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INNERE SICHERHEIT föderativ und zentral

Die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zum ganz „normalen“ Polizeistaat

Was man in Leipzig schon ahnt, ist im restlichen Territorium der Bundesrepublik noch nicht bekannt. Neben einem kruden Häuflein Worchianer, alten Kameraden, Faschisten und Nationalsozialisten und einer kunterkonterbunten Menge von verschieden antifaschistisch inspirierten Menschen nutzt mittlerweile noch eine dritte Gewalt, die recht eigentlich die erste ist, die Leipziger Straßen, um am 1. Mai Stärke zu demonstrieren – es ist der Staat, der hier mittlerweile alljährlich die funktionale Differenzierung seiner Exekutiv­behörden paradiert. Da brüten neben Hundertschaften des BGS und der Bereitschaftspolizei, BFEs aus Thüringen und Sachsen in der prallen Sonne. Eine SEK schleicht über Hinterhöfe, ständig in Kontakt mit dem MEK. Ohne ersichtlichen Grund lässt der diensthabende Einsatzleiter zwei Hundertschaften bayrische USK die breite Straße zum Bahnhof hinunter besetzen. Es bleibt zu dieser Stunde und an diesem Ort ein „Zur Schau stellen“. Kontrollen, Maßnahmen wie Gas-, Spray- und Knüppeleinsatz, ED-Behandlungen und Festnahmen finden dagegen in dem schwer einsichtigen Gelände rund um den zweiten angemeldeten Treffpunkt der Neonazis statt.

Trotz der großen Anzahl an Gegende­mons­­trantInnen, die sich teils schon früh zum alljährlichen Maizug zusammengefunden hatten und der offensichtlichen personellen Unterbesetzung der versammelten Polizeiverbände, trotz der erschwerten Situation, dass die rechten Radikalos ihr Glück diesmal in einer doppelten Strategie (zwei angemeldete Demonstrationen) suchten, trotz alledem blieb offenbar genug Zeit und Potential, um die innere Geschlossenheit von Länder-&Bereitschaftspolizei, Bundespolizei (ehemals BGS – siehe Kasten unten) und den polizeilichen Spezialeinheiten in die (mediale) Öffentlichkeit zu transportieren. Zum Ausdruck kommen soll, dass professionelle Polizeiarbeit auch zum neuen nationalen Selbstbewusstsein Deutschlands gehört. Es reicht nicht mehr, diesen Zusammenhang nur nach seiner integrierenden und repressiven Funktion zu untersuchen, vielmehr muss die mediale Repräsentation der deutschen Polizei heute perfider Weise auch als gezielte Marketing-Strategie verstanden werden. Denn es gibt bereits einen globalen Markt um Personal, Ausbildung, Ausrüstung und Bewaffnung, um allgemeine Technologie der Kontrolle und Disziplinierung, der sich seit dem Wegfall der großen Blöcke intensiviert und seit der Greueltat vom 11.09.2001 eine neue Qualität erreicht hat. Und auch hier beweist sich die geheimnisvolle Kraft des deutschen Exports. Die deutsche Polizei ist überall gefragt und heiß begehrt, ob nun streifend durch die Regionen des Balkans, leicht gepanzert durch die darbenden Wälder des Kongo oder tief eingegraben in die Geröllhalden Afghanistans und den Wüstensand Iraks – wo es heute brennt, da darf auch die deutsche Polizei nicht fehlen, weil sie gut ausgebildet und ausgerüstet, weil sie eben professionell ist. Daraus leitet sich wesentlich auch der Anspruch der größten Fraktionen des deutschen Parlaments auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO ab. Diese These mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig klingen, könnte man diesem parlamentarischen Anspruch doch genauso gut auch die aktive Rolle der Bundeswehr zu Grunde legen.

Eine nur irgendwie erschöpfende Analyse, wie die deutschen Parlamentarier und Parteien zu solcherlei vermessenen Ansprüchen kommen, müsste tatsächlich diesen Punkt berücksichtigen, neben einer ausführlichen Parteigeschichte und letztlich gar einer sozial-psychologischen Untersuchung der Rolle des Parteifunktionärs als Parlamentarier selbst. All das kann hier nicht im Ansatz unternommen werden. Ich werde mich damit begnügen, die Relevanz dieser Thematik und ihrer ausführlichen Behandlung vor Augen zu führen, in dem ich auf die wenig beachtete Entwicklung der deutschen Polizei verweise und ihre gewichtige Rolle für einen neuen deutschen Nationalismus betone. Fragen der grundrechtlichen Bewertung bestimmter Entwicklungen bzw. völkerrechtliche Fragen im Rahmen sogenannter „Grauzoneneinsätze“ spielen nur insofern eine Rolle, wie hier ein expansives Feld zwischen äußerer und innerer Sicherheit, die Entwicklung neuer Technologien der Kontrolle und Diszipli­nierung möglich gemacht wird.

Polizei oder Miliz?

In der konventionellen Polizeiforschung wird die Entstehung halbstaatlicher paramilitärischer Verbände gern über einen quasi natürlichen „Bedarf“ erklärt. Das schnelle Wachstum der Städte im 16. und 17. Jahrhundert hätte verschiedene Versor­gungskrisen ausgelöst, die wiederum eine Behörde zur Regulation, Begrenzung und Kontrolle notwendig machten. Seitdem seien die Aufgaben der Milizen bzw. Polizei nur quantitativ ausgewachsen und hätten so die funktionale Differenzierung hin zu den modernen Polizeiverbänden bewirkt. Kaschiert werden soll damit offensichtlich, dass Stärke, Aufgabenbereich und Ausrüstung, sowie die daran notwendig geknüpfte Differenzierung solcher paramilitärischen Verbände schon seit je Produkt politischen Willens waren und darum eben nicht notwendig, ja nicht mal einmal hinreichend einem puren „Bedarf“ entspringen. Doch vielmehr als Ursprung und Ursache interessiert hier Zusammenhang, Funktion und Tendenz im qualitativen Sinne. Um der deutlichen Abgrenzung zum Begriff der „Miliz“ hin werde ich „Polizei“ im Folgenden deshalb auf diejenigen paramilitärischen Verbände beschränken, die per moderner, parlamentarisch legitimierter Rechtssetzung innerhalb eines nationalen Staatsgebietes durch monopolisierte Gewalt agieren. Anders: Die Polizei ist die wichtigste Kontrollbehörde des modernen Staates. Sie dient der Segregation und Disziplinierung, der Integration und Assimilation. Sie setzt sich letztlich durch, wenn gesetzmäßiges Recht durchgesetzt wird. Sie ist eben die Exekutivgewalt des Nationalstaates. Dies zeigt sich um so deutlicher, je mehr die Relevanz stehender Heere in Europa nachlässt.

Die deutsche Polizei vor 1945

Von Polizei in Abwesenheit eines aktiven Nationalstaates zu reden, wäre deshalb in gewisser Weise widersinnig. Die Polizei ist eben kein Agent der Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen, sondern dient einzig der jeweils geltenden, d.h. im modernen Kontext der parlamentarisch legitimierten, Rechtsprechung. Ein Polizeiverband, der sich dieser Grundlage entzieht, wird zur Miliz. Um die Rechtsbindung der verschiedenen paramilitärischen Verbände sicherzustellen, hat der moderne Staat mittlerweile ein komplexes Geflecht der bürokratischen und psychologischen Kontrolle für seine Exekutiv-BeamtInnen entwickelt. Die Diszipli­nierung der Milizen hin zur Polizei muss überhaupt zu den größten Stabilisierungsleistungen des Status quo im modernen Nationalstaat gezählt werden.

Von deutscher Polizei im Sinne der oben angegebenen Definition lässt sich also erst­mals mit der Reichsgründung von 1871 reden. Die maßgeblichen Verwal­tungs­entschei­dun­gen zur Bildung einer reichs­über­­grei­fen­den Polizei werden allerdings schon 1848 geschaffen: Es ist die königlich preußische Schutzmannschaft in blauer Uniform mit Pickelhaube, die von nun an der Befehlsgewalt der Landesfürsten bzw. des Kaisers direkt untersteht. Bereits 1850 wird die bisher kommunale Polizei via Gesetz aufgelöst. Frühe Formen der Kriminal-, Ordnungs- bzw. Schutz-, Verwaltungs- und Staatspolizei wie etwa der „Polizey­reuter“, der „Gendarm“ oder der „Polizei­inspek­tor“ werden in diesem neuen Poli­zei­verband zusam­mengefasst. Dennoch besteht auch weiter­hin und abseits der Städte eine kommunale Polizeistruktur.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges und mit Gründung der Weimarer Republik sieht sich der deutsche Staat zur erneuten Restrukturierung seiner Polizei gezwungen. Um die konservative Restauration zu stärken, wird aus Korporierten und bewaffneten Freikorps die Sicherheitspolizei (Sipo) gegründet und 1920 zusammen mit der preußischen Polizei in die sogenannte Schutzpolizei (Schupo) integriert. Die Schutzpolizei unterstand in dieser Zeit größtenteils den Landesherren. Die Gründe für den starken Auf- und Ausbau der Schutzpolizei in der Weimarer Republik liegen zum einen beim Versailler Verdikt der Siegermächte, kein neues stehendes Heer (Reichswehr) über einer Gesamtgröße von 100.000 Mann auszuheben, zum anderen in den innenpolitischen Spannungen, die die ganze Zeit der Weimarer Republik durchziehen, begründet. Der Versuch, 1922 ein Reichskriminal­polizeiamt (RKPA) aufzustellen, wurde jedoch erst 1937 verwirklicht, bis dahin entstanden vor allen Dingen in den Zwanzigern die Landeskriminalpolizeiämter (LKPA), beides Vorläufer des jetzigen BKA und LKAs. Über das Wirken der politischen Staatspolizei (Stapo) ist bisher wenig bekannt.

Vorbereitet durch die Absetzung der preußischen Landesregierung („Preussen-schlag“) fällt den Nationalsozialisten mit der Machtübernahme der NSDAP 1933 dann das „heimliche“ zweite Heer des deutschen Staates praktisch in den Schoß. In Kürze werden leitende und hohe Beamte ausgetauscht und insgesamt ca. 40.000 SA- und SS-Leute und 10.000 Stahlhelmleute zu Hilfspolizisten ernannt.

Am 26. April 1933 gründet Hermann Göring, preußischer Innenminister und später Ministerpräsident, das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa), aus dem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) hervorgeht. Die preußische Polizei wird in eine Ordnungspolizei (Orpo) und Kriminalpolizei (Kripo) neu strukturiert. Die Staatspolizei (Stapo) und die politische Abteilung der Kripo werden der Gestapo zugeteilt. Der bereits 1931 in Bayern von Heinrich Himmler geschaffene interne Sicherheitsdienst (SD) der NSDAP war bis zum Kriegsbeginn hauptsächlich mit Personenschutz und Verfolgung interner und externer Gegner der Partei beschäftigt. 1939 verschmilzt Himmler die Kripo, Gestapo und den SD im Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Polizeibataillone dieser neuen Sicherheitspolizei folgten der Wehrmacht bei ihrem Ver­nichtungsfeldzug durch Europa auf Schritt und Tritt, und sie sind verantwortlich für die schlimmsten Greueltaten der Mensch­heits­geschichte. Die Bataillone bestanden etwa aus 1.000 Mann: 100 Gestapo-Männer, 30-35 SD-Leute, 40-50 Kripobeamte, 130 Ordnungspolizisten, 80 Hilfspolizisten, 350 Männer der Waffen-SS, 150 Fahrer und Mechaniker sowie Dolmetscher, Funker, Schreibkräfte, Sanitäter, Köche etc. und werden heute für weit über 1 Millionen Tote allein hinter der „Ostfront“ verantwortlich gemacht. Neben der gezielten Ermordung der osteuropäischen Juden waren sie auch an der unbarmherzigen Unterdrückung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten beteiligt und damit ein wichtiges Instrument für die Einrichtung, die Verwaltung und letztlich auch die Liquidierung der Ghettos.

Nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes wurde das verbliebene deutsche Staatsterritorium von den Siegermächten in vier Besatzungszonen geteilt, aus denen 1949 die beiden Satellitenstaaten Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutsche Demokratische Republik (DDR) entstehen. Am 14. April 1949 erlassen die drei alliierten Militärgouverneure einen Polizeibrief, der die Verantwortung über die Polizei in der „Westzone“ an die Länderkompetenz verweist und damit die bereits entstandenen kommunalen und Gemeindepolizeien stützt. Die Maßnahme soll eine erneute Zentralisierung und Aufstellung eines „heimlichen“ zweiten Heeres wie in der Weimarer Republik erschweren. In der „Ostzone“ wurde derweil schon am 1. Juli 1945 eine neue staatsübergreifende Volkspolizei (VP) gegründet, der bereits 1946 die Deutsche Grenzpolizei (DGP) zum Schutz der neuen Staatsgrenzen folgt.

Ich werde diesen beiden Geschichtslinien im zweiten Teil noch ein wenig weiter folgen müssen, um eine gewisse Vollständigkeit zu präsentieren und zu fundierten Schlüssen zu kommen. Vorab sei bemerkt, dass sich an dem Bisherigen schon ablesen lässt, inwieweit die spezifisch föderale Struktur der postfaschistischen deutschen Polizei in der BRD Produkt eines politischen Willens ist. Es galt das Wiedererstarken eines deutschen Staates möglichst zu hemmen, um die Fehler des Versailler Vertrages nicht erneut zu wiederholen. (Fortsetzung folgt …)

(clov)

Vom Grenzschutz zur Bundespolizei – die kleine Geschichte des BGS

Der Bundesgrenzschutz (BGS) wurde 1951 hauptsächlich aus ehemaligen Wehrmachtsangehörigen zusammengestellt und wesentlich durch den Aufbau von Grenzeinheiten der Volkspolizei (VP) der DDR begründet. Bereits zwei Jahre später wird die Personaldecke der Grenzschutzgruppen (GSG) verdoppelt. Der Aufgabenschwerpunkt lag damals auf der Absicherung der innerdeutschen Grenze. Der BGS war dadurch seit je her schwerer ausgerüstet als die länderspezifischen Polizeien. Nachdem die Alliierten 1956 erneut dem Aufbau eines deutschen, stehenden Heeres zustimmten, wurden gut 10.000 BeamtInnen des BGS in die neu geschaffene Bundeswehr überführt. Der Aufgabenbereich des BGS ist seitdem ständig angewachsen und recht eigentlich war der BGS schon seit seiner Gründung das heimliche zweite Heer des deutschen Staates. Erst mit Schutzaufgaben bei Geldtransporten und zum Katastrophenschutz eingesetzt, erreichen die Befugnisse des BGS im Zuge der Notstandsgesetze von 1968 und der RAF-Verfolgung in den Siebzigern eine völlig neue Qualität. Aus der Grenzschutzgruppe 9 entsteht die neue Anti-Terror-Einheit GSG9. Mit der Neuordnung des Bundesgrenzschutz-Gesetzes wird die Zusammenarbeit mit den Länderpolizeien intensiviert. Der BGS beteiligt sich an Großfahndungen nach RAF-Gruppen und Schutzaufgaben bei Großveranstaltungen wie der Olympiade 1972 in München oder der Fußballweltmeisterschaft 1974. 1975 übernimmt der BGS auch den Schutz der Amtssitze der wichtigsten Ministerien des Bundes. 1977 werden Hundertschaften des BGS zum Schutz der Baustellen von Kernkraftanlagen in Grohnde und Brokdorf eingesetzt, zeitgleich wird der Personalstand weiter aufgestockt. 1979 schützen BeamtInnen des BGS den Bau des nuklearen Entsorgungszentrums in Gorleben. 1985 sind Einheiten des BGS hauptverantwortlich für den Schutz des Weltwirtschaftsgipfels in Bonn. 1987 unterstützen BGS-Gruppen den Bau der bayerischen Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Im selben Jahr werden erstmals Frauen in den Vollzugsdienst aufgenommen. 1989 erfolgt der erste Auslandseinsatz zur Unterstützung von Polizei-Einheiten der UNO in Namibia. 1990 spielt auch der BGS bei der reibungslosen Abwicklung der DDR eine wichtige Rolle, über 7.000 BeamtInnen der Volkspolizei werden in den BGS integriert. Nachdem der BGS 1992 die Aufgaben sowie weitere BeamtInnen der Bahnpolizei übernimmt und nun auch für die Sicherung des Luftverkehrs zuständig ist, beginnt eine weitreichende Restrukturierung, die sicher auch mit dem Schengener Abkommen und der damit zusammenhängenden Abrüstung der europäischen Binnengrenzen in eins geht. Seit 1995 bewacht der BGS alljährlich den Transport von abgebrannten nuklearen Brennelementen nach Gorleben, sowie andere atomare Transporte. 1998 wird das Gesetz für den Bundesgrenzschutz erneut überarbeitet, der BGS erhält damit erweiterte Befugnisse zur Verhinderung unerlaubter Einreisen in das Bundesgebiet. Mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz, das am 01.01.2002 in Kraft tritt, werden erneut zahlreiche Gesetze geändert. Seit 2003 ist der BGS u.a. maßgeblich an Aufbau und Ausbildung der afghanischen Polizei beteiligt. Am 30. Juni 2005 wird das Gesetz zur Umbenennung des Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei (BPOL) verkündet. Zwar sind mit der Umbenennung keine unmittelbaren Befugnisänderungen verbunden, dennoch erhält die BPOL neue Ausrüstung und Technik sowie eine intensivere Datenvernetzungsarchitektur. Letztlich ist die Namensänderung lediglich als Endpunkt einer über 30jährigen Entwicklung zu betrachten, die mit einer steten Aufgabenerweiterung verbunden war.

Elemente deutscher Sicherheits-Architektur

Zentrale Einrichtungen:

Das Bundesministerium für Inneres (BMI) wird derzeit von Wolfgang Schäuble (CDU) geleitet. Neben einigen beratenden und verwaltungstech­nischen ist vor allen Dingen der stete Ausbau der sicherheitsrelevanten Abteilungen auffällig. Die erste dieser Abteilungen, die heutige Abteilung B (zuständig für die Angelegenheiten der Bundespolizei), wurde bereits 1951 im Zuge der Einrichtung des BGS gegründet. Weitere eigenständige Behörden sind heute die Abteilung P, zuständig für Poli­zei­angelegen­heiten und Terrorismusbekämpfung, die Abteilung IS, zuständig für Innere Sicherheit, die Abteilung M, zuständig für Migration, Integration, Flüchtlinge und Europäische Harmoni­sie­rung und zwei Stabsstellen, einmal für BOS-Digital-Technik und einmal für Krisenmanagement. Mit gut 53.000 MitarbeiterInnen und einem Gesamt-Etat von mehr als 4 Milliarden Euro ist das ein BMI ein gewichtiges Ministerium des Bundes.

Das Bundeskriminalamt (BKA) umfasst ca. 5.000 BeamtInnen und ist vorwiegend mit der zentralen Datensammlung und -weitergabe beschäftigt. In dem zentralen Fahndungs-Archiv INPOL sind derzeit Lichtbilder und Fingerabdrücke von mehr als drei Millionen Personen gespeichert. Seit 1975 verfügt das BKA auch über eine Abteilung für "Terrorismusbekämpfung", die 2004 durch das neue "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) ergänzt wurde. Das BKA wird aber insbesondere auch zum Personenschutz der oberen und obersten BeamtInnen des Bundes eingesetzt. Hierzu stehen dem Amt die Abteilungen Siche­rungs­gruppe (SG) und Staatsschutz (ST) zur Verfügung.

