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Eine Dosis Blau

Interview mit Radio-Blau-Aktivist_innen

Einen eher trostlosen Anblick boten am 12. November zur Linken Medienakademie Regional die überwiegend verlassenen Räume in der Universität Leipzig. Denn das interessante Workshopangebot, das überwiegend von lokalen (linken) Medienschaffenden vorbereitet wurde, traf – auch aufgrund der Kurzfristigkeit – auf recht wenig interessiertes Publikum. Doch statt Blasen mit Trübsal zu füllen, nutzten wir die Zeit für einen intensiven Austausch mit zwei Aktivist_innen vom freien Radio Blau. Das folgende Interview zur aktuellen Situation und anderem Wissenswerten kam auch dabei rum:

FA!: Hallo, schön euch zu interviewen. Für die Leser_innen, die euch noch nicht kennen: Was ist denn Radio Blau?

Anne: Radio Blau ist euer Freies Radio in Leipzig. Das bedeutet, dass wir zugangsoffen sind für alle, die in Leipzig Radio machen wollen. Wir sind ein nichtkommerzielles Radio, wir machen das also ehrenamtlich, um der Ideen und Inhalte willen, die wir einem größeren Publikum zugänglich machen wollen. Und wir spielen keine Werbung. Wir sind basisdemokratisch organisiert, bei uns gibt es keine Hierarchien und keine Chefredaktion. Bei uns entscheidet die Vollversammlung über Organisatorisches im Radio und auch die Inhalte werden dort diskutiert. Es gibt den Konsens, keine sexistischen, rassistischen, antisemitischen, faschistischen oder chauvinistischen Inhalte zu senden. Aber ansonsten gibt es keine Einschränkungen. In diesem Rahmen kann jeder senden, was er will.

FA!: Welche Sendungen würdet Ihr denn besonders hervorheben?

A: Wichtig ist unser tagesaktuelles Magazin Aktuell. Das läuft immer 19 bis 20 Uhr, Montag bis Freitag. Da geht´s um aktuelle, lokale, überregionale oder globale Themen aus Politik, Kultur, Umwelt, Wirtschaft. Dabei richten wir uns nicht nach herkömmlichen journalistischen Werten, zum Beispiel diesen unbedingten Zwang zu Aktualität oder den Blick auf Nachrichtenwerte. Wir bemühen uns darum, Themen aus den Perspektiven zu bearbeiten, die in den kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien nicht vorkommen.

Lutz: Vieles findet sich eben anderswo nicht wieder, weil´s keine spannende Nachricht ist. Uns geht es eher darum, denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Sich für ein Thema Zeit zu nehmen, auch wenn es gerade nicht topaktuell, aber trotzdem interessant ist.

FA!: Wer entscheidet über die Themen? Es gab ja vor einigen Jahren z.B. eine Debatte über eine Sendung, wo Musik von Muslimgauze gespielt werden sollte – eine Industrialband, die sich u.a. positiv auf den palästinensischen Widerstand bezieht, womit einige Leute bei Radio Blau ein Problem hatten. Wie ist das Verhältnis zwischen der Entscheidungsfreiheit der Redakteur_innen und der Vollversammlung?

A: Neue Sendungsmacher_innen müssen ihre Inhalte erst mal in der Vollversammlung vorstellen. In einer richtigen Redaktion wie Aktuell werden Themenvorschläge und Inhalte intern diskutiert und teilweise abgewiesen. Neulich zum Beispiel ging es um eine politische Veranstaltung, die wir thematisieren wollten. Ein Redakteur meinte dann, ob wir uns mal die Akteure angeschaut haben, wer die Veranstaltung macht, und ob wir so ein Thema wirklich tragen können. Haben wir dann nicht gemacht.

Wenn langjährige Sendungsmacher_innen wissen, dass sie ein umstrittenes Thema behandeln, tragen sie das auch in die VV und diskutieren es dort. Und wenn die VV sagt, „Wir wollen das so nicht senden“, dann wird es nicht gemacht.

L: Bei einer Vollversammlung im Monat lässt sich nicht alles im Detail diskutieren, obwohl das wünschenswert wäre. Das passiert innerhalb der Redaktionen, aber sonst wird eher im Nachhinein Kritik geäußert, oder Lob, wenn eine Sendung besonders gut war.

A: Naja, es wäre schon möglich das in der Vollversammlung zu diskutieren, so viele Wortbeitragssendungen haben wir ja nicht. Mir fällt da die queerfeministische Sendung Tipkin ein, Politsendungen wie Statement, T9, Linksdrehendes Radio, Der dialektische Diwan

L: Und Kultursendungen wie Lesbar und Al Dente… Wobei Musik ja auch einen Inhalt vermittelt, über die Texte, oder wie beim Beispiel Muslimgauze, wo die Cover der Platten recht fragwürdig waren.

A: Das steht auch bei uns im Statut, dass Musik eine eigene Darstellungsform ist. Wir haben auch gute Musikredaktionen wie Bleep Hop oder die Zonic Radio Show, Leute, die sich auch sehr intensiv mit Geschichte und politischer Bedeutung von Musik auseinandersetzen. Es wird also nicht nur ein Song nach dem anderen gespielt, sondern auch kontextualisiert.

FA!: Wie viele Leute engagieren sich bei Radio Blau?

A: Ich schätze, ungefähr 130 Menschen. Die Zugangshürden sind auch relativ niedrig. Man muss eine „Erste Dosis Blau“ machen, da wird man in die Organisationsformen eingeführt, und dann den Technikkurs, damit man das Mischpult bedienen kann. Deshalb kommen viele Redakteur_innen zu uns, gehen wieder, bringen Leute mit… Es ist ein sehr fließender Kreis von Leuten.

FA!: Es gab ja vor zwei Jahren eine größere Krise, die Radio Blau fast in seiner Existenz bedroht hätte. Wie hat sich denn die Situation seitdem entwickelt?

A: Radio Blau war nicht in seiner Existenz bedroht. Das Problem war, dass wir die Sendungs- und Leitungskosten von 25.000 Euro im Jahr bezahlen mussten, die für die Übertragung auf UKW ent­stehen. Der Verein selbst war aus meiner Sicht nicht in der Existenz bedroht. Wir hätten dann eben wohl oder übel Netzradio machen müssen. Allerdings wollen wir das nicht. Im Gegensatz zum Internetradio ist UKW für alle Leute zugänglich, die ein einfaches Radio besitzen. Die zuständigen Me­dienpoli­tiker_innen argumentieren, man wolle bis 2015 die UKW-Frequenzen auslaufen lassen, zugunsten des Digitalradios. Der­zeit sieht´s aber so aus, als würde sich das noch Jahre hinziehen.

L: Wobei Radio Blau schon existenziell bedroht wäre, wenn wir nicht mehr auf UKW senden könnten. Ich würde schon von einer Krise reden, und die ist auch heut noch nicht ausgestanden. Auch wegen der sächsischen Medienpolitik, wo Freies Radio gar nicht vorgesehen ist. Es gibt einen Satz im Rundfunkgesetz, der sagt, dass nichtkommerzielles Radio ermöglicht werden kann. Wo unklar ist, was heißt das? Schließt das eine Förderung ein? Tatsächlich werden wir gerade mal mit einem Drittel der Sendekosten finanziert – von der Landesmedienanstalt, die als sogenannte staatsferne Behörde den Privatrundfunk beaufsichtigt und dafür einen Teil der GEZ-Gebühren erhält. Das sind ca. 7 Mio., davon kriegen Radio T und Radio Blau zusammen 16.000 Euro, während die Kosten bei ca. 50.000 Euro für alle drei Freien Radios liegen. ColoRadio in Dresden kriegt gar nichts, weil die bei der Landesmedienanstalt nicht so beliebt sind.

Das sind schlechte Voraussetzungen. Die Kosten für Strom, Miete, Telefon usw. sind ohne Förderung nicht zu schaffen. Bis Ende 2009 wurde unser Anteil an den Sende- und Leitungsgebühren noch von Apollo Radio übernommen. Diese Vereinbarung lief aus, und das führte dann zum Rechtsstreit mit Apollo und zur zeitweiligen Abschaltung der Freien Radios. Letztlich senden wir wieder, weil wir die Kosten selbst tragen – durch Spenden, und nun im zweiten Jahr durch eine anteilige Förderung der Stadt.

A: Ohne Unterstützung durch die Hörer_innen, die Medienpolitik und die Stadt sieht´s schwierig aus. Wir können nur appellieren, uns zu unterstützen. Wir sind als Plattform wichtig für Menschen, die in dieser Stadt ihr Radio machen und ihre Inhalte nach außen tragen möchten. Dabei vermittelt das Radio auch Medienkompetenz. Man schätzt ja den Gehalt von Medien ganz anders ein, wenn man weiß, wie sie funktionieren.

FA!: Und was sind Eure Visionen für Radio Blau für´s nächste Jahr?

A: Natürlich wollen wir weiterhin Menschen einladen, ihre Ideen ins Radioprogramm einzubringen. Eine Umweltredaktion haben wir zum Beispiel noch nicht. Warum nicht? Vielleicht waren wir für die Leute noch nicht Plattform genug? Es gibt ja auch in anderen inhaltlichen Feldern viele Gruppen und Medien in Leipzig, die inhaltlich arbeiten, brillante Essays schreiben… Und es wäre spannend, diese ins Radio zu holen, damit sie ihre Ideen und Texte auch dort präsentieren können. Auch ein Umdenken bei den Formaten wäre spannend…

L: Weniger Wortbeitragssendungen, die nur aus Interviews bestehen… Wobei jetzt schon mehr Leute auf die Idee kommen, uns als Radio anzufragen. Ich weiß nicht, wie oft wir in diesem Jahr als Medienpartner für Veranstaltungen angefragt wurden…

A: Podiumsdiskussionen im Radio zu senden, wäre eine Idee. Oder politische Hörspiele als Verbindung von Politik und Kunst. Das könnte für Menschen spannend sein, die sich mit literarischem Schreiben beschäftigen, aber auch politische Ansprüche haben. Oder Demo-Radio. Mal abgesehen von den Anti-Nazi-Demonstrationen könnten wir auch andere Veranstaltungen im Radio begleiten. Mir fällt da noch mobiles Radio ein… Wir haben letztes Jahr mit dem Straßenecken-Radio angefangen, sind in Projektläden im Leipziger Westen und Osten gegangen und haben Leute eingeladen, über das zu reden, was sie bewegt. Gentrifizierung, Probleme mit Gewalt, mit Drogen im Viertel… Das würden wir gern fortführen. Sehr spannend finde ich auch immer Live-Übertragungen von Fußball-Events des Roten Sterns. Neben den Berichten vom Spiel werden nebenbei dann Initiativen vorgestellt, die sich zum Beispiel gegen Rassismus in der Kurve engagieren.

FA!: Was braucht Ihr, um diese Ideen umsetzen zu können?

A: Kraft, und nette Leute, die uns unterstützen…

L: Wir hatten bis vor kurzem auch noch Leute, die als AGH-Stellen bezahlt wurden. Das gibt’s jetzt nicht mehr. Die Leute, die mitmachen, machen jetzt nicht mehr nur Programm, sondern tatsächlich alles in diesem Radio. Die Verwaltung usw. läuft jetzt alles ehrenamtlich.

A: Ich glaube, wir sind das erste und einzige Freie Radio in Deutschland, das vollkommen selbstorganisiert läuft. Und es läuft, erstaunlicherweise!

FA!: Wer mitmachen will, meldet sich einfach bei euch?

L: Genau, über radioblau@radioblau.de. Jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat gibt’s die „Erste Dosis Blau“, jeweils 18.00 Uhr, im Hinterhof der Paul-Gruner-Straße 62. Da wird wie gesagt in die Strukturen eingeführt, und bei Bedarf kann man auch weitere Fragen stellen.

