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Freie Kulturszene Leipzig: Schützen & Fördern

Schon lange hatten die Vertreter_innen der Freien Kulturszene in Leipzig eine Er­höhung der Fördergelder von Seiten der Stadt gefordert. Mittlerweile wurden diese Be­strebungen von Erfolg gekrönt: Am 17. Sep­tember beschloss der Stadtrat, die Zu­schüsse für freie Kultureinrichtungen bis 2013 etappenweise auf 5% des städtischen Kul­turetats anzuheben. Der angespannten Haus­haltslage wegen ist es freilich noch un­klar, ob dies schon für das Jahr 2009 Aus­wirkungen haben wird.

Welche Interessen diese Ent­schei­­dung motivierten, mach­te CDU-Frak­­­tion­s­chef Alexan­­der Achminow deut­lich: „Auch die freie Kultur ist ein harter Wirt­schafts­­faktor für Leip­zig“ (*). Falk Elstermann, Ge­schäfts­führer der NaTo und Sprecher der 2001 gegründe­ten Initiative Leipzig Plus Kultur, argumen­tiert in einem In­ter­view mit der Leipziger Volks­zeitung ähnlich: „Kultur ist für Leipzig das Iden­tifi­kations­merkmal schlechthin (…) Das macht die An­ziehung der Stadt aus, auch für die Wirtschaft“ (*).

Bei genauerem Hinsehen könnte einem auf­fallen, wie schwach dieses Argument ist. Denn gerade weil Kultur (auch) ein Wirt­schaftsfaktor ist, werden bestimmte Be­reiche überproportional gefördert: Die Ma­nager großer Unternehmen werden mit ihren Geschäftspartnern eben eher in die Oper gehen als in die Ilses Erika, und ja­panische Touristen werden sich eher von Jo­hann Sebastian Bach nach Leipzig locken lassen als von der NaTo.

Es wäre leicht, den Vertreter_innen der Freien Szene Opportunismus vorzuwer­fen. Aber wenn man an die großen För­der­töpfe rankommen will, muss man den Entscheidungsträgern eben das erzählen, was sie hören wollen. Viel entscheidender als die Frage, zu welchen Mitteln mensch greift, um an Geld zu kommen, ist in die­sem Fall die Frage, was anschlie­ßend mit die­sem Geld passiert. Von einer Erhöhung des Etats könnten durchaus auch unter­stüt­zenswerte Projekte profitie­ren, die Kul­tur auch für „soziale Rand­gruppen“ zugänglich machen und sich dementspre­chend eben nicht rentieren.

Auf der anderen Seite fragt sich, was das gan­ze Getöse überhaupt soll. Dass die Distillery (ein Projekt, dass immerhin mal aus der Leipziger Hausbesetzerszene her­vor­­ge­gangen ist) künftig ihre Eintritts- und Getränkepreise auf ein auch für Hartz-IV-Empfänger erschwingliches Maß senken wird, ist sicher nicht zu er­warten. Und dass die NaTo in ernsthaften Finanznöten stecken sollte, erscheint an­ge­sichts ihres gut laufenden Kneipenbe­triebs auch als unwahrscheinlich. Selbst wenn eine Erhöhung des Etats nicht das schlechteste Ergebnis ist: Praktische Soli­da­­rität untereinander wäre wohl hilfrei­cher als der Ruf nach Fördergeldern.

Denn immerhin müssen andere Kultur­pro­jekte schließen oder haben mit ernst­haften Schwierigkeiten zu kämp­fen. So muss­te im Juni das Kulturbund­haus den Be­trieb auf unbestimmte Zeit ein­stellen. Of­fiziell werden bauliche Män­gel, vor al­lem in Hinblick auf Brand­schutz­be­stim­mun­gen, als Ursache angege­ben – ganz in­of­fiziell dürften aber auch An­wohner­be­schwer­den wegen Lärmbe­lästi­gung durch vor dem Haus herum­ste­hende Partygäste eine Rolle gespielt ha­ben. Die Zukunft ist je­denfalls ungewiss, die Kosten für eine Sa­nierung des Altbaus könnten sich auf bis zu 1,5 Mio. Euro belaufen. Wenn sich kein Investor findet, der bereit ist, einen Teil der Kosten zu übernehmen, dürfte dies das endgültige Aus bedeuten.

Mit ähnlichen (wenn auch nicht ganz so dra­­­matischen) Problemen hat auch das FrühAuf zu kämpfen. Nach Anwohner­beschwerden anlässlich einer Veranstal­tung Anfang Oktober erhielt man dort Be­such von Ordnungsamt. Um weiteren Prob­lemen aus dem Weg zu gehen, wur­den alle bis zum Ende des Jahres geplanten Ver­anstaltungen abgesagt.

Ob wir auch in Zukunft noch eine rege Kul­turszene in Leipzig haben werden, hängt sicher nicht nur vom Etat ab, son­dern davon, ob die einzelnen Vereine und Pro­jekte willens sind, über ihren je­wei­ligen Tellerrand zu schauen und sich auch dann wechselseitig zu unter­stüt­zen, wenn es nicht um För­der­­gelder geht. Ob sie sich auf die Rolle von Er­fül­lungsgehilfen der städ­tischen Stand­ort­politik reduzieren las­sen und es sich in dieser Nische gemütlich einrichten, oder ob sie Räume für eine wirklich „al­ter­native“ Kultur schaffen, eine Kultur, deren Inhalt mehr ist als die nächste Party.

justus

(*) siehe www.soziokultur-leipzig.de/fuenf-fuer-leipzig/die-kampagne/pressespiegel/

Editorial FA! #31

Da haben wir nun den Entschluss gefasst, re­gelmäßig, also pünktlich zur Mitte jedes zwei­ten Monats zu erscheinen. Nicht be­dacht haben wir allerdings, wie schnell 61 Ta­­ge verfliegen können. Trotz kleiner Ver­­­zögerung sind wir letztlich zufrieden: Die #31 ist zwar wieder etwas dünner, aber da­­für fast pünktlich erschienen, und das trotz oder besser wegen schlaflosen Näch­ten mit einer mehrfach belasteten Redak­tion.

Die Jubiläumsausgabe #30 ist vielerorts bereits vergriffen, aber ihr könnt noch einige Geräusche aus dem Post­fordismus von der beigelegten CD beim Liberterz an unserem Feierabend!-Stand erhaschen. Wir würden uns freuen, wenn der ein oder die andere LeserIn zum Plau­schen auftaucht. Bei der Gelegenheit könn­te mensch uns auch einen Leserbrief, eine Idee für ein kontroverses Pro&Contra oder sonst­welche Pamphlete in die Hand drücken.

Zum Inhalt der #31 an dieser Stelle nur so­viel: Es gibt wieder ein wenig mehr Theo­rie als zu­letzt. Aber keine Sorge, die Praxis haben wir durchaus im Blick.

Das Projekt, das wir in diesem Jahr noch wei­tertreiben wollen, ist unsere Internet­prä­senz. Neben der Archivie­rung al­ter Aus­gaben planen wir u.a. auch ein Fo­rum, um unsere Kommunikation zur Le­serIn­nen­schaft weiter zu verbessern.

Bleibt noch unsere Verkaufstelle des Mo­nats – die Infobude in der G16 – zu er­wäh­nen. Diese hatte uns gleich mal 50 Exemplare der letzten Ausgabe abgenom­men. Wir hoffen, das war kein Risiko­geschäft ;o)

In diesem Sinne viel Vergnügen beim Schmökern – Euer Feierabend!

Wider den Mythos vom Heiligen Staate

Das Erschreckendste an der derzeit grassierenden Finanzkrise ist nicht der Verlust virtueller Werte, ohne die wohl schon länger alle Volkswirtschaften rund um den Globus stagnieren würden, auch nicht das naive Gerede vom Ende des Kapitalismus, obwohl sich an den Eigentumsverhältnissen im Wesentlichen rein gar nichts ver­än­dert hat – erschreckend ist vor allem dieser um sich greifende Glau­be an den Heiligen Staate, der da kömmt, um uns alle zu er­­ret­ten.

Dabei ist doch offensichtlich, dass jener Retter in der Not selbst zu den Akteuren gezählt werden muss, die die aktuelle Krise erst verursacht haben. Als wären „Privatisierung“ und „Liberalisie­rung“ der Märkte Allheilmittel gegen den asozialen Kapitalismus. Ganz umgekehrt hei­zen sie ihn nur weiter an. Statt die Warenpalet­ten zu verbreitern, die Innovation voranzutreiben und die Preise sin­ken zu lassen, fällt es Großinvestoren um so leichter, „privatisier­te“ und „liberalisierte“ Märk­te zu destabilisieren und zu monopo­li­sieren. Denn in Zeiten von Marktbereinigungen, wie sie derzeit statt­finden, setzen sich nicht nur die Finanzstärksten durch, auch al­ternative Innovationen und we­ni­ger kapitalistisch orientierte Un­ter­nehmungen werden einfach ver­drängt. Zwar verfallen in solchen Kri­sen kurzfristig auch die Prei­se, weil ein Überangebot bereits pro­du­zierter Güter entsteht, lang­fristig jedoch steigen die Preise höher als zuvor, da sie nun von den wenigen verbliebenen Marktakteuren um so ungehemmter dik­tiert werden können.

Neu ist das alles nicht. Die krisenhafte Entwick­lung kapitalistisch organisierter Märkte wur­de vielfach untersucht. Sie ist eben kein ausschaltbares Beiwerk eines op­ti­malen Systems, nein, diese Krisen sind der systemrelevante Teil, der gern ausge­blen­det wird, um sich um so naiver das kapi­ta­listische Wirt­schaf­ten als funktionierend vorgaukeln zu können. Zy­nisch wird es, wenn dann als schlimmstes Ausmaß der Ver­trauens­ver­lust der Groß­kapitalisten untereinander beklagt wird, während Milliarden von Menschen durch ihre Abhängigkeit von stabilen Märk­ten in noch tieferes Elend stürzen. Ganz so, als wäre in der ka­pi­talistischen Kon­kurrenz das Vertrauen der höchste Wert und nicht der Mehrwert der Produktion, als könne Vertrauen allein den Hun­ger stillen und al­le Bedürfnisse befriedigen. Nein, neu ist dieses La­tein für die Mas­sen nicht. Neu ist höchstens die Ohnmacht und Schlaffheit der Ge­dan­ken, die sich dieser Litanei von oben, von den Kanzeln und Füh­rungsetagen dieser Welt, entgegen stellt. Nein, wir brauchen kei­ne allgegenwärtige Bevormundung, keinen starken Staat, der sich mit Regeln vollfrisst, bis er kotzen muss. Das was wir brau­chen, ist in­di­viduelle und kollektive Selbstermächtigung, damit wir den kapi­ta­listischen Zumutungen nicht schutzlos ausgeliefert sind.

clov

Gott ist tot, es lebe die Kirche!?