Oft unterschätzt und vergessen wird die ebenfalls umfangreiche und stark vernetzte Zollbehörde des Bundes. Das im Zuge der Umstrukturierung des BGS 1992 neugegründete Zollkriminalamt (ZKA) verfügt neben einigen Fahndungs- und Ermittlungsgruppen auch über Spezialeinheiten wie die Unterstützungsgruppen Zoll (UGZ) oder etwa die seit 1997 neue Zentrale Unterstützungsgruppe Zoll (ZUZ).

Ein weiterer wesentlicher Stützpfeiler der innerdeutschen Sicherheit war und ist der Bundesgrenzschutz (BGS), der nun seit 2005 Bundespolizei (BPOL) heißt (siehe Kasten links). Nach dem Attentat von 1972 in München wurde dem BGS auch die Antiterroreinheit Grenzschutzgruppe 9 (GSG9) angegliedert, die heute mehr als 240 aktive BeamtInnen beschäftigt.

Abschließend zu nennen wären noch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bzw. die verschiedenen Landesämter für Verfassungsschutz (LfV), die eng vernetzt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, mit ihren BeamtInnen den inländischen Geheimdienst der Bundesrepublik bilden.

Förderale Einrichtungen:

Die länderspezifischen Polizeieinheiten, die sogenannte Länderpolizei, setzt sich je nach Bundesland aus der Kriminalpolizei des zuständigen Landeskriminalamtes (LKA), der jeweiligen Verkehrspolizei und diversen Schutzpolizei-Einheiten zusammen. Ergänzt wird dieses Ensemble fast in allen Bundesländern durch Einheiten der Bereitschaftspolizei, die allerdings auch unterstützend und länderübergreifend von den Zentralbehörden eingesetzt werden. Spätestens seit der Verfolgung der RAF in den Siebzigern wurden weitere Spezialeinheiten aus der Bereitschaftspolizei ausdifferenziert. Zu nennen wären hier vor allen Dingen die sogenannten Sondereinsatzkommandos (SEK) und die Mobilen Einsatzkommandos (MEK) der Länder. Berühmt und berüchtigt sind auch bspw. die Unterstützungskommandos (USK) Bayerns, umgangssprachlich „Schwarzpelze“ genannt, die mit über 450 Beamten eine größere Personalstärke besitzen als die Bereitschaftspolizei der kleinen Bundesländer. Im Zuge der Einführung digitaler Fahndungstechniken in den Neunzigern wurden in fast allen Ländern weitere Sondereinheiten ausgehoben, die unter dem Namen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) zusammengefasst werden und speziell für zeitnahe Zielfahndung und Festnahmen noch während laufender Veranstaltungen/Demonstrationen ausgebildet sind.

Die Gewalt geht vom Staate aus

Wer Anfang der 90er geglaubt hatte, mit dem Zusammenbruch der zen­tra­listischen Verwaltungsdiktaturen der Kommuni­stischen Partei wür­de die Welt in ein neues, humanistisches Zeitalter ein­treten, ge­prägt von Abrüstung und Befriedung der jahr­zehnte­lang forcierten Stell­vertreter-Konflikte rund um den Globus; wer sol­cher­lei Hoff­nung hegte, muss heute, nach nicht einmal 20 Jahren erschüttert fest­­stellen: Das 21. Jahrhundert kündigt sich düster an. Das neo­li­be­rale Kind des alten Liberalismus ist noch ge­wis­sen­loser als der Va­ter. Es hat sich von den idealistischen Überschüssen des Humanis­mus, der Wohlfahrt und der nationa­len Distribu­tion völlig frei ge­macht, der Staat erscheint ihm instru­menteller als jemals zuvor. Des­sen durchgesetztes und in die Rechts­­staatlichkeit eingeschlossenes Ge­walt­monopol wurde zum einzi­gen realen Garant optimaler Ver­wertungsbedingun­gen durch die immer lückenlosere Kontrolle der innenpolitischen Konflikte und der „Ökonomi­sierung“ der Außen­po­li­tik (1).

Die tech­nologische Differen­zierung der staatlichen Ge­walt­potenziale, ins­be­sondere die systematische Aufrüstung der Polizei, sind dabei das Schlüsselmoment und die asymmetrische Kriegsführung Aus­­druck dieser neuen, gewaltigen Über­macht, die nicht nur billiger son­­dern auch effizienter als die überkommene Militärge­walt der ste­hen­­den Heere ist. Dass dabei die Militarisierung der Polizeiein­heiten not­wendig wird, liegt auf der Hand. Und Deutschland schrei­tet hier be­sonders schnell vor­an. Wenn die deutsche Polizei von „Störern“ spricht, unterscheidet sich das kaum noch von der Be­zeichnung „Ter­ro­rist“. Der Schutz der angeblich so frei­heitlichen Grundordnung ist längst zur Tyran­nei systematischer Ge­walt umge­schlagen, die poli­zei­liche Über­wachung und Über­griffe, Verschleppungen und men­schen­un­würdige Inhaftierungen recht­fertigt, Folterungen verschweigt und jede außerparlamen­tarische Opposition kriminalisiert. Während innerhalb der deut­schen Polizei noch der Taser getestet und über Gum­migeschosse dis­kutiert wird, experimentiert man andernorts längst mit Mikro­wellen-Waffen und Impuls­granaten. Der Markt der „nichttöd­lichen“ Waffen ist ein riesiges Geschäft. (2)

Die vierte Macht im Staate, die mediale Öffentlichkeit, steht der­weil völlig fassungslos daneben, repetiert die Fakten und feiert selbst­­­herr­lich ihren plan- und zwecklosen Turmbau zu Babel. Diese Dis­son­anzen im Machtgebälk des modernen Rechtsstaats wur­den nir­gend­­wo anders so deutlich, wie unlängst während der Pro­teste gegen das G8-Treffen in Heiligendamm. Und das Skan­da­lon dieser uner­träg­lichen Selbst­inszenierung der Macht war weder die Anwendung der Notstandsgesetze von 1968 (3), noch die völlige Aushöhlung des Versammlungsrechts und anderer ver­fas­sungsrechtlicher Grund­sätze, auch nicht die gewalttätigen Über­­griffe einiger Polizeieinheiten, schon gar nicht DAS für Deutschland so symbolisch brennende Auto und die Aggres­sion einzelner DemonstrantInnen, sondern diese Ent­schleierung der konventionellen Medien, ihre absolute Sprachlosig­keit und Des­­information. Dies gilt insbesondere hin­­sichtlich der Ein­schät­zung und Bewer­tung der „Gewalt“, wie sie rund um den G8-Gip­fel stattgefunden hat. Genug Anlass also, einige Aspekte der von der Polizei ausgelösten und von den Massenmedien inszenierten „Ge­waltdebatte“ in der Nachbe­reitung ein­gehender zu betrachten.

Deutschland und der Polizeistaat der Zukunft

Ohne Zweifel, der Kampf gegen den transnational agierenden Terro­ris­mus islamistischer Fundamentalistengruppen hat die Fragen um die innere Sicherheit moderner Staaten nach­haltig verändert. Die Re­formen dies­bezüglich gehen derzeit ständig ein­her mit der schritt­weisen Unter­­wanderung ver­fassungs­rechtlicher Prin­zipien und der suk­zes­siven Umkehr der Beweis­pflich­tig­keit. Doch das er­schrec­kend­ste an diesen Ent­wicklungen ist, welche Vorreiter­rolle Deutsch­land DURCH seine greu­liche Ge­schichte hier ein­neh­men kann. Denn wenn Deutsch­land einst einen stän­digen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erhalten sollte, dann sicher nicht wegen der Erfolgsgeschichte von Bundes­wehr­ein­sätzen oder deren militärischem Potenzial, sondern wegen der deutschen Ver­dienste im Rahmen polizeilicher und paramili­tärischer Einsätze, ins­­be­sondere in Hin­blick auf Entwicklung und Transfer neu­er Tech­no­­logien. Die deutsche Polizei ist ein echter Export­schla­ger. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man behauptet, dass kei­ne andere Staats­regierung in systema­tischer Weise über so gut tech­no­logisch ge­­rüstete und so gut geschulte Polizei verfügt wie die deut­sche.

Das hat histo­rische Gründe, auf die Meinhof nicht zu unrecht an­spielte, als sie emphatisch vom „deutschen Polizeistaat“ redete. Denn seit den Versailler Verträgen 1918 hat der deutsche Staat sich innen­poli­tisch durch den Ausbau seiner Polizeigewalt stabili­siert, um die dik­tier­te militärische Schwä­che zu kompensieren. Die Fusion von SA und Polizei 1933 gab der Tyrannei der NSDAP erst die um­fassenden Kon­troll­mit­tel in die Hand. Polizeieinheiten ge­hör­ten insbesondere an der Ostfront ganz selbstverständlich zu den SS-Kommandos, die das Land ver­heerten und Menschen mas­sen­­weise massakrierten. (4) Um sol­chen paramilitärischen Be­strebun­gen der deutschen Polizei vor­­zu­greifen, beschlos­sen die Al­liier­ten 1949 ihre Förderali­sierung. Es war dies eine bewußte Kor­­­rektur der Versailler Verhandlungen, de­ren Wirkung nun spätestens mit der Grün­dung der umfassen­den Bun­despolizei 2005 aufgehoben wur­de. Nicht ohne Grund bilden die Grenz­schutzgruppen und para­militärischen Einheiten des Zolls die Basis dieser neuen Staatspolizei. Schon die Adenauer-Regierung ver­folg­te eine Politik der neuen Stär­ke durch Auf­rüstung der Grenz­schüt­zer. Es ist auch kein Zu­fall, dass das Anti-Terror-Kom­man­do GSG9 aus der neunten Grenz­schutz­­­grup­pe der BRD ent­stand. Und der Grenz­schutz wurde eben we­gen seiner bundes­zen­­tralen Hierarchie und seiner paramili­tä­rischen Rüstung schon seit den 70ern immer wie­der gegen politische De­mon­stra­tionen und zur Abschie­bung von Migran­tInnen ein­ge­setzt.

Ein zweites Moment der Militarisierung der deutschen Polizei fin­det sich auf der Ebene der länderspezifischen Polizeien, genauer bei den lokalen Bereitschaftspoli­zeien. Durch deren Spezialisie­rung auf den Ausnahmefall nach dem Vorbild des bayrischen USK (Unter­stützungskom­man­do), haben sich dort hochgerüstete Spe­zial­einheiten wie die berüchtigte Berliner 23. und die verschiede­nen neue­ren BFE-Kom­mandos (Beweissicherungs-Festnahme-Ein­­heiten) entwickelt. An­ge­sichts der spezialisierten Ausbildung und dem einseitigen Einsatz sol­cher Einheiten kann man hier kaum noch von klassischen Polizei­aufgaben sprechen. In der Ver­men­gung von Staatsschutz und Bürger­schutz sind sie eigentlich die politische Polizei der Zukunft. Schon heu­te nehmen sie bei fast allen politischen Veranstaltun­gen eine zen­trale Rolle ein. Sie sind auch die Verbindungsglieder zu den paramili­tärischen und mili­tärischen Armen des Innen- und Verteidungs­minis­te­­riums. Diese kontinuierliche Militarisierung bestimmter Einheiten der Po­li­zei wird ergänzt durch die Intensivierung von Datenaufnahme und -zentrali­sierung und die praktische Relativierung ver­fassungs­mäßiger Grundsätze durch Son­derartikel, Ausnahme-Para­graphen und verwaltungsrechtliche Willkür. In dieser Gemen­ge­lage wird deut­lich, welche neue Qualität die Mono­polisierung der Gewalt bei der Polizei eigentlich bedeutet, denn die stetige Eskalation der zum Einsatz gebrachten Gewaltmittel hat die Möglichkeiten au­ßer­­parlamentarischer Meinungs­be­kundungen und Machtde­mon­stra­tionen zusehends ausgehöhlt. Wenn mensch heute von De­mo­kra­tie spricht, ist damit oft nicht viel mehr gemeint, als die auto­matisierte Zustimmung zum bürokratischen Parteiensystem.

Die Mär von der Deeskalation

Allzu leichtfertig wurde von den meisten Me­dien am Abend nach den Ausschrei­tun­gen von Rostock das Ammenmärchen der Kavala (5) kolportiert, demnach die deeskalierende Linie der Polizei erst durch das aggressive Auftreten der Demonstran­tInnen scheiterte und man dement­spre­chend gezwungen war, hart durchzugrei­fen. Da­bei konnte jedeR im Vorfeld be­obachten, mit welchen re­pres­si­ven Maß­nahmen die Polizei die Stimmung anheiz­te. Er­innert sei nur an die größte Raz­zienwelle der letzten Jahrzehnte, von der bis heu­te jeder Fahndungserfolg fehlt (6); des­weiteren an die verhinderte An­ti-ASEM-Demonstra­tion in Hamburg am 28. 05., bei der die Ver­­anstal­terInnen aufgrund des massiven Polizei­auf­­gebotes die Ver­samm­lung abbrechen mussten; dann an die um­fassenden Ver­samm­lungsverbote, den 12km-Sperr­zaun, die tempo­räre Aus­set­zung des Schengener Ab­kom­mens, letztlich an die Ge­fährder­anschreiben, die über­­mäßigen Kontrollen und Schi­ka­nen bei der An­reise, den per­­ma­­nenten Einsatz von Hub­­schrau­bern, Panzern und Wasser­werfern bis hin zum provoka­tiven Über­flug der Camps der Demonstran­tInnen durch Kampfflie­ger der Bundes­wehr. Zwei Jahre lang hatten sich Polizei, Militär und Sicher­­heitsdienste auf den Gipfel vorbe­rei­tet. 16.000 bis an die Zäh­ne bewaffnete PolizistInnen, 1.600 Sol­da­tInnen und eine un­­be­­kannte Anzahl an sonstigen Einsätz­kräften wa­ren aufgeboten, um vom Terrorangriff bis zur Sonnenbrille jede Be­drohung von Recht und Ordnung abzuwehren.

Angesichts dieser ex­orbi­­tanten In­s­zenie­rung staatlicher Gewalt hat man von liberaler Sei­te nicht um­sonst im Vorfeld schon die Kostenfrage aufgeworfen. Und umso lächer­­licher erschien jedem einigermaßen nüchternen Be­o­bach­ter die nachträgliche Behauptung, die Einsatzleitung hätte sich im Ver­lauf der Großdemonstration unerwarteter Gewalt­tätigkeit und Ag­gres­­sion von Seiten einiger Demonstrations­teil­neh­merIn­nen gegen­über gesehen. Gegenteilig genügt ein Seiten­blick in die Ge­schichte der Gipfel­proteste von Seattle, Göteborg bis Genua, um zu erse­hen, wie niederschwellig die Aus­schrei­tun­gen in Rost­ock letztlich wa­ren. Dass einzelne Polizeieinheiten hier­bei in Be­dräng­nis gerie­ten, ist keines­wegs durch die klugen Stra­tegien und das taktische Arse­nal eines unsichtbaren Fein­des zu erklären, son­dern einzig durch die un­ver­ant­wortlichen Befehle einer anschei­nend über­for­derten Ein­­satz­­leitung. Bekannt ist heute, dass neben zwei schwer ver­­letzten Poli­zisten, die vorübergehend sta­tionär be­han­delt wer­den mussten, die meisten Verletzungen bei der Polizei durch soge­nann­tes „friendly fire“, also insbeson­dere durch die Gas­an­griffe aus den eigenen Rei­hen verursacht wurden.

Auch bei der Polizei sollte mensch sich des­halb die Frage stellen, ob hier nicht bewußt die Si­cher­­heit einzelner Beam­­tIn­nen ge­fährdet wurde, um die Ko­sten für den Sicher­heits­auf­wand zu recht­fertigen. Schließ­lich war es die Strategie der Polizei, mit Greif­trupps und un­ter Einsatz von Schlag­stöc­ken, Pfefferspray und Trä­nen­gas im­mer wieder in den Demonstrationszug und die Kund­­­­gebung zu in­ter­venieren, die den gesamten Ver­samm­­lungs­ver­lauf beständig eskalierte. Gerade dieses „Stärke zeigen“ unter dem Vor­­­­wand, die Sicherheit der Demonstran­tInnen zu schützen und das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf Versammlung durch­­zu­set­­zen, wurde um so fadenscheiniger, je offensichtlicher die Polizei die ganze De­mon­stration in Kol­lektiv­haft für die Über­griffe einzel­ner GewalttäterInnen nahm. Im Grunde hat die Polizei am Sams­tag in Rostock nahezu ihr ge­samtes Gewaltpo­ten­tial zum Ein­satz ge­bracht, und wer an­ge­sichts von martialisch aussehenden, para­mili­tä­­­risch gerüsteten Po­li­zistInnen be­hauptet, deren Präsenz hätte so et­­was wie eine fried­liche Stimmung bezweckt, ver­kennt ein­fach den Fakt, dass es am 02. Juni für die Demonstration ei­gent­lich nur eine Be­­­drohung gab, nämlich die schwer be­waffnete Polizei selbst. Die Mehr­zahl an potentiellen Ge­walttäterInnen trug grün bis schwar­­ze Uni­­form und führte mindestens drei nicht­tödliche Waffen­systeme mit sich. Hätte es an diesem Tag wirklich eine de­­eskalierende Strategie der Polizei gegeben, hätte die Groß­de­­mon­stration gegen den G8-Gip­­fel in Heiligendamm zu einer der fried­lichsten in der Geschichte der Gip­felproteste werden kön­nen, die meisten Schäden wären kaum aus­­reichend gewesen, um einen Versicherungsvertreter ins Schwit­zen zu bringen. Dass die La­ge dann trotzdem nicht völlig aus dem Ru­der lief, ist allerdings nur dem diszi­plinierten Ver­hal­ten der De­mon­stran­tInnen und de­­ren Beharr­lichkeit zuzu­schrei­ben.

Die hohe Zahl an ver­letzten De­mon­stran­tInnen und Ingewahrsam­nahmen steht dabei in kras­sem Mißver­hält­nis zu der strafrechtlich überführten Tä­terInnen­zahl. Die Führungsebene der po­li­zeilichen Ein­satz­leitung hatte letztlich nur das Inter­esse, den si­cher­heitstechnischen Auf­wand hin­­reichend zu rechtfertigen. Dass sie hierfür nicht nur die Krimi­na­­li­sierung der inter­nationalen Pro­test­bewegung, sondern auch die Ge­fährdung von Leib und Leben der DemonstrantInnen UND der Beam­­tInnen in Kauf nahm, zeigt deut­­lich, worin die Ge­fahr der Ver­­mengung von Polizei und Militär we­sent­lich be­steht. Denn durch die Militarisierung der poli­zei­lichen Aus­­bil­dung und Aus­rüstung trägt der Staat heute eine Gewalt auf die Straße, die sich seit Jahren poten­ziert. Diese beständige und für Deutsch­­land äußerst typische Spirale ist die systema­tische und stra­tegische Es­kalation, und nicht das Wer­fen von Pflastersteinen, einer eher alternativlosen, niederschwelligen Tak­tik, die sich seit ih­rer Erfin­dung kaum verändert hat.