A: Und immer montags bis freitags von 17 bis 19.00 Uhr ist das Büro geöffnet und für Anfragen offen.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

(momo & justus)

Neue Kameras im Leipziger Osten

Seit dem 8. September wird ein weiterer öffentlicher Platz in Leipzig von der Polizei videoüberwacht. Zu den bisher vier Kamerastandorten in Leipzig ist damit ein fünfter an der Kreuzung von Eisenbahn- und Hermann-Liebmann-Straße hinzugekommen. Begründet wird dies damit, dass die Eisenbahnstraße ein „Kriminalitätsschwerpunkt“ sei, insbesondere was Drogendelikte angeht (siehe FA!#34).

Mit der Installation von zwei Kameras im Kreuzungsbereich will die Polizei einer „offenen Rauschgiftanbieterszene entgegenwirken“, also Dealer_innen und Konsument_innen in andere Gegenden verdrängen. Zusätzlich verweist sie wie üblich auf das „Sicherheitsgefühl“ der Bürger_innen, das durch die Kameras angeblich verbessert würde. Als Beleg dafür, dass Videoüberwachung nicht nur die „gefühlte“, sondern auch die reale Sicherheit erhöht, werden Statistiken in´s Feld geführt, denen zufolge z.B. die Zahl der Einbruchsdiebstähle aus Kraftfahrzeugen im Umfeld des Leipziger Hauptbahnhofes von 807 im Jahr 1996 auf 33 im Jahr 2008 gesunken sei. Wobei diese Statistiken freilich von der Polizei selbst erstellt wurden und schon deswegen nicht sehr aussagekräftig sind.

Zeitgleich zur Installation der Kameras führte die Polizei „eine großangelegte Komplexkontrolle mit eigenen Kräften sowie einer Hundertschaft der Bereitschaftspolizei durch“ (1). Um die Notwendigkeit der neuen Kameras propagandistisch zu untermauern, „wurde der Fahr­zeug­verkehr auf der Eisenbahnstraße in den Zeiten, 10.30 Uhr bis 11.45 Uhr und 13.00 Uhr bis 14.30 Uhr, im Bereich der Hermann-Liebmann-Straße umgeleitet. Die (…) Kontrollen richteten sich ausschließlich gegen Personen, die augenscheinlich der Rauschgiftszene zugeordnet werden konnten.“ 214 Leute wurden so überprüft und gefilzt, bei 11 davon wurden „Betäubungsmittel zum Eigenbedarf“ gefunden. „Weiterhin konnten zwei Drogendealer mit zum Straßenverkauf abgepackten Heroineinheiten sowie szenetypischem Bargeld von über 1.200 Euro vorläufig festgenommen werden.“ Das dürfte reichen, um kritische Nachfragen zu unterbinden…

(justus)

 

(1) www.polizei.sachsen.de/pd_leipzig/4799.htm

Schafft ein, zwei, viele Erwerbslosentheater!

Stichworte wie „Hartz IV“, „1-Euro-Job“ oder „zweiter Arbeitsmarkt“ dürften bei den meisten Leuten eher negative Assoziationen hervorrufen. Nicht ohne Grund denkt mensch da an Erwerbslose, die zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen abgestellt werden, wilde Plakatierflächen säubern dürfen oder bspw. unter dem Namen Bürgerdienst LE (siehe FA!#24) in Uniformen gesteckt und als Aushilfspolizisten auf Streife geschickt werden. Aber zumindest in Teilen der Institution ARGE scheint man mittlerweile erkannt zu haben, dass reine Beschäftigungstherapie wenig zur angestrebten Wiedereingliederung der Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt beiträgt. Sogar Kunst kann im Rahmen von AGH-Maßnahmen (1) entstehen – Theater zum Beispiel. Solche Ausnahmen von der schlechten Regel sind weniger ungewöhnlich, als es scheinen mag. Allein in Leipzig laufen derzeit fünf von der Arbeitsagentur unterstützte Theaterprojekte, an denen gut 80 Erwerbslose teilnehmen.

Who is who?

Klären wir erst mal die großen W-Fragen: Wer macht hier wo was, warum und wozu? Die eine Seite bilden dabei die einzelnen Projekte und deren Träger. Da wäre z.B. der Eutritzscher Geyserhaus e.V. (als freier Träger im Kinder- und Jugendbereich auch für die Betreuung von anderen ARGE-Maßnahmen zuständig), dessen Theaterprojekt Faule Haut nun schon im dritten Jahr läuft. Ebenfalls in der dritten Runde befindet sich derzeit das Projekt Theater am Kanal der Agricola-Institut GmbH. Schon die vierte Maßnahme führt, in Kooperation mit der VILLA-Betriebsgesellschaft mbH, die Theatergruppe DramaVision (siehe FA! 33) durch. Im selben Haus probt und arbeitet zeitgleich auch die Figurentheatergruppe Xp3rim3nt 1 1/4. Als weiterer Träger ist in diesem Jahr der Mischhaus e.V. dazugekommen, dessen Kunst- und Sozialwerkstatt gezielt auf die Interessenlage der Arbeitsagentur (und die entsprechenden Geldmittel) hin konzipiert wurde.

Das Wer und Wo wäre damit geklärt – widmen wir uns also der Frage nach dem Warum und Wozu, nach Motiven und Zielen der beteiligten Instanzen, allen voran der Arbeitsagentur als zentralem Akteur. Diese hat beim Erwerbslosentheater nun nicht einfach ihre kulturelle Ader entdeckt. Die aus solchen „kreativen“ Maßnahmen folgende Imageverbesserung nimmt das Amt als Bonus allerdings gerne mit – auch daraus dürfte sich die vor allem in der Chefetage der Leipziger ARGE gepflegte theaterfreundliche Haltung erklären. Dem steht bei den  Arbeitsvermittler_innen das Interesse zur Seite, die eigenen „Klienten“ nicht unnötig zu dequalifizieren – die Theatermaßnahmen dienen dazu, die eigene Angebotsvielfalt zu erhöhen und auch solchen Erwerbslosen Beschäftigung anbieten zu können, die künstlerisch höher gebildet und/oder kreativ veranlagt sind, denen man einförmiges Unkrautzupfen folglich nicht zumuten will.

In erster Linie verfolgt das Amt also auch hier das übliche Ziel, die Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. So sollen die Teilnehmer_innen wieder an Verbindlichkeiten wie pünktliches Erscheinen und Entschuldigung im Krankheitsfall gewöhnt werden. Auch werden Verwaltungs- und sozialpädagogische Betreuungsaufgaben an die Projektträger ausgelagert, was eine erhebliche Entlastung für die ARGE darstellt. Über die geforderte Teilnehmerbeurteilung werden zudem persönliche Daten der Erwerbslosen (vorhandene Qualifizierungen, Begabungen und allgemeine Arbeitseinstellung) für das Amt erhoben, die von diesem selbst nicht erschlossen werden könnten. Die theaterpädagogische Betreuung soll den Zielvorgaben der ARGE nach u.a. dazu dienen, Selbstbewusstsein und Auftreten der Erwerbslosen und damit ihre Chancen bei Bewerbungsgesprächen zu verbessern.

Die künstlerischen Inhalten, die produzierten Stücke selbst sind für die meisten Bürokrat_innen dagegen nur als Mittel zum Zweck interessant. Positiver Nebeneffekt dieser Ignoranz ist immerhin, dass den diversen Theaterprojekten in ihrer kreativen Tätigkeit weitgehend freie Hand gelassen wird und so auch sehr kritische Äußerungen zur Realität der Institution ARGE auf die Bühne kommen.

Für die Träger dagegen sind die Theaterprojekte nicht nur eine Möglichkeit, sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu profilieren, sondern sich auch der ARGE als verlässliche Partner anzudienen. Eben das ist für viele Einrichtungen überlebenswichtig, bekommen sie dadurch doch nicht nur praktisch kostenlose Arbeitskräfte, sondern auch zusätzliche finanzielle Mittel vom Amt. Ohne solche Unterstützung müssten einige soziokulturelle Zentren in Leipzig schlicht dichtmachen.

Dabei können die verschiedenen Einrichtungen auf ganz verschiedenem Wege zum Theater kommen. Im Fall der Gruppe DramaVision ging die Initiative von dem Dramaturgen und Theaterpädagogen Matthias Schluttig aus, der schließlich in der VILLA einen geeigneten Träger fand, um 2005 das erste Erwerbslosentheater in Leipzig auf die Bühne zu bringen. Dagegen entstand beim Agricola-Institut die Idee eines eigenen Theaterprojekts daraus, dass im Rahmen des Aus- und Weiterbildungsbetriebes auch Bühnenkulissen gebaut wurden. Hier suchte man sich also einen Theaterpädagogen, um quasi ein passendes Stück zu den Kulissen zu inszenieren. Diesen verschiedenen Ausgangspunkten entsprechen auch in ihrer künstlerischen Qualität sehr unterschiedliche Ergebnisse.

Blick von unten

Die beteiligten Erwerbslosen sollen dabei nicht vergessen werden. Die jeweiligen Gruppen sind anfänglich meist kaum mehr als ein bunter Haufen von Anfänger_innen, Laien mit Theatererfahrung und (ehemaligen) Profis, von irgendwie am Theatermachen Interessierten oder auch gänzlich Uninteressierten, die nur aufgrund des von ARGE-Vermittler_innen ausgeübten Drucks oder des zusätzlichen Verdienstes dabei sind.

Das sind nicht gerade günstige Startbedingungen für einen produktiven gruppendynamischen Prozess, wie ihn Theaterarbeit im besten Fall darstellt. Künstlerischer Anspruch (sofern vorhanden) und institutioneller Rahmen gehen also nicht reibungslos zusammen. Denn die Schwierigkeiten der Theaterarbeit mit Laien potenzieren sich natürlich, wenn mensch nicht nur unausgebildete, sondern auch unmotivierte Schauspieler_innen zu vorzeigbaren Leistungen bringen soll. Mangelnde Motivation macht es auch schwierig Kontinuität aufzubauen, und darunter leidet wiederum die Qualität. Nicht umsonst verzeichnet z.B. das Theaterprojekt des Agricola-Instituts eine Abbrecherquote von knapp 50%. Und so verständlich das Bedürfnis ist, die ARGE-Vorgaben zu erfüllen um die finanzielle Förderung nicht zu gefährden, so unsinnig ist es andererseits, wenn etwa der Hauptdarsteller eines Stücks wegen wiederholten Zuspätkommens gekündigt wird (wie beim Theater des Mischhaus e.V. einen Tag vor der Premiere geschehen) – immerhin wird damit auch die bereits investierte Arbeit zunichte gemacht.

Anders bei DramaVision, wo ein zum Großteil aus Teilnehmer_innen früherer Projekte gebildetes stabiles Ensemble entstanden ist. Motivierte Mitwirkende, die zudem schon über Theatererfahrung verfügen, ermöglichen weitgehend selbständige Arbeit an mehreren Stücken gleichzeitig, ein Umstand, der diese Gruppe auch künstlerisch auszeichnet. Es wäre den Leiter_innen der einzelnen Erwerbslosen-Theaterprojekte also generell größerer Mut bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Arbeitsagentur anzuraten – dies würde auch der Qualität der eigenen Arbeit nur dienlich sein.