Über das „Paulinum“, eine Glaswand und den Leipziger Kulturkampf

Die Debatte um den Universitäts­neubau schien längst vorbei. Doch im August diesen Jahres loderte der Kultur­kampf im Gewand des sogenannten Glaswandstreits von Leipzig wieder auf. Das Corpus Delicti ist eine Plexiglaswand im „Paulinum“, der zukünftigen Aula des Neubaus im Zentrum von Leipzig. Sie soll die spezielle Klimatisierung des An­dachts­raums gewährleisten, wo Epi­taphe (Grab­denkmal), die alte Kanzel und Altar stehen sollen. Aber Christian Wolff, Pfarrer der Thomas­kirche, sieht darin ein weiteres Indiz für den Verfall des Abendlandes. Hierin äußere sich die „Angst vor einem kritisch-hei­ligen Geist, ohne den wir Menschen ver­rohen“(*).

Was will der da ei­gent­­lich? Wie kommt es zu sol­chen Aus­wüch­sen christ­lichen Selbst­be­wusst­­seins? Was hat Plexiglas mit „ethischem An­alpha­betismus“ zu tun, was Wissen­­schaft mit Glaube? Und gibt es einen Zusammenhang zwi­schen der theolo­gischen Fakultät und freier Wissen­schaft?

Fangen wir am Anfang an. Am 30. Mai 1968 wurde die mittelalterliche Universitäts­kirche „St. Pauli“ auf Geheiß der DDR-Regierung gesprengt. Der sozialistische Staat hatte keinen Platz für eine zweite Weltanschauung neben der eigenen. Die Bürger der Stadt waren geschockt. Proteste gegen diesen staatlichen Machtbeweis führten zu Verhaftungen. Die Leitung der 1953 nach Karl Marx umbenannten Universität ging mit den Neubauplänen konform und stimmte letztendlich, ebenso wie die Stadt­verordneten­ver­sammlung Leipzigs der Sprengung zu.

Auf dem freigewordenen Gelände wurde von 1972 bis 1975 die neue Universität er­baut, deren moderne Architektur den Fort­schritt des Sozialismus demonstrieren und den marxistisch-leninistischen Lehren wür­dige Räume bieten sollte. Ausdruck da­von war das Marx-Relief an der Fassade, das mit dem Abriss des Hauptgebäudes 2006 zunächst eingelagert wurde und nach einigen Debatten auf dem Campus in der Jahnallee seinen Alterswohnsitz erhielt.

1989 leitete die sogenannte Friedliche Revolution den Umsturz des DDR-Systems ein. Die Demonstrationen in Leipzig, die u.a. von der Nikolaikirche ausgingen, setzten einen positiven Mei­len­stein in der Geschichte der Stadt. Die Universität erhielt einen ideologiefreien Namen, die alten Lehrkräfte wurden entlassen und das Pflichtfach Marxismus-Leninismus abgeschafft. Die Spuren der Zeit hatten sich jedoch in den Bau eingegraben: zerbrochene Bodenplatten auf dem Innenhof, die Taubenpopulation in den Zwischengängen, vergilbte Außen­verkleidung… Bald machte man sich also Gedanken über einen Neubau des Innen­stadtcampus. Die Leipziger Bürgerschaft nahm rege Anteil an der Diskussion darum, welche äußere Form der Be­deutung des Ortes gerecht würde.

Um die eigenen Interessen gegen den Pla­nungsbeirat des Neubaus, also den Bau­herrn, die Sächsische Staatsregierung, die Uni­versität und die Stadt Leipzig zu ver­tre­ten, gründeten BürgerInnen 1992 den „Paulinerverein“. Sie forderten einen ori­gi­nalgetreuen Wiederaufbau der Universi­tätskirche „St. Pauli“. Denn nur so könne ein Zeichen gesetzt werden, das die Greueltat von 1968, wenn nicht un­ge­sche­hen macht, dann doch wenigstens zeigt, wer hier der Sieger der Geschichte ist.

Eine erste Ausschreibung führte nicht zum Erfolg. Der Entwurf des Archi­tektur­büros „behet + bondzio/Münster“ erhielt im Mai 2002 lediglich den zweiten Platz, da die Jury der Meinung war, dass die Fassade, nicht der historischen Bedeutung des Ortes gerecht würde. Man wollte sowohl eine zeitgemäße Gestaltung, als auch angemessen an die Universitäts­kirche erinnern.

An diesem Punkt entflammte die schwe­len­de Debatte um den Wiederaufbau erneut. Im Juli 2001 forderten 28 Nobel­preisträger und weitere Prominente aus aller Welt, die Rekonstruktion der alten Universitätskirche Sankt Pauli zur Vor­aussetzung für die zweite Ausschreibung zu machen. Die Kirchenbefürworter beschwerten sich über zu wenig Mit­spracherecht und fanden dabei auch die Unterstützung des damaligen Wissen­schafts­ministers Matthias Rößler. Im zweiten Wettbewerb erhielt der Entwurf des Rotterdamer Büros „van Egeraat“ den Zuschlag für die Gebäude hin zum Augustusplatz, dessen Realisierung wir heute im Rohbau bereits erahnen können. Abgesehen von der üblichen Fehlplanung bezüglich Bauzeit und Kostenvoranschlag, schien alles in den vereinbarten Bahnen zu laufen.

Das „Paulinum“, die Aula der neuen Universität, sollte für eine Drei­fach­nutzung – akademisch, musikalisch, kirchlich – offen stehen. Doch an der Innengestaltung entbrannte im Spät­sommer 2008 erneut eine Debatte. Die geplante Plexi­glas­wand, die der Klima­ti­sierung des An­dachts­raumes und damit dem Schutz der his­torischen Kultur­gegenstände dienen soll, inter­pre­tiert Pfarrer Wolff als „antichristlichen Schutz­wall“. Wie sonst ist es zu verstehen, wenn er in der Zeit schreibt: „1989 fiel in Berlin die Mauer. Doch in Leipzig wird ein neuer Schutzwall errichtet“(*). Ob da dem­nächst auch der Schießbefehl nach­gereicht wird? Möglich wäre es, denn die Installa­tion von Glas­wänden, so Wolff, führt notwendig in die Bar­barei: „Wer eine Trennung zwischen Glau­ben und Ver­nunft propagiert, sollte be­denken, dass die Zer­störung von Sy­na­go­gen, Kirchen und Moscheen immer Aus­druck der Ver­kommenheit einer Ge­sell­schaft ist. Das war 1938, das war 1968 so“. Als wäre das Dritte Reich ein Aus­druck übergroßer Vernunft ge­wesen…

Das heißt nichts anderes, als dass eine Uni­versi­tät, die einem Programm kritischen Denkens anstatt dem Wertekanons des christ­lichen Glaubens folgt, jeder men­schen­­feindlichen Ideologie die Tore öffnet. Da muss mensch sich doch fragen, wie die Men­schheit die humanistische Aufklärung über­leben konnte. Zudem zeugt die Gleich­setzung von Nationalsozialismus und Realsozialismus, die Wolff vornimmt, nicht eben von Sachkenntnis. Jedem Schüler der achten Klasse dürfte klar sein, dass es grundlegende Unterschiede zwischen den Ausprägungen von Zer­störung, Verfolgung und Wert­vor­stellun­gen gab.

Den Fakt, dass die Universität nicht gewillt war, eine Kopie der Universitäts­kirche „St. Pauli“ wieder zu errichten, versteht Wolff als Gutheißung der Spren­gung von 1968. Von dieser unterstellten Geschichtsvergessenheit der Universität ausgehend, unternimmt er eine Attacke auf die Wissenschaft als Ganzes. Deren Meinungslosigkeit, bzw. Wertfreiheit, die fehlende Anbindung an die christliche Ethik, münde in einen Zustand des „ethischen Analphabetismus“.

Hier offenbart sich ein bedauerliches Ver­ständ­nis von Wissenschaft, nach dem die Trennung von Glauben und Vernunft un­mög­lich ist, da nur deren Verbindung den ethisch-moralischen Unterbau für Bildung und Wissenschaft liefern könne. Denn, so Wolff, „worauf wir in der Bildung nicht verzichten können“, sei „die letzte Verantwortung vor Gott in der Offenheit des wissen­schaft­lichen Diskurses“.

Es lässt sich nur vermuten, dass dieses ideo­logische Gerangel seinen Ursprung in ei­nem Ohnmachtgefühl hat, das aus der (durch­aus berechtigten) Annahme resul­tiert, die eigenen Ansichten wären nicht ge­nug in der Gesellschaft repräsentiert. Be­trachtet man jedoch die Anzahl evange­lischer Kirchen, speziell in der Innenstadt und den Anteil Gläubiger Christen an der Stadtbevölkerung, so läßt sich die For­derung, den Neubau als Kirche zu be­titeln, nur als reine Gier verstehen. Allein im Zentrum gibt es bereits 7 und im ge­sam­ten Stadtgebiet 38. Im Vergleich dazu kann die katholische Kirche nur mit 9 auf­war­ten.

Der Pfarrer steht nicht allein mit seiner verkorksten Meinung da. Während er aus Glaubensgründen für den Wiederaufbau plädierte, meinen andere, es ihrer Ge­schich­te schuldig zu sein, den Zustand vor 1968 wieder herzustellen. Der Trom­peter Ludwig Güttler etwa verspricht sich vom Wiederaufbau eine Katharsis für die verletzten „Gefühle der Menschen, die seit der Sprengung der Leipziger Universitäts­kirche 1968 darunter litten“ (DDP-Meldung 07.10.08).

Auch die Theologische Fakultät gibt Wolff Deckung. Ihre studentische Sprecherin Tina Binder hält es für unmöglich, Glaube und Wissenschaft zu trennen. Mit Glaube ist speziell der christliche gemeint und die Offenheit reicht auch nur bis zur Über­konfessionalität. Man wäre bereit, auch der katholischen Gemeinde die Räume zu öffnen. Aber die interreligiöse Nutzung, die der StuRa für den An­dachts­raum in der Aula angedacht hat, wird von ihr ausgeschlossen. Begründet wird dies mit der christlichen Tradition der alten Universitätskirche.

Am Reformationstag veranstalteten die Glas­­wandgegnerInnen eine Aktion, bei der sie ganz in der Tradition Luthers fünf The­­sen an dem Bauzaun vor dem „Pauli­num“ in Form eines überdimensionalen Trans­­­­pa­rentes befestigten: Die Aula soll zur Kirche werden, die Glaswand soll weg, da­­mit Glaube und Wissenschaft sich be­geg­­nen können. Auch die Reden zum so­ge­­­nannten Thesenanschlag brachten nichts Neues, Unmutsbekundungen wur­den als Störaktion und Mißbrauch von freier Meinungsäußerung verstanden. Die Überzeugung, die richtige Meinung zu ha­ben, ist an sich nicht verkehrt, wenn man denn in der Lage ist, sie vernünftig zu begründen. Bis dahin ist es aber bei diesen nostalgischen Geschichtsfans mit Spreng­trauma noch ein verdammt weiter Weg…

wanst

(*) Alle unmarkierten Zitate stammen aus Christian Wolff‘s Artikel „Wie die Leipziger Universität sich gegen Kirche und kritischen Geist sträubt“ in Die Zeit Nr. 42, 09.10.08.