Who the fuck ist the black block?

Am auffälligsten war die mediale Desin­for­mation hinsichtlich der Ana­­lyse und Dar­stellung des sogenannten „sogenannten schwar­zen Blocks“. Undifferenziert und in teilweise un­erträg­licher Art wurden Ge­­walt­tä­terInnen mit Autonomen und Teilnehme­rInnen des „so­ge­nannten schwarzen Blocks“ gleichgesetzt. Auch hier über­nahm die Pres­­se größten­teils einfach die Erklärungen der polizei­lichen Einsatz­lei­tung. Der Zusammen­hang ist allerdings komp­lexer als eine Erbse. Denn zuerst einmal war auch den national in­spirierten BürgerInnen die Autonomie mal ein liebes Kind, und die sogenannten „lin­ken Auto­nomen“ standen und stehen abstrakt für nicht mehr und nicht we­ni­ger als für die Unabhängigkeit von staat­licher Verwaltung und Partei. Das macht sie zum radi­kalen Teil der Bewegung und äußert sich in ihrem militanten Auf­treten, denn ihre Autonomiebe­strebun­gen werden beständig di­ffamiert und behindert.

Man kann also davon aus­gehen, dass „Auto­no­me“ sowohl an den Ausschreitungen als auch am „sogenannten schwar­­zen Block“ beteiligt waren. Umgekehrt läßt sich aber das Phäno­men nicht darauf reduzieren, weil der schwarze Block selbst gar kein handlungsfähiges Subjekt, sondern eine tak­tische Erschei­nung ist, mehr Produkt der Eskalation polizeilicher Ge­walt, als ei­ne Summe indi­vidueller Kalküle. Die Mehr-Block-Stra­te­­gie ist zwar einerseits eine Entwicklung der Gipfelproteste selbst ge­­we­sen, um den ver­schiedenen Sicherheitsbedürfnissen und der un­ter­­schied­lichen Risikobereitschaft unter den Demon­strantInnen ge­recht zu werden. Und wenn man bedenkt, aus wie vielen Regionen der Welt Menschen zu den Gipfelprotesten anreisen und wie arg es teil­­weise um die polizeiliche Willkür in vie­len Herkunftsländern be­stellt ist, wird deutlich, wie differen­ziert man die kollektiven Sicher­heits­­fragen bei solchen Groß­veranstaltungen behandeln muss. In die­sem Zusammenhang steht der „schwar­ze Block“ für die­jenigen Teil­neh­­­merInnen mit der höchsten individuellen Ri­si­ko­be­reit­schaft. An­de­rer­seits aber taucht das Phä­nomen des „schwar­zen Blocks“ mitt­ler­­weile auch auf vielen anderen poli­tischen Demon­strationen und unab­hängig von Mehr-Block-Stra­tegien auf. Die schwar­ze Uniformie­rung und Vermummung der DemonstrantInnen ist dabei überhaupt das einzige Kriterium, diesen oder jene zum „sogenannten schwarzen Block“ zu zählen, da hier oftmals nicht mal eine direkte Verbindung zur zentralen Demonstration vor­liegt, etwa durch Bündnisabsprachen oder Einordnung in größere Strategien. Wei­test­gehend sind diese lo­sen Blockbildungen Reak­tionen auf die systematische Abfilmung, das pausen­lose Foto­grafieren von AktivistInnen bzw. auf die in­ter­ven­tionistische De­mon­strationsführung durch die Polizei. (7) Der Ein­satz solcher völ­lig neuen Überwachungs­- und Kontroll­mittel fällt lo­gisch mit der Entstehung der globalen Anti-G8-Bewe­gung zusam­men, deshalb diese zwei Wurzeln des „sogenann­ten schwarzen Blocks“.

In Deutsch­land ist die Es­ka­lation von Kontrolle und Über­wa­chung der Demonstrationen be­son­ders problematisch, da hier be­reits ein weltweit einmaliges Gesetz die Ver­sammlungs­frei­heit ein­schränkt. Das sogenannte passive Be­­­waff­nungsgesetz und das Verbot von jeder Art der Vermummung (8). Dem Ge­setz liegt der Trug­schluß zugrunde, dass von der Poli­zei gar keine Gewalt ausgehen kön­ne und die DemonstrantIn­nen des­we­gen keines Schut­zes bedürften. Sieht man allerdings, mit welcher Flächen­wirkung die Polizei Fern­waffen an jenem Sams­tag zum Einsatz brachte und hierdurch hun­derte Unbeteilig­te, teilweise sogar die eigenen, gut geschützten Ein­heiten verletzte, kann man sich nur an den Kopf fassen, wenn De­mon­strantInnen gleichzeitig verbo­ten wird, bspw. Tücher mitzu­füh­ren, um sich vor schweren Gas­schäden auch nur ansatz­weise zu schüt­zen. Tat­sächlich ist der black block aber außer­halb von Mehr-Block-Stra­­te­gien und ohne Ein­bindung in Bünd­nisabsprachen nicht viel­mehr als eine willkür­liche Zusam­men­rottung von Demon­stran­tIn­nen mit erhöhter Gewalt- und ge­ringer Ri­sikobereitschaft am Ran­de von politischen Ver­sammlungen. Die Feind­­bild-Projek­tio­nen der Poli­zei geben die­sem Phänomen mehr Sub­stanz als Ge­halt in ihm selbst steckt.

Oftmals verbirgt sich nämlich hin­ter de­ren aggressiven Ak­tio­nen nichts weiter als individuelle Frust­be­wältigung anstelle ter­ro­­ristischer Motivation. Das zeigt schon das be­ständig gleich­blei­ben­de, niederschwellige Niveau der zum Ein­satz ge­­brachten Gewalt­mit­tel. Die Behauptung, der „soge­nann­te schwar­ze Block“ würde in der Anwendung der Ge­walt­mittel beständig eskalieren, ist einfach eine Lüge. Denn auch am 02. Juni konnte die Polizei keine der Be­­haup­­tungen belegen, dass von Seiten der De­mon­­strantInnen an­de­re Gewaltmittel als das Wer­fen von Steinen und Flaschen ein­ge­setzt wurden. Der Fund zwei­er Tränen­gas­­kar­tu­schen mit kyrillischen Schrift­­zeichen nahm der Hardliner Beck­stein zwar zum Anlaß, von Gas­an­griffen der De­monstran­tInnen zu fa­seln, real konnte aber die Ein­satzleitung nicht bestätigen, dass die Gra­naten NICHT aus dem ei­­ge­nen Ar­senal stammten. Auch die an­geb­­lichen zwei Messer­attac­ken und der Fund beson­ders prä­parierter Wurfgeschosse blieb ohne Be­weis. Ganz zu schweigen von nicht belegten Säureattacken und Brand­­sätzen. Von einer systema­tischen Eskalation kann hier also keine Re­­de sein. Und es macht stark den Eindruck, als ob man mit sol­­cher fälschlichen Skan­da­li­sierung der gewalttätigen Übergriffe durch DemonstrantInnen gezielt Stim­mung und Angst unter den Beam­­­tInnen schüren wollte.

Aber im black block lauern hinter den Tü­chern und Brillen keine ein­ge­schworenen Verbrecher­grup­pen, die ihre Freizeit damit ver­brin­gen, mit neuen Angriffs­mög­lich­­keiten und Waffen zu experi­men­tieren und dabei sind, sich zu fa­na­­tischen Terror­gruppen zu ent­wickeln, sondern oftmals Men­­schen, die sich sonst in ihrem poli­tischen Alltag sehr rege en­ga­­gieren, und die mehr wol­len, als nur über die Ver­besserung der politischen, ökono­mischen und sozialen La­ge zu reden und da­­rüber die notwendigen Taten zu ver­ges­sen. Men­­schen, die Angst vor Verfolgung und polizeilicher Ge­walt haben und sich deshalb schützen. Menschen, die sich kämp­fe­risch und soli­darisch für die verschiedenen Ziele der Bewegung einsetzen. Und in dieser ak­zep­tierten Mili­tanz sind sie auch ein le­gi­timer Teil der­selben. Wenn die großen Verbände im breiten Spek­trum des mobili­sie­­ren­den Bünd­nisses, wie Linkspartei und attac, ge­gen den mili­tan­ten black block auf der Großdemonstration pole­mi­­sierten, dann nur in reichlicher Selbst­über­schä­tzung der Einblic­ke in die ei­gene de­zen­tra­lisierte Ba­sis. Denn so einfach wie die Po­li­­zei Zivil­fahnder und Provoka­teure unter ihn mischen konnte, so einfach konnte mensch als attaci oder Gewerk­schaf­terIn sich den schwar­zen Pul­li überstreifen, die Sonnen­bril­le aufsetzen, ein Tuch vors Gesicht ziehen und Teil des Blocks wer­den.

Der Rechtsstaat im Ausnahmezustand

Noch viel offensichtlicher als die Lü­ge von der deeskalierenden Stra­tegie der Polizei war während der G8-Proteste in Heiligen­damm der perfide und widersprüchliche Vor­wand, die Polizei agie­re einzig mit dem Einsatz von syste­ma­tischer Gewalt und nicht­töd­lichen Waffen, um die Sicherheit der De­mon­stran­tInnen und ihr Recht auf Versammlungsfreiheit erst her­zu­stellen. Wie wenig Wert man allerdings wirklich auf den Rechts­schutz der protestie­renden Bewegung legte, wurde in der Be­handlung der in Gewahr­sam Ge­nom­menen und Verhafteten all zu deutlich. Der Republika­nische Anwältinnen- und Anwältever­ein (RAV) (9), der sich als „Legal Team“ in aufopferungsvoller und be­wun­­derns­werter Weise um die Rechtsfolgebetreuung der inhaftierten De­mon­­strantInnen küm­merte, sprach schon am Sonntag von desas­trö­sen Arbeits­be­din­gungen und sah den Rechtsstaat durch die poli­zei­lichen Maß­nahmen völlig außer Kraft gesetzt. Denn schon wäh­rend der Groß-Veranstaltung kam es immer wieder zu Übergriffen der Polizei auf Unbeteiligte. SanitäterInnen, PressevertreterInnen und An­wäl­tIn­nen wurden bei ihrer Arbeit massiv behindert und erlit­ten teil­weise selbst Verletzungen durch die Polizei. Die miesen Unter­brin­­gungsverhältnisse in den Haftzellen, von denen die einen be­­­­haup­­ten, es wären Käfige, die anderen, es wären viereckige Gitter­ge­­­stelle ge­­we­sen, versuchte man im Nachhinein damit zu recht­fer­ti­­gen, dass ja niemand hätte absehen können, das es zu so vielen Verhaf­tungen kom­men würde. Das Argument ist allerdings so blau­äugig, das man es kaum glauben kann und denkt man dabei noch an die eben­falls schlech­ten Unterbringungen und über­mäßigen Arbeitszei­ten der Beam­­tInnen, liegt der Schluß nahe, dass solche wich­tigen As­pek­te auf der Sicherheitsagenda der Kavala gar keine oder nur eine sekundäre Rol­le gespielt haben müssen. Es sind dies schon die di­rekten Auswir­kun­gen einer men­schen­ver­achtenden militä­rischen Logik und es ist be­­zeich­­nend, dass das Bundesver­fassungs­ge­­richt am Mitt­woch das weit­­reichende Ver­sammlungsverbot der Poli­­zei rund um Heiligen­damm mit dem Kom­mentar bestätigte, die Einsatzlei­tung hätte hier Fak­ten ge­schaf­fen, unter deren Eindruck sich die Ver­fas­sungs­schütze­rInnen ge­nötigt sahen, einer so weit­rei­chen­den Be­schnei­dung des Ver­samm­­­lungsrechtes zustimmen zu MÜSSEN. Man hatte sichtlich Bauch­schmerzen.

Ein weiterer Umstand, der die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die exekutive Gewalt illustriert, ist der Sachverhalt, dass es ab­­­­­ge­­­­se­hen von den wenigen überführten DemonstrantInnen vor allen Din­­gen für die gewalttätig gewordenen PolizistInnen zu kei­ner­lei Rechts­folgen kommen wird. Wenn Parlamentarier schon groß­mäulig zur Denunziation von gewalttätigen Demonstran­tInnen auf­ru­fen, so soll­­te dies doch viel mehr noch für die pro­fessionalisierte Poli­zei gel­ten. Fleissig pflegt man dagegen den Mythos vom „guten Bul­len“, oh­ne die realen Entwicklungen in den verschiedenen Ein­heiten nä­her zu betrachten. Die polizeiliche Ge­walt wird durch solch stil­le Dul­­dung nur noch zusätzlich bestätigt. Dabei sind durch Presse und Ein­­zel­personen dutzende Zeu­genaussagen und Ton- bzw. Video­auf­nah­­men verfügbar, deren Ge­halt Anlaß zu näheren Ermittlungen gä­be. Allein, vieles ist un­brauchbar, weil die uniformierten Gewaltä­te­rInnen vermummt, ohne Dienstnummern und Namen agierten. So­lange also die De­monstrantInnen dazu angehalten sind, sich im Sin­ne des fried­lichen Miteinanders nicht zu vermummen und durch die Ver­­schleie­rung ihrer Identität Mißtrauen zu erwecken, solange ist sel­bi­ges auch von der Polizei einzufordern, insbesondere wenn es um Einheiten in Nahkampfeinsätzen geht. Wie Vertrauen durch reale Vorleistungen, so wachsen Unrechtsgefühle durch reale Un­ge­rechtigkeiten.

Radikal und militant: Zum Ende des bewaffneten Kampfes

Eine Frage wurde bisher bewußt ausgespart: Die der Gewalt von Sei­ten einiger DemonstrantInnen selbst. Das hat System, denn die Ge­walt stellt sich am Beispiel der G8-Proteste in Heiligen­damm in ei­nem asymmetrischen Verhältnis dar, wie es für die Kon­flikte der post­industriellen Nationen nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges in meh­rerer Hinsicht typisch geworden ist. Auch in Heili­gen­damm stan­den die völlig unbewaffneten DemonstrantInnen einer rie­sigen Ge­­walt-Maschinerie gegenüber. Die mediale Be­richt­­er­stattung stellte die­ses asymmetrische Verhältnis allerdings um­­gekehrt proportional dar und kam so gar nicht über ober­fläch­liche Betrachtungen hinaus. Denn der bewaffnete Wider­stand ist vor allen Dingen in Europa in den letzten Jahrzehnten permanent rückläufig und insbesondere in den postfaschistischen deutschen Satellitenstaaten wurde er komplett zer­schlagen. Und an­ge­­sichts der Überwachungs- und Kontrollappa­ra­te des mo­der­nen Staates, an­ge­sichts des Mangels an wirkmächtigen po­li­tischen Zielen und breiter sozialer Bewegungen, ist es aktuell nicht nur aus­sichtslos sondern auch sinnlos und wenig zweckmäßig ge­­wor­den, den Staat im bewaffneten Kampf herauszufordern. Schon die erste Ge­­ne­ration der RAF war zu einer mehr symbolischen Kon­flikt­­­aus­tra­gung übergegangen, als sie die Strategie propagierte, durch fort­gesetzte Ak­tionen die Polizeimacht in der Gesellschaft „nur noch“ auf­­zei­gen zu wol­len.

Diese Strategie des „Aufzeigens“ kann man heute als weitestge­hend gescheitert betrachten. Neben der systematischen Auf­­rüstung und Mili­­tarisierung der Polizei hat sie vor allen Dingen die Krimi­nalisierung des Widerstandes er­­leichtert und zur Entsolidari­sie­­­rung mit der Bevöl­ke­­rung ge­führt. Mensch wird sich also in Zu­kunft stärker bemühen müs­sen, zwischen Militanz und Terror zu un­ter­­scheiden, insbesondere auch vor dem Hintergrund notwendiger Ab­­grenzungen zu den men­schen­­­ver­achtenden Überfällen durch terro­ristische Fundamentalis­tInnen und FanatikerInnen, wenn mensch die Be­wegung wie­der auf brei­tere Füße zu stellen trachtet. Ein offensi­ver An­griff auf unbeteiligte Po­li­­zeieinheiten mit Flaschen und Steinen ist sicher­lich nicht mit Bom­­­benanschlägen und Raketenbeschuß zu ver­­­gleichen, dennoch wird auch hier der Schaden an Leib und Le­ben von BeamtInnen – denn auch sie sind nicht gleich Gewalt­täterIn­nen, nur weil sie eine Uniform tragen – billigend und un­verhältnis­mäßig in Kauf genom­men, und eine Gewalt­ausübung ver­herrlicht, de­ren Zwecke für sich sinnlos sind.

Schlimmer noch, indem die Polizei so zum Opfer gemacht wird, gibt man der Aus­­blendung ihrer Täter­rolle zusätzlich Raum. Man demonstriert so auch keinerlei kollektive Stär­ke sondern lediglich die eigene Hilf­lo­sig­keit. Denn was hat man mehr erreicht, wenn man eine Hun­dert­­schaft Beam­tInnen für kurze Zeit flüchten sieht, als die Be­frie­­digung niederer in­di­vidueller Bedürf­nisse? Wer die mediale Sym­­bol­kraft und die hetze­rische Ausschlach­tung sol­cher sinnlosen Übergriffe einfach ausblendet, um ganz ge­pflegt seinen klei­nen Stein zu werfen, der hat letztlich mit Po­li­tik nicht viel am Hut. Sol­ches Ver­halten ist unsolidarisch. Dafür gibt es kei­ne ideo­lo­gische Rechtfertigung und historisch betrachtet war je­der ernst­­hafte Wi­derstand erst in dem Moment wirkungsvoll, wie es ge­­lang, Polizei­kräfte und SoldatInnen in selbigen zu involvieren. Auch hier wird mensch neue „Kanäle“ finden müssen. Dies ist keine ge­mäßig­te Posi­tion, sondern die notwendige Kritik an einem falschen Be­wußt­sein von Militanz. Militant ist, wer bewusst, vor­bereitet und ziel­gerichtet die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit über­schreitet und sich dem Walten der exekutiven Gewalt entgegen stellt. Es ist mehr als der bloß lauthals pro­­tes­tierende Ungehorsam der Untertanen. Und kei­ne Frage, ohne die­sen kämpferischen Ein­satz der AktivistInnen wird es in Zukunft noch schwerer wer­den, Alter­nativen zur herrschen­den Meinung Gehör oder gar Tat­kraft zu verschaffen. Um so mehr soll­te man darauf achten, nicht durch unsinnige Aktionen die eigene Be­we­gung zu sabo­tieren und sich den Rechtsfolgen blindlings auslie­fern.

Dies gilt auch für die me­dial aufgepfropfte „Gewaltdebatte“, de­ren hohler Kern nur den radikalen von dem gemäßigten Teil der Be­we­gung spalten will. Gewalt, das ist im politischen Sinne immer schon der Einsatz falscher, unan­gemessener Mittel gewesen und hat des­halb am rechten Rand und im Staat sein Zuhause. Von hier, nicht von links geht die Gewalt hauptsäch­lich aus. Und in diesem Zusam­men­­hang haben die dies­jährigen Protes­te gegen die G8 auch posi­tive Zeichen setzen können. Denn die gut vorbe­reiteten und des­halb er­folg­reichen Blockaden der Kam­pag­ne Block G8 mit ca. 10.000 Men­schen, die sich praktisch über die vom Bundes­ver­fas­sungsgericht zeit­gleich bestätigte Bannmeile rund um den Zaun hin­weg­­setzte, war ein deutliches Signal eines militanten aber nicht gewalt­tätigen Wider­standes, dessen Echo in vielen Win­keln der Republik Ge­­hör fand. (10) Radikal zu denken, bedeutet an den eigenen Grenzen hell­wach zu sein und Subversion, die Kunst nach Innen einzudringen ohne an­zu­ecken.