Dabei sind sie natürlich auf das (längst nicht selbstverständliche) Wohlwollen der jeweiligen Sachbearbeiter_innen angewiesen. Dabei können gerade die „unkonventionellen“ Theaterprojekte einen realen Zugewinn an Selbstbewusstsein und Kompetenzen, Erfahrungen und persönlicher Reife bedeuten, also womöglich auch im Sinne der ARGE mehr erreichen als bloße Beschäftigungstherapie. Mehr noch: Eine gute Theaterarbeit kann Lernprozesse anstoßen, die nicht nur dafür taugen, die eigene Haut möglichst gewinnträchtig zu Markte zu tragen. Theater und lebendiges, überzeugendes Schauspiel braucht schließlich mehr als das widerspruchslose Erledigen von Vorgaben – es erfordert die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Einbringen und Austauschen eigener Erfahrungen, Kommunikation und vielfältige Aushandlungsprozesse zwischen den Teilnehmer_innen. Auch um solche Lernprozesse zu ermöglichen, wäre es nötig sich nicht umstandslos den Vorgaben der ARGE zu beugen, sondern solche Theatermaßnahmen als (wenn auch prekäre) Freiräume zu begreifen, die nach ihren eigenen (von allen Beteiligten mitbestimmten) Regeln funktionieren. Das setzt natürlich voraus, dass es Trägern und Projektleiter_innen um mehr geht als nur den Zugriff auf staatliche Finanzmittel.

Anschauen!

Trotz aller Reibungsverluste, die zwischen Kunst und institutionellem Rahmen auftreten, ist es beachtlich, was das Leipziger Erwerbslosentheater in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Es ist eben die besondere Möglichkeit des Theaters, Öffentlichkeit herstellen, Geschichten erzählen zu können, ein Publikum zu berühren. Vielleicht ist dies einer der letzten Orte, wo ein politisches Theater, das diesen Namen verdient, noch stattfinden kann. Ein Theater, das soziale Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern ein stückweit auch real verändert, das nach Innen Freiräume zur Selbstentfaltung schafft und nach Außen zur Selbstermächtigung anregt.

Es dürfte also lohnen, sich das bunte Programm der Ensemble im Sommer mal genauer anzuschauen – umso mehr, da die Zukunft der Erwerbslosentheater eher ungewiss aussieht. Der Etat der Bundesagentur für Arbeit weist riesige Löcher auf und die schwarz-gelbe Regierung plant massive Einschnitte gerade bei Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Ob wir also gerade den letzten großen Sommer des Leipziger Erwerbslosentheaters erleben, bleibt abzuwarten. Bis dahin lautet die Parole: Erwerbende und Erwerbslose aller Länder, auf ins Theater!

(justus & clov)

 

(1)  AGH heißt aus dem Amtsdeutsch übersetzt „Arbeitsgelegenheit“. Die AGH MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung), volkstümlich auch „Ein-Euro-Job“ genannt, ist dabei die unterste Stufe in der Pyramide staatlich gestützter Teil- und Vollzeitjobs, deren höchste Stufe die AGH Entgelt darstellt, bei der 1400,- Euro brutto monatlich verdient werden können.

Demonstrieren? Hier nicht!

Zum neuen sächsischen Versammlungsgesetz

Die sächsische Landesregierung hatte es offenbar eilig. In beispiellosem Tempo wurde das neue Versammlungsgesetz durch die Instanzen gepeitscht, am 20. Januar wurde es im Landtag durchgewunken. Die im September 2006 beschlossene Föderalismusreform macht es möglich. Mit der darin enthaltenen Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern wurde auch das Versammlungsrecht zur Sache der Länder. Nach Bayern ist Sachsen nun das zweite Bundesland, das die Chance ergreift und ein deutlich verschärftes Gesetz hinklotzt. Schon in ihrer Koalitionsvereinbarung hatten CDU und FDP eine Novellierung des Versammlungsrechts beschlossen. Eine von der Landesregierung beschlossene Änderung der Geschäftsordnung erlaubte es, das Gesetz im Schnellverfahren durch die Instanzen zu bringen. Die Hektik kommt nicht von ungefähr. Schließlich stand Mitte Februar der Jahrestag der Bombardierung von Dresden vor der Tür. Den reibungslosen Ablauf des alljährlichen bürgerlichen Gedenkspektakels wollte sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition dieses Mal nicht von imageschädlichen Neonaziaufmärschen und antifaschistischen Gegendemonstrationen versauen lassen.

Dieses Interesse macht schon der erste Satz des Ende Oktober 2009 vorgelegten Entwurfs (1) klar: Die Handlungsspielräume für „Extremisten in Sachsen“ sollen deutlich beschränkt werden. Schließlich sei es in den vergangenen Jahren „zu erheblichen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Versammlungen von Rechtsextremisten und Gegendemonstrationen von Linksextremisten“ gekommen. Das Gesetz richtet sich explizit gegen die Teile des politischen Spektrums, die der Landesregierung nicht in den Kram passen. Mit inhaltlichen Differenzierungen zwischen „links“ und „rechts“ hält sich die Regierungskoalition dabei nicht groß auf.

Das geplante neue Versammlungsgesetz soll eine rechtliche Grundlage für Demonstrationsverbote schaffen. Als rechtmäßig gilt ein Verbot zum Beispiel dann, „wenn in der Vergangenheit vergleichbare Versammlungen oder Aufzüge zu einer solchen Gefährdung oder Störung geführt haben“. Weniger schwammig formuliert: Wenn es z.B. schon früher im Rahmen antifaschistischer Aktionen zu Ausschreitungen gekommen ist, können die Behörden unterstellen, dass dies auch bei anderen antifaschistischen Demonstrationen der Fall sein wird. Eine grob über den Daumen gepeilte Risikoeinschätzung seitens der Polizei könnte künftig also genügen, um unerwünschte politische Meinungsäußerungen präventiv zu verbieten.

Wesentlich brisanter ist aber eine andere im Gesetz enthaltene Neuerung: Auch an Orten von besonderer historischer Bedeutung können Kundgebungen künftig verboten werden, wenn diese „die Würde von Personen beeinträchtigen, die unter nationalsozialistischer oder kommunistischer Gewaltherrschaft Opfer menschenunwürdiger Behandlung waren“. Aber auch die Würde von Menschen, die ganz allgemein „Opfer eines Krieges“ waren, soll mit dem Gesetz geschützt werden.

Das betrifft offenbar auch die Opfer der Napoleonischen Kriege von 1813 – so wird als Ort von besonderer historischer Bedeutung auch das Leipziger Völkerschlachtdenkmal benannt. Aber auch „die Frauenkirche mit dem Neumarkt in Dresden sowie am 13. und 14. Februar darüber hinaus auch die nördliche innere Altstadt und die südliche innere Neustadt in Dresden“ werden als Orte von besonderer historischer Bedeutung im Gesetzesentwurf benannt.

Nicht nur den Gegnern von heute, den „Extremisten“ von links und rechts, soll also mit dem neuen Gesetz entgegengetreten werden. Die Landesregierung verfolgt zusätzlich ein geschichtspolitisches Interesse, auch den Gegnern von gestern soll nachträglich noch mal gezeigt werden, was eine Harke ist. Wie üblich bleiben dabei die historischen Fakten auf der Strecke: NS-Regime oder DDR, alles eine Soße… Dass die nationalsozialistische „Gewaltherrschaft“ doch deutlich gewalttätiger war als die kommunistische (man denke an den 2. Weltkrieg und Auschwitz), spielt keine Rolle, wo´s darum geht, die ideologische Lufthoheit der bürgerlichen „Mitte“ abzusichern. Wobei diese Mitte mitunter auch ziemlich weit rechts liegen kann: So legte die sächsische CDU in der Koalitionsvereinbarung Wert auf die Feststellung, man wolle die „Pflege von Kultur und Traditionen der Vertriebenen“ unterstützen (2). Mit dem neuen Gesetz will sich die schwarz-gelbe Regierungskoalition nun die Dresdner Innenstadt für ein Gedenken nach eigenem Gutdünken reservieren.

Vor lauter Eile kann es dabei schon mal zu Flüchtigkeitsfehlern kommen. So wurde in weiten Teilen einfach der Text des alten Bundesversammlungsgesetzes übernommen, das z.B. erklärt, Demonstrationsverbote seien Sache der zuständigen Behörden. Welche Behörden nun genau zuständig sind, hätte aber im Landesgesetz explizit geregelt werden müssen. Die Stadt Dresden ist also gar nicht befugt, die für den 13. Februar geplanten Neonazidemonstrationen zu verbieten. Zu einem ähnlichen Schluss kam auch das Dresdner Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 5. Februar. Trotz aller Gesetzesänderungen sah das Gericht keine Handhabe, den von der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland angemeldeten „Trauerzug“ zu untersagen (3).

Vermutlich gibt es also noch eine Chance, das neue Versammlungsrecht aufgrund solcher Formfehler zu kippen. Die sächsischen Oppositionsparteien haben bereits entsprechende Klagen auf den Weg gebracht. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass die Landesregierung jetzt eilig nachbessert, um das Gesetz in eine juristisch wasserdichte Form zu bringen. Es bleibt die Hoffnung, dass sich breiter gesellschaftlicher Widerstand formiert, um der CDU-FDP-Koalition einen Strich durch die Rechnung zu machen.

justus

(1) edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=286&dok_art=Drs&leg_per=5
(2) www.aussiedler.cdu.de/doc/pdf/Spaetaussiedler_Sachsen_Fromme.pdf
(3) www.linksjugend-sachsen.de/uploads/media/PM_Verwaltungs­ge­richt_DD_Nazi­demo.pdf

Lokales

Zwischen Farbkacke und Stahlgewittern

Der „deutsche Maler“ Neo Rauch wird 50

50 Jahre alt ist er geworden, Neo Rauch, der erfolgreichste noch lebende Maler Deutschlands. Zu seinem Geburtstag werden ihm derzeit gleich zwei Ausstellungen gewidmet, eine in München, eine im Leipziger Museum der Bildenden Künste. In seiner Eröffnungsrede bedankte sich OBM Burkhard Jung bei Rauch, dass dieser trotz seines Erfolges der Stadt u.a. mit seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst treu geblieben sei. Aus gutem Grund: Rauchs Bilder erzielen Preise von bis zu 680.000 Euro, werden weltweit ausgestellt und gekauft. Als Aushängeschild der Neuen Leipziger Schule (1) hat Neo Rauch damit fast im Alleingang den Kunststandort Leipzig als global player auf die Landkarte gerückt.

Rauchzeichen

Die Leipziger Ausstellung macht die Entwicklung Rauchs in den letzten 17 Jahren nachvollziehbar. Vom Abstrakten ausgehend nähert sich seine Malerei stetig einer surreal getönten Neoromantik an. Die betont sachlichen Motive der frühen Arbeiten werden dabei zunehmend von ausufernder Symbolik verdrängt, die monochromen Erdtöne treten zugunsten leuchtender Farben zurück, Bildraum und Figuren gewinnen an Tiefe. Die verödeten urbanen Räume werden durch Wald- und Berglandschaften ersetzt und füllen sich zusehends mit Personal. Feuerwehrmänner und Bergsteiger stehen da neben Gestalten, die Grimms Märchen oder den Bildern des Biedermeier-Malers Spitzweg entsprungen sein könnten – eine Motivwahl, die oft den Eindruck erweckt, als solle hier ein imaginäres Deutschland heraufbeschworen werden.

Rauch würfelt Versatzstücke verschiedener Zeiten durcheinander, das frühe 19. mischt sich mit dem 20. Jahrhundert (warum dort der Soldat in historischer Uniform einen Schlagbohrer in der Hand und Turnschuhe an den Füßen hat, weiß wohl nur der Künstler selbst). Anklänge an die romantische Malerei Caspar David Friedrichs lassen sich ebenso finden wie Anleihen beim sozialistischen Realismus und der Pop Art. Wo aber die Pop Art sich munter aus dem kapitalistischen Warenkatalog bedient, sind Rauchs Bilder meist von schwermütigem Pathos gefärbt, das Spiel mit den Zitaten hat hier wenig Spielerisches an sich. Anflüge von Humor lassen sich zwar erahnen (etwa in dem Bild „Versprengte Einheit“, wo Männer in verschneiter Landschaft mit übergroßen Silvesterböllern herumhantieren), durch unklare Lichtverhältnisse und Perspektiven werden sie aber sofort wieder in eine bleischwere Atmosphäre getaucht. Die Art, wie Rauch seine Bilder mit „archetypischen“ Figuren vollpackt, verstärkt diese Stimmung noch – der Maler scheint geradezu eine Strategie der Überwältigung durch Redundanz zu verfolgen.