Endlich Bargeld!

Eine kleine Geschichte der Ausgrenzung

Ab Januar 2009 wird es für alle in Leipzig le­ben­den Asylsuchenden endlich Bar­geld anstatt der bislang zu größten Teilen ausgegebenen Lebens­mittelpakete geben. „Jeder Asyl­bewerber kann künftig selbst entscheiden, was er wann und wo im Rahmen seiner Grund­versorgung einkauft. Das bedeutet mehr Selbst­be­stimmung und ein Plus an Lebens­qualität für die Leistungs­be­rech­tigten“, gibt sich Bürgermeister Thomas Fabian in der Pressemitteilung der Stadt vom 8. Oktober ganz human. Tatsächlich stellt dies auf jeden Fall eine Verbesserung der Lebens­ver­hältnisse dar. Bisher mussten Flücht­­linge, die weniger als drei Jahre in Deutsch­land leben und Men­schen mit „Dul­dungs­sta­tus“ (1), aus einem Kata­log mit einem sehr geringen Angebot und zu eher gehobenen Preisen bestellen. Oft kamen nicht die bestellten Lebens­mittel mit, oder es waren bereits ver­dor­bene Waren in den Paketen. Doch wie kam es zu dieser Entscheidung der Stadt? Warum dauerte es über ein Jahr, bis sich auch Leipzig dazu durchrang?

„Das Sachleistungsprinzip ist eine ge­wollte Einschränkung in der freien Gestaltung des Lebens. [Es] hat unter anderem, aber auch wesentlich den Zweck, dass kein be­son­derer Anreiz ge­schaf­fen werden soll, hier einzureisen und einen Asylantrag zu stellen, der keine Chan­ce auf Erfolg hat“ (2), so klar formu­liert Reinhard Boos (Referatsleiter für Aus­länder- und Asyl­an­gelegenheiten im Säch­sischen Innen­ministerium), mit wel­chen politischen Intentionen Bar­geld­aus­zah­lungen an AsylbewerberInnen verwei­gert werden. Der rechtliche Hinter­grund für die Versorgung durch Kataloge oder Pakete ist das bun­desweit geltende Asyl­be­werber­leistungs­ge­setz, nach welchem Asyl­­be­werber­Innen lediglich Leistungen unter dem Existenzminimum zustehen – in der Re­gel in Form von Sachleistungen. Über die Art der Um­setzung dieser Vor­gabe ent­schei­det jedoch die zuständige Behörde vor Ort (Bezirks­amt, Sozial­behörde): Sach­leistungen haben dabei Vorrang vor Bar­geld. Das Säch­sische Innen­ministerium legt das Ge­­setz jedoch sehr strikt aus und ge­neh­mig­­te den ent­sprechen­den Behörden nur Ver­­sorgungs­mo­delle nach dem Sach­lei­stungs­­prinzip. 2002 kam es deswegen in und um Leipzig zu zahlreichen Pro­testen und (Hunger)­Streiks von Seiten der Flücht­­linge. Dabei verweigerten sie die An­­nahme von Fresspaketen und Taschen­geld, organi­sierten Straßen­bloc­kaden und De­mons­trationen. In Taucha wurde gar der Heimleiter für mehrere Stunden aus­ge­sperrt. (3) Die Flücht­linge organisierten sich selbst und heim­über­greifend, auf Netz­werktreffen wurden ge­mein­same For­de­rungen erarbeitet, die nicht bei der For­derung „Geld statt Sachleistungen“ Halt machten, sondern an erster Stelle Arbeits­ver­bot und Resi­denz­pflicht sowie die schlech­ten Lebens­bedingungen in den Hei­men an­pranger­ten. Aufgrund dieses Drucks wollte die Stadt Leipzig zum Teil auf Bargeld­zahlungen umsteigen. Dem wurde jedoch vom sächsischen Innen­mini­sterium und seinem ausführendem Or­gan, dem Re­gierungs­präsidium, ein Rie­gel vor­geschoben: Sie beharrten auf dem Sach­leistungsprinzip und kündigten an, Leipzig müsse ansonsten selbst die Lei­stungen bezahlen.

 

Die Stadt Leipzig gab klein bei. Nach langen Verhandlungen und zahl­reichen Ge­sprächen vor allem mit dem Säch­sischen Flüchtlingsrat kam es vor et­wa einem Jahr endlich zu einer Ver­än­de­rung der Lage. In einem „Erlass vom 21. November 2007 weist das Sächsische Staats­ministerium des Inneren darauf hin, dass die Entscheidung, ob Bargeld zur Deckung der Grund­leis­tungen nach §3 AsylbLG gewährt werden kann, der je­wei­li­gen unteren Unter­bringungs­behörde ei­gen­ständig, nach Prüfung der Sach- und Rechtslage, obliegt“ (4), d.h. alle Kreise und kreisfreien Städte in Sachsen können nun ohne Beantragung beim Innen­mini­sterium die Art der Versorgung frei wählen und auch Bargeld in Betracht ziehen. Sie müs­sen bei Bargeldzahlung jedoch nach­wei­sen, dass keine andere Art der Versor­gung möglich ist (z.B. wenn die Verwal­tungsbehörde zu wenig Mitarbeiter hat). Seit September 2007 stellten viele Kom­mu­nen in Sachsen auf Bargeld um, da­run­ter Kamenz, Bautzen, Zwickau, Chem­nitz, der Land­kreis Sächsische Schweiz und nun auch Leipzig. Ver­mut­lich signalisierte auch das Modell­projekt in Dresden, nachdem dort lebende Asyl­suchende bereits seit Dezem­ber 2006 Bar­geld bekommen, dass ein sol­cher Schritt möglich ist. Eigentlich wollte die Stadt Leip­zig ab 2008 Chip­karten ein­führen, was aber er­freulicher­weise daran scheiter­te, dass sich kein Chip­kar­ten­anbieter ge­fun­den hat. (siehe FA! #28)

 

Trotz aller Freu­de über diesen Schritt sollte allerdings nicht verschwiegen wer­den, dass diese Ent­wicklung auch darauf be­ruht, dass die Zahl der Flüchtl­inge seit Jahren stetig zu­rück­geht. (5) Die Gründe hier­für liegen in der sehr restrik­tiven Asyl­gesetzgebung und -handhabung Deutsch­lands und ge­ne­rell der EU, die mit der Milita­ri­sierung der Außengrenzen und Ab­kom­men wie der Dub­lin Con­vention (6) die Mi­gration nach Europa erschweren und die Men­schen nach ihrer ver­meint­lichen wirt­schaft­lichen Nutz­barkeit selektieren. Da­ran gemessen scheint das Sach­lei­stungs­prinzip als Kontroll- und Abschreckungs­ins­tru­ment nicht mehr so relevant, vor allem angesichts der Mehr­kosten.

Doch die Lage für bereits hier lebende Asylsuchende bleibt weiter­hin prekär. Die Aner­kennungsraten sind sehr niedrig (7), die Gefahr einer drohen­den Abschiebung für viele Menschen im­mer gegeben. Neben Lager­zwang und Ar­beitsverbot besteht die Residenzpflicht, wel­che die Menschen zwingt, in ihren zu­ge­teilten Städten oder Landkreisen zu blei­ben und diese nur im Einzelfall mit im Vor­aus zu beantragenden „Urlaubs­schei­nen“ ver­lassen zu dürfen. Dieses Gesetz ist bisher einmalig in der EU. Allerdings ist die Bundesregierung be­strebt, die Resi­denzpflicht EU-weit einzuführen, da sie sich damit im Raum des Schengen-Ab­kom­mens verbesserte Kontrolle für alle Mit­gliedsstaaten ver­spricht. Das zeigt, dass es trotz solcher Teil­erfolge wie Bargeld statt Sach­leis­tungen um die konkreten Lebens­be­dingungen der Flüchtlinge in Europa schlecht bestellt ist und das Thema nicht aus dem Fokus geraten darf. Dafür setzen sich in Leipzig heute schon z.B. die neu entstandene Gruppe LExil und die Initia­tive Flüchtlingsheim Grünau, die wir an dieser Stelle bald vorstellen werden, ein.

else

 

(1) D.h. abgelehnter Asylantrag und ausreise­pflichtig, eine Abschiebung kann jedoch aus humani­tären Gründen nicht erfolgen.

(2) Zitat aus der Sendung „Was lange währt, wird auch nicht gut“ am 15.3.2006 auf coloRadio Dresden.

(3) Nachzulesen in der Spezial-Themen­bro­schü­re „Ver-Flucht – Flücht­linge in Leipzig“, her­ausgegeben 2002 von Klarofix und Kahina.

(4) Auszug aus dem Newsletter der Sächsischen Aus­länder­beauftragten vom 01.10.2007.

(5) In Leipzig hat sich die Zahl der Asyl­suchen­den in den letzten 6 Jahren deutlich mehr als hal­biert, von 1.852 in 2002 auf 741 im August diesen Jahres.

(6) Faktisch die Drittstaatenregelung auf eu­ro­päisch: „Nicht derjenige [Staat soll] für die Prü­fung eines Asylantrages zuständig sein, in den der Asylsuchende einen Antrag stellt, sondern der­jenige, in dem er die Außengrenze über­schritt, ein Familien­angehöriger Asyl erhalten hat oder aber, für den ihm eine Aufenthalts­er­laubnis oder ein Visum erteilt wurde.“ (Wikipedia).

(7) 2007 lag sie bei 0,8%.

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)

Das AsylbLG wurde 1992 im Rahmen des sogenannten Asylkompromisses von CDU/FDP und SPD (Stichwort: Abschaffung des Grundrechts auf Asyl) verabschiedet und regelt die Versorgung von AsylbewerberInnen. Neben einer minimierten Gesund­heitsversorgung, die nur Notfälle abdeckt und der (Zwangs-)Unterbringung in sogenannten Gemeinschafts­unterkünften, ist in ihm die Absenkung der Leistungen für Asyl­bewerberInnen auf ca. 20% unter Sozialhilfeniveau (d.h. unter dem Existenz­minimum) festgeschrieben. Zentral ist außerdem die Verankerung des Sach­leistungsprinzips im § 3 AsylbLG:

(1) „Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt.“

(2) „Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asyl­verfahrens­gesetzes können, soweit es nach denUmständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Absatz 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden.“

Die Formulierung der „besonderen Umstände“ lässt jedoch durchaus Spielräume zu und wird von den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich ausgelegt. In den meisten Bundesländern wird inzwischen überwiegend Bargeld ausgezahlt, in anderen gibt es teilweise noch Gutscheine oder Chipkarten. Sachsen ist neben Bayern und Baden-Württemberg das Bundesland, wo das AsylbLG besonders streng ausgelegt wird.