(clov)

 

(1) In dieser Allgemeinheit ist hier v. a. D. gemeint, dass (a) im Inneren kaum noch rechtsfreie Räume bestehen, aus denen heraus soziale Konflikte wir­­­kungs­voll Eigentumsverhältnisse in Frage stellen könnten, und (b) die inter­nationale Diplomatie sich spätestens nach dem Wegfall der Block­konfron­ta­tion nur noch auf die Verhandlung ökonomischer In­te­res­senlagen be­schränkt hat. Dass die Bundesregierung bspw. den Klima­schutz beim G8 so stark the­ma­tisiert hat, hängt damit zusammen, dass die deutsche Industrie in vielen Bereichen klima­freundlicher Technologien weltweit marktführend ist.

(2) Vgl. hierzu die Textsammlung unter: www.uudo.de/wiki/index.php/PolitikUndGesellschaft/WaffenGegenZivilisten

(3) www.dhm.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_gesetzNotstandsgesetze/index.html

(4) Vgl. auch FA!#23: „Innere Sicherheit D“, S. 1,14ff;

(5) Name der zentralen Einsatzleitung der Polizei während des G8-Gipfels

(6) Fingiert wurde hier ein Zusammenhang zwischen der vom Verfassungsschutz gesuchten Militanten Gruppe (MG) und einem Aufruf der sogenannten „Militanten Kampagne zum G8-Gipfel Heiligendamm“. Im Grunde sind veraltete Haftbefehle gegen drei Mitglieder der MG durch 18 weitere ergänzt worden, um so die Durchsuchung von über 40 Projekten und die Beschlagnahme von Computern, Daten und anderen Materialien zu rechtfertigen. Bis heute wurde keine dieser 21 verfolgten Personen ermittelt.

 

(7) Vernachlässigt wurde hier der Zusammenhang zu antifaschistischen Demonstrationen, bei denen Uniformierung und Vermummung auch dem Schutz vor Verfolgung durch rechte Extremisten dienen.

(8) Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) von 1978, §17a; online unter: www.gesetzesweb.de/VersammlG.html

(9) Kontakt über: www.rav.de

(10) Zum Erfolg der Blockaden gibt es sehr unterschiedliche Meinungen, ich denke jedoch, auch wenn es nicht gelang, den G8-Gipfel zu stören, so konnte man doch sehr eindrucksvoll demonstrieren, dass in einer Demokratie auch das Verfassungsgericht nicht das letzte Wort haben kann und selbst tausende PolizistInnen entschlossenem, klugem und kollektivem Vorgehen nichts als blanke Gewalt entgegen zu setzen haben.

300

(Zack Snyder, Warner Bros. Pictures, USA)

Spätestens seit der Erfindung des sechs-lagigen Toilettenpapiers dürfte auch dem letzten Skeptiker klar sein: Die Moderne ist der lebendige Beweis da­für, dass Primitivität und Hochkultur keine ausschließenden Kategorien sind, wenn mensch sich an die Beschreibung der Geschichte macht. Und in­sofern hat die moderne Epoche auch schon alle Versprechungen erfüllt, von der tiefsten Barbarei bis zum feinsinnigsten Kunstwerk. Angesichts dieser span­nungsreichen Vergangenheit wundert es nicht, dass die Reste des Bildungsbürgertums sich aktuell auf einen abgeschotteten Zynismus zurückgezogen haben, während der letzte Pöbel gut bewacht abseits der Aufmerksamkeit höhnisch deren Abgang feiert. Es herrscht das Kleinbürgertum, allüberall! …

Der Titel des neusten hollywoodianschen Machwerks für den deutschen Markt ist so erschreckend einfach wie treffend. Die Hohlheit wird hier schon in ihrer hohlsten Weise, der Leerheit, ausgedrückt. Aber es geht in dem Filmstreifen selbstverständlich nicht um einen beliebigen Punkt in einem leeren Koordinatensystem, wie die nackte Zahl im Titel suggeriert, sondern um eine Gruppe entwurzelter, spartanischer Soldatenseelen (Hopliten), deren genaue Anzahl ansonsten ziemlich egal ist. Der Einfall persischer Heere unter der Drohung, alles und jeden und für alle Zeiten zu versklaven, zwingt die „300“ in eine aussichtslose Schlacht. Die dann auch einen Großteil der erzählten Zeit des Films ausmacht. Doch dieser Trupp aus hart disziplinierten und von ihren Frauen & Kindern getrennten Superhelden ist gar kein wilder Haufen oder glückliches Kollektiv, wie der überbordende Pathos von Blut, Land und Ehre imaginiert, sondern ein ganz gewöhnliches Kommando, eine Spezial-Force unter Führung des spartanischen Königs höchstselbst. Der Zusammenhang erscheint so selbstverständlich wie die unzähligen Darstellungen aus der Zeit der historischen Großdramen des Holly­woods der 50er und frühen 60er. Selbstverständlich kämpft der oberste Führer ganz vorn, selbstverständlich schweißen dessen charismatische Reden alle zusammen. Doch auffällig bei „300“ ist: Die Filmemacher legten scheinbar Wert darauf, die Dif­fe­ren­zierung zwischen einfachem Soldat und königlichem Führer möglichst auszuschalten. Während sich der überlieferte Historienschinken noch auf einfache Klassengegensätze stützte, soll unser spartanischer König „nur“ einer unter vielen sein, gleichzeitig jedoch DER Besondere, derjenige Held mit der ausgezeichneten Mission bleiben.

„Angst ist die Mutter des SOLDaten.“

Solch Widersprüchlichkeit wäre freilich span­nungsreicher Stoff für einen Film. Doch anstelle moderner Sozialpsychologie zogen Dramaturg und Regisseur offensichtlich früh­mit­tel­­alter­liche Korporations-Theorien zu Rate. Denn damals lehrte man tatsäch­lich, dass ein organisiertes Ganzes (bspw. eine Gruppe) sich aus einem Kopf und seinen Gliedern zusammensetze, wobei der Kopf zwar die Glie­der, diese aber nicht den Kopf repräsentieren könnten (corpus-caput-Schema). (1) Die Folgen für die Handlung von „300“ sind fatal. So vor­gestellt, werden die 300 Soldaten zu willenlosen Helfershelfern, deren psychologischer Haushalt völlig durch die königliche Psyche bestimmt ist. Das ist vielleicht „produk­tions-ökonomisch“ in Hinsicht auf die Ersparnis von Nebenrollen, aber letztlich ziemlich billig. Quasi mo­ti­va­tionslos verrichten die Spartaner ihren „Dienst“, schlachten Gegner um Gegner ab, schichten Leichenberge, pflegen ihre Wunden und Schil­de, stets wartend und bereit, den nächsten mörderischen Befehl des Königs wortlos auszuführen. Und wo es keine Heimlichkeiten, keinen Einspruch, keine Unzufriedenheit gibt, keine individuierende Geschichte, da gibt es eben auch wenig zu erzählen. Dieser Umstand wiegt umso schlimmer, als es in dem Film ja nicht um eine muntere Urhorde auf der Gänse­blümchenjagd geht, sondern um einen modernen Kampf-Verband, der durch die Psyche des spartanischen Königs einzig motiviert, eine selbstmörderische Kampagne startet. Und hierin liegt dann auch über­haupt die unausgesprochene Aktualität des mythischen Stoffs der Schlacht an den Thermopylen, deren Gehalt der Film „300“ völlig verfehlt. Denn inmitten der Gegenüberstellung von militärisch kultivier­tem Griechen und barbarisch übermächtigem Perser, ist ja ein Zwangs-Kollektiv Protagonist, das moralisch völlig unentschieden ist zwischen Ge­walt zum guten Zwecke (Special-Force) und absolut sinnloser Gewalt (Selbstmordkommando). Doch anstatt diesen Abgrund dem Zuschauer zu verdeutlichen und zu übersetzen, anstatt den Kontext zu erzählen, bleibt der Film sprachlos, und hüllt all die brennenden Fragen in eine bi­zarre Stilistik, die nichts als Mode und Trend verrät. Die ohnehin durch die viele Weichzeichnerei verwischten Details, erreichen so nicht einmal die Ebene des Banalen oder Profanen. Das Apfelessen am Rande des Schlacht­feldes, der unverblümte Blick auf den nackten Hintern des Königs, die sexuelle Diskriminierung der Königin, alles gerinnt zur trivialen Ausstaffage einer pathologischen Handlung.

Der Film endet, wie er von An­fang an enden musste, im Selbstmord des Königs, dargestellt als kollektiver Selbstmord der gesamten 300. Der Attentatsspeer verfehlt sein Ziel, knapp, aber wahrscheinlich hätte auch dieser letzte Mord keine größeren Auswirkungen auf das Handlungsende gehabt. Die symbolische Verwundung des Gott­königs Xerxes bereitet es nur vor: Denn zum Schluss bekommt der/die gemarterte ZuschauerIn noch ein blühendes Morgengrauen voll kriegslüster­ner Spartaner serviert. Mensch kann nach Hause gehen, das „Perserprob­lem“ haben die Spartaner (in der nächsten Generation) dann doch noch gelöst. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn angesichts der faulen Dar­­stellung, die sich an dem Glanz der eigenen technischen Effekte befriedigt und jede inhaltliche Auseinandersetzung scheut, wundert es schon, wenn da nebenbei eine Ratsversammlung inszeniert wird, bei der die Köni­gin im Namen der 300 Soldatenmütter fordert, mehr Truppen in den Ira… ähm.. zu den Thermo­pylen zu entsenden. Diese haarsträubende, explizite Aufpfropfung kann mensch einfach nur als billige Propaganda für die gegenwärtige Kriegspolitik der USA verstehen. Sie ist aber noch harmlos im Vergleich zu einer anderen, impliziten. Es wird nämlich auch eine verräterische Negativ-Figur in eine völlig belanglose Nebenhandlung projiziert, die das hehre Ansinnen der für Blut und Boden streitenden Spartaner restlos hintertreibt. Der „Volksschädling“ würden hierzulande böse Zungen zischen. Ein einsamer, spartanischer Krüppel, dessen körperliche Voraussetzungen es nicht zulassen, in der Phalanx zu kämpfen. Unser charismatischer spartanischer König will ihn deshalb nicht in sein Kommando aufnehmen. Der Verstoßene ist schwer enttäuscht, rennt zum Feind über, lässt sich durch eine Mischung von Sex & Drugs & Rock´n´Roll zum Überlaufen bewegen und verrät so die „300“, die wenig später in der tödlichen Falle stecken.

Bieten uns die Filmemacher damit etwa einen anderen Ausweg aus dem selbstmörderischen Unterfangen? Hätten die 300 Spartaner ohne den Verrat vielleicht doch das gesamte persische Heer vernichtet und wären so der eigenen Ka­ta­strophe entgangen? Vermutlich nicht, denn der ganze Pathos des spar­tanischen Königs beruht auf seiner schicksalshaften Todesweihung. Er MUSS für die Sache sterben, und damit auch der gesamte, psychologisch an ihn gekettete Kampfverband – darin besteht ja eben das Pathologische, Unentwickelte der Handlung. Die Frage des Verrates bleibt ihr so also auch äußerlich, aufgepfropft, belanglos. Aber wozu ist es dann an­gesprochen? Soll etwa darauf verwiesen werden, dass es überall, selbst bei den Ameri… ähm.. Spartanern, Verräter gibt, die mensch noch dazu an ihrer äußeren „Miß“-Gestalt identifizieren kann? Es ist nicht die Bösartigkeit der Filmemacher, sondern ihre hohle Inszenierung, die aus sprachloser, trivial-pathologischer Leere besteht – ihre inhaltslose Form, die solcherlei bösartige Aufpfropfungen ermöglicht.

Fazit: Den MacherInnen von „300“ ist ein einmaliges Kulturprodukt gelungen, dass all den Hohlköpfen dieser Welt Freude bereiten dürfte. Anstelle von komplizierten Kontexten dominiert der technische Effekt, anstelle ethischer Fragen des kollektiven Überlebens und individuellen Hoffens blinder Selbstmord-Pathos, anstelle von kritischer Aufklärung der naive Mythos. In zynischer Art & Weise liegt der Film damit voll im Trend der Zeit.

(clov)

EinmalEins für „moderne“ Staatsbürger

Einige schlaue Köpfe haben einmal behauptet, das herausragendste Merkmal der Mo­der­­ne wäre das einer um sich greifenden Berechenbarkeit. Leider haben sie da­­bei über­sehen, dass zu einer richtigen Berechnung auch die jeweils passenden Rechen­mit­tel ge­hö­ren. So kommt es, dass eine anwachsende Menge von Interessenskalkülen in der mo­dernen Welt nicht zu Transparenz sondern zu „Unübersichtlichkeit“ und „Über­kom­plexität“ führt. Der Einfachheit halber könnte mensch auch von einer aus­ufern­den Orien­tierungs­lo­sigkeit sprechen. Das passende Umfeld also, um Eier als Hüh­ner zu verkaufen. Zugespitzt for­mu­liert: Die Moderne unterscheidet sich von allen bis­he­ri­gen Epochen gerade darin, dass sie es ermöglicht, nicht nur Einige oder Viele son­dern Al­le in Dummheit einzulullen.

So wundert es kaum, dass die „modernen“ Volksparteien aktuell versuchen, den gemei­nen Bür­ger für dumm zu verkaufen, indem sie so tun, als gäbe es plötzlich eine völlig neu­­­­ar­tige po­li­tische Debatte um Mindestlöhne und eine Verschärfung des Strafrechts für Mi­­gran­tIn­nen. Dabei reichen schon vier Finger, um das angebliche Neue als Wieder­kehr des ewig Glei­chen darzustellen. Das dritte Jahr der derzeitigen Bundesregierung ist an­ge­bro­chen und damit auch der Vorwahlkampf. Dementsprechend rechnen die gro­­­ßen Wahl­stra­tegen die dumpfesten Vorurteile ihrer Anhängerschaft fürs erste einfach hoch. Mo­bi­li­sie­rung der Stammwählerschaft heißt das dann. Da haben wir einerseits die Rechts­kon­ser­va­tiven, denen der Staat sowieso nie genug Gewalt anwenden kann und die, historisch gesehen, von der CDU bedient werden. Andererseits die Links­so­zia­listen, für die die staatliche Vorsorge selbst dann nicht weit genug geht, wenn der Stadt to­tal be­­stimmen würde, was überhaupt ‚da sein‘ kann bzw. Existenzrechte wie Vollstreckungs-Ti­tel zuspräche. Klassischerweise das Klientel der SPD.

Und ganz logischerweise würde in dieser Gemengelage jeder konkret politische Inhalt die ideologische Integrität der jeweiligen Lager nur ge­­fähr­den. Da darf dann auch ein gewisser Roland Koch (CDU), seit seiner Korruptions-Affäre bekannt als „Schweinchen Babe“, härtere Stra­­fen für „Ausländer“ fordern und dabei auf Schmusekurs zur NPD gehen. Denn wem die wohltätig verteilten Lebensmittelkarten nicht aus­­rei­chen, der wird sowieso nie begreifen, was man hierzulande unter ‚deutscher Leitkultur‘ versteht. Dass in einem „modernen“ Rechtsstaat ein­­zig die Richter am konkreten Fall über die Angemessenheit der Strafe entscheiden, solche Details interessieren im Kampf ums stumpfeste Res­­sen­timent von Rechts so wenig, wie die unliebsame Frage nach den Ursachen, welche eine Kriminalisierung bestimmter Be­völ­ke­rungs­schich­­ten notwendig bedingen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der eiserne Roland nicht verrechnet hat und die Sicherheitsverwahrung von Mi­­grantInnen in Gefängnissen statt in Auffanglagern den Bürger nicht am Ende noch teurer kommt.

Ver­lässlicher ist da schon die SPD. Besser spät als nie hat man sich ausgerechnet, dass die eigenen Arbeitsmarktreformen der letzten Jah­re zu ei­nem massiven Lohndumping und zur Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten geführt und eine Unmenge von Ne­ben­wi­der­sprü­chen in der roten Ecke produziert haben. Peter Hartz, besser bekannt als „Mister VW“, ist ja mittlerweile auch anderweitig straf­rechtlich ver­urteilt. Nach diesen ganzen Pleiten versucht man deshalb jetzt, der völligen Desintegration des eigenen Lagers ent­ge­gen­zu­wirken, indem man der Wäh­lerschaft die Einführung flächendeckender Mindestlöhne suggeriert. Und wer will schon nicht mehr Lohn für Arbeit im Ka­pitalismus. Lei­der scheint man bei der SPD zu vergessen, dass diese Rückkehr zu „ursozialistischen“ Positionen nur dann wirklich wirk­sam wäre, wür­de man auch gleichzeitig zur staatlichen Preiskontrolle zurückkehren. Mal ganz abgesehen vom büro­kra­tischen Aufwand durch­greifender Kon­trollen und der faktischen Aushebelung der Tarifautonomie. Denn letztlich würde dieser Mindestlohn gleich­zeitig in vie­len Fällen der ma­ximale sein und gewerkschaftliche Kämpfe erheblich erschweren. Immerhin: Den Staatsfetisch des links­sozialistischen Klien­tels hat man da­mit punktgenau bedient und welcher ernsthaft engagierte Gewerkschafter wählt heutzutage schon noch SPD.

Was am Ende bleibt, ist die einfache Formel: Aktuelle Debatte minus heiße Luft istgleich Nichts-Neues bzw. zusammengekürzt: Die große Koa­li­tion entspricht dem nationalen Konsens. Dass dieser wiederum die beiden Lager fest umspannt und den Bürger in seinem heißen Traum vom starken Staat bestätigt, das sehen unsere Berufspolitiker zwar sehr genau, aber irgendwie muss man ja zu Wahlkampfzeiten Pro­fil entwickeln. Da­rum die beiden Debatten, fein säuberlich getrennt. Und das Ausweichen auf Anachronismen fällt ja angesichts der Bil­dungsregression gar nicht weiter auf. Gegen solchen Dummfang von CDU bis SPD hilft nur eines: politisches Bewusstsein und mehr Selbst­bestimmung, Widerstand und die Verwaltung der Bedürfnisse aus eig’ner Hand. Das sind die Rechenmittel, um die Manipulation von oben auszuhebeln. Die Volksparteien kön­nen sich derweil ruhig erneut zum Zentrum zusammenschließen, denn solange dieses nie­mand wählt, haben MigrantInnen auch hierzulande Zu­kunftschancen und die Arbeiterschaft die begründete Aussicht, an der eigenen Pro­duktion fair und gerecht beteiligt zu werden.

Lasst Euch also nicht bequatschen und gebt Euch die Mittel selber an die Hand! Post­moderne, you are welcome!

(clov)

Pro & Contra: Brauchen wir hierzulande Volksentscheide?