Da wirken gerade die Momente wohltuend, in denen er den Zeichen Luft zum Atmen lässt. In dem Bild „Das Gut“ (2008) gleitet er glatt ins Groschenromanhafte ab: Zwei altertümlich gewandete Herren kämpfen mit Degen und Messer um eine in der Mitte stehende Dame, einer der beiden liegt halb auf der Motorhaube eines Sportwagens. Im Hintergrund ein düster beleuchtetes Haus, in der geöffneten Garagentür sieht man die gleiche Szene ein paar Sekunden später: Die Dame und der Typ mit dem Degen beugen sich über den Messerstecher, der tot am Boden liegt. Wenn Rauch solcherart in Trash macht, die Messerkämpfe aus den Geschichten von Jorge Luis Borges mit Schiller-Drama und billigen Kriminalromanen verrührt, um am Ende ungefähr bei David Lynch herauszukommen, hat das durchaus Stil – selbst wenn der Maler es sich nicht verkneifen kann, noch eine Portion Symbolik oben drauf zu packen und dem Kerl mit dem Messer Fischschwänze an Stelle der Beine zu malen. Vermutlich würde Rauch mehr solche Bildern zustande bringen, wenn ihm nicht ständig der Wille zum Kunstwerk dazwischen käme.

Große Geister

Dieser Wille kann dabei durchaus zu beeindruckenden Ergebnissen führen (solch komplexe, großformatige Kompositionen wollen schließlich erstmal bewältigt werden), aber auch fatale Folgen haben: So fällt z.B. der LVZ-Reporter Meinhard Michael mit Rauchs Bildern konfrontiert sofort ins Delirium und beginnt in fremden Zungen zu sprechen: „Kafkaeskes Grauen und die Schrecken der Sciencefiction entstehen als malerischer Genuss. Farbkacke muss sich überall hindrücken. Teigig labert sich manch andrer Stoff, die Bäume krümmen sich nach dem psychischen Bedarf des Regisseurs. Licht gleißt von fern, es bewegt sich, Horror-Schlinger steigen auf ins friedliche Land, und Gnome aus der Parawelt kommen zu Besuch.“ So kann man es natürlich auch ausdrücken: Rauchs Malerei regt nicht gerade zu sinnvollen Gedanken an.

Auch der Maler selbst ist offenbar der schlechten Angewohnheit verfallen, jeden Gedanken für tief zu halten, wenn er nur diffus genug daherkommt. Das beweist er z.B. im Interview mit der LVZ, wenn er meint, die Entwicklung seiner Malerei scheine „einem Magnetberg“ zuzuströmen, „den ich, der ich mich selbst im Dickicht meiner Verfänglichkeiten aufhalte, nicht sehen aber spüren kann.“ Rauch wähnt sich also von nebulösen kosmischen Kräften gelenkt. Seine Verbundenheit mit Leipzig erklärt er z.B. so: „Mir wachsen hier die besten Einfälle zu“ – nicht Rauch selbst hat Einfälle, sondern diese wachsen ihm zu. Darum sind die so zahlreich in seinen Arbeiten auftauchenden Zitate für ihn eben keine Zitate, die sich von benennbaren Quellen herleiten ließen, sondern das sichtbare Endprodukt unsichtbarer „Materialströme“, die von ihm nur ausgelichtet werden müssten. Dass er schon mal irgendwo Feuerwehrmänner und Motorradfahrer gesehen hat, diese Figuren also aus seiner Erinnerung den Weg in seine Bilder gefunden haben könnten – diese Möglichkeit will Rauch offenbar nicht in Betracht ziehen.

Sein Image als von kosmischen Kräften gelenktes Genie kultiviert er auch in seiner Malerei, etwa in dem Bild „Morgenrot“ von 2006. Die Komposition wird von einer in Rot gekleideten, großen weiblichen Engelsfigur beherrscht. Zu deren Füßen hat Rauch sich selbst porträtiert, als Schmied mit Zange und Amboss hantierend – der Künstler als Diener höherer Mächte. Auch alchemistische Motive klingen an, der Schmelztiegel des Schmiedes als symbolische Gebärmutter und Ort der Wiedergeburt (Rauch hat wahrscheinlich Mircea Eliade und C.G. Jung gelesen (2)). Anderswo zeigt er sich selbst im Bett liegend, an dessen Fußende drei Männergestalten wild gestikulierend den „Aufstand“ (so der Titel des Bildes) proben. Den Seinen gibt´s der Herr bekanntlich im Schlaf, oder wie Rauch selbst es sagt: „Ich bin zwar Regisseur mit stählerner Faust, aber bis ich die zum Einsatz bringe, bin ich ein Somnambuler. Einer, der eher gleitet und schwebt, als dass er energisch dazwischenfährt.“

Ein deutscher Maler

Dieser Tonfall entspricht perfekt einem Denken, das sich tatsächlich weitgehend im Modus des „Ahnens und Wähnens“ (O-Ton Meinhard Michael) bewegt, es also gar nicht für nötig hält, sich seinen jeweiligen Gegenstand mal genauer anzuschauen. Die Selbstironie eines Sigmar Polke (3), bei dem der angebliche Kontakt mit höheren Wesen nur dazu führte, dass der Künstler statt Blumen doch lieber Flamingos malte, ist Rauch schon darum fremd, weil er tatsächlich an solche Wesen glaubt. Rauch meint es völlig ernst, wenn er z.B. erklärt, als Konservativer orientiere er sich weniger am „ewig Gestrigen“ als vielmehr am „ewig Gültigen“.

Dieser Glaube ans „ewig Gültige“ verbindet den Maler mit seinem Idol und „väterlichen Freund“(4) Ernst Jünger. Aus seiner Verehrung für diesen Autor, der in den „Stahlgewittern“ die Blutbäder des I. Weltkrieges bejubelte und in den 20er Jahren als nationalistischer Freischärler das deutsche Vaterland vorm Niedergang bewahren wollte, macht Rauch kein Geheimnis. Dass es der Schriftsteller Uwe Tellkamp in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung für nötig hielt, seinen Freund Rauch u.a. gegen den Vorwurf des Faschismus zu verteidigen, kommt also nicht von ungefähr – wobei Tellkamp selbst sich redlich bemühte, das eigentliche Problem zu umgehen, indem er Rauch gegen einen Vorwurf in Schutz nahm, der von niemandem ernsthaft erhoben wird.

Nicht umsonst zählt Rauch gerade „Auf den Marmorklippen“ (das Buch, mit dem Jünger auf Distanz zu den Nationalsozialisten ging, nachdem er zuvor einiges dazu beigetragen hatte, sie an die Macht zu bringen) zu seiner Lieblingslektüre – O-Ton Rauch: „diese Aufwirbelung der Pöbel-Massen, die schauderhaften Vorgänge im Unterholz menschlicher Perversionen, denen er [Jünger] sein parfümiertes Zurückgezogensein auf die Marmorklippe und in die darunterliegenden Sedimente der Kultur und des Wissens entgegensetzte“. Rauch ist also schon deshalb kein Faschist, weil ihm Hitler und die Nazis viel zu ordinär sind. Er steht eher dem späten Jünger nahe. Wie dieser ist Rauch ein „unpolitischer Rechter“: Eben weil er an eine natürliche Ordnung der Welt glaubt, hält er es nicht für nötig, etwas ändern zu wollen – wo ewige Gesetze walten, ist Politik (und überhaupt alles menschliche Handeln) ohnehin sinnlos.

Wie Jünger kann Rauch sich Ordnung nur als Über- und Unterordnung denken: Wenn die „Pöbel-Massen“ gegen die natürliche Ordnung aufbegehren, dann kann daraus eben nur Chaos folgen – die wahre geistige Elite schaut dem barbarischen Treiben derweil aus der Ferne kopfschüttelnd zu. Indem er das NS-Regime so als Naturereignis interpretiert, kann sich Rauch eine politische Kritik z.B. an Ideologien wie Antisemitismus und Nationalismus sparen.

Stattdessen hält er dem Nazi-Pöbel die „wahre“ deutsche Kultur entgegen, die er auch in seiner Malerei beschwört – auch die Nation ist für ihn eben nur als Naturgegebenheit denkbar. So hat er auch kein Problem mit seinem Image als „deutscher Künstler“, wie er in einem Spiegel-Interview erklärt: „Ich würde mich jedenfalls nicht dagegen wehren, weil ich glaube, dass die Welt nur dann wirklich farbig ist, wenn es stark ausgeformte Regionalismen gibt, auf hohem Niveau. Im Gegensatz zu irgendeinem kulturellen Esperanto.“ Dem künstlich-grenzüberschreitenden kulturellen Esperanto stellt Rauch hier implizit die Nation als naturwüchsige, abgegrenzte Kulturregion entgegen – wobei er freilich von den Nationalstaaten, die Grenzen und nationale Monokulturen erst produzieren, nicht reden will.

Dieses Weltbild schlägt sich auch in Rauchs Kunst nieder. Die „Rätselhaftigkeit“ seiner Bilder zielt weniger darauf ab Fragen aufzuwerfen, sondern vielmehr darauf, ein kritisches Hinterfragen unterbinden – die Fülle an Symbolik soll die Betrachter_innen überwältigen, nicht zum Denken anregen. Ein paar zündende Ideen würden auch seiner Malerei nur gut tun.

(justus)

 

(1)    Im Gegensatz zur vom sozialistischen Realismus geprägten „Alten Leipziger Schule“ der u.a. Maler wie Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig und Arno Rink zugerechnet werden.

(2)    Mircea Eliade, rumänischer Religionswissenschaftler und Schriftsteller, politisch aufgrund seiner zeitweise sehr ausgeprägten Sympathie für die faschistische „Eiserne Garde“ eine eher zwielichtige Gestalt. Zu Jung siehe FA! 34.

(3)    Neben Martin Kippenberger, Albert Oehlen und Gerhard Richter einer der wichtigsten (und besten) deutschen Pop-Art-Künstler.

(4)    www.zeit.de/2005/49/Titel_2fRauch_49

Leipzig schwarz-rot (Teil 3)

Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig

Was bisher geschah: In der Wendezeit konnte sich in Leipzig-Connewitz eine starke Hausbesetzer_innenszene etablieren. Die städtischen Behörden ignorierten die Entwicklung zunächst, in manchen Punkten (etwa der Stadtteilentwicklung) waren sie auch zur Kooperation bereit. Das änderte sich, als es in der Nacht zum 28. November 1992 zu einer heftigen Straßenschlacht zwischen autonomen Besetzer_innen und der Polizei kam. Der Stadtrat einigte sich in der Folge rasch auf die neue „Leipziger Linie“: Neu besetzte Häuser sollten sofort geräumt, bestehende Projekte legalisiert und teilweise in andere Viertel zwangsumgesiedelt werden. Mit dieser Dezentralisierungspolitik wollte man das in der Connewitzer Szene vorhandene Unruhepotential entschärfen, sorgte aber gerade so für neue Unruhe.