Wächterhaus Merseburger 17

Freie Träume für off‘ne Räume

Nein, das Haus in der Merseburger Straße 17 in Plagwitz ist kein ge­wöhn­liches Wächterhaus, sagen die Nutze­rIn­nen selbstbewusst (1). Denn schon 2005 und unabhängig vom HausHalten e.V. waren drei von ihnen auf der Suche nach ei­nem geeigneten Objekt gewesen und hat­ten mehrere Hausbesitzer zwecks Nut­zung kontaktiert. Doch ohne den Wäch­ter­hausverein, geben sie zu, wären die Ver­hand­lungen viel schwieriger gewesen. So­wohl die NutzerInnen selbst als auch der HausHalten e.V. hätten auch lieber einen di­rekten Vertrag zwischen Vermieter und Nut­zerInnen gesehen, aber der Besitzer eben nicht. Er vertraute eher auf die dop­pel­te Vertragsstruktur, die der Verein zau­dernden Immobilienbesitzern anbietet (2). So konnte im September 2006 alles für sie­ben Jahre unterschrieben werden. Be­triebs- und Nebenkosten für den Vermie­ter und 15,- pro Monat und Person als För­dermitgliedsbeitrag an den Verein be­deu­tete ein ganzes Haus für die NutzerIn­nen. Das frischgebackene Hauskollektiv war glücklich. Dadurch dass man schon vor­her eine feste Gruppe gewesen war, ließ ihnen der Verein die sonst unübliche Frei­heit, selbst über die genaue Zusammenset­zung der NutzerInnen zu bestimmen und un­terstützte die notwendigsten Aufbau­maß­nahmen mit Material und Know How. Dementsprechend gab es auch von An­fang an einen festen Zusam­menhalt un­ter den neun BewohnerInnen im ganzen Haus und die späteren NutzerInnen wie der Tischtennisverein BumBum, die Näh­werkstatt Total Vernäht und ein kleines Hörspielstudio wurden per Unternut­zungs­verträge eingebunden und de facto im Stimmrecht gleichgestellt. Die Mit- und Selbstbestimmung bei der kollektiven Ver­wirklichung des Hausprojektes wird ernst genommen und jedeR ist bemüht, im Konsens zu entscheiden, Veto zu be­rück­sichtigen und nur im Ausnahmefall einen Mehrheitsbeschluss herbeizuführen.

Zwei große WGs, eine Werkstatt und ein Studio – damit ist das an sich relativ kleine Haus zwar schon ziemlich voll, trotzdem will man in der Merseburger 17 in Zu­kunft noch stärker nach außen tre­ten und in den Parterre-Räumen regel­mäßig Kul­tur­veranstaltungen anbieten, die auch Men­schen ansprechen, die nicht unbe­dingt aus dem ‚üblichen Klüngel‘ stam­men. Eine offene Küche ist ebenfalls für je­de zweite Woche geplant. Zwar gibt es wei­terhin noch einen lauschigen und ge­räumigen Hinterhof, aber der kann auf­grund der schlechten Nachbarschaft nur sehr eingegrenzt genutzt werden. Neben of­fen ablehnenden Spießbürgern zählen da­zu auch eine Gruppe Faschisten, die nachts des öfteren Fahrräder vor dem Haus demolieren oder ihre widerlichen Pa­­ro­len brüllen. Abgesehen von solchen Prob­lemen in der konkreten Nachbar­schaft, sehen die NutzerInnen ihre Aus­strah­lung durchaus positiv, insbesondere auf ein jüngeres und mehr in der „Szene“ zwi­schen Schreibmaschinencafé und Zoll­schuppen verortetes Publikum.

Der Kontakt zu den anderen Wächter­häu­sern läuft zwar schleppend, aber gerade über die Projekte und Freunde ist man untereinander verbunden und tauscht auch schon mal Material oder Werkzeuge aus. Zudem hat der HausHalten e.V. aktuell eine neue Vernetzungsinitiative gestartet, um die internen HaussprecherInnen­struk­turen zu stärken und den Informa­tions- und Erfahrungsaustausch zwischen den Häusern zu erhöhen. Alles in allem scheint man in der Merseburger Straße 17 zufrieden mit dem Engagement des Vereins, geschätzt wird die Zuarbeit auf der einen und die gewährte Selbst­be­stim­mung auf der anderen Seite. Der Eigen­tümer vertraut langsam den regelmäßigen Zah­lungen und hält sich ansonsten zu­rück. Da er weder über das genügende Klein­geld verfügt noch das Haus verkaufen kann (3), geht das Hauskollektiv opti­mistisch von einer langfristigen Perspek­tive für das Projekt aus. Über die noch verbleibenden fünf Jahre des Nutzungs­ver­trages hinaus denkt jedoch kaum je­mand. Ge­rade wegen der durch den Arbeitsmarkt ge­forderten Flexibilität sind die meisten mit der Situation zufrieden, auf lange Sicht nicht wirklich zu wissen, wo und wie es für jedeN EinzelneN weitergeht und ob dies auch gleichzeitig eine Zukunft mit und in dem Haus in der Merseburger Straße 17 bedeutet.

Möglichkeiten, um in das Projekt hinein zu schnuppern, gibt es derzeit vor allen Din­gen über persönliche Kontakte und den regelmäßigen Sportlertreff des Tisch­tennisclubs jeden Freitag ab 21 Uhr. Wer Interesse am Kochen hat oder eine Veranstaltung organisieren will, kann sich auch per Mail (siehe unten) melden. Außerdem ist für nächstes Jahr ein großes Haus­fest geplant, für welches weiterhin noch Leute gesucht werden, die Lust oder/und kreatives Potential mitbringen.

bonz & clov

 

Kontakt über:

Merseburger17@web.de

 

(1) Vgl. hierzu FA! #29 „Ist Lindenau denn noch zu retten“

 

(2) Das Modell des Haushalten e.V. sieht eine Ge­stattungsvereinbarung „Haus“ zwischen dem Verein und dem Besitzer und eine Ge­stat­tungsvereinbarung „Raum“ zwischen den Nut­zerIn­nen und Haushalten vor, um die Interes­sen beider Parteien miteinander zu vermitteln. Diese Struktur wurde insbesondere für die Re­vi­talisierung von Häusern entwickelt und soll dann langfristig durch einen direkten Miet­vertrag ersetzt werden.

 

(3) Das Haus gehört eigentlich einer Erben­ge­meinschaft. Allerdings ist die andere Partei der­zeit nicht ermittelbar, weswegen dass Haus rein rechtlich nicht so einfach verkauft werden kann.

Tönsberg weg …

Zum Urteil des Landgerichtes Leipzig in Sachen Immovaria gegen Uwe Meusel

Die 1. Zivilkammer des Landgerichtes Leipzig hat heute verkündet, dass die Thor-Steinar-Filiale „Tönsberg“ die Geschäfts­räume in der Richard-Wagner-Straße umgehend räumen muss und dass der Beklagte und Kopf des Thor-Steinar-Firmengeflechtes, Uwe Meusel, die Kosten des Verfahrens zu tragen hat.

„Längst überfällig!“ so Juliane Nagel, Landes­vorstand Die Linke. Sachsen zum Urteil des Landgerichtes Leipzig, das heute der Räumung der Thor-Steinar-Filiale „Tönsberg“ in der Richard-Wagner-Straße den Weg ge­wiesen hat. In Berlin hatte das Land­gericht am 14.10. nach nur einem Verhandlungs­tag ein entsprechendes Urteil in Bezug auf den „Töns­berg“-Laden in der Rosa-Luxem­burg-Straße ge­sprochen. In Leipzig da­ge­gen dauerte das Proze­dere vor Gericht seit Ju­ni an. „Das Urteil ist zu be­grüßen“, so Nagel, „Nichts desto trotz steht es Uwe Meusel weiterhin frei Rechts­mittel einzu­legen. Nichts desto trotz wird die Marke Thor Steinar auch in anderen Läden oder im Internet verkauft. Nichts desto trotz stellt die Debatte um den Lifestyle von Neo­nazis nur eine Facette im Kampf gegen (Neo)­Nazismus dar.

Die nun gerichtlich angewiesene Räumung des „Tönsberg“ in Leipzig ist vor allem ein Verdienst engagierter, vor allem junger, Menschen, die sich im Bündnis „Laden­schluss“ zusammen­geschlossen und seit der Eröffnung des Ladens im September 2007 unzählige Protest- und Auf­klärungs­veranstaltungen durch­geführt haben.“

Bündnis „Ladenschluss“

Grenzen sprengen

Der israelisch-palästinensische Kon­flikt ist in der deutschen Linken ein kon­­tro­­verses Thema. Sich zwischen den Fall­­stricken bedingungsloser Solidarität mit der einen oder der anderen Seite durch­zu­schlän­geln ist ein schwieriges, aber nö­ti­ges Unter­fangen. Denn auch wenn Na­tio­na­lismus, Antisemitismus und Isla­mismus auf palästinensischer Seite ein erns­tes Problem sind – wie antideutsche Lin­ke zu Recht bemerken – , sollte man auch die negativen Folgen der israelischen Be­sat­zung für die palästinensische Bevöl­ke­­rung nicht über­sehen. Die simple Freund-Feind-Logik des bewaffneten Kon­flikts einfach zu über­nehmen, bietet keinen Ansatz­punkt für emanzipatorisches Han­deln und konstruk­tive Lösungen. Diese Lo­gik hat das Geschehen die letzten 40 Jah­re lang bestimmt und ebenso wenig po­si­tive Folgen gezeitigt wie die immer neuen An­läufe zu Friedensverhandlungen und ei­ner Zwei-Staaten-Lösung. Die Arbeit der is­ra­elischen Anarchists Against The Wall (AATW) könnte hier eine Perspektive bie­ten, da sie mit ihren gewaltfreien Aktionen ge­gen den Mauer­bau, die sie zusammen mit palästinen­sischen AktivistInnen durch­führen, die simple Logik des „Wir-gegen-die“ über­schrei­ten. Das macht sie für uns inte­ressant. Yossi von den Anar­chists Against The Wall erläuterte in einem per Mail geführten Interview Hinter­gründe und Ziele der Arbeit der Gruppe.

Die Feierabend!-Redaktion

FA!: Zunächst mal: Seit wann gibt es die AATW, wie habt ihr euch gegründet?