Am 27.01.2008  dürfen in Leipzig alle allgemein Wahlberechtigten über eine Bürgerinitiative abstimmen und damit möglicherweise den erneuten Verkaufsversuch der Leipziger Stadtwerke durch die Stadtverwaltung Leipzig verhindern. Doch selbst wenn am Wahltag genug Stimmen gesammelt werden können, um die vom Stadtrat geplante Privatisierung der Stadtwerke zu stoppen, was wurde damit wirklich erreicht? Sind Bürgerbegehren und erzwungene Volksentscheide ein Schritt vorwärts und hinaus über die parlamentarisch verfasste Parteienherrschaft? Bedeuten solche „plebiszitären Elemente“ einen Fortschritt an politischer Kultur und ein Mehr an politischer Mitbestimmung? Zwei kontroverse Meinungen seien kurz skizziert.

PRO:

Bürgerentscheide sind ein Schritt in die richtige Richtung, da sie sich weg von der Repräsentantenwahl und hin zur Basisde­mo­kra­tie be­wegen.

Hierzulande entscheiden Wenige über die In­teressen der Mehrheit und sind durch un­ser scheinbar demokratisches System noch dazu legi­timiert. Parteien verteilen vor der Wahl Hochglanzbroschüren an die Haus­halte; die glänzenden Positionen sollen Wählerstimmen brin­gen und ver­schwinden danach, bis zur näch­sten Wahl im Ak­ten­schrank. Die Stimme gilt fortan dem Parteirepräsentanten, der da­mit frei vom Wählergedanken agieren und anderen Interessen frö­nen kann. In­haltliche Entscheidungen werden weniger auf­grund ei­ner Auseinander­setzung mit der Sachlage im Interesse der Wähler/in­nen getroffen, sondern vielmehr von an­deren Faktoren abhängig ge­macht: Partei­druck, Lobbyismus, finanzielle Verstric­kun­gen oder inter­ne Verspre­chungen, wie dem „Opernballkom­pro­miss“ (siehe S.1/3f) sind hierbei Gang und Gäbe. Wer Macht hat, hat eben auch Ein­fluss. Enttäuschte Wäh­ler/innen können dies zwar monie­ren, än­dern können sie es hingegen nicht. So ver­wun­dert es kaum, dass viele nicht wäh­len, die Positionen als heiße Luft enttar­nen, über Politiker und ihre Entscheidun­gen am Stammtisch schimpfen oder sich generell von politischen Themen abwen­den.

Bei Bürgerentscheiden sieht das jedoch an­ders aus: Hier werden alle Betroffenen be­fragt und eine breite Basis kann ihre inhalt­li­che Po­si­tion (sofern sie sich in Frage und Ant­wort wiederfindet), geltend ma­chen. Nicht die Partei oder der Politi­ker, sondern ein konkretes in­halt­liches Problem ist Ge­gen­stand der Entschei­dung, an deren Er­­geb­­nis die Politik auch gebunden ist. Hier wird nicht mehr über heiße Luft verhan­delt, die dann zu­gun­sten anderer In­te­ressen ge­trost ver­gessen werden kann – nein, die Ein­zel­nen treffen ihre Ent­­­­­­­scheidung im In­­te­r­esse des eige­nen Wohles. Dies mag an man­­­cher Stel­le zu kurz ge­dacht sein, wird aber im Ganzen zu einer wünschenswerte­ren Politik, da die Menschen unabhängig ihres Status´ oder Geldbeutels selbst Ent­­schei­dungen über ihr Zusammenleben tref­fen können. Für ein ver­nunftgeleitetes Er­geb­nis ist es allerdings auch notwendig, dass mit dem Entscheid Aufklärungs- und In­­for­mations­po­li­tik einhergeht. Doch auch da hebt sich ein Bürgerentscheid po­si­tiv von der Stell­ver­treterwahl ab: Denn die konkrete Sachfrage animiert mehr Men­schen sich mit politischen Fragen in­halt­­­lich auseinan­der­zu­set­zen, In­formatio­nen zum Thema einzuholen und mit Freun­den, Bekann­ten oder der Familie da­rü­ber zu diskutieren. Die­se verstärkt prak­ti­zier­te aktive Mei­nungs­­bil­dung fördert das Po­li­tikbewusst­sein weitaus mehr, als die De­batten der Politikrepräsen­tan­ten, die aus gutem Grun­de von den sog. „Politik­ver­dros­se­nen“ angezweifelt und abge­lehnt wer­den. Zudem wird politisches Engage­ment gefördert – im Fal­le der Stadtwerke ist es dem Engagement und der Zusam­men­ar­­beit verschiedener lokaler Gruppen zu verdanken, dass die Leipziger über­haupt die Möglichkeit bekommen, über das Pri­va­tisierungs­vor­haben abstim­men zu kön­nen.

Parti­zipation bedeutet na­tür­lich mehr als ein Kreuz zu machen. Ein Bürgerentscheid widerspricht auch nicht dem deut­schen Parlamentarismus mit sei­ner scheinbaren Demokratie und er trägt aus anarchistischer Perspektive auch sicher nicht zur Über­win­dung der ge­sell­schaftlichen Verhältnisse bei. Trotz­dem ist diese Mög­lichkeit ein Fortschritt und ein Schritt in die richtige Richtung hin zu mehr basisorientierter Teilhabe an politi­schen Entscheidun­gen. Er bringt die Men­schen wieder mehr dazu sich mit Inhalten statt Partei-Theater auseinander zu setzen und in diesem Fall auf lo­ka­ler Eb­ene als un­ter­einander Glei­che bin­dend mitzustim­men. Ein Schritt in eine zu fördern­de Rich­tung ist es auch des­halb, weil ei­ne wün­schens­wer­te Gesellschaft auch jeden in Ent­­­scheidungen ein­be­ziehen wür­de und Po­li­tik nicht in die Hän­de anderer verlegt wä­re, über die man sich dann am Stamm­­tisch beschwert.

(momo)

CONTRA:

Nimmt mensch die Frage nach dem Für und Wi­der plebiszitärer Ele­mente innerhalb der par­lamentarischen Demokratie nur ab­­strakt, scheint die Antwort völlig klar: Dem na­tio­na­len Volk als Sou­verän steht jedes Moment di­rekter Wahlentscheidungen gut an, da so der ohnehin aufklaffende Spalt zwi­schen Sou­verän und re­­präsen­ta­ti­ver Ver­treterschaft durch die parteigebundenen Wahl­män­ner und -frauen zumindest ein stück­weit abge­mil­dert wird. Es macht den Ein­­druck, als hät­te der Bürger per Volksent­scheid ein zu­­­sätz­liches Kon­trollmoment ge­gen­über den ge­wähl­ten Parla­men­ta­riern in der Hand. Was soll also so falsch daran sein? Ganz einfach: Die­­se Kon­trol­­le ist eine Illu­sion, die jene nur weiter fortschreibt, dass der Bür­ger mit sei­nen alljährlichen Wahl­entscheidungen Rich­tung und Inhalt der Politik mitbestim­men könnte. Das dem nicht so ist, kann mensch schon an dem Ge­ze­ter abmessen, wel­ches immer dann über die Republik her­ein­bricht, wenn aus Wahl­versprechen und -pa­rolen regelmäßig kon­krete Regierungspo­li­tik gemacht wird. Mo­der­­ne Staatsführung hat eben wenig gemein mit der griechischen Stadt­­staatverwaltung in der Antike. Unter den Voraussetzungen der Par­teienherrschaft kön­nen Volksent­schei­de gar nicht viel mehr be­wir­ken, als die Bürger zu berauschen am Funk­tionieren des Systems und damit die Ver­häl­tnisse fort­schreiben. Sie sind Opium fürs Volk, Poli­tik im Zeitalter einer Gesell­schaft des Events. Mit echter Partizi­pa­tion hat das alles sehr we­nig zu tun. Bestes Bei­spiel hierfür gibt das aktuelle Bürgerent­scheids-Verfahren in Leip­­zig (siehe S.1/3f). Denn die feder­füh­ren­de Bürgerinitiative wirbt ja nicht FÜR eine kon­krete Alterna­tive sondern lediglich GEGEN die Pläne der Stadt. Da kann die Links­partei noch so­viel ideologische Ima­ge­pflege betrei­ben: Das JA! am 27.01. ist fak­tisch nur ein NEIN! Die politische Aus­ge­stal­tung einer Alterna­ti­ve ist wiederum nur an die regierende Frak­­tion delegiert. Und dementsprechend kurz­atmig ist auch die poli­tische Kultur, die durch das ganze Ver­fahren ins Leben geru­fen wird. Inhalt­lich wirklich aufgeklärt sind, wenn über­haupt, dann nur die wenigen Pro­ta­gonisten der Initiative, das Engagement der meis­ten JA!- und Amensager dagegen ist auf ein­ge­übtes Unter­schriften-Ab­geben und das ob­li­gatorische Kreuzchen am Wahl­tag be­schränkt. Letzt­lich funktioniert die Mo­bi­li­­sation der notwendigen Massen wie üb­­lich über das Bedienen der ohnehin vor­han­­­denen Ressenti­ments. Privatisierung ist ja auch Scheiße! Alles klar?

Letzt­­lich täuschen Volksentscheide nur da­rü­­­ber hinweg, dass im der­zeitigen poli­tischen System eine Teilhabe der Betroffe­nen weder reali­siert noch gewünscht ist. Und diese Teilhabe bekäme auch nur dann eman­zi­pa­to­­rischen Gehalt, wäre sie die Folge einer po­li­tischen Kul­tur, die tatsächlich die Bedürfnisse der In­­vol­vierten zum Gegen­stand hät­­­te. Dem ist aber mitnichten so. Einzig be­­frie­digt werden da­bei doch die Geltungs­be­dürf­nis­se einer außer/parlamentarischen Bür­ger­frak­tion, die den nationalen Kon­sens der Par­teien ja gerade teilt, sonst wür­­de sie nicht zur system-bejahenden An­alpha­­beten­wahl auf­rufen, son­dern bspw. den Widerstand in den Betrieben konkret organi­sie­ren. Fak­tisch wird es aber nieman­dem besser oder schlech­ter ge­hen, egal wie sol­che Entscheide aus­gehen. Entweder-Oder-Wahlen sind eben kein Gestaltungs­mit­tel. Lediglich die Rechts­­ab­teilungen der Par­teien bekommen so mehr Ar­beit. An den grund­sätzlichen Plä­nen und In­te­ressen än­dert sich dabei nichts, sie müs­sen einzig „um­­pro­grammiert“ werden. Der Bür­ger geht der­weil stolz ge­schwell­ter Brust nach Haus und versöhnt sich durch den Schein rich­ti­gen Handelns mit den falschen Ver­hält­nis­sen.

Al­ler­dings ist Ignoranz dem gegenüber auch keine politische Hal­tung. Und eine sol­che sollte mensch schon aufbieten, unabhängig da­von wie sich Herr­­­schaft akut formiert. Dazu gehört zu­min­­dest die kritische Aus­einander­set­zung mit dem, was sich politisch gerade be­wegt. Wenn nö­tig heißt das auch: Gegenbewe­gung. Be­trachtet mensch den kon­ser­vativen und teil­weise reaktionären Kern der mei­sten Volks­ent­scheid-Initiativen, so bräuch­te es derzeit und hierzu­lan­de gerade ver­­nünftige Kam­pagnen GEGEN die Illu­sion der Mit­be­­stimmung, die jene suggerie­ren. Dem auf­ge­klärten, politischen Be­wusstsein bleibt des­halb nach wie vor nur eine Wahl: Den eige­nen Stimm­zettel un­gültig zu machen und ei­ne an­dere po­li­tische Kul­tur ech­ter Parti­zi­pa­tion vor­an­zu­trei­ben. Und das heißt schluss­­­end­lich: Den Hemm­­­schuh ‚Volks­­­ent­scheid’ schnell­stens ab­zu­streifen.

(clov)

DreiFarbenGold – SchnippSchnapp, Fahne ab

Wie schon 2006 zur Fußball-WM startete auch dieses Jahr pünkt­lich zum Auftaktspiel der EM 2008 die Aktion DreiFarbenGold. Gegen den Natio­nalismus und die politische Ver­­ein­nahmung des Sportes soll­ten mög­lichst viele der geflaggten Deut­sch­land­­fahnen ihres golde­nen Strei­fens be­raubt werden. Und die Viertel sich der­art ver­wandeln, dass sie anstelle deut­­schen Schimmer­schum­­­mel­scheins in den schwarzroten Farben des Anar­chis­mus leuch­ten. Dabei lieferten sich die ein­zel­nen Aktivisten einen heißen Wett­kampf um die be­gehr­ten Platz­ie­run­gen. Am Ende setzte sich der amtie­ren­de Titelverteidiger erneut gegen alle Ver­­folger durch und gewann knapp in der Kategorie „Meiste Schnipsel“ mit 137 sachgemäß ent­fern­ten Gold­strei­fen. Alle Rekorde in der Kategorie „Groß­­schnipsel“ wurden da­gegen von ei­­nem Neuling ge­brochen. Der Ge­win­­nerschnipsel maß sage und schrei­be 1x5m. Trotz der geringer ausgefalle­nen Gesamt-Aus­beute, die dem Um­stand geschuldet war, dass für die mei­sten deutsch­tümelnden Bürger­In­nen of­fensichtlich doch ein Un­ter­schied da­rin bestand, dass das große Fuß­ballturnier diesmal nicht in Deutsch­land sondern in Österreich/Schweiz statt­fand, waren hinterher alle zu­frie­den: Die Aktion hatte wieder sehr viel Spasz gemacht und dem Frust über die wehenden Fah­nenmeere gut ent­gegen­gewirkt.

Der Kritik, dass die ganze Aktion kei­ner­lei politische Wirkung entfalte, hielt der Titelverteidiger der „Meisten Schnip­sel“ entgegen: „Viel weniger als um politische Auswirkung, geht es bei der Aktion doch um eine selbst­be­wuss­te Gegenkultur, die einer­seits Spasz ma­chen soll und anderer­seits pro­vo­ziert. Wer sich über den ganzen Deutsch­­landtaumel ärgert und dabei die Hände in den Schoss legt, dem kann ich nur dringend em­pfehlen, es mit der Aktion mal als Therapie-An­satz zu versuchen.“ Bleibt schließlich zu hoffen, dass zum einen die Fuß­ball-EM 2012 in Polen/Ukraine stattfinden kann und nicht doch interims­weise in Deutschland veranstaltet werden muss; und zum anderen dass die Aktion DreiFarbenGold auch in Zukunft an­lässlich der großen inter/nationalen Fußball-Turniere initiiert wird. Haltet die Augen auf und die Scheren bereit!

Kein Krieg, kein Gott, kein Vaterland! Gegen einen „ganz normalen“ Natio­nalismus in Deutschland!

(clov)

Wächterhäuser – Ist Lindenau denn noch zu retten?

Stadtentwicklung im Leipziger Westen zwischen Abriss und Hauserhalt, zwischen Erbwerbslosigkeit und Armut

Ausflug gen Westen

Fernab des städteplanerischen Größenwahns der Stadtoberen; weit weg vom Knirschen und Schieben jenes Ungetüms namens „Leonie“ (1), dass sich da mitten durch das Leipziger Herz frisst und nicht mehr als vergoldete Immobilien und feiste Investoren hinterlässt; gleich hinter der Elster, wo vom Auenwald her zum Leutzscher Holz hin ein frischer Atem die Stadt auf­stöh­­nen lässt, dicht gekauert in den Leip­ziger We­sten, liegt Lindenau; abgekoppelt von der Stadt­entwicklung und amtlicher Hafen & Hei­mat für viele aus dem Er­werbs­lo­sen­heer der ARGE zu Leipzig.

Die Rittersippe von und zu Lindenau würde sicher stau­nen, hätte sie vor Augen, welche Spuren die Industrialisierung an ihrem einst so be­schaulichen Bauern­dorf hinterlassen hat. Ja … ja hätte nicht ein gewisser Karl Hei­ne Mit­­te des 19. Jahrhunderts all sein Bemühen daran gesetzt, aus dem kleinen Dörfchen eine Fabrikhölle des aufstrebenden deut­­schen Junkerregimes zu machen, viel­leicht gäbe es dann ja gar kein architektonisches Substanzproblem in den gäh­nend kah­len Schluchten der Arbeiterviertel, kein darbendes Gewerbe, keine soziale Notlage, keinen so hohen Drogen-&-Al­ko­hol-Konsum … sondern eine Perspektive, beschaulich zwar, aber immerhin.

Denn mit der gescheiterten Leip­ziger Olympia-Bewerbung sind auch unter den Optimisten die letzten Hoff­nungs­laternen ausgegangen, dass der fette Speck von selbst zum armen Mäuschen kriecht und der Stadtteil sich wie von „un­sicht­barer Hand“ aus seinen Struktur­prob­le­men pellt. Die Industrie ist lange weg und wo keine Brachen und Ruinen gammeln, da strahlen frisch geweißte Häuser­wän­de vom schie­fen Schein notdürftiger Sanierung und ver­höhnen die „Moder­ni­sie­rung“. Die meisten Quartiere sind auf die Normen der Be­darfs­gemeinschaften zugeschnitten, „an­ge­­harzt“ sozusagen. Es fehlt überall an rege­ne­ra­tiven Flächen, Nutzräu­men und tagtäglich rollt die Blechlawine über den Westen Richtung Schkeuditz/Autobahn oder Halle. Die meisten Leute haben kein Geld in der Tasche und dement­spre­chend schlecht geht‘s dem Gewerbe. „Blau nach Linde­nau“, wie die Leipziger Ver­kehrs­be­triebe wer­ben, d.h. fern der sozialen Stigma­ti­sie­rung vor allen Dingen eines: Perspektiv­lo­sigkeit. Über­­all in Lindenau ist sie spürbar, diese re­­signierte Unruhe eines desillusio­nier­ten Klein­bürgertums, das den Dienst­­lei­stungs­zug des dritten Marktes verpasst hat und nun in der deindustria­li­sier­ten Sack­gasse fest­sitzt. Weder Arbeit noch ein schönes Le­ben und schon gar nicht bei­des zusammen, wie es sich der korpo­rier­te Freimaurer und Groß­grundbesitzer Heine mit seiner Westend-Baugesellschaft wohl erträumt hatte; nichts von dem, was vor 150 Jahren einem phantasiereichen bürgerlichem Bewusstsein noch möglich schien: rauchende Schlote, mit Maschinendampf und Heizöl vermischten Schweiß und den Dreck der Gossen als „blü­hende Landschaft“ vorzuschwärmen; nichts davon ist heute wirklich. Wie es der obe­ren Einkommensklasse an Visionen fehlt, so der unteren an Hoffnung und Mut. Und wo beides abhanden kömmt, da mangelt es der bürgerlichen Re­vo­lution eben an dem Zunder, der sie der­einst noch vorwärts trieb.

Häuser halten!?