Der Hardliner

Kurz nach den Ereignissen im November 1992 hatte sich auch ein Bürgerverein gegründet, der den Besetzer_innen das Leben schwer machte. Zentrale Figur war dabei der Hotelbesitzer Frithjof Schilling. Insbesondere das Zoro war diesem ein Dorn im Auge – auch aus geschäftlichen Motiven heraus, lag es doch in unmittelbarer Nähe des von Schilling betriebenen Hotels. Die Folgen bekam das Projekt bald zu spüren. Am 24. 8. 1993 meldete die LVZ: „Genervte Anwohner fordern kategorisch die Räumung“. Von denen kam in dem Artikel freilich nur einer zu Wort. Frithjof Schilling nämlich, der sich als Hardliner profilieren durfte: „Das Zoro muss weg“. Ansonsten, drohte Schilling, müsse man wohl eine Bürgerwehr gründen, um sich gegen die Chaoten zur Wehr zu setzen: „Ich kämpfe um meine Existenz, denn ich habe einen belegbaren finanziellen Schaden“ durch die Lärmbelästigung, besonders bei Konzerten. Richtig jammern will aber gelernt sein: Allzu groß war die Existenznot wohl nicht. Immerhin bot Schilling im selben Artikel an, das Zoro abzureißen und auf dem Gelände für stolze 10 Millionen Mark Wohngebäude hinzuklotzen. Einen entsprechenden Antrag hätte er schon bei den Behörden eingereicht.

Die gingen nicht auf dieses großzügige Angebot ein, verlangten aber vom Zoro eine deutliche Reduktion des Lärmpegels („Ab 22 bzw. 23 Uhr muss Ruhe herrschen“) und ein „tragfähiges Finanzierungs- und Betreiberkonzept“. Inwieweit es dem Bemühen des genervten Hotelbesitzers geschuldet war, wenn die vereinigten Bürokraten von Wohnungs-, Ordnungs- und Gewerbeamt nun das Zoro in Existenznot brachten, ist fraglich. Mit solchen Problemen hatte das seit Dezember 1991 bestehende Projekt schließlich von Anfang an zu kämpfen gehabt – so hatte die für das Gelände zuständige LWB bis dato alle Verhandlungen abgelehnt.

Dass die Behörden sich ihre Politik nicht von einem wildgewordenen Hotelbesitzer vorschreiben lassen wollten, hinderte Schilling nicht daran, auch künftig alle Verantwortlichen vom Stadtrat bis zum Innenministerium mit offenen Briefen zu belästigen. Letztlich hatten die Besetzer_innen aber den längeren Atem: 1997 warf Schilling entnervt das Handtuch, der Verein löste sich auf.

Bedrohte Projekte

Angesichts der rigorosen „Leipziger Linie“ verlor auch der in der Straßenschlacht vom November 1992 begründete „Mythos Connewitz“ langsam aber sicher an Glanz. Eine Besetzung in der Aurelienstraße im Leipziger Westen (aus der später das Plaque hervorging) wurde 1994 von der Staatsmacht nach kurzer Zeit beendet. Da die Bewohner_innen sich verbarrikadiert hatten, mussten die Beamten sich bei der Räumung vom Hubschrauber auf´s Dach abseilen. Sie stießen auf keine aktive Gegenwehr. Ein weiteres Haus, die Gute Quelle, wurde in völlig verwahrlostem Zustand von den Besetzer_innen aufgegeben. Und nicht nur das Zoro, sondern auch der Technoclub Distillery und das Werk II drohten von der Bürokratie zermahlen zu werden.

Ein Cee-Ieh-Artikel (1) vermutete böse Absichten dahinter: „Das Ordnungsamt wurde als ausführendes Organ an die Front geschickt. In jedem dieser Projekte fehlten plötzlich ´absolut notwendige´ Fluchtwege und projektspezifische Mängel wurden als Notwendigkeiten für den Weiterlauf der dort angebotenen Kultur erachtet.“ Beim Werk II kamen noch die unklaren Besitzverhältnisse des Geländes hinzu. Ursprünglich hatte es in ein großangelegtes „Stadtteilzentrum“ am Connewitzer Kreuz integriert werden sollen. Im März 1995 machte die Züblin AG, die den Gebäudekomplex übernehmen und sanieren sollte, aber nach langen Verhandlungen einen Rückzieher. Aufgrund des Entgegenkommens der Behörden konnte das Werk II dennoch bald darauf den Betrieb wieder aufnehmen.

Die Distillery dagegen musste sowohl der städtischen Dezentralisierungspolitik als auch dem Willen des Eigentümers weichen, der die Neubebauung des Geländes plante. Obwohl die Behörden zusicherten, so bald wie möglich eine Ausweichobjekt zur Verfügung zu stellen, fürchtete das Projekt um seine Existenz. Verbale Unterstützung bekam es für sein Anliegen nicht nur vom Leiter des Jugendamts, Wolfgang Tiefensee. Auch sonst gelang dem Technoclub eine breite Mobilisierung. Zu einer nächtlichen Partydemo am 4. März 1995 fanden sich etwa 800 Raver_innen ein. Trotzdem gelang es nicht, die Schließung zu verhindern: Das Ordnungsamt ließ die Distillery zumauern.
Am 10. März fand eine Spontandemo statt, an der „mehr als 1000 zum Teil vermummte Jugendliche“ (LVZ) teilnahmen. Im Anschluß kam es zu einer Straßenblockade am Connewitzer Kreuz, die von der Polizei „mit massivem Einsatz“ beendet wurde. Einen Tag später waren es dann schon 2000 Menschen, die bei einer von der neu gegründeten Initiative gegen Umstrukturierung organisierten Demo auf die Straße gingen.

Am 18. März wurde die Distillery von einem Sonderkommando der Polizei gestürmt. Auf Gegenwehr trafen die Beamten nicht, dafür auf drei Mitarbeiter des Ladens, die sich Zugang verschafft hatten und gerade dabei waren, für eine abends geplante Party aufzuräumen. Sie wurden prompt verhaftet. In den Abendstunden waren die Herren und Damen in Grün mit Wasserwerfern und fünf Hundertschaften in Connewitz vor Ort – der Einsatz wurde vom Landes-Polizeipräsidenten persönlich geleitet. Nach einigen weiteren Querelen fand die Distillery schließlich ein neues Domizil in der Südvorstadt.

Der Kongress

Um der Szene neuen Schwung zu geben, verfielen einige Leute Ende 1994 auf die Idee, einen BesetzerInnenkongress zu organisieren. Der Anstoß dazu ging vom wöchentlichen Offenen Antifa-Plenum im Conne Island bzw. von dem von diesem initiierten „Connewitz-Plenum“ aus, zu dem man nicht nur die Bewohner_innen des Viertels, sondern allgemein alle am Erhalt der „Freiräume“ Interessierten einlud. Ein Treffen, das laut einem Beobachter von „einen fast schon unheimlichen, weil ungewohnten Willen zur Konstruktivität“ geprägt war: „Das Harmoniebedürfnis einiger ging stellenweise sogar so weit, reale Differenzen und Unterschiede der einzelnen Projekte in regelmäßig stattfindenden `Friedensrunden` wegzutransformieren“ (2).

Mit dem Kongress wollte mensch sich nicht nur personelle Verstärkung von außerhalb holen und die überregionale Vernetzung stärken. Auch notwendige interne Debatten sollten endlich mal geführt werden. Die „theoretische Beschäftigung mit der Geschichte von Hausbesetzungen“ sollte helfen, alte Fehler zu vermeiden, Diskussionsrunden und Vorträge über den „Stand und die Perspektiven der Jetzt-Zeit“, „Kiezpolitik und Öffentlichkeitsarbeit“ sollten der Entwicklung zukunftsträchtiger Strategien dienen (3). Das praktische Hauptziel war aber, die Verantwortlichen der Leipziger Linie auf lokaler und Landesebene stärker unter Druck zu setzen.

In der Leipziger CDU-Ortsgruppe sah man deswegen Connewitz schon als künftiges „Mekka der deutschen Hausbesetzerszene“. Besonders empörend fand man es aber, dass der Kongress u.a. im von der Stadt finanziell geförderten Conne Island stattfinden sollte. Auch Ordnungsamtsleiter Tschense fürchtete sich vor Krawalltouristen (Prognosen des sächsischen Innenministeriums zufolge wurden etwa 3000 Teilnehmer_innen erwartet), versuchte aber gleichzeitig zu beruhigen: „Wir werden alles tun, um Ausschreitungen zu verhindern.“ „Wenn sich die Leipziger von Randalierern aus anderen Städten distanzieren, haben wir schon viel erreicht.“

Trotz dieser Panikmache konnte der Kongress vom 12. bis 14. Mai 1995 wie geplant stattfinden. Die Mobilisierung blieb leider weit hinter den Erwartungen zurück, die Veranstaltungen wurden nur von mageren 100 bis 300 Gästen frequentiert. Im Cee-Ieh-Newsflyer zog ein Teilnehmer kritisch Bilanz: „Viele Redebeiträge versuchten immer wieder die Gemeinsamkeit, nämlich den praktischen Akt der Besetzung, als für alle bestimmend hervorzuheben. Davon ausgehend wurde dann fröhlich aneinander vorbeigeredet und subjektive Erfahrungen gemischt mit Gesamtweltansichten verhinderten die Diskussion theoretisch zugespitzter Sachverhalte“ (4). Das war eben die Negativseite des szeneinternen Harmoniebedürfnisses, das eine produktive Debatte über unterschiedliche Motive und Ziele von Besetzungen und daraus folgende Konflikte nicht zustande kommen ließ.

An der großen Abschlussdemo, die am 14. Mai unter dem Motto „Kein Frieden ohne Häuser – Der Zukunft ein Zuhause“ über die Bühne ging, nahmen 1000 bis 1500 Leute teil, denen ein aus fünf Bundesländern zusammengekarrtes Großaufgebot der Polizei gegenüberstand. Die Demonstration verlief friedlich, bot aber insgesamt ein eher trauriges Bild: „Vielleicht wurde die Gefahr für die Leipziger Projekte (…) im Falle einer Eskalation (…) zu oft beschworen (…) Die Demo glich eher einem Trauermarsch und sich selbst bemitleidendem Wanderkessel, die vorangegangene und bestehende Bewegungsträume zu Grabe trug.“

Neuer Schwung ging von dem Kongress also nicht aus. Die Aktivitäten der Szene beschränkten sich folglich immer mehr auf business as usual, die Verteidigung und Sicherung der bestehenden Projekte – die Zeichen der Zeit standen auf Verhandlung und Legalisierung. Aber dazu mehr im nächsten Heft…

(justus)

(1) www.conne-island.de/nf/10/14.html

(2) www.conne-island.de/nf/11/17.html

(3) www.conne-island.de/nf/8/12.html

(4) www.conne-island.de/nf/12/16.html

Keine Zukunft für Nazis

Ein „Recht auf Zukunft“ forderten die etwa 1.300 Neonazis, die am 17. Oktober durch den Leipziger Osten marschieren wollten. Natürlich keine Zukunft für sich persönlich, sondern „eine Zukunft für unser Volk (…) eine Zukunft für Deutschland“ (1). Weit kamen sie damit nicht. Genauer gesagt kam die in Koproduktion von „Freien Kräften“ und Jungen Nationaldemokraten organisierte Demonstration keinen Meter vom Fleck. Dies lag nicht nur an den rund 2500 Gegen­de­mons­trant_innen, die den Nazis kein „Recht auf Dummheit“ zugestehen wollten. Auch die Stadt und die Polizei hatten diesmal kein gesteigertes Interesse daran, den Kameraden den Weg freizuprügeln. So gab es erst mal Verzögerungen, weil nicht genügend Ordner für die Nazidemo bereitstanden. Nach vierstündigem Warten riss einigen „Autonomen Nationalisten“ der Geduldsfaden, mit Böllern und Steinen werfend versuchten sie aus dem Polizeikessel auszubrechen. Die Beamten schienen insgeheim darauf gewartet zu haben. Der Polizeibericht meldet: „Durch diese Handlungsweise entzogen die Werfenden die dem Aufzug verfassungsrechtlich gebotene Friedlichkeit, weshalb kurzzeitig der Einsatz der Wasserwerfer notwendig wurde. Letztlich musste der Aufzug durch den Polizeiführer gegen 16.00 Uhr aufgelöst werden.“ Die Gegen­demons­trant_in­nen, die die Marschroute blockierten, brachen in lauten Jubel aus. Ein voller Erfolg also? Nun ja…

Bitte Platz nehmen…

Es liegt nahe, hier den Vergleich zu den Erfahrungen der „Worch-Demos“ (2) zu ziehen, die 2007 unrühmlich endeten. Die Leipziger Neonazis ließen Worch sitzen, so dass dieser mit gerade mal 37 Leuten durch Stötteritz stiefelte. In den folgenden Jahren setzten die örtlichen „Frei­en Kräfte“ vor allem auf kurzfristig an­gemeldete Demonstration in abgelegenen Stadtteilen. Diese Taktik ließ die Zahl der Gegende­monstrant_innen sin­ken und sorgte so für Erfolgserlebnisse. Es ist also schon etwas her, dass es eine ähnlich langfristig angekündigte und groß aufgezogene Nazidemo in Leipzig gab. Bei der Mobilisierung zogen die Kamerad­­_innen alle Register, von Werbevideos auf YouTube bis zu T-Shirts mit dem Demo-Motto „Recht auf Zukunft“. Schon im Juli war der Aufmarsch angemeldet worden, seitdem wurde die Zahl der erwarteten Teil­neh­mer_innen stetig nach oben korrigiert.