Yossi: AATW wurde im April 2003 von ei­ni­gen größtenteils anarchistisch orien­tier­ten israelischen AktivistInnen gegrün­det, die schon zuvor in unterschiedlicher Form in den besetzten Gebieten aktiv wa­ren. Der Anlaß war ein Protestcamp in Mas´ha. Die Mauer näherte sich dem Dorf, letztlich hätten sich dadurch 96% der Ackerfläche auf der „israelischen“ Seite be­fun­den. Das Camp, an dem sich auch pa­läs­tinensische und internationale Akti­vis­tInnen beteilig­ten, bestand aus zwei Zel­ten auf dem Gelände, das konfisziert wer­den sollte. Die AktivistInnen waren vier Mo­nate vor Ort, in der Zeit war das Camp ein Zentrum für die Informa­tions­ver­brei­tung und für basisdemokratische Entschei­dungs­­fin­dung, direkte Aktionen gegen den Mau­er­­bau wurden dort vorbe­reitet. Ende Au­gust 2003, als die Mauer um Mas´ha fast fertig war, zog das Camp in den Garten ei­nes Hauses um, der auch weg sollte. Nach zwei Tagen, in denen wir die Bull­dozer blockier­ten und viele verhaftet wur­den, mussten wir aufgeben. Aber die Idee des Wider­standes blieb erhalten.

FA!: Was für Leute machen bei euch mit?

Y.: Die meisten sind junge Israelis, meist aus Oberschichts- oder Mittelklasse­familien europäischer Herkunft. Es gibt aber auch ältere AktivistInnen, viele arabisch-jüdischer Herkunft und aus der früheren Sowjetunion, auch Leute aus der Unter­­schicht. Ideologisch und kulturell ist die Gruppe ziemlich vielseitig: Es gibt Punks und Hippies, Queers, Veganer und Straight Edger, Pazifisten und Nicht-Pazifisten, und viele würden sich nicht mal als Anarchisten bezeichnen.

FA!: Kannst du etwas zu eurer Arbeit sagen, wie sehen eure Aktionen aus?

Y.: Seit ihrer Gründung hat die Gruppe an Hunderten Demonstrationen und di­rekten Aktionen – gegen die Mauer und die Besetzung allgemein – in der West Bank teilgenommen. Mit unserer Arbeit in Palästina wollen wir in erster Linie die Leu­te vor Ort unterstützen. Meist gibt es ei­nen Demonstrationszug vom Dorf dort­hin, wo die Mauer gebaut wird, und wir ver­suchen, die Bulldozer und Arbeiter zu blockieren. Wir versuchen auch oft, zu­sammen mit palästinensischen und inter­na­tionalen AktivistInnen die Mauer oder die Checkpoints zu sabotieren. Es gibt auch fokussiertere Aktionen – nicht in Form von Demonstrationen – gegen den Mau­er­bau, die Checkpoints oder die „Apart­heids-Straßen“ (Straßen, die von Pa­läs­tinenserInnen nicht benutzt werden dürfen). Wir nehmen auch an vielen De­mons­trationen in Israel teil und machen di­rekte Aktionen gegen Unternehmen, die von der Besatzung profitieren. Unsere Aktionen in der West Bank werden meist sehr gewalttätig unterdrückt. Friedliche Gummi­geschossen, Gummigeschossen, manch­mal sogar scharfer Munition zer­schla­­gen. Bei rein palästinensischen De­monstrationen gibt es noch ein weit höhe­res Maß an Gewalt als bei den Demos, an denen wir uns beteili­gen. Die Anwesen­heit von Israelis bietet einen gewissen Schutz. Die israelischen Soldaten verhal­ten sich deutlich anders, wenn wir dabei sind, und die Gewalt läuft auf niedrigerem Level ab. Obwohl viele israelische Aktivis­tInnen bei diesen Demonstrationen verletzt wurden, haben die Palästi­nenser­Innen den höchsten Preis zu zahlen. Bis heute sind zehn palästinen­sische Demons­tran­ten getötet und Tau­sende verletzt wor­den. Die Armee und die israelische Regie­rung wollen den palästi­nensischen Wider­stand mit allen Mitteln brechen und isra­elische AktivistInnen daran hindern, sich da­ran zu beteiligen. Die Repression ist auch deshalb für die palästinensischen Ak­ti­vistInnen wesentlich härter, weil es zwei Sys­teme bei der Justiz gibt. Wir werden nach dem Zivilrecht behandelt, während für die Palästinenser Militärrecht gilt. De­ren Haftstrafen sind also viel länger, sie be­kommen auch mehr und höhere Geld­strafen.

FA!: Was sind eure Ziele, unmittelbar und auch langfristig?

Y.: Wir haben kein Manifest oder eine kla­re Ideologie. Wir sind gegen Rassismus, Apart­heid und Krieg, wir wollen eine freie Ge­sellschaft, in der Juden und Palästi­nen­ser gleichberechtigt zusammenleben. Ich den­ke, unsere Aktionen zeigen, was wir er­rei­chen wollen. Gegen eine Mauer, die die Leu­te voneinander trennt, arbeiten wir mit Pa­lästinensern zusammen. Gegen Beset­zung und staatliche Herrschaft, die dazu da sind, die Leute ihrer Logik zu unter­wer­fen, kommen wir und brechen ihre Ge­setze mit einer nicht-hierarchischen Gruppe.

FA!: Wie sollte eurer Meinung nach eine Lösung des Konflikts aussehen?

Y.: Wir haben keine klare Lösung. Viele von uns unterstützen die Kein-Staaten-Lö­sung, andere denken, dass es zuerst eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung geben muss. Mir ist egal, wie viele Staaten es gibt, so­lange wir Freiheit und Gleichheit für alle Ein­­­wohner dieses Landes erreichen. Eine wirk­liche Lösung sollte auf sozialer Ge­rech­tigkeit und der Überwindung von Na­tio­nalismus und Kolonialismus basie­ren, d.h. dem Ende von Israel als ein „jü­discher“ Staat und dem Aufbau einer neuen bi-nationalen Gesellschaft. Uns wird immer gesagt, das sei unrealistisch, aber derzeit gibt es ohnehin keine „rea­lis­tische“ Lösung. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein Apartheids­plan, welcher von Bush und (Israels Ministerpräsident) Olmert ge­gen den Willen der Palästinenser durch­ge­setzt wurde. Was von der israe­lischen Re­gie­rung als Frieden verkauft wird, ist nur die Fortsetzung der Ok­ku­pation mit ande­ren Mitteln. Der Kon­flikt ist auch nicht von allein da. So lange euro­pä­ische und ameri­ka­nische Inte­ressen die isra­elische Po­li­tik und die Lage in der Re­gion be­stimmen, wird es keine Versöh­nung geben.

FA!: Die israelische Friedensbewegung (Grup­pen wie Peace Now und so weiter) ist derzeit ziemlich schwach, soweit ich weiß. Kannst du dazu etwas sagen? Wie ist euer Verhältnis zu diesen Gruppen?

Y.: Wir sehen uns nicht als Teil der „Friedens­bewegung“. Wir sind eine Bewe­gung gegen die Besatzung. Der Frieden wird oft benutzt, um den Status quo zwischen Unterdrückern und Unter­drückten zu erhalten. Der Hauptun­terschied in der israelischen „Linken“ besteht zwischen den Zionisten und den Nicht- oder Antizi­onisten. Für die meisten von uns sind Gruppen wie Peace Now, One Voice, das Peres-Center für Frieden und andere sogenannte „Friedens“-Gruppen irrelevant oder sogar eine Gefahr. Israe­lische Grup­pen, die einen Frieden in Form von Freihandelszonen und unter Beibe­haltung der meisten Siedlungen wollen, sind nicht links und werden keinen Frieden bringen. Diese Art von „Friedens“-Grup­pen sind viel schwächer, als sie vor der zweiten Intifada waren. Das liegt an dem Traumge­bilde einer „Pax Americana“ im Na­hen Osten, das sie der israelischen Öffent­­lichkeit verkaufen wollten – ein Traum­­gebilde, das ihnen nun auf die Füße ge­fallen ist. Wir arbeiten eng mit Anti-Be­satzungsgruppen wie Gush Shalom, Taa­yush, Coalition of Women for Peace zu­sammen. Die Zahl dieser Gruppen ist seit der zweiten Intifada stark gestiegen.

FA!: Hier hört man meist nur etwas über die Hamas oder die Fatah. Gibt es auf paläs­ti­nensischer Seite linke Gruppen, die dem Na­tio­nalismus der Fatah oder dem Isla­mismus der Hamas etwas entgegen­setzen, habt ihr da Kontakte?

Y.: Wir arbeiten nicht mit Parteien zu­sammen, also auch nicht mit Hamas oder Fatah. Unsere Arbeit läuft vor allem über die Kommitees in den Dörfern, wo die gan­­zen Familien vertreten sind, aber na­tür­lich auch Vertreter der Parteien – oft Leu­te von der Fatah, auch von kleinen lin­ken Parteien. Es sind auch Hamas-Leute da­bei, mit denen wir dann auch zusam­men­­arbeiten. Es gibt auch Unterschiede zwi­schen den Parteimitgliedern in den Dör­­fern und der Führung der Hamas. Wir wer­­den als Israelis akzeptiert – die Basis ist, dass wir gewaltfreie Aktionen gegen die Be­­set­zung machen. Die Hamas-Leute ar­bei­ten natürlich nicht so gern mit Israelis zu­sammen, aber wenn sonst alle dafür sind, widersprechen sie auch nicht. Wir sel­­ber schließen keinen aus – wir sind auch nicht in der Position, jemand ausschließen zu können.

FA!: Gibt es auch palästinensische Anar­chis­tInnen?

Y.: Wenige. Es gibt Leute auf palästinen­sischer Seite, mit denen wir eng zusam­men­­arbeiten, aber die sehen sich nicht un­be­dingt als AnarchistInnen. Wir haben auch eine gute Zusammenarbeit mit paläs­tinen­sischen Marxisten, Trotzkisten usw. Wir haben Kontakt zu Anarchisten im Liba­non und versuchen, mit anderen anar­chis­tischen Gruppen im Nahen Osten Kon­takte zu knüpfen.

FA!: Und wie würdest du die Hamas beurteilen?

Y.: Die ist mir natürlich nicht so sympathisch. Aber Fakt ist, dass die Hamas anfangs sehr von Israel unterstützt wurde, ähnlich wie die Taliban durch die USA. Die Hamas hat keine Waffen bekommen, wurde aber politisch unterstützt. Man wollte sie als Gegenpol zur PLO stärken, weil man dachte, die Islamisten wären besser zu kontrollieren. Die Hamas ist antiimpe­rialistisch, antiwestlich, sie macht auch viel sozia­le Arbeit, und sie ist sicher weniger korrupt als die Fatah. In gewisser Weise haben sie sich auch mit der Demo­kratie abgefunden – sie akzeptieren, dass Wah­len nicht gegen den Islam sind. Sie akzep­tieren die Demokratie, weil sie ihnen nützt. Wenn es nur die Wahl zwischen Hamas und Fatah gibt, ist es schwer, sich zu entscheiden. Die Hamas will einen islamischen Staat, in dem Schwule, Frauen, Juden usw. unterdrückt werden. Aber die Fatah würde Palästina zur Freihandelszone machen, was auch auf Ausbeutung und Unterdrückung hinaus­läuft. Wir gehen damit so um, dass wir nicht mit den Parteien kooperieren, sondern mit den Leuten an der Basis.