Nun könnte man fragen, warum bauen wir Lindenau nicht zum Dorf zurück? Offensichtlich war dies ja auch ein Hintergedanke der Olympia-Planer, als sie im Rah­men der Leipziger Bewerbung weite Tei­le Lindenaus für das olympische Dorf vorsahen und tausende von modernen Apartment-Wohnungen entstehen lassen wollten. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es fehlt sowohl am Geld als auch am Bedarf und der Stadtteil schmachtet nun schon länger in der sogenannten „Ertragslücke“. Der nach ­wie vor hohe Leerstand in Leipzig drückt auf die Mietpreise und hält Immobilien-Spekulanten davon ab, hier in Wohn­­raum zu investieren. Andersherum sind die meisten Miet­parteien vordergründig nicht an einer qua­li­tativen Aufwertung ihrer Wohn­ver­hält­nis­se, sondern an möglichst nie­drigen Preisen interessiert, da die astronomisch gestie­ge­­nen Öl- und Gaspreise mittlerweile fast die Hälfte der fixen monatlichen Kosten bean­spru­chen. Von den schmalen Lohntüten, so­fern überhaupt vorhanden, der starken In­fla­tion und den gestiegenen Mobilitätskosten mal ganz abgesehen. Um quasi so­ vie­le Lücken in die Lin­de­nauer Ar­bei­tervier­tel zu reißen und diese zu renaturieren, dass man wieder von einem „Dorf“ reden könnte, steht weder genügend Geld noch Interesse interner wie externer Investoren zur Verfü­gung. Einzig blieben die hoch­verschuldeten staat­lichen Instanzen von Stadt, Land und Bund. Und die leisten sich wegen der akuten Schuldenlage eben nur prestigeträchtige Groß­projekte wie Autobahnen oder Flughäfen und den City-Tunnel bspw., bzw. finan­zieren ansonsten nur den lokalen und be­schränk­ten Abriss. Baugrundstücke sind ja auch was wert, wenn da nur die entspre­chen­de Nachfrage da wä­re. Es bleibt dabei: Auch unter staatlicher Ob­hut würde unser vor­ge­stell­tes Re-Design Lindenaus minde­stens auf hal­ber Strecke stagnieren und von dörflicher Be­schaulich­keit könnte man im Bild riesiger Betonflä­chen, dröger Werbeta­feln und ver­waister Ge­­wer­­be­viertel, kaum re­den.

Wenn also der sozialverträgliche Rückbau Lin­denaus ausfällt und eine Re-Industrialisierung sowieso unrealistisch ist, dann steht schließlich am Ende nur eine Pa­ro­le: Die Häuser halten! Für eine emanzipatorische Perspektive in Lindenau hieße das frei­lich vor allen Dingen: Häuser besetzen! Und sie der Spekulation entziehen, um Frei­räu­me aufzubauen, innerhalb derer sich der ‚ge­meine‘ Lindenauer in Solidarität und Zu­­sam­menarbeit, in antikapi­ta­listischen Prak­ti­­ken übt, die ihn letztlich be­fähigen, sich der na­tio­nalistischen Regression des Be­wusst­­seins und dem Stumpfsinn von Staat und Partei ent­gegen zu stellen. Und Freiräu­me sollen eben das ja sein: Orte, an denen das freie Denken von Alternativen und pro­gres­­sive soziale Experimente ihren Platz finden. Auf den Erfolg gibt es da­bei nie eine Ga­rantie, aber solche Entfaltungsräume sind schließ­lich die Bedingung der Möglich­keit emanzipatorischer Entwicklungen. Und das ganz im Sinne Rosa Luxemburgs etwa, die im Streik und der Gewerkschaft eben auch nur ein Mittel zur Sozialisation der Mas­sen sah, also die Freisetzung von der Arbeit und von der Isolation am Arbeitsplatz als Bedingung der Möglichkeit dafür annahm, eine emanzipatorische Entwicklung kollektiv voranzutreiben. Hier wie da geht es erstmal darum, gegenüber der kapi­ta­­li­stischen Konkurrenz und deren Lei­stungs­zwang einen Freiraum behaupten zu können, um über­haupt handlungsfähig zu werden.

Nun, zumindest der erste Teil dieser Bedingung ist ja in Lindenau erfüllt, die meisten EinwohnerInnen sind von der Arbeit „freigesetzt“. Doch leider fehlt es sowohl am nötigen Bewusstsein, bspw. über die gemeinsa­me soziale Lage, als auch an wirksamen Organisationen, um die freie Zeit durch die Eroberung von Freiräumen besser, und das heißt hier schon progressiv, zu nutzen. Die gesamte Leipziger Linke, über den palavernden Staats­sozialisten oder nationaltümelnden Gewerkschafter bis hin zum linksradika­len Krypto-Kom­munisten, alle sind da­bei, dieselben Fehler zu wiederholen, wie in Reud­­nitz und Schönefeld/Neu-Schönefeld, wo mittlerweile die Freien Kräfte und andere faschistische Kol­lek­tive die politische Rhyth­­mik der Viertel dominieren. Auch der Feierabend! selbst kann sich von dieser Kritik nicht ausnehmen, ist es doch in den letzten Jahren weder in Reud­nitz, noch in Neu-/Schönefeld, noch in Lindenau gelungen, wei­tere Verkaufsstel­len aufzubauen.

Nochmals muss also der Zoom der Lupe erhöht werden, um auf noch konkreterer Ebe­ne zu sehen, wo sich in Lindenau über­haupt ema­n­zipatorische Impulse und Freiräume bil­den. Und hier erst, wo nun schon wirklich kleine Brezeln gebacken und von ei­ner er­bau­lichen Perspektive wahrlich kaum noch ge­sprochen werden kann, rückt die Arbeit des HausHalten e.V. ins Zentrum der Be­trach­tung. Denn wer aufmerksam durch Lin­­de­nau und Plagwitz wandert, wird hier und da feststellen, dass an unsa­nierten Häusern ein großes gelbes Banner mit der Aufschrift prangt: Wächterhaus. Ganz der Paro­le vom „Häuser halten!“ verpflichtet, bemüht sich ein Verein von Architekten und Stadt­planern schon seit 2003/04 darum, vor al­len Dingen einige der stark gefährdeten Linde­nauer „Gründerhäuser“ vor dem Verfall zu retten.

Das Wächterhaus – zwischen bloßem Substanzschutz und wirklicher Stadtentwicklung

Propagierte dieser gemäßigte und bürgerlich-liberale Verein einzig den Substanzschutz im Viertel und hätte neben völlig ab­strusen musealen Vorstellungen keinen Blick für die soziale Lage, es wäre müßig, sich mit sei­ner Arbeit näher auseinander zu setzen. Da das „Wächterhaus-Konzept“ des Haus­Halten e.V. aber vor allen Dingen auf ei­gen­lei­stende NutzerInnen, die sogenannten „Wäch­ter“ setzt, tritt der Verein gegenteilig sehr offensiv mit dem Anspruch auf, Stadt­­entwicklung nicht nur im rein archi­tek­­­tonisch substanziellen Sinne, sondern vor allem im sozialen Sinne zu betreiben. Gün­sti­ger Nutzraum soll die Attraktivität der an­gren­zenden Quartiere erhöhen, Kün­stle­rInnen, Gruppen und Projekte ins Viertel zie­­hen, ihnen Entfaltungsraum geben und so das soziale Leben bereichern, nicht weniger haben sich die Mitglieder des Vereins auf die Fahnen geschrieben. Der/Die politisch versierte Leser/in wird sich sofort fra­gen: „Lebensbereicherung“, steckt hinter dieser Phrase wirklich eine konkrete so­zial­­po­li­tische Qualität? Wird hier nicht der blo­­ße Substanzschutz blumenreich ausgeschmückt? Und wie soll das gehen, Stadt­ent­­­wicklung im sozialen Sinne, ohne eine po­­li­­tis­che Perspektive, die den engen Zwing­­­­kreis von Arbeit und Geld letztlich sprengt? Der Ver­ein stellt ja Boden- und Im­mo­bilien-Spe­ku­lationen keineswegs in Frage. Im Gegenteil: Sein Programm zielt gera­de darauf ab, zu­rück­gebliebene Immobi­­lien wieder in den Markt einzugliedern. Die Skep­sis gegenüber dem Anspruch des Haus­Halten e.V. wirk­liche Stadtentwicklung mit dem „Wäch­terhaus-Konzept“ zu betreiben, hat al­so genügend Anlass laut ausgesprochen zu wer­den. Um allerdings vom Zweifel zur ernst­­haften Kritik fortzuschreiten, müssen wir den Gegenstand auch auf seine Sach­hal­­tig­keit hin prüfen. Denn es kann ja sein, dass sich trotz der mangelhaften Ausrichtung des Vereins, hinter der hohlen Phrase von der Bereicherung des sozialen Lebens, auf der in­­­direkten Ebene, über die Potentiale des Wäch­terhaus-Konzeptes selbst, Freiräume bil­den, die emanzipative Prozesse fördern. Das ist die Spur, der wir im weiteren folgen wol­len, wenn wir das Konzept der Wächterhäuser hier näher untersuchen, Fragen an die Mitglieder des HausHalten e.V. stellen (siehe hier) und in den folgenden Heften Exkursionen in die Le­bens­realitäten der „Wäch­ter“ starten.

Im ersten Schritt ist deshalb zu prüfen, ob die Nutzung der Häuser ausgerichtet auf eine soziale Entwicklung der angrenzenden Quar­tiere überhaupt genügend Berücksichtigung im Gesamtkonzept des Vereines findet. Denn schließlich sollen die nutzenden Wächter ja die Träger und Protagonisten sol­cher positiven Prozesse sein. Welche Par­ti­zipations­mög­lichkeiten haben sie? Welche Geltung wird ihren Interessen zugestanden?

Des weiteren gilt es zu untersuchen, inwieweit der Verein seine Nutzungs­vorstel­lun­gen, von denen er sich ja eben jene se­gens­reiche Wir­kung auf die Entwicklung der Viertel ver­spricht, überhaupt absichert. Gibt es Nu­t­zungs­kriterien und ihre Kon­trol­­le? Oder regiert am Ende die Beliebig­keit? Und wie will man verhindern, dass der entstehende Raum der­art genutzt wird, dass gegenteilig sozial missgünstige Entwicklungen befördert werden?

Abschließend muss dann die wirkliche Praxis, die Realitäten der Nutzung im Zentrum der Analyse stehen. Wie gehen die „Wächter“ mit den an sie herangetragenen Nut­zungs­­vorstellungen um? Welche eigenen ha­ben sie? Gibt es da Widersprüche? Einen kommunikativen Raum der Klärung? Wie schätzen die NutzerInnen das Engagement des Vereins dahingehend ein?

Danach, so ist zu hoffen, hat sich ein facet­ten­reiches Bild für eine nüchterne Einschätzung der konkreten Möglichkeiten emanzi­pa­­tiver Prozesse innerhalb und um die Wäch­­­­ter­häuser verdichtet. Und der eine oder die andere Leser/in hat genug Hinweis und Aufklärung gefunden, um sich richtig ent­­­scheiden zu können, ob nun für oder ge­gen die Nutzungsangebote des HausHal­ten e.V..

HausHalten – Die Idee vom runden Tisch der Interessen

Die Grundidee zur Rettung substanzgefähr­deter Häuser, die der Verein Haus­Halten e.V. entwickelt hat, ist oft gelobt wor­den. Mi­ni­ster haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Sie beruht wesentlich darauf, dass sie zwei Königskinder zueinander bringt, die sonst teils aus Mangel an Interesse, teils aus Un­fähigkeit einfach nicht zusammenfinden. Das eine scheue Kindchen heißt da eigentümlich Eigenthymia, das andre schüch­­tern und bieder Stadtverwalterine. Die Problemlage hat ihre Wurzel in der Eigentumspolitik der BRD während der An­nexion der Gebiete der Ex-DDR. Die staatssozialistischen Reformen hatten dort das private Eigentum am Wohn­raum größ­tenteils abgeschafft und zentrale Mietkar­telle unter staatlicher Kontrolle dominierten den Markt. Neben den Besitz­in­te­ressen enteigneter Eigentümer ging es bei der „Wen­de“ also vor allen Dingen um eine Öff­nung dieses Marktes, um das Freisetzen der kapi­ta­listischen Konkurrenz. Es war deshalb nicht vorrangig aus moralischen Beweggründen erforderlich, die Rechtsgeschichte der DDR zu negieren, sondern in erster Li­nie aus ökonomischen Kalkülen. Die juristische Grund­lage hierfür lieferte die Restitu­tionsgesetzgebung, die allgemein gesprochen Rück­forderungsansprüche bei widerrechtlichen Aneignungen regelt. Nachdem also der Bund per treuhänderischer Verwaltung die bestehenden Kartelle übernommen und sich die besten Rosinen zum Wei­terver­scher­beln angeeignet hatte, legte er die Ver­wal­tung in die Hände der Kommunen & Stadt­verwaltungen und stellte es seinen Bür­gern ansonsten frei, in den alten Papieren zu blät­tern und wenn entspre­chen­de Rechts­titel noch vorhanden, die Immobilien zurück in private Hand zu fordern. Es gibt sicher heute noch hier und da vergreisten Spätadel, der ohne es zu wissen, Grund und Boden im Osten besitzen (könn­te). Frei­­lich machte auch nicht jeder von seinen Ansprüchen Gebrauch und Fälle von un­­geklärten Rechtsfolgen, verschollenen Er­­bengemeinschaften und verschwundenen Pa­pieren gab es genug. Hier half das Konzept der kommunalen Woh­nungsbau­gesell­schaften aus, das sich in der BRD schon beim Ausstieg der Zentralge­werk­schaf­ten aus dem sozialen Wohnungsbau und der Über­­nahme vieler gewerkschaftlicher Wohn­-Immobilien bewährt hatte (2). In die­­sen lokalen Kartellen, oftmals hundert­pro­zentige Tochterunternehmen der kom­munalen Stadtverwaltungen, sammelte sich der Restbestand der unveräußerlichen Immobilien. Teils als reine Kredit-Ab­siche­­rung, teils als Instrument sozialpolitischer Pro­gramme oder auch über bloße Ver­kaufs­ge­­­win­ne waren diese Wohnungsbauge­sell­­schaf­­ten in den 90ern die Spina dorsalis, das Rückgrat der lokalen Stadtent­wicklun­gen unter kommunaler Verwaltung. Aller­dings befanden sich in diesem ausgesiebten „Rest“ auch kaum noch viele verwertbare Rosinen, so­ dass der Kostendruck durch abrissge­fähr­dete Häu­ser und Investi­tions­­ruinen von An­fang an ziemlich hoch war und immer noch wächst.

In diese Lage, von jedem Interesse entkop­pel­ter Immobilien, stößt nun die „Einzelfall-Tak­tik“ des Vereins Haushalten (3). Ein­zelne, aus dem Markt herausgefallene Im­mobilien sollen „aufgefangen“ und auf­ge­wertet werden. Schlech­terdings wird die Sub­­stanz des Hauses erhalten und die Unterhaltskosten in pri­vate Hand verlegt, be­sten­falls gewinnt die Im­mobilie wieder an Wert und lässt sich an den Kreis der üblichen Marktspekulation rück­koppeln. Der Ver­ein tritt dabei wesentlich als Dienstleister auf, der die Opportuni­tätskosten beider Parteien, also den Aufwand der Stadtverwaltung und den Widerstand des eigentlichen Besitzers, senkt, um beide Seiten und ihre un­terschiedlichen Inte­­ressen, die beiden Kö­nigskinder, an einen Tisch zu bekommen. Ei­nerseits bedient er die Interessen der kom­munalen Stadtver­wal­tung, die Erhal­tungs­kosten unrentabler Wohn­­immobilien loszu­wer­den bei gleichzeitiger Aussicht auf Stadt­er­neue­rung und einen permanenten An­­sprech­part­ner in Sachen Besitzpflichten, an­de­rerseits ködert er den investitionsscheuen Eigentümer mit hausei­genen Bau­gut­achten, Schät­zung & Planung und Fremd­­leistun­gen, um dessen Interesse auf hö­here Rendite am Objekt zu fördern.

Den Schlüsselfaktor der Strategie bildet da­bei die eigentliche Nutzung. Denn ohne „Wäch­­ter“, die ein verfallsbedrohtes Haus re­­­vitalisieren, heizen, lüften etc. pp., ist ein sol­­­ches Objekt kaum ohne weitere Groß-In­­­ve­stition im Wert zu steigern. Und gerade die hohen Investitionskosten halten ja vie­­le Besitzer davon ab, ihre Immobilien auf­zu­­werten bzw. zu „halten“. Der Verein re­kru­tiert deshalb NutzerInnen, Künstler­grup­­­pen, Vereine etc., die bereit sind, un­kom­for­tab­le Ver­hältnisse und hohe Eigen­lei­stun­gen in Kauf zu nehmen, um kurzfri­stig (in der Regel fünf Jahre) günstigen bis miet­freien Nutz­­raum (i.d.R. kein Wohnraum) in den quasi vor­übergehend vom Ver­ein verwalteten Häu­sern zu erhalten. Der HausHal­ten e.V. schließt hierzu Nutzungs­ver­träge ab, so­ge­­­­­nann­te Gestattungsver­ein­ba­rungen „Raum“, die den Nutzraum, die Zeit und die Art und Weise der Nutzung fest­stellen, den Nutzern grundversorgende In­standhal­tungs­­maßnah­men wie Elektro- und Wasser­an­schlüsse, Dach­sicherung und sa­nitäre Anlagen zusichern und gewisse Ent­schädigungen für Eigenleistungen bei vor­fristigen Ver­­­trags­kün­digungen regeln. Die Nut­zungs­ver­träge sind alle binnen drei Mo­naten kündbar, was einem herkömmlichen Miet­verhältnis entspricht. Der Haus­Halten e.V. kann des­halb als quasi besitzender Vermieter auftreten, da er gleichzeitig mit dem derzeitigen Verwalter bzw. rechtmä­ßi­gen Eigentümer des entsprechenden Objektes ei­ne sogenannte Ge­stattungsverein­ba­rung „Haus“ abschließt, in welcher dem Ver­ein Ver­wal­tungs­rechte übertragen werden und die Be­reiterklärung erfolgt, grund­ver­­sor­gen­de In­standsetzun­gen und erste Be­sitzpflichten hin­sichtlich der Verkehrs­si­cher­heit und Haf­tung der Immo­bi­lie zu über­nehmen. Durch diese doppelte Ver­trags­­struk­tur zwischen NutzerIn und Verein und zwi­schen Ver­ein und Eigentümer/Ver­walter, al­so ei­nerseits durch die Zusicherung über die Nut­ze­rInnen, monatliche Be­triebs­­kosten­ab­schlä­ge zu zahlen und ande­re­rseits durch die Versicherung des Besitzers, eine dies­­­be­zügliche Abrechnung auch in Gang zu setzen, etabliert der Verein so et­was wie ei­ne Vor­­form eines gewöhnlichen Miet­ver­hält­­nisses. Und von daher versteht sich auch das Ziel des Vereins, die Wächterhäuser wie­der zu „entlassen“. Gemeint ist da­mit näm­lich in erster Linie der Rückzug der vermittelnden Vertragsstruktur bei gleich­­zeitiger Etab­lie­rung eines direkten Miet­­vertra­ges zwischen den Parteien. Was na­­türlich im weiteren bedeutet, dass der Ei­gen­tümer be­­ginnt, seine wertgesteigerte Im­­mobilie bes­­ser zu pflegen und weiter zu in­vestieren (Hurra, hurra, der Markt ist wie­­der da!) und die Stadt­verwaltung bzw. Kom­mune sich da­rüber freuen kann, ein miss­liebiges Objekt aus dem Bestand losgeworden zu sein und gleichzeitig nun ein Ansprechpartner für Besitzpflich­ten und Kostenumlagen existiert.