Auch die Gegendemonstrant_innen griffen auf Strategien zurück, die sich schon bei den Worch-Aufmärschen bewährt hatten. So rief das Bündnis 17. Oktober, an dem sich Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Kulturinitiativen beteiligten, zu Sitzblockaden auf. Sogar OBM Burk­hard Jung stellte sich hinter den Aufruf des Bündnisses. Auch bei der Blockade selbst wurde er kurzzeitig gesichtet, als er demonstrativ zum Sound einer Trom­mel­gruppe tanzte.

Der Protest gestaltete sich der breiten Mobilisierung entsprechend, mit gleich drei Sambatrommelgruppen, Riesenpuppen usw. – „bunt“, „kreativ“ und „lautstark“ sind die passenden Schlagworte. Und laut war es wirklich: Die Aufforderung der Polizei, den Platz zu räumen, ging im Gejohle und Pfeifen der Menge unter. Der Platzverweis wurde dreimal wiederholt. Zum Glück waren es die Neonazis, die als Erste die Nerven verloren – mit den bereits erwähnten Folgen.

Kein Schulterklopfen

Auf Seiten der Neonazis zog das Debakel in Leipzig heftige verbale Schlammschlachten u.a. auf Altermedia (3) nach sich. „Die ANs [Autonomen Nationalisten] haben unserer Bewegung mal wieder mas­siven Schaden zugefügt (…) Weg mit dem Abschaum!!!“, forderten da die einen, wäh­rend ein Vertreter der „Freien Kräfte“ grammatisch fehlerhaft dagegenhielt: „Wir sind die Elite des Nationalen Wi­der­­standes und weder die Polizei, noch ir­gendwelche selbsternannten Gutmen­schen-Nationalisten-Veranstalter können uns sagen was wir tun und lassen haben.“ Die Debatte zeigt auch die inneren Widersprüche der NPD. Zwar bemüht die­se sich seit Jahren um ein seriöses, bürgerliches Image, zugleich kann sie nicht auf die „Autonomen Na­tionalisten“ verzichten, die gerade durch ihre Militanz für viele junge Neona­zis attraktiv sind und so den Nachwuchs an sich binden, den die NPD dringend braucht.

Demo-Anmelder Tommy Naumann vollzieht diesen Spagat in Personalunion. Als langjähriger Aktivist der „Freien Kräfte Leipzig“ (siehe FA!#29) wurde er im November 2008 Landesvorsitzender der Jungen Nationaldemokraten und trat als NPD-Kandidat bei den letzten Stadtratswahlen an. Gerade in Leipzig ist die NPD auf die „Freien Kräfte“ angewiesen und suchte darum den Schulterschluss, z.B. indem sie das Parteibüro in der Odermannstraße (siehe FA!#31) als „nationales Jugendzentrum“ zu Verfügung stellte. Es wird sich zeigen, welche Auswirkungen die Ereignisse des 17. Oktober dabei haben.

Und wie sieht´s auf der Gegenseite aus? Die Medienberichte reproduzierten die räumliche Trennlinie, welche die Polizei mit Absperrzäunen und Vorkontrollen zwischen „guten Bür­ger_in­nen“ und bösen Autonomen zu ziehen ver­suchte. So schrieb z.B. die LVZ (4), „zwischen 2500 und 3000 friedliche Gegendemonstran­ten sowie mehrere hundert Linksradikale“ hätten den Aufmarsch verhindert. Als ob Links­radikale per se gewalttätig wären… Auch Oberbürgermeister Jung lobte den fried­lichen Protest. Die Leipzi­gerinnen und Leipziger hätten ein starkes Zeichen ge­gen Rechts gesetzt. Anders gesagt: Das gu­te bürgerliche Leipzig hat gesiegt, nur ein paar unbelehrbare linke Chaoten machten am Rand Randale (wobei u.a. ein Bus entglast wurde, mit dem Dortmunder Neonazis angereist waren).

Der Erfolg hat also einen faden Nachgeschmack, auch weil er weniger den Blockaden als vielmehr dem Vorgehen der Polizei geschuldet war. Und diese agierte ziemlich repressiv. So meldet der Polizeibericht: „Aufgrund der vorangegangen Straftaten erfolgte eine Feststellung der Personalien aller Teilnehmer, weshalb sich der Abgang bis 21.30 Uhr hinzog.“ Gegen alle 1349 Teilneh­mer_innen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Polizeipräsident Horst Wawr­zynski erklärte im Anschluss: „Das Verhalten der rechten Szene während der Demonstration wird die Gewaltprogno­sen, die wir im Vorlauf angemeldeter Demonstrationsereignisse erstellen, beeinflussen“ (5). Der sächsische Innenminister Ulbig setzte noch einen drauf und kündigte eine Null-Toleranz-Politik gegen rechte und linke Extremisten an. In einer Pressemitteilung (6) kritisierte das Bündnis 17. Oktober den Ablauf der Debatte: Durch ordnungspolitische Maß­nahmen wie Verbote und Verschärfungen des Versamm­lungs­rechts würde letztlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit neonazistischen Ideologien verhindert. Dem ist nur zuzustimmen. Man muss die Kameraden nicht bemitleiden, um das Vorgehen der Polizei bedenklich zu finden. Denn solche Methoden könnten sich leicht auch gegen linke Demonstrationen richten.

justus

 

(1) www.npd-leipzig.net/demonstrationen/1667-recht-auf-zukunft

(2) Der Hamburger Neonazi Christian Worch meldete zwischen 2004 und 2007 insgesamt sechs in halbjährlichem Abstand stattfindende Demonstrationen an (siehe FA!#15 u. 17).

(3) de.altermedia.info/general/polizei-verhindert-bislang-nationale-leipzig-demo-17-10-09_36464.html

(4) www.lvz-online.de/aktuell/content/114389.html

(5) www.leipzig-nimmt-platz.de/

(6) leipzignimmtplatz.blogsport.de/2009/10/22/pressemitteilung-2210-nach-dem-naziaufmarsch/

Denken und Dübeln

„Verdammte Scheiße!“ Du fluchst, während du dich durch diesen Haufen rostigen Metalls wühlst. Wenn du geahnt hättest, wie viel Arbeit es ist, sich eine Identität zusammenzuzimmern… Aus dem Ideologieschrott, der sich über die Jahrhunderte angesammelt hat, ein halbwegs schlüssiges Weltbild zusammenzulöten, ist gar nicht so einfach. Zumal du keine Zeit hast zu überprüfen, wo die Einzelteile herkommen und ob sie wirklich zusammenpassen. Dort ein paar Stücke christliches Gedankentreibgut, schon leicht angegammelt. Ein Brocken Sozialdarwinismus, eingewickelt in einen Rest Sozialdemokratie. Einige Floskeln aus dem Sozialkundeunterricht, damit der Wind nicht durch die Lücken pfeift. Einige Fetzen fernöstlicher Weisheit zur Zierde an den Helm getackert. Noch etwas hemdsärmeliger Rationalismus, damit du nicht vergisst, wo hinten und vorne ist. Passt, wackelt, hat Luft.

Du jagst hier und da noch ein paar Dübel durch, damit dein Kostüm nicht schon bei den ersten Schritten auseinanderfällt, und stiefelst los. Hinaus in eine Welt, von der du bis dato nur weißt, dass sie dir Angst macht. Wichtig ist, dass du selbst an das glaubt, was du da mit dir rumschleppst. Das bist schließlich DU SELBST, das ist deine Identität. Darum geht es: mit irgendwas identisch zu sein. Wenn du das nicht bist, bist du ein Nichts. Und nichts sein willst du nicht, das macht noch mehr Angst als die Welt da draußen. Deine Rüstung klappert laut und quietscht auch ein wenig. „Ich quietsche, also bin ich“, denkst du, auch wenn es nur am Materialverschleiß liegt. Und weiter denkst du: „Aber bin das wirklich ich, der quietscht?“ Dann denkst du lieber nicht mehr weiter.

Denn was käme wohl unter dem vielen Schrott zum Vorschein, wenn du mal nachschauen würdest? Ein lebendes Wesen, mit Augen zum Gucken und einem Hintern zum Kacken? Vielleicht steckt da statt eines Ichs auch nur eine Gasblase, die zischend entweichen würde, wenn du nachguckst. Oder unter dem Schrott verbirgt sich nur noch mehr Schrott, rostige Assoziationsketten, verbogene Zahnräder, die knirschend ineinandergreifen… Manches will man lieber nicht so genau wissen. Das Leben ist eh schon gefährlich genug!

Wenn die Rüstung bloß nicht immer so jucken und kneifen würde… Im Schritt ist sie zu eng (da hat sich ein hartnäckiger Katholizismus festgesetzt), um die Brust herum auch. Oben, wo der Geist sein soll, zieht es unangenehm kühl. Die Beine sind unterschiedlich lang, du humpelst die ganze Zeit. Und bei der Schuhgröße passt auch etwas nicht. Aber nun setzen sich die Zahnräder in deinem Kopf wieder in Bewegung: „Das fühlt sich zwar nicht gut an“, denkst du, „ist aber trotzdem gut so!“ Schließlich wolltest du doch immer etwas Besonderes sein. Ein Original, oder wenigstens was halbwegs Originelles. Und das bist du jetzt ja wohl. Aber hallo!

Der Gedanke hält dich davon ab, unter dem Gewicht zusammenzubrechen oder wahlweise wenigstens mal den Helm abzunehmen und nachzuschauen, was da eigentlich die ganze Zeit so juckt. Man muss zu seinen Idealen stehen, selbst wenn man sie leider an der falschen Stelle festgenietet hat. Und umfallen geht nicht, auch wenn´s bequemer wäre. Die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Links und rechts von dir quietscht und klappert es wie wild. „Dabei sein ist alles!“, denkst du verbissen. „Ein Mann muss tun was ein Mann tun muss. Auch wenn´s wehtut!“ Von denen willst du dir doch nicht die Butter vom Brot nehmen lassen!

Dann stößt du mit jemandem zusammen. Ausweichen ist schwer mit diesem Gewicht am Leib, und feige wäre es vermutlich auch. Also scheppert es und setzt Beulen. „Dir ham sie wohl ins Gehirn geschissen!“, fluchst du. „Aus der Bahn, du Vogel!“ Das ist unhöflich, aber du willst ja nach vorne kommen. Optional auch nach oben, zur Sonne, zur Freiheit. Irgendwohin, wo die Luft besser ist. Dumm nur, dass alle anderen da auch hinwollen und somit im Weg stehen.