FA!: Ihr seid wegen eurer Arbeit starker Repression ausgesetzt, Prozessen usw. Wie ist da die Lage?

Y.: Die Repression gegen uns findet vor allem bei den Demonstrationen statt, bei denen regelmäßig Gummigeschosse einge­setzt werden. Viele von uns wurden schon angeschossen, haben Kopfverletzungen davongetragen und mitunter immer noch mit den Folgen zu kämpfen. Das ist härter als bei Demonstrationen hier in Deutsch­land. Andererseits werden bei uns seltener Verfahren eröffnet, wenn man festge­nommen wird. Ich wurde schon zehnmal verhaftet, andere zwanzig oder dreißig mal. Meist wird man am selben Tag wieder freigelassen. Wenn es Verfahren gibt, dann Monate später. Zur Zeit laufen 70-80 Verfahren. Man muss dazu sagen, wir sind etwa 200 Leuten, also sind fast 50% betroffen. Das ist hart, aber es gibt auch viel Solidarität und Spenden, so dass wir die Anwaltskosten zahlen und weiter­machen können. Das Problem besteht aber weiter.

(justus)

Mehr Informationen zur Arbeit der Gruppe und Spendenmöglichkeiten findet ihr unter: xttp://www.awalls.org

Cuba: Soziale Alternative oder Diktatur?

Die Meinungen zu Cuba könnten kaum widersprüchlicher sein: Wäh­rend „orthodoxe Marxisten“ das kleine mittelamerikanische Land als sozialistische Alternative hochleben lassen, wird in „libe­ralen“ Kreisen Cuba oftmals auf Diktatur reduziert und ohne nähere Beschäftigung leichtfertig abgetan. Dies sind freilich nur die Pole eines Spektrums, in welchem es kaum möglich ist, an Informationen zu gelangen, die nicht durch die Massenmedien anti-cubanisch oder durch Gruppen, wie bspw. „Cuba Si“ pro-cubanisch eingefärbt sind. Die ca. 2 Mio. Exil-Cubaner in Miami tragen dabei ebenso zur Polarisierung bei wie die Informationspolitik der cubanischen Re­­gie­r­ung. Es gibt kaum ein Thema, an dem Schwarz-Weiß-Malerei und verkürzte Darstellungen so offensichtlich werden wie in der Berichterstattung über die kleine Insel. Um die daraus resultierende, meist schnelle und einseitige Urteilsbildung über die Verhältnisse dort selbst hinterfragen zu können, soll es an dieser Stelle vor allem um die Lebensrealitäten der Cubaner/innen gehen und die Frage, wie der Alltag wirkt. Denn so, wie sich ein einseitiges politisch-polarisierendes Bild nicht mit der erlebten Alltäglichkeit deckt, so gibt es auch keine einfachen Lösungen für die Probleme jenes Landes, dem bald ein umfassender Umbruch bevorsteht.

Lebensalltag

Der Großteil Cubaner/innen lebt in einfachen Verhältnissen auf der Insel. Selbst die vielen alten und zerfallenen Häuser bieten ein festes Dach über dem Kopf und seit der Ernährungskrise in den 90ern gibt es auch wieder ausreichende bzw. ausgewogene Ernährungsmöglichkei­ten für alle. Die nötigen finanziellen Mittel für das Überleben erarbeiten die Menschen hauptsächlich in den zahlreichen staatl­i­chen Betrieben. Dort gibt es wenig Produktionsdruck – wie er hier durch Angst vor Arbeitsplatzverlust geschürt wird – und die Arbeitsbedingungen sind am Menschen orientiert: feste Arbeitsverhält­nisse, ein Acht-Stunden-Tag, umfangrei­che Ausbildung und Weiterbildungen, Mutterschutz, Krankenversorgung und Sozialleistungen sind auch in Zeiten ohne Produktion selbstverständlich. Um effekti­ves Arbeiten zu fördern und den Produk­tions­­druck zu erhöhen, haben die Gewerk­schaf­ten – ähnlich wie der FDGB (1) in der DDR – zudem Belohnungssysteme eingerichtet, wie z.B. kollektiv gezahlte Extragelder bei Produktionssteigerung und die ‚besten Mitarbeiter des Jahres‘, die bspw. einen Aufenthalt mit der Familie im Luxushotel bekommen. Die durchschnitt­lich verdienten 300-600 Peso monatlich – die im übrigen relativ gleich auch bei unterschiedlichen Tätigkeiten und Qualifi­ka­­tio­nen sind, denn ein Arzt verdient kaum mehr als ein Gießer – reichen jedoch gerade mal für die nötigsten bzw. grundle­gen­den Nahrungsmittel und Waren, die auch vom Staat subventioniert werden. Dies ermöglicht zwar keinen Luxus, verhindert aber dennoch eine Mangeler­näh­rung, die besonders bei Kindern in vergleichbaren lateinamerikanischen Ländern keine Seltenheit sind. Generell haben die Cubanerinnen und Cubaner gesundheitlich kaum zu klagen, denn ihr Gesundheitssystem zählt zu den weltweit besten. Es gibt eine hohe Dichte gut ausgebildeter Ärzte, die die Menschen kostenfrei versorgen. Neben diesen sog. ‚Familienärzten‘, die selbst in den entle­gens­ten Winkeln Cubas vertreten sind, gibt es auf regionaler Ebene zahlreiche Polikliniken und einige Spezialkliniken für kompliziertere Operationen. Der breite Zugang der Bevölkerung zu den Ge­sund­heits­­­­­ein­rich­tun­gen zeigt seine Erfolge: die Kindersterblichkeit und die Lebenserwar­tung ist vergleichbar mit denen der führenden Industrie­länder. Beim Bil­­dungs­­­­­­sys­tem zählt Cuba eben­­so zu den weltwei­ten Vor­rei­tern. Es gibt de facto keine Analpha­be­ten, die durch­schnitt­­liche Klassen­stärke in den Schulen liegt bei 12, die Lehr­er/innen sind gut aus­ge­bildet und das Ge­samt­­schulsys­tem för­dert das Bildungsniveau. Die Schulbil­dung ist ebenso kostenlos wie die dazuge­hö­rigen Lehrmittel, Schulklei­dung, Nahrung und Transport.

Was jedoch im sozialen Bereich so fortschrittlich erscheint, ist keineswegs problemfrei: Im Gesundheitsbereich wird mit technisch veralteten und wenigen medizinischen Geräten gearbeitet und auch eine umfangreiche Medikamenten­ver­sor­gung kann nicht immer gewährleis­tet werden. Ebenso fehlt es in vielen anderen Produktionsbereichen an techni­schen Geräten und Rohstoffen. Ursachen dafür lassen sich sowohl in den histori­schen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, als auch der US-Blockade als Antwort auf den erklärten Sozialismus Cubas finden. Die kleine Insel hatte sich bereits vor der cubanischen Revolution [siehe Kasten] auf den Zuckerrohrexport konzentriert und war, wie viele lateinamerikanische Länder von US-amerikanischen Importen bzw. Exporten abhängig. Nach den ersten sozialistischen Veränderungen, wie der Land- und Bodenreform und der Verstaat­li­chung der wenigen industriellen Betriebe verhängte die USA 1960 ein bis heute geltendes Handelsembargo. Neue Verträge mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten sollten daraufhin den totalen wirtschaftlichen Zusammen­bruch Cubas verhindern, entpuppten sich allerdings als neue Abhängigkeiten. Denn neben der Cuba-Krise 1962, die fast in einem Atomkrieg geendet hätte, wurde vor allem nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder ab 1989 klar, dass sich die cubanische Wirtschaft zu sehr auf den Export der Monokultur Zuckerrohr konzentrierte und nicht an einer wirt­schaftl­i­chen Unabhängigkeit arbeitete. 85% des Außenhandels brachen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein und stürzten die Bevölkerung Cubas, durch fehlende Importe in eine bis dahin unge­kannte Hungerkrise. Die Krise wurde zudem durch den Druck der US-Blockade, der auch außenpolitisch wirkte und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern verhinderte, verstärkt. Umfang­rei­che wirtschaftliche Veränderungen wurden deshalb 1992 durch die Öffnung für Tourismus und ausländische Investoren eingeleitet. Sie sollten das Land und die Bevölkerung durch neue Devisenzugänge aus ihrer Misere befreien.