Brosamen von der Herren Tische

Also rundherum ein Tisch, an dem alle Interessen gleichberechtigt zur Geltung gelangen? Ein Ideal-Modell um verfallsbedrohte Häu­ser zu halten und die maroden Arbei­ter­vier­tel wieder zu vitalisieren, mit emanzi­pa­to­rischen Impulsen gar zu beleben? Nein, denn insbesondere die direkten Interessen der Nut­zerInnen werden in dieser Interes­sens­run­de vorrangig vom Verein repräsentiert. Und hier liegt auch der Hase im Pfeffer. Genau be­se­hen wird nämlich die runde Interessenstafel hauptsächlich durch die substanzerhaltenden Kal­küle gestiftet. Der Ei­­gentümer hofft auf mehr Rendite, die Ver­waltung auf sinkende Ko­sten und ein gutes Stadtbild und der Ver­ein auf die Rettung architektonisch wert­voller Ge­bäude. Die Nutzung scheint letztlich nur Mit­tel zum Zweck, zweitrangig und be­liebig zu sein. Von einem umfassenden sozialpolitischen Plan, einer langfristigen Perspektive so­zia­ler Stadtentwicklung finden sich also wenig Spuren. Der Verein be­hält sich zwar vor, am konkreten Nutzungskonzept zu entscheiden, ob die jeweilige Nut­zung sinnvoll und pas­send zu seinen aktuellen Stadtent­wick­lungs-Vorstellungen ist. Letztlich aber ist da­von auszugehen, dass jede x-beliebige Nutzung in Kauf genommen wird, um ein leerstehendes Haus, bei dem die Verhand­lun­gsten­den­zen mit den anderen Parteien bereits positiv sind, mit „Wäch­tern“ zu besetzen. Es sticht da­bei der Wider­spruch besonders heraus, dass der Verein zwar über die konkrete Nutzung so­ziale Stadtent­wick­lung betreiben will, dafür aber keinerlei eindeutige Kriterien anzugeben weiß, was den Schluss nahelegt, dass er gar kei­ne spezifischen Vorstellungen progressiver sozia­ler Stadtentwicklung ausgebildet hat. Stadtentwicklung gilt allein dann schon als er­folg­­­reich, wenn die Immobilien an die freie Spe­­kulat­ion des Marktes angekoppelt sind und von privaten Investoren wieder markt­kon­­form betrieben werden. Dass damit auch das schnelle Aus alternativer Nutzun­gen droht, wie im Beispiel der Lower East Side in New York (3), verschweigt der Verein tunlichst, denn auf langfristige Perspekti­ven hat er es gar nicht abgesehen. Das Wäch­ter­haus-Konzept begnügt sich mit einer Ni­schen­politik, bei der letztlich vor allem die Ka­­pi­tal-Interessen von Eigentümer und Stadt­­verwaltung be­dient werden. Zwar stellt er auch An­sprech­partner für die Nutze­rIn­nen ab, aber ob auf dieser Kommunikationsebene Fragen der hausübergreifenden sozialen Stadtent­wick­lung überhaupt verhandelt wer­den, bleibt äußerst fraglich. Man kann so­gar da­von ausgehen, dass der Verein durch die kurz­fristige Projektanlage und dem Ziel der Mark­trückbindung, schließlich durch die Inte­ressensvertretung von Stadt und Be­sit­zer, progressive Vorstellungen über Nutzung und Wirkung der Wächterhäuser un­ter­bindet, insofern diese bei den NutzerIn­nen über­haupt vorhanden sind bzw. angesammelt werden. Aufwertung der Quartiere, d.h. für die Stadtplaner des HausHalten e.V. auch nicht viel mehr als Wertsteigerung der Immobilien. Noch dazu verhindert der Ver­ein über die Re-Aktivierung des rechtmä­ßi­gen Besitzers und die Etablierung gewöhnlicher Mietverhältnisse, dass solche Häuser anderweitig und langfristiger „besetzt“ und genutzt werden.

Es bleibt also Alles in allem ein fades Bild zu­rück. Wenn die Wächterhäuser in Linde­nau und Plagwitz Freiräume eröffnen und em­an­­zipatorische Impulse in die angrenzenden Quartiere ausstrahlen, dann wohl haupt­­säch­lich durch die Eigeninitiative der dort an­ge­siedelten „Wächter“, sofern diese nicht vom Verein selbst ausgebremst werden. Das wird in den folgenden Heften noch genauer an den konkreten Projekten zu untersuchen sein. Und sicher, der entstandene Nutzraum und die, wenn auch kurze, Zeit der alternati­ven Nut­zung, befördern solche Möglichkeiten des sozialen Engagements. Den­noch sollte sich jedeR, der/die erwägt, in ein Wächterhaus zu ziehen, klar darüber sein, auf welcher Schmalspur der Verein HausHalten e.V. ei­gentlich plant. Die hohen Eigenleistungen wer­den zwar durch den günstigen Nutzungspreis ei­ni­germaßen ausgeglichen, aber lang­fri­stig ar­beitet mensch hier nur dem Besitzer in die Taschen. Und wenn diesem, der Stadt oder dem Verein die Nutzung nicht mehr passt, ja dann, flattert wohl ganz schnell die Kündigung ins Haus.

Auf dieser Grundlage sind die Wächterhäu­ser ganz sicher nicht der neue Rettungsanker Lindenaus, nicht mal ein Tropfen in die trockene Kehle. Denn solange die Priorität al­lein auf den Substanzschutz und die spe­ku­lative Verwertbarkeit der Häuser gelegt wird, solange fehlt eben eine handfeste und lang­fristig nachhaltige Per­spektive für die positive soziale Stadtent­wicklung in den Vierteln. Und um diese vor­an zu treiben, soll­te man in Zukunft nicht die Häuser „halten“, um sie dem Besitzer at­trak­tiv zu machen, son­dern jene enteignen, die ja offensichtlich kein Interesse mehr an ih­rem Besitz aufbringen, und die Häuser eben „besetzen“ und kol­lektivieren. Als neue Ba­stionen des sozialen Zusammenlebens könn­ten diese dann bspw. selbstverwaltete Ar­beitsbörsen, auto­no­me Mie­ter­kol­lek­tive oder Büros von unab­hängigen Stadt­teil­räten, Gewerk­schafts­syn­di­katen und anderen sozial aktiven Gruppen beherbergen, schließ­lich Raum für Fahr­ge­mein­schaften bis hin zur gemeinsamen Kin­­derbetreuung bieten; etwas an­de­res frei­lich als erlebnisorientierte Künst­lerInnen und kreative Individuen des verarmten Bil­dungs­bürgertums. Eine solche Perspektive blie­be sicher nicht im Kleinen stehen und nö­­tigt dem Standpunkt einiges an Idealismus ab. Aber ohne den, zumindest ohne den Mut und die Hoffnung der unteren Schichten, werden in Lindenau auch in Zukunft nur kleine Brezeln gebacken, Brosamen von der Herren Tische, die den Hunger und die Trostlosigkeit kaum stillen.

(clov)

 

(1) Der Leipziger City-Tunnel-Bohrer, den man extra für die unterirdischen Baumaßnahmen entwickelt hat, wurde auf den wenig phantasiereichen Namen „Leonie“ getauft. Das ganze Bauprojekt dürfte durch die anhaltenden Verzögerungen (3 Jahre +) mittlerweile schon ca. 1,5 Milliarden Eu­ro verschlungen haben. Allein der Eigenanteil von Stadt und Land ist im letzten Jahr von 500 Mil­lionen auf weit über 800 Millionen geklettert.

(2) Siehe hierzu auch FA!#25 „Neue Häuser“

(3) Freilich ist die Strategie nicht ganz neu. Schon in den 1980ern wurde bspw. genau mit die­sem Mo­dell (5-Jahres-Verträge mit kreativen Köp­fen, In­tellektuellen etc. pp.) die Lower East Side in New York entwickelt bzw. „gentrifiziert“. Mit der Fol­­ge, dass die meisten der Angeworbenen nach Ab­lauf der Verträge durch das teilweise bis auf über 500% gestiegene Mietniveau wieder ver­drängt wurden. Siehe hierzu auch das interes­san­te Interview in der aktuellen Direkten Aktion mit Prof. Dr. Neil Smith aus New York, der dort schon seit langem zu Gentrifizierungsfragen forscht: DA, Nr. 186, „Kapitaler Abschaum“, S. 6

JOIN THE UNION ?!?

Über die Bedeutung des Streiks und das Elend gewerkschaftlicher Organisierung*

Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei! So proklamieren derzeit die Funk­tio­nä­re der deutschen Gewerkschaften an allen Ecken des Landes. Man will doch ernst­haft an dem deutschen Apfelbäum­chen namens Volkswirtschaft rütteln, damit mal wieder ein kleiner Goldregen die Ba­sis da­rüber belehrt, warum die Mit­glieds­beiträge sich eigentlich noch lohnen. Und wahrlich, der Konkurrenz-Kampf um die Mitglieder ist in den letzten Jahren auch schlecht gelau­fen! Man hatte sich soweit vom Wahrnehmen der aufgetragenen Interessen „zurück­ge­halten“ und die Zeit mit dem Erfinden von Werbege­schen­ken zur Mitgliederbe­loh­nung ver­geu­det, dass Basis und gewerk­schaft­liche Be­wegung mit den Gletschern Grön­lands um die Wette schmolzen. Statt die landläufige Politikverdrossenheit positiv zu nutzen und Vielfalt und Stärke zu de­mon­­strieren, versuchte man die internen Impulse kleinzuhalten, deckelte lokale Initiativen, boote­te kleinere Gewerkschaften aus und paktierte mit dem politischen Geg­ner. Passend zum deutschen Kleingeist erfand man dem „passiven Widerstand“ da­bei eine völlig neue Bedeutung, den ‚sym­bo­lischen Streik ohne ökonomische Wir­kung‘. Eine mediale Groteske, die nicht we­nige mit Austritt quittierten und viele davon ab­schreckte, ein gewerkschaftliches Engagement überhaupt zu erwägen.

Kein Wunder, dass es da gerade die rückschrittlichsten Kleingewerkschaf­ten wie Cockpit, Marburger Bund oder die Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) waren, die aus diesem nationalen Kuschel­kurs aus­scherten, um ihre Partikular-Interessen mit eigenen Fäusten durchzusetzen. Die relativ gute Streikorganisation und Kampf­­bereit­schaft hat die Funktionäre auf­geschreckt. Die Angst geht um, noch mehr Mitglieder könnten sich von den zen­tralen Verbänden abwenden. Und so kommt es zu so abstrusen Folgen wie zum Bei­spiel bei der Bahn, wo nun die Organi­sations­freiheit der Belegschaften im Rahmen von Tarifverträgen (!!!) eingeschränkt wird. Die GDL hat das selbständige Verhandlungsmandat nämlich nur um den Preis der Isolierung von der Ba­sis erhalten. Und Transnet plus die Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA) haben quasi per Ta­rif­verhandlung ihre Ver­bandsinteressen durch­gesetzt. Selbst wenn die Mitglieder wechseln wollten, sie könnten‘s nicht mehr.

Oh welch blend­ne­rischer Schleier des Nicht­­wissens zieht da durch die Köpfe der Ge­nos­senbosse! Welch Hohn der Ge­schich­­te und allem, was sie in sich als Solidarität jemals begriff! Diese Senke des Be­wußtseins nennt sich Solidarpakt und der Wald, der sie um­gibt, das ist das dichte Dickicht der Selbst­er­hal­tungs­interessen der Verwaltung. Solidarisch Handeln heißt ja auch immer die Be­­reitschaft, eigene Interessen hintan zu stel­len, beizuspringen und zu helfen, offen sein. Doch stattdessen: Wird für die ei­ge­nen Interessen nur taktiert, sind die Mit­glieder nichts als Zahlen in Bilanzen, die man sich dann beim Sektchen eitel un­ter die Nasen reibt. „Organizing“ heißt das neue Zauberwort. Völlig neuartige, dezentral und konkret ansetzende Werbe­stra­te­gien, um Mitglieder mit Konzepten aus der Kun­den­wer­bung zur Unterschrift zu locken. Natürlich alles ganz heiß aus Amerika! Die Gewerkschaft als moderner Dienst­­­­leister, flexibel, innovativ und natürlich völlig kostenlos … für Mitglieder. Es biegen sich die Balken und die vielen Toten der Geschichte stöhnen unter dieser dreisten Pos­sen­reiterei! Es gab mal Zei­ten, da war die Or­ga­nisation in der Ge­werk­schaft eine ge­sell­schaftspolitische Not­wendigkeit, und als Kampforgane der sozialistisch-kommunistischen Bewegung waren diese deren progressivster Teil. Die Mitgliedschaft war selbst­­verständlich und be­durfte keiner spiel­theoretischen Kalküle rationaler Wahl, keiner Kosten-Nutzen-Akro­batik, um Ent­schei­dungen für oder gegen eine Mit­glied­schaft aufs Niveau gewöhnlichen Kaufver­haltens zu reduzieren, und dann pro­gno­stizieren zu können, dass schwarze Werbekugelschreiber dreimal häufiger zu einer Mit­gliedsunterschrift füh­ren als die üblichen roten.

Nur für Mitglieder !?

Die Gewerkschaft als privatwirt­schaft­lich „organizster“ Dienstleistungsbetrieb!? Oh­ne Umschweife lässt sich sagen, dass die Gewerkschaften als Rechtdienstlei­stungs-Unternehmen ins­besondere in Sachen deutschem Arbeitsrecht einen Marktvorsprung hätten. Aller­dings ist fraglich, ob eine sol­che kapitalistische Unternehmung sich aus Mitgliedsgeldern sinnvoll finanzieren lässt und es überhaupt nicht effizienter wä­re, bei der nächsten Ver­waltungsreform die or­gani­sierte Basis einfach abzuschütteln, wie die Mutter das lästige Kind. Die für einen Rechts­dienstleister prekäre Lage von sinkenden Mitgliedszah­len und damit verkoppelt, sinkenden Einnahmen, wä­re ohne umfangreiche und kostenintensive „Orga­nizing“-Kampagnen mit einem Schlage auf­gehoben. Und die Herren Funk­tionäre hät­ten es endlich geschafft, das gewerk­schaft­liche Konzept von den Beinen derart auf den Kopf zu stellen, dass So­lidarität sich zur Konkurrenz verkehrt, dass die Offenheit zur Ab­schot­tung gerät, und die eminent wichtige länderübergreifende Ausrichtung endgültig zum Nationalismus degradiert wird. Anstelle eines basisnah orientierten Kampforganes für die sozialen Interessen Aller wäre die Gewerkschaft nicht mehr als ein kapitalistischer Normal­be­trieb, bezweckt durch die Partikular-Inte­ressen seiner Unternehmer, anstatt auf re­vo­lutionären Gestaltungswillen mit hu­ma­nistischem Anspruch & Gehalt aus-, wür­de sie auf reine Marktanpassung ab-ge­rich­tet. Es überreizt das Bild noch nicht, wenn man der zukünftigen Firma „Ge­werk­schaft“ einen zweiten Sektor vorstellt, in dem sie marktbeherr­schend werden könn­te, nämlich im Bereich der Polit-Dienstleistung, als Instrument des Konkurrenzkampfes zwischen den Konzernen. Und einige haben diesen rentablen Weg ja auch längst eingeschlagen. Die langjährige Kampferfahrung und das Netzwerk von Informanten in vielen Be­trieben – ach was könnte man da an Dividende für die Mitglieder ausschütten?! Am Ende würde man die alljährlichen Lohn­anpassungen ans Preis­niveau gar selbst bezahlen können … nur für Mitglie­der, versteht sich. Streiks wären völlig über­flüssig und dazu noch kostenneutral.

Für die Zukunft der gewerkschaftlichen Zen­­tralverbände werden also goldene Zeiten kommen, solange sie nur auf das beru­hi­­gende Wispern ihrer Markt- und Fi­nanz­be­rater hören. Doch was geschieht mit den Interessen, die die Gewerkschaft von einst re­präsentierte? Was hat die Arbeitnehmerschaft innerhalb und außerhalb der Ge­werk­schaften noch zu erwarten? Die Tarif­run­den des Jahres 2008 werden ohne Zweifel und trotz aller Rhetorik Nullnummern sein. Was man auf dem Papier als Lohner­höhungen verkaufen wird, sind nur die drin­gend notwendigen Anpassungen auf der Nachfrageseite des Binnenmarktes. Wenn nicht so, dann wären diese anders, über Steuererleichterungen etwa, gekommen. Bitter dabei ist, dass diese national-ökonomische Maßnahme faktisch immer nur eines nach sich zieht: Steigende Preise. Es erfolgt also gar keine klassische Umver­teilung von oben nach unten, von wenigen dicken Firmenkonten zu vielen prallen Geld­­beutelchen. Im Gegenteil, die akku­mu­lierten Kapitalien der Unternehmen blei­­ben völlig unangetastet. Vielmehr finanziert das Heer der Konsumenten die „Kon­sum­fähigkeit“ der jeweiligen lohnabhän­gi­gen Gruppe, indem die notwendigen Kosten über den Preis auf eine anonyme Gruppe möglicher KäuferInnen umgelegt werden, die ihr Beutelchen dann enger schnallen müssen. Deswegen haben die Unternehmer und Arbeitgeberverbände ja auch ein Inte­resse an möglichst geringen Löhnen, da­mit sie den Preis im Kampf gegen andere Kon­kurrenten als Waffe noch einsetzen kön­nen. Wären die Lohnumlagen zu hoch, müssten die Bosse nämlich wirklich ran ans dicke Konto und das würde kurzfristig die für frisches Geld unersetzliche, finanzielle Performance beeinträchtigen und langfristig, oh heiliger Mammon, sogar an der Rendite kratzen.

Zwischen Standort-Logik und Nationalismus

Während also die Funktionäre die Basis mit den Zahlen der Lohnforderungen einlullen und ihre mageren 6- bis 10-Prozent-Abschlüsse feiern, wird das Jahr 2008 auf der realen sozialen Ebene für viele Lohnabhängige weitere spürbare Verschlechterungen mit sich bringen. Steigende Mobilitäts- und Grundversorgungskosten und insbesondere verlängerte Arbeitszeiten, die bei den diesjährigen Tarifrunden ganz selbstverständlich und fraglos fast überall mit unterschrieben werden. Das ist offenbar der Preis, den die Un­ter­nehmer für das Erstumpfen ihrer Preis­waffe fordern. Von Widerstand dagegen kaum Spu­ren. Dabei dürfte doch jedem und jeder einleuchten, dass die größte Frucht der Industrialisierung und modernen rationalen Planung der Arbeit die Frei­setzung von der Arbeit, und nicht die Ver­sklavung unter selbige, ist. Doch nichts hört man mehr von der 35-Stundenwoche, mehr Urlaub, Lohnfortzahlung, verkürzter Le­bens­ar­beits­­zeit etc pp.

