anschein, als wären sie an solche Aus­ein­an­­der­­setzungen ge­wöhnt, vielleicht vom Fußball. Es gibt einen Schlagabtausch über den Stacheldraht hinweg, die Stim­mung ist gut, die meis­ten haben sichtlich Spaß. Zeitgleich be­set­zen kleine Grup­pen die Stadtautobahn; es gibt keine Gewerk­schafts­ordner, die sie zurückhalten. Dort fliegen nach einem kurzen Ausfall der Bullen jetzt auch Fla­schen und vereinzelte Stei­­ne. Es gibt darüber keine Spaltung inner­halb der Protes­tierenden.

Die Beset­zung des Brüsseler Flughafens durch ArbeiterInnen der bankrotten belgi­schen Airline Sabena im Winter 2002 hat­­te heftigere Auseinandersetzungen ausgelöst, als diese lebendige, doch im Symbolischen verbleibende Demonstration.

Derweil verhandelten Management und Ge­werk­schaften über „sozialverträglichen Stel­len­abbau“ – am 30.12. wurden die Ver­­­hand­lungen ab-, und Entlassungen bis 2008 „ausgeschlossen“. Um den Druck auf die Sozialpartner zu erhöhen, hatte die Nacht­schicht im Sortierzentrum des Brüs­seler Dreh­kreuzes am 23. Dezember mit einem Streik begonnen, der auch über „Heilig‘ Abend“ fortgesetzt wurde – die meis­­ten ArbeiterInnen waren wieder nach Hau­se gegangen. Am Sonntag, den 26.12. verweiger­ten noch 30 der 150 SortiererIn­nen die Arbeit.

A.E.

Nachbarn

PUUL

Die Personelle Unterstützung von Unter­nehmen Leipzig (PUUL) GmbH ist ein städtisches Unternehmen, das 2001 zur Arbeiter-Acquiese für BMW gegründet und seitdem mit fast zwei Millionen Euro aus dem Stadthaushalt gesponsort wurde. Im Zusammenhang mit der DHL-Ansied­lung übernimmt PUUL die Vorauswahl der BewerberInnen – die „Aufgabe, Unter­schiede zwischen dem Bedarf und Anfor­derungen von Arbeitsgebern an ihre Arbeitskräfte sowie dem Angebot und der Quali­fizierung der Arbeitnehmer auszu­glei­chen“, dürfte sich in diesem Falle nicht stel­len. Dennoch ist diese städtische Dienst­leistung eine indirekte Subvention, die auch bei den DHL-Standort-Verhand­lun­gen in die Waagschale geworfen worden war. Für 2005 sieht der kommunale Haushalt für die PUUL GmbH Ausgaben in Höhe von 247.000 Euro vor.

A.E.

Lokales