Neue Wege

Die Öffnung für den Tourismus jedoch hat viele neue Widersprüche innerhalb der Bevölkerung geschaffen, die vor allem in der Hauptstadt Havanna offensichtlich werden. Denn dort können die Touristen weniger von der Bevölkerung separiert werden, um einheimische Lebensweisen zu schützen und Kontrolle zu behalten, wie es auch in anderen auf Tourismus ausge­rich­te­ten Ländern oft üblich ist. Auf der Insel gibt es zwei verschiedene Währungs­sys­teme: die Devisenwährung Cuc, die dem ungefähren Handelswert von einem US-Dollar entspricht und mit denen die Touristen in speziellen Läden alle erdenkli­chen kapitalistischen Güter erwerben können und den einheimischen Peso, der ungefähr 24-mal weniger Wert besitzt. Die Angestellten in den staatlichen Betrieben, die umgerechnet nur zwischen 12 und 25 Dollar monatlich verdienen, können in den Touristen-Geschäften vor der Haustür kaum die Güter erwerben, die so begehrt sind. Vor allem technische Geräte, (Mar­ken-)­­­Kleidung und andere Luxusgüter werden gebraucht, sind beliebt, haben Konsumbedürfnisse geweckt und die Bevölkerung gespalten. Zwar zahlen auch viele staatliche Betriebe inzwischen ca. 30 Cuc im Monat zum regulären Lohn hinzu, um den Bedürfnissen der Bevölkerung ent­gegen zu kommen, doch ist eine Arbeits­stelle in der Tourismusbranche allemal ertragreicher. So kommt es, dass es viele Menschen vorziehen, trotz hoher anderer Qualifizierung, anspruchs­­­­lo­­sere Arbeit dort zu verrichten, wo mensch einem Trinkgeld hinter­her­­ja­gen kann, das für andere der Monatslohn ist. Der Staat ver­sucht einem unkontrollierten Devisen­han­del und der Spaltung der Bevöl­kerung in Bezug auf unter­schied­liche Wohlstands­ni­veaus, durch verstärkte Kon­trollen und harte Strafen beizu­kom­­men. So gibt es legale Ar­beits­­­plät­ze, wie Taxi­fahrer/innen oder Verwalter/innen sog. „Casa Particula­res“ (eine Art Mini-Pension in Fami­lien­­häu­sern), die eine hohe Summe monatlich an Steuern für ihr Geschäft zahlen müssen, so dass die verdienten Einnahmen durch die Touristen relativ gering bleiben. Illegalisierte Geschäfte, wie die der Taxifahrer/innen ohne staat­liche Geneh­mi­­gung oder ungemeldete Handelsge­schäfte mit Waren und Dienst­leistungsan­ge­bo­ten, werden mit harten Geldstrafen belegt, die schlichtweg unbezahlbar sind. Die Gesetze gehen sogar soweit, dass es z.B. verboten ist, als Ausländer/in in einer cubanischen Familie zu übernachten, da weder Geldgeschäfte noch kritische Worte dort kontrollierbar sind. Für die Überwa­chung und Ein­haltung dieser Richtlinien sind vor allem die ‚Komitees zur Verteidi­gung der Revolution‘ (CDR) verantwort­lich, die in jedem Barrio angesiedelt sind und neben der Organisation des Gemein­we­sens – wie z.B. Betreuung von älteren Menschen, Nachbarschaftshilfe, Durch­füh­­rung von Butspende- und Impf­kampag­nen sowie Gesundheitsaufklärung – auch für die Kontrolle der Kriminalität zuständig sind. Sie ersetzen vielfach Polizei und Militär im Inneren und üben durch die räumliche Nähe der ‚ehrenamtlichen Nachbarn‘ Druck aus. Angst vor Überwa­chung und dementsprechend überlegte Äußerungen, sowie gefühlte Repressionen durch Eingriffe in die Privatsphäre führen dabei vielfach zu Frustration innerhalb der Bevölkerung. So entpuppt sich die Öffnung für den Tourismus, die als einzige Alternative für das sozialistische Land nach dem Zusammenbruch der wirt­schaft­li­chen Beziehungen zur Sowjet­union gesehen wurde, als Falle für die sozia­listische Idee. Denn dass die staatlich eingenommenen Devisen durch die Tourismusbranche zum Teil in Subventio­nen der Grundnahrungsmittel für Cuba­ner/­­­innen umgesetzt werden, wiegt die fehlende Gestaltungsmöglichkeit des eigenen Wohlstands bei den meisten kaum auf. Auch wenn die Ernährungslage insgesamt jetzt besser ist, fehlt es an Freiräumen, mit den geweckten Konsum­be­dürf­nissen selbstverantwortlich umzu­ge­hen, ohne dabei ständigen Reglementie­rungen unterworfen zu sein.

Partizipation?

Neben dem schizophrenen Alltagsleben zwischen greifbarem Konsum der ‚westli­chen Welt‘ im Laden nebenan und der realsozialistischen Gemeinschaft mit ihren Mängeln, krankt das System jedoch vor allem am fehlenden Mitsprache- und Gestaltungsrecht der Cubaner/innen. Zwar gibt es Partizipationsmöglichkeiten, allerdings nur in den ‚systemkonformen‘ Massenorganisationen wie den Gewerk­schaf­ten (CTC), Frauen- und Jugendor­gani­satio­nen (FMC und UJC) oder dem Komitee zur Verteidigung der Revolution (CDR). Diese beschäftigen sich neben ‚der Verteidigung der Cubanischen Revolution‘ – also der Umsetzung staatlicher Richtli­nien – vor allem mit dem kulturellen und sozialen Leben der Gemeinschaft. Im Falle der Gewerkschaften, die alle dem Dachver­band CTC untergeordnet sind und denen ca. 97% der Bevölkerung angehören, kümmert man sich neben betrieblichen Belangen vor allem um die Produktivitäts­stei­gerung. Zudem werden Betriebsfeiern und -ausflüge organisiert und die Beschäf­tig­ten werden im Falle von Krankheit oder Mutterschaftsurlaub zu Hause versorgt. Auch wird der aktuell auf Cuba statt­findende Prozess der ‚konstruktiven Kritik‘ von Gewerkschaften maßgeblich mit durchgeführt und es finden Versamm­lungen statt, auf denen Verbesserungsvor­schläge der Arbeiter/innen gesammelt und weitergeleitet werden. Ziel ist es dabei, in den nächsten fünf Jahren in allen Lebens­be­rei­chen auf Cuba Defizite zu erkennen und zu beheben. Ob bei dieser, von der Regierung inszenierten Maßnahme, tatsächlich alles gesagt werden darf, kann an dieser Stelle zwar schwer beantwortet werden, deutet aber dennoch auf das eigentliche politische Versäumnis: Offen­heit. Denn echte Partizipationsmöglich­keiten an politischen Entscheidungspro­zessen, Mitgestaltungs- und Kritikmög­lich­kei­ten gibt es kaum auf der Insel, da Selbstkritik unerwünscht ist.

Was im sozialen Bereich an Menschen­rechten überdurchschnittlich gut funktio­niert, wird im Bereich der Freiheitsrechte umgekehrt. Dort gibt es zahlreiche Verletzungen bzw. Einschränkungen. Gerade für Gegner/innen des politischen Systems ist es schwer, da allgemeine Rechte wie Informationsfreiheit, Versammlungs­recht und Meinungsfreiheit nicht existie­ren und die Oppositionellen zuerst mit Maßnahmen wie dem Verlust des Arbeits­pla­tzes, öffentlichen Diffamierungen und Drohungen rechnen müssen, wenn sie „auffällig“ werden. Unabhängiger Journa­lis­­mus, insbesondere von politischen Gegner/innen wird ebenfalls verfolgt, gelegentlich werden Persönlichkeitsrechte wie das Recht auf Privatsphäre bei erklärter ‚Gefährdung des cubanischen Sozialismus‘ außer Kraft gesetzt. Auch in den Haftan­stal­ten ist der Umgang mit den Dissiden­ten hart. Selbst Organisationen wie amnesty international haben keinen Zugang zu den Gefängnissen, um den Gerüchten von Folter, Isolationshaft und mangelnder medizinischer Versorgung dort nachzugehen. Die harte Linie der Regierung wird dabei mit der Angst vor Destabilisierung und Sturz des sozialisti­schen Systems begründet. Diese, bereits seit den 60ern praktizierte Politik, zerstört dabei die Grundlage dieses Systems viel mehr, als der neue Massentourismus, da der kritischen Basis die Möglichkeit genommen wird, konstruktiv mitzugestal­ten und die Defizite gemeinsam zu bekämpfen. Die cubanische Regierung sieht immer nur den kapitalistischen (meist US-amerikanischen) Feind lauern, unterbindet dadurch interne Kritik, verfolgt den kritischen Teil der Bevölke­rung und gibt Entscheidungen von oben nach unten durch. Das frustriert vor allem die jüngere Generation, die mit dem Status quo unzufrieden ist. Während die älteren Zeitgenossen die einstige Idee einer sozialistischen Alternative in der Realität noch suchen und zu finden glauben, sind die Meinungen unter den Jungen eher gespalten. Es ist in der Größe schwer abschätzbar, wie viele einfach nur Kon­sum­­mög­lich­kei­ten, sprich Kapitalismus wollen, wie viele einen gemäßigten Sozialismus mit grundlegenden Verände­rungen anstreben oder die Anzahl derer, die ganz andere Vorstellungen vom Zusammenleben haben. Da die Menschen nicht ungestraft offen diskutieren dürfen, bleibt auch unklar, ob der von Regierungs­sei­te skizzierte ‚kapitalistische Feind‘ innerhalb Cubas tatsächlich so stark ist. Tatsächlich ist die zunehmende Mehrheit der Jüngeren unzufrieden mit den inzwi­schen verschärften sozialen und wirtschaft­li­chen Verhältnissen und wünscht sich Veränderungen.

Dass der Staatspräsident Fidel Castro im Sterben liegt und das Interesse an Cuba auch außerhalb groß ist, trägt zudem zur Prognose bei, dass demnächst wohl ein umfassender Wandel bevorsteht. Zwar kann der inzwischen regierende Raúl Castro versuchen, alles wie gehabt weiter­lau­­fen zu lassen, allerdings verkörpert er unter der Bevölkerung, im Gegensatz zu seinem Bruder Fidel, dem meist totales Vertrauen entgegen gebracht wird, nicht die Vaterfigur der Revolution. Wenn Druck von außen kommt, wird die weitere Geschichte Cubas auch von dem Handeln der Inselbewohner/innen selbst abhängen. Ohne Raum für Diskussionen jedoch, werden – ähnlich wie in der damaligen DDR – die Veränderungen wohl schneller über das kleine Land hereinbrechen, als Zeit besteht sich intern gemeinsam über einen neuen Weg zu verständigen.

Alte Hürden

Fernab politischer Propaganda in Richtung Diktatur oder soziale Alternative ist es für die Cubaner/innen nicht einfach auf dieser Insel, die versucht, dem weltweit herr­schen­­den Kapitalismus eine soziale Antwort entgegen zu setzen. Denn so sehr die sozialen Bereiche wie Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit auch gefördert werden, rechtfertigt das nicht die Repressionen im Inneren für den Erhalt selbiger. Dabei werden wichtige interne Stimmen mundtot gemacht, was zum einen die externe Bezeichnung als Diktatur bestärkt, zum anderen aber auch die Möglichkeiten einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus kaputt macht. Fakt ist, dass die Menschen vor Ort das Recht und die Souveränität haben sollten, über ihre Entwicklung selbstbestimmt und ohne Einfluss der Einheitspartei oder der ehemaligen cubanischen Großgrundbe­sitzer in Miami zu entscheiden. Cuba krankt daran, das dies nicht geschieht. Ob es jedoch gesundet, wenn die Epoche Fidel vorbei ist, bleibt stark zu bezweifeln. Denn wenn dann die Insel kapitalistisch wird, kann zwar Kritik offen geäußert werden, wie viel bzw. wenig Einfluss aber die Menschen dann auf ihre eigene Entwick­lung haben werden, sehen wir auch hierzulande.

Wenn also die Klassifizierung ‚Diktatur‘ benutzt wird, so hat das in Teilen ebenso seine Berechtigung, wie die Bezeichnung ‚soziale Alternative‘ in anderen Teilen. Die Einschränkung der Freiheitsrechte bilden zusammen mit den sozialen Leistungen dabei die Pole dieser Kontroverse. Im Ganzen betrachtet steckt Cuba voller Widersprüche, gegen die es keine einfa­chen Rezepte gibt. Ein Schönreden der Verhältnisse hilft auf diesem Wege ebenso­we­nig wie das Schlechtmachen des ganzen Systems. Was Cuba braucht ist Mut, Stärke und Durchsetzungskraft der eigenen Bevölkerung, um den mächtigen Interes­sens­politiken entgegenzutreten und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Wenn die Möglichkeit bestünde, unabhängig von Staat und Kapital aus den eigenen Erfah­rungen heraus Veränderungen mitzugestal­ten, könnte Cuba vor einem Schicksal wie dem der DDR bewahrt werden.