„Kopf zu, du Krüppel!“, schallt es dir blechern entgegen. „Der Wille zur Macht ist´s, der den wahren Menschen von der Masse unterscheidet!“ Verdammt, ein Nietzscheaner! Da heißt es schlagfertig sein. Du fummelst an deiner Rüstung herum und suchst nach einem geeigneten Brocken, den du dem Typen an den Kopf werfen kannst: „Wer oben oder unten steht, entscheidet man doch nicht selbst! Das ist alles vom karmischen Gesetz geregelt! Und das steht ganz klar auf MEINER Seite!“ Ha, das hat gesessen!

Leider wird der Übermensch jetzt wirklich wütend. „Pah, karmisches Gesetz!“, blökt er zurück. „Das wollen wir doch mal sehen, du Hippie!“ Und schon springt dir der Typ dahin, wo er die Gurgel vermutet. Der Rest versinkt in lautem Geschepper und dem Ächzen geschundenen Metalls. Dieser schlagenden Argumentation hast du wenig entgegenzusetzen. Am Ende ächzt nicht mehr das Metall, sondern du selber, hilflos am Boden liegend. Dein Gegner rammt dir noch einen letzten Aphorismus in die Weichteile, dann hat auch er genug und trollt sich. Du selbst bleibst rücklings hingestreckt, alle Viere in der Luft. Eine peinliche Lage… Hoffentlich sieht dich jetzt keiner! Aber nun setzt sich dein Gehirn mühsam wieder in Bewegung. Da war doch noch was… Genau, das karmische Gesetz! Darauf ist Verlass. Irgendein göttlicher Reparaturdienst ist bestimmt schon unterwegs, um die Dellen in deinem verbeulten Ego auszubügeln und dich wieder auf die Beine zu stellen. Der Gedanke baut dich auf, zumindest innerlich. Alles wird gut! Du bist nicht vergessen. Still schmunzelst du in dich hinein. Wenn du könntest, würdest du dir sogar die Hände reiben. Die ganzen Idioten da draußen… Die werden sich noch wundern, wenn du im Triumph an ihnen vorbeiziehst und nur eine Staubfahne zurücklässt.

(justus)

Desorientiert gegen Deutschland

„Still not loving Germany“-Demonstration in Leipzig

Die Veranstalter_innen hatten wohl mit mehr Zuspruch gerechnet. Aber obwohl vom Lautsprecherwagen aus stolz verkündet wurde, man hätte im Vorfeld euro­paweit mobilisiert, waren es doch nur knapp 500 Leute, die sich am 10. Oktober zusammenfanden, um unter dem Motto „Still not loving Germany“ durch die Leipziger Innenstadt zu marschieren. Weder griechische Anarchos noch britische Kommunist_innen waren in der Menge auszumachen, und auch die Berliner Autonomen waren an diesem Tag mit der Verhinderung eines zeitgleich in der Hauptstadt stattfindenden Naziaufmarsches genug beschäftigt. Sogar viele Ortsansässige schienen angesichts der ungemütlich nasskalten Witterung lieber zu Hause geblieben zu sein.

Zahlreich vor Ort war hingegen die Polizei, die sich allerdings zurückhielt. Für die direkte Betreuung der Demo waren relativ zivil in Lederjacken gekleidete Beamte zuständig, während die hochgerüsteten Sondereinheiten sich auf die umliegenden Seitenstraßen verteilten. So verlief die Demonstration erwartungsgemäß ruhig. Die Passant_innen verfolgten das Geschehen mit Kopfschütteln, manch eine(r) reagierte sichtlich erbost („Geht mal arbeiten!“), während für viele wohl gänzlich unklar blieb, was ihnen da vermittelt werden sollte. Kein Wunder, gingen von dem Demonstrationszug doch für unbedarfte Beobachter_innen reichlich widersprüchlich erscheinende Signale aus. Auch die Demonstrant_innen selbst schienen nicht genau zu wissen, wogegen es denn gerade ging: Gegen Nationalismus oder doch nur gegen deutschen Nationalismus?

Eine gewisse Inkonsistenz war da vorprogrammiert. Auf die obli­ga­torischen Israelfah­nen war mensch schon vor­­bereitet, aber auch ameri­ka­nische, britische und sowjetische Nationalflaggen wur­­den stolz geschwenkt. Sonst könnte ja noch wer auf die Idee kommen, man hätte was gegen Nationalstaaten im allgemeinen… Um den Flag­gen­wald noch ein wenig dichter zu machen, wurden vor Beginn der Demo zusätzlich kleine Papierfähnchen in der Menge verteilt. Niedlich war auch das mit „No border, no nation“ beschriftete Plakat, welches ein etwas übereifriger Demonstrant zusätzlich mit je einer kleinen USA- und Israelfahne aus Papier dekoriert hatte. Auf inhaltliche Widersprüche muss man eh keine Rücksicht nehmen, wenn es nicht um Inhalt, sondern nur um Style geht.

Passend dazu übten sich auch die Redebeiträge (z.B. der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff) eifrig im Differenzieren: Natürlich seien Nationalstaaten und Nationalismus generell ein Ausdruck der falschen Verhältnisse, aber in Deutschland seien die Verhältnisse eben ganz besonders falsch. Die praktische Schlussfolgerung lautet dann: „Nationen abschaffen, fangen wir mit Deutschland an!“ (1) Als ob die Weltrevolution ausgerechnet hier anfangen würde! Da hätte mensch noch mal bei Lenin nachlesen sollen. Der wusste schon vor 100 Jahren: Die Deutschen können keine Revolution machen, weil in Deutschland das Betreten des Rasens verboten ist.

Ohnehin herrschte bei den meisten Redebeiträgen ein an Adorno geschulter Sozio­logenslang vor, was auf Dauer etwas ermüdend wirkte. Eine Rede z.B. mit dem Hinweis zu beenden, dass bei aller Kritik am Nationalismus im allgemeinen die deutschen Spezifika nicht vernachlässigt werden dürften (wie es die Sprecher der ehemaligen Antinationalen Gruppe taten), ist gut gemeint, aber etwas mehr Mut zum Populismus wäre insgesamt doch wünschenswert gewesen.

Derlei theoretische Trockenübungen dürften aber auch ein Indiz dafür sein, dass manchen An­­ti­­deutschen die alten Parolen nicht mehr so flott über die Lippen kommen. Denn auch szeneintern gab es Kritik. So verteilten z.B. Leute von der Hallenser Gruppe No Tears For Krauts Flugblätter (2), in denen sie hart mit den Organi­sator_innen der Demonstration in´s Gericht gingen. Die seien irgendwo in den 90er Jahren hängengeblieben, das Deutsch­land, gegen das sie ihre Kritik richteten, sei „schon seit gestern nicht mehr existent. Immerhin seien z.B. die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auch schon fast 20 Jahre her, der oft beschworene „rechte Konsens“ sei ein Hirngespinst, vielmehr hätte sich mittlerweile eher ein „antirassistischer Konsens“ durchgesetzt. Kurz: Die Demo­veranstalter_innen wüssten „offensichtlich nicht so richtig, warum sie Deutschland nicht lieben sollen.“

In eine ähnliche Kerbe haute auch Hannes Gießler in einem Cee-Ieh-Artikel (3), dessen Inhalt sich grob mit den Worten „So schlimm ist es doch gar nicht“ zusammenfassen lässt. Dabei schien Gießler in den letzten drei Jahren mit seiner Theoriebildung nicht wesentlich weiter gekommen zu sein: Schon anlässlich der Fußball-WM 2006 erschöpfte sich sein Vorbehalt gegen den neuen deutschen Party-Nationalismus (4) darin, dass dieser doch irgendwie „borniert“ sei. Wer am Nationalismus nur das zu kritisieren hat, der hat im Grunde gar keine Kritik, sondern reduziert politische Meinung zur bloßen Geschmackssache. Das ist die Kehrseite des antideutschen Rumreitens auf dem deutschen Sonderstatus: Wenn man doch mal bemerkt, dass der deutsche Nationalismus gar nicht so besonders ist, kann man schon mal die Orientierung verlieren. So wird die „Du-bist-Deutschland“-Werbung für Gießler zur antirassistischen Kampagne, und auch an der gängigen Abschiebepraxis hat er wenig auszusetzen: Die sei schließlich nicht rassistisch, sondern rein pragmatisch motiviert. Als ob für die Beurteilung einer bestimmten Praxis der Geisteszustand der Verantwortlichen entscheidend wäre und nicht vielmehr das, was hinten rauskommt…

Für so viel „ideelles Deutschlandfahnenschwenken“ wird Gießler wiederum von den No-Tears-For-Krauts-Schreiber_innen gedisst. Aber auch die haben Probleme mit der Suche nach einem Feind, der den Dauerzustand moralischer Empörung rechtfertigen könnte. Viel fällt ihnen dabei nicht ein. Nur im multikulturalistischen „Antirassismus“ meinen sie, noch den alten völkischen Nationalismus weiterleben zu sehen. Dort würde „die antiimperia­listische Liebe zum Volk“ konserviert. Im Zentrum stünde dabei „längst nicht mehr das Individuum, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht und kritisiert werden kann. Die Menschen in der Dritten Welt, die hiesigen Migranten und die von Abschiebung Bedrohten werden – und das zeigt nicht zuletzt die Narrenfreiheit, die Sexis­ten mit Mi­gra­tions­hintergrund in so man­chem besetzten Haus genießen – in­zwi­schen in Blut-und-Boden-Manier als Exemplar ihrer Kultur begriffen: Sie kommen halt aus einem anderen Kulturkreis.“

Das kann natürlich mit Recht kritisiert werden, in erster Linie, weil solches Denken gerade nicht antirassistisch ist. Was aber an einem linksalternativen Multikul­tura­lismus, der Antirassismus auf die Forderung reduziert, alle sollten sich doch bitteschön liebhaben, so neu oder gefährlich sein soll, können die Autor_innen nicht erklären. Dieser Mangel an ernsthaften Gegnern wirkt auf Dauer natürlich frustrierend. So erklärt sich wohl der vorwurfsvolle Tonfall, den die No-Tears-For-Krauts-Autor_innen zum Ende ihres vierseitigen Pamphlets gegen die Demo­orga­nisator_innen anschlagen: „Ihnen geht es nicht um Wahrheit; ihnen geht es nicht darum, die Frage ´was deutsch ist´ kritisch – und vor allem: auf der Höhe der Zeit – auf den Begriff zu bringen.“

Mag sein, aber ist das nicht ein wenig viel verlangt? Auf die Frage „was deutsch ist“ haben schließlich auch die völkischen Nationalist_innen in den letzten 200 Jahren keine befriedigende Antwort geben können – die konnten höchs­tens sagen, „was nicht deutsch ist“ (nämlich z.B. die Franzosen, Polen, Engländer usw.). Es dürfte sinnvoller sein, die Denkkategorien des Gegners kritisch auseinanderzunehmen, anstatt sie „kritisch auf den Begriff zu bringen“. Dann würde man eventuell auch merken, wie hohl diese Kategorien sind. Es gibt kein „deutsches Wesen“, das „deutsche Volk“ ist eine Fiktion, die nur den Zweck hat, das gemeinsame Unterworfensein unter eine Staatsräson ideologisch zu überhöhen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nichts Besonderes, sondern ein stinknormaler Nationalstaat. Dass dieser Staat noch immer existiert und dass man selber darin leben muss, ist Grund genug, um dagegen zu sein.

(justus)

 

(1) antide2009.blogsport.de/contributions/

(2) nokrauts.antifa.net/

(3) www.conne-island.de/nf/169/29.html

(4) www.conne-island.de/nf/133/3.html

Die große Kunst des Kürzens

Nicht nur die griechische Bevölkerung soll derzeit den Gürtel enger schnallen. Auch die Regierungen Rumäniens, Spaniens, Portugals, Irlands und Großbritanniens haben mittlerweile einschneidende Sparmaßnahmen beschlossen. Da darf natürlich Deutschland nicht abseits stehen: Im Juni 2010 stellte die schwarz-gelbe Koalition ihr groß angelegtes Sparkonzept vor. Dieses hat nun im neuen Haushaltsbegleitgesetz (1), das Finanzminister Schäuble am 1. September der Öffentlichkeit präsentierte, seine vorläufige Form gefunden. Ende November soll das Sparpaket endgültig in Sack und Tüten sein. 11,2 Milliarden Euro will der Staat damit im nächsten Jahr sparen, bis 2014 sollen Einsparungen von insgesamt 82 Milliarden erzielt werden.