(momo)

(1) FDGB: Freier Deutscher Ge­­­­­­werk­­­schafts­­bund, Dachverband der Gewerkschaften in der damaligen DDR
(2) Ein vielschichtigeres Bild über Cuba bieten zum Beispiel die monatlich erscheinenden Lateinamerika Nach­richten

Cubanische Revolution

*** 1952: Diktator Fulgenicio Batista putscht sich an die Macht. Unter seinem Regime findet Korruption, Folterung und Mord an ca. 20 000 Personen statt *** 1953: Gescheiterter Angriff der ‚Bewegung 26. Juli’ auf die Monaca-Kaserne. Die Beteiligten werden dort getötet, später hingerichtet oder, wie Fidel Castro zu langen Haftstrafen verurteilt.*** 1955 Amnestie für politische Gefangene: Fidel und Raúl Castro fliehen nach Mexico, treffen dort auf Ernesto ‚Che‘ Guevara *** 1956: Rückkehr nach Cuba auf der Granma, mit dem Ziel das Land von Batista zu befreien. Die Überlebenden der Schlacht fliehen in die Berge der Sierra Maestra und führen, durch die massive Unterstützung der Bevölkerung ermöglicht, einen jahrelangen Guerillakampf gegen die militärischen Truppen.*** 1959: Die entscheidende Schlacht in Santa Clara zwingt Batista zur Flucht. Fidel Castro ruft die cubanische Revolution aus.*** Erste sozialistische Maßnahmen, wie Alphabetisierungskampagne, Land- und Bodenreform, die Verstaatlichung der Industriezweige sowie Verträge mit der Sowjetunion. Bisherige cubanische Elite, wie Großgrundbesitzer fliehen in die USA*** 1960: USA verhängt Handelsembargo (sog. Blockade) gegen Cuba*** 1961: Missglückte Invasion US-amerikanischer Truppen an der Schweinebucht auf Cuba*** 1962: Cuba-Krise: Militärische Seeblockade der USA gegen die Stationierung sowjetischer Raketen auf Cuba. Nur knapp wird ein Atomkrieg verhindert.***

CHIAPAS: Spannungen nehmen zu!

„Jene von uns die im Krieg gekämpft haben, kön­nen die Pfade wiedererkennen, auf denen er vorbereitet wird und näher kommt. Die Zeichen des Krieges am Horizont sind klar. Der Krieg wie die Furcht haben ihren Geruch. Und man fängt schon an, seinen übelriechenden Gestank einzuatmen.”

Das waren Subcomandante Marcos Worte am vorletzten Tag des freien Kolloquiums über “Antisystemische Bewegungen”, wel­ches vom 13. bis zum 17.12.07 in San Cristóbal de las Casas stattfand. Marcos Worte drücken die aktuelle angespannte Situation in den autonomen Gemeinden Chiapas‘ klar und unmissver­ständlich aus.

Die Bedrohungen und Übergriffe von paramilitärischen Organisationen nehmen derzeit bedenklich zu. Desweiteren gibt es aktuell 56 ständige Militärbasen auf in­di­­genem Gebiet in Chiapas, bei denen ge­nau­so eine sich stei­gernde Aktivität zu er­ken­nen ist. Waf­fen und Ausrüstun­gen wer­den moderni­siert und im­mer mehr Bataillone und Sonder­streit­kräfte rücken an. All dies sind Anzeichen einer militä­rischen Eskalation der Situation, die die mexika­nische Staatsregierung anzu­streben scheint. Im Moment jedoch wird “die Ar­beit” noch den paramilitärischen Organi­sa­tionen über­lassen.

Staatliche Vertreibungspolitik

Die Regierung setzt aber nicht nur auf die militärische Karte. Um den Vertreibungs­druck auf die freiheitsliebenden Einwoh­nerInnen Chiapas‘ zu erhöhen, vergibt sie parallel das besiedelte Land der autonomen Gem­einden an andere Bauern Mexikos. Sie schürt damit bewußt Konflikte zwischen den verschiedenen Bauern, um dann in der Öffentlichkeit den Konflikt als Krieg zwi­schen Bauern und indigenen Gemein­den darstellen zu können. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie stark die Regie­rung diese Vertreibungspolitik forciert: Allein in einer Region wurden 16 Millio­nen Pesos dafür investiert, Land zu enteig­nen und an Familien weiterzuge­ben, welche mit der regierenden Partei PRI (Partido Revolucionario Institucional) in Verbindung stehen. Viele dieser Fami­lien haben wiederum Kontakt zu den staatlich unterstützten Para­mili­tärs, die die zapatis­ti­schen Gemeinden immer wieder über­fallen, Angst verbreiten und selbst vor Morden nicht zurückschrecken.

Seit September letzten Jahres findet in Chiapas eine bedrohliche Steigerung der Ge­walt statt. Bestes Beispiel hierfür ist die zapatistische Gemeinde Bolon Ajaw in der Region Montes Azules. Vom Zusammen­schla­gen von Dorfbewohnern oder Schüs­sen auf sie bis zur Misshandlung von Kin­dern reicht die Liste der Bedrohungen sei­tens der paramilitärischen Organisation für die Verteidigung der Indigenen und Campe­si­no­­­rechte (OPDDIC), die die internationa­len Beobachter immer wieder tatenlos re­gistrieren müssen. Auch gibt es schriftliche Drohungen wie die folgende: „In guter Freundschaft und als Brüder warne ich die EZLN-Angehörigen von Bolón Ajaw und rate ihnen, so schnell wie möglich zu verschwinden, weil morgen oder heute Nacht die Armee einmar­schieren wird. Glaubt mir, meine Freunde. Aus der Region von El Mango.”

Obwohl die Namen der Täter oftmals bekannt sind, werden seitens der Regie­rung keinerlei rechtliche Schritte eingelei­tet. Im Gegenteil, aus verschiede­nen offi­ziellen Stellen, wie u.a. aus dem Regie­rungs­amt des (Bun­des-)Staates Chiapas und dem Büro des Direk­tors der nationa­len Kom­mis­sion für Natur­schutz­­ge­bie­te (Region Süd­gren­ze) wird ein klares Interesse an der “Umsied­lung” der zapa­tistischen Gemeinden be­kun­det und extra stillge­halten.

Die Gemeinde von Bolon Ajaw ist jedoch nur ein Beispiel unter vielen. Auch viele andere zapatistische Gemeinden leiden darun­ter, dass ihnen ihre Ernten gestohlen, die Felder abgebrannt, und die Menschen mit Tod, Vergewal­tigung und Folter be­droht werden. Mit der Umsetzung des “Plan México” ist noch mit einer weiteren Verschärfung der Repressalien zu rechnen. Nachdem Präsi­dent Felipe Calderon bekundet hat, dass es in Mexico keinen schmutzigen Krieg gebe, wurde im Namen des “Kampfes gegen das Verbrechen” die Justizreform von der Abgeordnetenkam­mer gebilligt und damit die polizeistaat­lichen Verhältnisse noch legitimiert. Der „Plan“ sieht eine Zu­sammenarbeit Mexicos mit den Vereinigten Staaten vor. Es soll gegen das organisierte Verbrechen (wie Drogen­handel) vor­ge­gan­gen und der Terrorismus bekämpft werden. Viele Andersdenkende und Andersleben­de, gerade die autonomen Gemeinden Chiapas‘, werden nun ver­stärkt dem Ter­roris­mus­verdacht zum Op­fer fallen. Die USA unterstützt México dabei militä­risch wie finanziell. In Bezug auf die sozia­len Kämpfe im Land führt dies zur weite­ren Beschneidung persönlicher Rechte und zu einer Verstärkung des “Krieges niederer Intensität” unter polizei­staatlichen Prämis­sen, wie das der welt­weite „Anti-Terror-Kampf“ auch in vielen anderen Ländern schon gezeigt hat.

Zwischen Angst und Entschlossenheit

Vom 20. bis zum 22.12.07 wurde in Acteal den Opfern des Massakers von vor zehn Jahren (22.12.1997) gedacht. Bei diesem Massaker, welches sich über Stunden hinzog, wurden 45 Tzotzil-Indígenas, meist Frauen und Kinder, brutal von der para­militärischen Organisation Mascara Roja ermordet. Eine 200 Meter entfernte mexikanische Polizeieinheit reagierte nicht und sah dem Abschlachten damals einfach zu. Zu der Veranstaltung waren viele natio­nale wie auch internationale Gäste und Organisationen angereist. Es gab Vor­träge von verschiedenen Menschen­rechts­organi­sationen und von Vertreterinnen der Maya-Frauengruppe, viele Plena und einiges mehr.

Bis heute steht die Forderung nach einer Bestrafung der Täter im Raum, ebenso wie die Forderung nach einer offiziellen Zu­sicherung, dass sich so etwas nicht wieder­holen wird. Bis heute hat sich diesbezüg­lich noch nichts getan.

Das Massaker in der Abeja-Gemeinde von Acteal hatte nicht ohne Vorzeichen stattge­fun­den. Damals wie heute gab es im Vor­feld vermehrt Drohungen und Über­griffe auf die Ein­wohner­Innen der auto­nomen Ge­meinden. Viele befürchten deshalb, dass die aktuellen Entwicklun­gen wie damals die Vorbo­ten einer bru­talen Eskala­tion der Ge­walt seitens der Para­mi­litärs und des mexi­ka­nischen Staates sind.

Die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional), der be­waffnete Arm der zapa­tistischen Bewegung, zieht ihre Konse­quen­zen daraus. Marcos liess am vorletzten Tag des Kolloquiums verlauten, dass die EZLN nun lange Zeit nicht mehr an öffentlichen Tagungen teilnehmen könne, da die Basisgemeinden momentan massi­ven Bedrohungen und Aggressionen ausgesetzt seien und man sich deshalb verstärkt um die Verteidigung der Men­schen vor Ort kümmern müsse. Auch wenn das für die kampferprobte Organisa­tion der autonomen Bauern von Chiapas keine neue Herausforderung ist, sei es das erste Mal seit 1994, dass die soziale Ant­wort, national wie international, so gering ausfiele, und die Gemeinden so stark auf sich selbst zurückgeworfen wären.

Nun liegt es an uns, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen uns klar werden, dass die Gefahr besteht, dass wir erneut untätige ZeugInnen weiterer Vertreibungen, Massaker und Morde in den autonomen Gebieten Mexicos werden.

Brutal angegriffen werden Andere, gemeint aber sind wir indirekt alle.

(sahne)

 

Quellen und weitere Infos:

Naomi Klein, La Jornada, 21. Dezember 2007

xttp://www.indymedia.org

xttp://www.enlacezapatista.ezln.org.mx

Wer sich für die Arbeit als unabhängigeR MenschenbeobachterIn interessiert, kann hierzu Informationen beziehen unter: carea@gmx.net