Dass diese vor allem auf Kosten derer gehen, die ohnehin schon unterhalb der Armutsgrenze leben, war schon zu erwarten. Ohnehin sollte man misstrauisch sein, wenn wieder mal das „Allgemeinwohl“ beschworen wird. Denn mit dieser Allgemeinheit ist in aller Regel nur das imaginäre „große Ganze“ der Nation gemeint, und deren Wohlergehen hat mit dem ihrer Insassen wenig zu tun. Die derzeitigen Sparpläne liefern dafür das beste Beispiel, denn für den Erfolg des „Standorts Deutschland“ im internationalen Wettbewerb wird die weitere Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst vorangetrieben. Die schwarz-gelbe Koalition setzt damit den Kurs fort, den die rot-grüne Schröder-Regierung mit der „Agenda 2010“ vorgegeben hat.

Sparen, sparen, sparen!

Die Sachzwänge, auf die sich bei dem Sparprogramm berufen wird, sind dabei zu einem guten Teil selbstproduziert, nicht nur durch milliardenschwere Rettungspakete für die Banken, sondern auch durch die „Schuldenbremse“, die Mitte 2009 im Grundgesetz verankert wurde. Von 2011 an soll die staatliche Neuverschuldung dabei schrittweise bis 2016 auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschränkt werden. Also müssen nun die Ausgaben gesenkt werden. Nur einzelne Ressorts bleiben dabei verschont, z.B. die Bildung (wo nach diversen Rationalisierungen ohnehin kaum noch was zu holen ist). In der Verwaltung sollen bis 2014 bis zu 15.000 Stellen wegfallen, die Gehälter von Staatsangestellten werden eingefroren. Auch bei der Bundeswehr wird gekürzt, dort sollen 40.000 Dienstposten gestrichen werden. Mit Abrüstung hat das freilich nichts zu tun. Der Trend geht ohnehin zur technisch hochgerüsteten Berufsarmee, mit der sich bei den künftigen globalen Kampfeinsätzen auch besser mitmischen lässt.

Aber wie üblich wird vor allem am unteren Ende der sozialen Hierarchie gespart: Geplanten Kürzungen von 30 Mrd. Euro im Sozialbereich stehen gerade mal 20 Mrd. gegenüber, die die Unternehmen beisteuern sollen. Und anders als die Erwerbslosen bekommen die Unternehmen für stärkere finanzielle Belastungen auch handfeste Gegenleistungen: So sollen die Betreiber von Atomkraftwerken zwar künftig eine sog. „Brennelementesteuer“ zahlen, bekommen im Gegenzug aber eine Laufzeitverlängerung von 8 bzw. 14 Jahren (siehe auch S. 1).

Bei den Hartz-IV-Empfänger_innen wird dagegen einfach so gekürzt. So sollen nicht nur die beim Übergang vom ALG I zum ALG II anfallenden Zuschläge (monatlich 160 Euro im ersten, 80 Euro im zweiten Jahr) ersatzlos gestrichen werden. Für Erwerbslose soll es künftig auch keine Zuzahlungen zur Rentenversicherung mehr geben. Und auch bei den Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wird gekürzt, alle bisherigen Pflichtleistungen werden in Ermessensleistungen umgewandelt. So sind z.B. jugendliche Erwerbslose künftig wieder vom Willen ihrer Sachbearbeiter_innen abhängig, wenn sie den Hauptschulabschluss nachholen wollen. Gleiches gilt bei den Reha-Maßnahmen für Behinderte – die meisten sonstigen Eingliederungshilfen für Hartz-IV-Empfänger_innen sind aber schon jetzt bloße Ermessensleistungen.

Noch deutlicher zeigt sich das Klasseninteresse beim Elterngeld: Zwar soll der Spitzensatz von jährlich 1.800 Euro, der an Menschen mit einem Einkommen von 2770 Euro im Monat aufwärts gezahlt wird, erhalten bleiben, im Gegenzug sollen Hartz-IV-Empfänger_innen künftig gar kein Geld mehr bekommen. Familien mit hohem Einkommen werden also wie gehabt gefördert, während die Unterstützung bei den Armen auf Null heruntergefahren wird. Die Erwerbslosen tragen damit mehr als zwei Drittel der Summe, die beim Elterngeld eingespart werden soll (440 von 600 Millionen Euro). Man könnte glatt meinen, der frühere Bundesbänker Thilo Sarrazin sei hier an der Konzeption beteiligt gewesen. Der hatte schließlich schon 2009 über angeblich zu hohe Geburtenraten bei der „Unterschicht“ gejammert und biopolitische Zwangsmaßnahmen gefordert: „Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: Weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht“ (siehe FA! #35). Daran hat sich die Bundesregierung offenbar ein Beispiel genommen. Es scheint, als wolle man der Armut nun mit den Mitteln der Eugenik zu Leibe rücken: Um die Zahl der Armen zu reduzieren, sollen diese möglichst von der Fortpflanzung abgehalten werden.

Kürzen & senken

Auch ein anderer Schreihals hat sich durchgesetzt: FDP-Chef Westerwelle nämlich mit seiner Forderung nach „Leistungsgerechtigkeit“. Von der Tatsache ausgehend, dass nicht wenige Erwerbstätige für Löhne noch unterhalb des Niveaus der Hartz-IV-Sätze arbeiten, schwenkte der FDP-Boss zur üblichen Propaganda über. Dass manche Leute für ihre Arbeit weniger Geld bekommen als die Arbeitslosen sei natürlich ungerecht, fand Westerwelle. Um die Gerechtigkeit wieder herzustellen, müssten den Erwerbslosen also die Bezüge gekürzt werden.

Dabei sind natürlich nicht die für die miese Bezahlung im Niedriglohnsektor verantwortlich, sondern die jeweiligen „Arbeitgeber“. Auch von den Regeln von Angebot und Nachfrage scheint der FDP-Boss noch nie gehört zu haben. Sonst müsste er nämlich wissen, dass eine Senkung der Hartz-IV-Sätze auch das Angebot an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor erhöht – womit sich die finanzielle Misere der dort Beschäftigten, für die er sich so hochmoralisch stark macht, nur weiter verschärft. Der Effekt solch einer Kürzung ist aber nicht nur auf den Niedriglohnbereich beschränkt: Wenn die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zunimmt, dann sinkt der Preis der Ware „Arbeitskraft“ und damit auch das Lohnniveau insgesamt.

Genau das dürfte auch das Ziel sein. Die Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors war ja schon einer der Kernpunkte der Hartz-IV-Reformen. Etwa ein Fünftel der hiesigen Erwerbstätigen hängen heute in Niedriglohnjobs fest. Der Erfolg des Standorts Deutschland beruht eben darauf, dass es den Leuten umgekehrt zusehends schlechter geht. Man muss sich nur die Statistik anschauen: Zwischen 1995 und 2005 stiegen die Löhne in Deutschland um gerade mal knappe 10% – diese Steigerung hielt nicht einmal mit der Inflationsrate Schritt, stellt also tatsächlich eine Senkung der Reallöhne dar. Zu dieser Entwicklung haben auch die steten Bemühungen des DGB, den „sozialen Frieden“ zu bewahren, also Streiks und sonstige Arbeitskämpfe möglichst zu vermeiden, ihren Teil beigetragen.

An diese „Erfolge“ soll nun angeknüpft werden. Dabei wird das Lohnniveau nicht nur indirekt über Einschnitte bei der Grundsicherung gesenkt. Auch bei den Zuschüssen zur Arbeitslosenversicherung wird gekürzt, was eine Erhöhung der Lohnabzüge bedeutet. Und auch hinter der scheinbar harmlosen Ankündigung, alle Subventionen zu prüfen, keine neuen einzuführen und bestehende nicht zu erhöhen, könnten sich Einbußen für die Erwerbstätigen verbergen, z.B. mögliche Einsparungen bei der Pendlerpauschale oder der bislang üblichen teilweisen Steuerfreiheit von Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschlägen.

Exportieren!

Was das Ziel dabei ist, machte Kanzlerin Merkel in einem Interview mit der FAZ klar: „Es geht darum, dass es Deutschland gelingt, aus der Krise stärker hervorzugehen, als es hineingegangen ist, und unsere Wettbewerbsfähigkeit noch zu verbessern. Denn die mit uns konkurrierenden Volkswirtschaften anderer Länder schlafen ja nicht.“ Sinkende Löhne sind dabei ein großer Vorteil, denn dann lassen sich die hierzulande produzierten Waren auf dem Weltmarkt billiger verkaufen. Das spült Geld in die Kassen der Unternehmen und des Staates. Den Titel des Exportweltmeisters hat Deutschland zwar mittlerweile an China verloren, an der Exportorientierung der hiesigen Wirtschaft hat sich aber nichts geändert. Bislang mit Erfolg: So lag z.B. der Auftragseingang der deutschen Maschinen- und Anlagenbaubranche im Juli 2010 gegenüber dem Vorjahr um 47% höher, die Auslandsnachfrage konnte um 54% gesteigert werden. Und das soll nach dem Willen der schwarz-gelben Regierung auch so bleiben.

Die drohende Wirtschaftskrise ist damit aber nur vertagt. Zwar steht Deutschland als Exportnation im europäischen Raum derzeit konkurrenzlos da. Gut die Hälfte der europäischen Binnenexporte kommen aus Deutschland, das Gesamtwachstum der deutschen Wirtschaft lag so im zweiten Quartal 2010 bei 2,2% – der höchste Wert seit 1987! Diese übermächtige Konkurrenz bringt aber die europäischen Nachbarländer in wachsende Schwierigkeiten. Und wenn die als Absatzmarkt ausfallen, steckt auch Deutschland im Schlamassel. Diese Gefahr ist durchaus real. So forderten nicht nur die französische Wirtschaftsministerin, sondern auch der Chef des Internationalen Währungsfonds und sogar US-Präsident Obama, die deutsche Politik solle endlich von ihrer einseitigen Exportorientierung abrücken und lieber die Binnennachfrage stärken. Schließlich wollen auch die anderen Nationen ihre Waren irgendwo absetzen.

Weniger aus Sorge um die Weltwirtschaft als aus wohlverstandenem Eigeninteresse wäre jetzt breiter Widerstand gegen die Sparpläne nötig. Bislang gelingt es den Regierenden aber noch all zu gut, Erwerblose und Lohnabhängige auseinander zu dividieren, und die DGB-Gewerkschaften beschäftigen sich weniger damit, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten, sondern viel eher damit, den Standort Deutschland für den globalen Wettbewerb fit zu machen. Auch sonst scheinen die Ausgangsbedingungen für Protest heute eher ungünstig. Und das nicht etwa, weil die schwarz-gelbe Regierung als Gegner so übermächtig wäre, sondern vielmehr wegen der Übermacht der potentiellen Verbündeten. Die Hartz-IV-Demos von 2004 hatten immerhin noch Zeit zum Wachsen, ehe die neu aufgestellte Linkspartei sich der Sache annahm. So lange würde die Vereinnahmung heute nicht mehr auf sich warten lassen. Mit SPD und Grünen stehen momentan zwei weitere Parteien bereit, um mögliche Proteste wahlkampftaktisch auszuschlachten. Ein Protest, der auf wirkliche Verbesserungen abzielt, müsste sich von solchen Verbündeten tunlichst fernhalten.

(justus)

(1) als PDF zu finden unter www.bundesfinanzministerium.de/…/20100901-HHbegl_anl,templateID=raw,property=publicationFile.pdf