Klar, der Unternehmer hat nur sei­ne Ver­wal­tungsinteressen und sein internes Lei­stungs­niveau im Auge, aber gerade gegen diese Eng­­stirnigkeit, als „Bewusst­seins­stüt­ze“ so­zu­sagen, waren Ge­werk­schaften ein­mal gedacht, um genau diesem Schießschar­tenblick aus staatlichen und privatwirt­schaft­lichen Interessen eine soziale und offene Perspektive entgegen zu stellen. Die Ver­kürzung der (Lebens)Ar­beits­zeit, die Frei­setzung der Menschen von routinierten Prozessen unter fremdbe­stimm­ten Interessen, die Schonung der Kör­per und Geister, das Ende der Erniedrigung durch Arbeit; nach­haltiges Produzieren und der Aufbau wirksamer und stabiler sozialer Institutionen schließlich – das sind aktuelle Übersetzungen dessen, wofür die Gewerkschaften einst angetreten sind. Und genau wegen einer solchen sozial offenen Politik hat­te man damals auch kein Mitglieder­prob­lem. Es ist gerade die Reduzierung des gewerkschaftlichen Engagements auf be­triebs­interne bzw. branchenspezifische Poli­tik, das Fernbleiben allgemeinpolitischer Per­spektiven und außerbetrieblicher Ak­tionen, der reformistische Kurs und das So­zialpartnerschafts-Ge­schwafel, was starke Ge­werkschaften hierzulande verhindert.

Und dass wir hier alle in dem gleichen morschen Kahn namens Deutschland-AG sitzen, für diese Einsicht brauchts kein Abitur. Zu wenig Bildung des Bewusstseins scheint dagegen vorhanden zu sein hinsichtlich der offensichtlichen Missstände bei der Verteilung der unterschiedlichen Aufgaben und Chancen. Die einen schrubben immer nur die Planken, während andere nur rudern, Dritte lediglich steuern und ein weiterer Teil allein das Sonnendeck belebt usw. Letztlich nicht zu vergessen jene, die, bis zum Kopf unter Wasser, sich gerade mal an den Rumpf krallen können. Die sogenannte „deutsche Solidargemeinschaft“ findet ihre Wirklichkeit doch höchstens in dem Zwangssubjekt mit Namen „Steuerzahler“. Ein ernsthafter, starker und schließlich wirksamer Syndikalismus kann die Beseitigung dererlei gesellschaftlicher Missstände deshalb nicht an die staatlichen Institutionen delegieren, das ist die immer gleiche Lehre aus der Geschichte der Sozialdemokratie. Also Schluss mit diesen alten Reflexen!

Die bürgerliche Klasse der Unternehmer spielt gerade, vom neoliberalen Siegesrausch der „goldenen Neunziger“ nach dem Ende des Kalten Krieges noch ganz ergriffen, vor, wie man die juristischen Regelsätze umdeuten, auslegen und nach Belieben än­dern kann. Und die SPD hält dabei auch noch die Steigbügel. Und schon bröckeln die alten Errungenschaften wie das Arbeitsrecht oder die Betriebsverfassung. Denn sind wir ehrlich, wie wirksam ist denn das Arbeitsrecht aktuell? Ist es nicht vielmehr Richter der ka­pi­talistischen Arbeitsverwalter als An­walt der durch Arbeit Unterdrückten und Ausgebeuteten? Und wie hoch ist die orientierende Bindung an die abgeschlossenen, rechtlich abgesicherten Lohntarife wirklich? Mensch muss kein Prophet sein, um einzusehen, dass es beiderseits bergab geht; eben­so wenig, um hinter dem schnöden Rechtssatz die interessensgeleitete Auslegungspraxis windiger Winkeladvokaten auszumachen. Die syndikalistische Initiative mit humanistischem Inhalt und progressiver Gestalt kann deshalb nicht einhalten vor den Gesetzgebungen nationaler Interessen, sie beschwört keine „nationale Solidarität“, sondern entlarvt die Nations-Beschwörer als das Kartell der Profiteure, welches es realiter ist. Sie kennt keine ‚Stammbelegschaften‘, keinen nationalen ‚Kundenstamm‘, keine Standort-Ausrichtung. Denn um die durch die kapitalistische Marktkonkurrenz verursachten Probleme nachhaltig zu bekämpfen, gibt es keine nationalen Insel-Lösungen. Wenn man so will, ist diese späte Einsicht doch ein mahnendes Erbe der kommunistischen Revolution und des anschließenden Kalten Krieges.

Eine Zwischenbilanz

Es dürfte klar geworden sein, mit den gegenwärtigen Zentralgewerkschaften ist der­zeit nicht viel anzufangen. Bestenfalls ausgenommen von der Kritik ist das Engagement im Bereich von Bildungs-Sponsoring und bei der Finanzierung einiger Basisgruppen und -initiativen. Obwohl nach wie vor den Interessen breiter sozialer Schichten kei­ner­lei allgemeinpolitische Bedeutung bei­gemessen wird und die verschärfte soziale Lage die Menschen mobilisiert und radi­ka­lisiert, die Streikbereitschaft erhöht, ist die Macht der syndikalistischen Organisationen auf einem historischen Tief. Ist also die Zeit der gewerkschaftlichen Organisie­rung an ihr Ende gelangt? Nein, keines­wegs! Denn wie schon gezeigt, gibt es sowohl die Mög­lichkeit, eine empanzipative sozialpoli­tische Perspektive zu denken, als auch die Not­­wendigkeit, diese in sozialen Einrichtungen und Institutionen der Ge­sell­schaft zu verwirklichen. Dass man für solche Um­ge­staltungen der gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings Macht organisieren muss, ist ebenso einsichtig. Und dafür ist der orga­nisatorische Zusammen­schluss der Einzelnen zu einem Kollektiv nun mal unerlässlich. Weiterhin: Dass auch eine ungeheure Macht aus der sozialen Stellung erwachsen kann, von der sich die bürgerliche Gesellschaft stets bemüht zu behaupten, sie wäre völlig ohnmächtig, weil ohne Kapital und Einfluss, diesen Weg wies Marx, und zeigte damit einen, vielleicht den entscheidenden gesellschaftlichen Kampfplatz um die richtigen Verhältnisse an: Den Arbeitsplatz, den wir in einer arbeitsteilig aufgebauten und funktional differenzierten Gesellschaft einnehmen, die nach den Zwecken der ständigen Mehrwert-Spekulation (Wachstum!!!) durch kapitalistische Unter­neh­mungen vorangetrieben wird. Eine solche ist nämlich aus­­gesprochen empfindlich gegen Arbeitskämpfe, Arbeitsverweigerung und das Stocken der weit verzweigten Pro­duk­tions­ket­ten. Zwar halten Chefs in der Re­gel jeden Einzelnen für ersetzbar außer sich selbst, aber ganze Belegschaften auszutauschen, das geht nun mal nicht von heut auf morgen. Und von daher haben auch diejenigen gute Karten beim Poker um die zeit­weise Verbes­serung der Arbeits­be­d­in­gun­gen, die soli­da­risch ge- und kämp­ferisch entschlossen für ihre Interessen am Ar­beits­platz einstehen.

Soweit zum Ein­malEins der Ge­werk­schaf­ten und Betriebs­rä­te. Doch ist das schon ge­nug? Reichen sol­che partiell und lokal zeit­weise erfolgreichen Ar­beits­kämp­fe aus? Nein, das tun sie eben nicht, das wuss­ten schon die fin­digen Köpfe der Gewerkschaftsbewegung an ihrer Wie­ge. Denn ein noch so progressiv eingerichteter Betrieb muss sich auf kurz oder lang der durch die Ka­pitalinte­ressen ent­fachten Konkurrenz wie­der stellen, will er seine Produkte als Wa­ren über den staatlich eingehegten Markt an Mann & Frau brin­­gen. Und ein eher an so­zialen Gesichtspunkten der Produktion orien­tierter Betrieb wird hier letztlich im­mer einer knallharten Aus­beutungs-Unternehmung unterliegen, da ersterer weder die Ef­fi­zienz noch das Lei­stungsniveau des zwei­teren erreichen kann und am Ende beim Preis­wettlauf um die Kon­sumenten verliert. Um also endgültig Schluss zu machen mit dem konkret a-sozialen Arbeitsleben, muss auch Schluss sein mit den allgemeinen Rah­menbedingungen, die dieses zuallererst bedingen. Es geht deshalb bei ernsthaften Ar­beits­kämpfen um nichts weniger als das Gan­ze, um ein revolu­tionär neues Gesicht der Ar­beitswelt und da­­ran gekoppelt, um ge­sell­schaftliche Ver­häl­tnisse, die dies ermöglichen. Dieses poli­tische Ziel, so selbst­ver­ständ­lich wie oft vergessen, ist aber weder durch einen reformistischen gewerk­schaft­lichen Kurs noch über den Gang in die Parlamente zu erreichen, das sollte jeder und jedem klar geworden sein, der oder dem es schwer fällt, die Sozialdemokratie von heute von der Zentrumspartei von gestern noch zu unterscheiden. Denn was diese in Jahr­zehnten parlamenta­rischer Gräben­kämp­fe am grünen Tisch erreicht hat, kassierte sie selbst in nicht we­ni­ger als zwei Re­gierungsperioden größten­teils wieder ein. Der einzig lohnenswerte Syndikalismus von morgen wird also sowohl außerparlamentarisch, antinational und antistaatlich, als auch antikapitalistisch aus­zu­richten sein, oder er wird nicht sein, was immer er auch von sich im Namen von Tradition und Institution behaupten mag.

Warum Streiks so wichtig sind und warum sie nicht ausreichen

Eines der gängigsten Argumente, das die bürgerliche Gesellschaft in den jüngsten Tagen den streikbereiten Belegschaften immer wie­der entgegenhält – erinnert sei nur stellvertretend an die juristische Farce des letzten Bahnstreiks, bei dem der GDL monatelang das staatlich zugesicherte Streikrecht entzogen wurde – ist jenes Ar­gu­ment vom volkswirt­schaft­lichen und damit gesellschaftlichen Schaden, die die Streiks immer wieder heraufbeschwören sollen. Und ja, insofern mit diesem „Schaden“ der Zusammenbruch der bürgerlichen Illusion einer bereits realisierten glücklichen Ar­beits­welt gemeint ist, trifft dies auch zu. Die Streikenden hingegen kann der Rech­nungs­saldo des Finanz­mi­nisteriums oder die Fir­men­bilanz so wenig interessieren, wie umgekehrt ihre Inte­res­sen in der Herren Häuser keine Rolle spie­len. Ein Streik ist kein Zahlenspiel und lässt sich auch nicht darauf reduzieren. Die reinen ökonomischen Kosten, die er verursacht, werden im Rahmen der kapitalistischen Verwertung und unter Einfluss diverser Interessenslagen umgelegt. Wohin, lässt sich nicht in ab­strac­to vorherbestimmen. Im schlimmsten aller Fälle schlägt die Ko­sten­falle sogar auf die Strei­kenden zurück, das sollte man durch­aus bei allem Aktionismus immer mit bedenken. Dennoch liegt im Streik das Au­gen­merk nicht auf den Kosten, sondern auf dem Gewinn, und der ist durchaus nicht nur ökonomischer Natur. Der Streik schafft nämlich direkt am Ar­beitsplatz einen Freiraum, der es dem durch die routinierten Arbeitsprozesse ein­ge­spannten Individuum erlaubt, sich mit anderen auszu­tau­schen und zu organisieren, und damit erst die Voraussetzung, um die gemeinsam be­treffenden Missstände durch kollektives Handeln aufzuheben. Und bei hohen Ar­beits­zeiten steigt auch die Bedeutung solcher selbstbestimmten Freiräume direkt am Arbeitsplatz und damit die Bedeutung eines Streiks. Wer kennt nicht das „Ausgepumpt-Sein“ nach 10-12 Stunden Arbeit, die Burn-Out-Symptome, die Schwierigkeiten beim Versuch, die gemeinsamen Interessen in der „Freizeit“ zu organisieren. Und genau deshalb ist der Katechismus von prosperierender Wachstumsgesellschaft und Vollbeschäftigung auch nicht das rechte Lehr­buch für eine eman­zipative gesell­schaft­liche Ent­wick­lung unter humanistischem Vorbild. Denn wie bitte schön soll der Mensch sich in der Wahrneh­mung seiner politischen Rech­te befleißigen und kollektiv für seine Inte­ressen einstehen können, wenn die Arbeit dafür weder die Zeit noch den Raum lässt? Auf die nationale Po­litik der (Lebens)Ar­beits­zeitver­län­gerung kann es deshalb auch nur eine syndikalistische Antwort geben: Verstärkte Streiks!

Dennoch wird man auch feststellen müssen: Befristete, lokale Streiks und die zeit­weise Freisetzung von der Arbeit reichen nicht aus, um die eiskalte Logik der kapitalistischen Konkurrenz ein für alle mal zu bre­­chen, und an deren Stelle den transnatio­nalen, solidarischen Zusammenschluss aller Menschen zu setzen, sowie neue Formen des nachhaltigen Produzierens in einer nach sozialen Gesichtspunkten eingerichteten, humaneren Arbeitswelt. Um die mehrwert­orien­­tierte Wirtschaftsweise als solche zu verändern, wird mensch auch die bedingenden gesellschaftlichen Co-Faktoren ändern müssen. Und diese lassen sich durch eine be­triebsinterne Politik, temporäre Arbeits­nie­­­derlegungen und zeitweise Verbesserung lokaler Arbeitsbedingungen eben nicht so einfach beeinflussen. Der Streik in der Form vorübergehender Arbeitsaus­setzung, ob nun als subversive Raucherpau­se, bloßer Warnstreik, harmloser Flexi-Streik oder komplett wilder Streik, kann des­halb nur ein Anfang, ein früher Freiraum, eine erste Experi­men­tier­stätte dessen sein, was es als ge­samtgesell­schaftlichen und sozialen Zusammenhang überbetrieblich erst noch zu formieren gilt. Streiks sind deshalb kein Selbst­zweck in dem Sinne, sondern vielmehr ein Mittel, um dem höheren Zweck der besseren Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu dienen. Und die Verlagerung der Ar­beitskämpfe auf andere gesellschaftspoli­tische Felder ist für eine Ge­sellschaft um so wichtiger, je mehr der to­tale Arbeitszwang der kapitalistischen Verwertung vor dem Hintergrund eman­zipa­torischer Ansprüche zerfällt. Positiv gewendet, bieten die brüchig gewordenen Er­werbs­biographien und die schichtenübergreifende Erfahrung von Arbeitslosigkeit nämlich Freiräume, um den solidarischen Austausch über den Arbeitskampf in andere gesellschaftliche Teilbereiche auszudehnen und stabile soziale Institutionen aufzubauen. Die Chancen, die in dieser Ausweitung der Kampfzone für eine starke syndikalistische Machtbasis liegen, zu wenig zu be­rücksichtigen, und stattdessen wie paralysiert auf die betriebsinternen lokalen Ar­beitskämpfe zu starren, ist der zentrale Vorwurf, den man allen deutschen Gewerk­schaf­ten, einschließlich der Freien ArbeiterInnen-Union (FAU) machen muss. Es darf schon ein bisschen mehr Be­tonung auf dem ersten Teil des Wortes „Anarcho-Syndikalismus“ liegen.

Zentralgewerkschaften und die doppelte Organisationsfrage

Um den Kampf vom Arbeitsplatz hinaus aus dem Betrieb und in die Ge­sellschaft hin­einzutra­gen, allgemeinpolitischen Ein­fluss zu nehmen und sozialere Verhältnisse für jeden Einzelnen zu gestalten, ist zweifellos mehr nö­tig als die kurzen Bande, die sich während der Streik­­phasen zwischen den Menschen knüpfen. Es braucht Organisation und Kontinuität im Wech­sel­spiel von Arbeit und „freier Zeit“, von lokalen Be­triebspro­blemen und globalen Mißständen.

Die­se „Or­ga­nisation“ ist aber gerade nicht der zen­trale Massenverband wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) oder ähnliche. Vielmehr ist die ‚Organisation‘ als solche die organisierte Bewegung, die mobi­lisierbare Basis selbst, in all ihren vielschichtigen Facetten lokaler Zusammenschlüsse. Der Mas­sen­verband dagegen ist nicht mehr als ein degenerierter „Homunkoloss“, Kopfgeburt eines all zu naiven Organsations­ver­ständ­nisses dieser Bewegung. In ihm haust, wie in fast allen zentralen bürgerlichen Verbänden, das alte Gespenst des mittelalterlichen Korpora­tis­mus, bei dem die Köpfe (Funk­tionäre) den Verband als ganzen repräsentieren können, der Körper (Basis) aber nicht. Aber was man sich für frühere Zeiten vielleicht noch als durch­aus vitalen Zusammenschluss vorstellen konnte, ist heu­te zusätzlich einbetoniert in die eisernen Richtlinien der bürokratischen Verwaltung, sodass in modernen Mas­senverbänden von einer Vermittlung zwi­schen Basis und Spitze gar keine Rede mehr sein kann. Die Folgen dieser mangelnden Vermittlung zeigen sich dann am gemeinsamen Nenner: 8+x%. Wie gut, dass Zahlen gleichzeitig Alles und Nichts aussagen!

Die Organisationsfrage der gewerkschaftlichen Bewegung lautete jedoch nie: Wie kriegen wir möglichst viele zahlende Mitglieder und Stimmen? Sondern: Wie organisieren wir die lokalen Gruppen und Zusammenschlüsse bzw. genauer: Mit welchen Mitteln organisieren wir uns und auf welchen Zweck hin richten wir unsere Organi­sierung aus? Und in dieser doppelten Li­nienführung der Frage stellt sich auch her­aus, woran es den Gewerkschaften heutzutage mangelt. ‚Organ‘-isation, schon der theoretische Begriff zeigt doch auf der Ebene der Mittel eine deutliche Abkehr vom Kor­po­ratismus und der Einteilung nach hier­archischen Stände-Verhältnissen an. „Wir organisieren uns!“ – das hieß optimistisch: „Wir lassen uns nicht mehr bevor­mun­den, wir sprechen für uns selbst!“.

Orga­nizing heute, das heißt, pessi­mi­stisch gewendet, Promotion für die Palet­te an Orga­nisierungsdienstleistungen, die der Verband aktuell anzubieten hat. Die Differenz könnte größer nicht sein, denn die Zen­tralge­werkschaften haben die Frage nach den rich­tigen Mitteln der Organi­sie­rung ja längst aufgegeben. Als gäbe es keine Funktionärs-Erblinien, kein Ver­mitt­lungs­­pro­blem mit der Basis, keine Stell-Ver-und-Daneben-Treter, keine Endlosschleife der Bürokratie, keinen chronischen Mangel an partizipativen Prozessen. Die Selbstbestimmung der Mitglieder, das ist bei allem Nacheifern bürgerlicher Institu­tio­na­lisierung völlig vergessen worden. An­statt dass die Gewerkschaft hält, was sie verspricht und den eingespannten Menschen durch den Zusam­men­schluss zum kollektiven Handeln und zum Wahrnehmen seiner Interessen ermächtigt, schweigt die Zen­­trale die Interessen der einzelnen Mitglieder tot und zwingt ihnen ob­endrein das Interesse des Verbandes insbes. seiner Verwaltung zusätzlich auf. Derweil legitimiert der Mummenschanz der parlamentarischen Demokratie das, was jedeR weiß: Die da oben machen doch eh, was sie wollen.

Und in dieser Lage der mangelnden inneren Organisierung der Mitglieder-Interessen sind die zentralen Gewerkschafts­ver­­bän­de auch kein Vorbild für die Massen. Es entsteht nicht mehr der Sog, der sich durch pro­gressive soziale Institutionen bildet, die den em­anzipativen Ansprüchen der Men­schen ge­nügen, weil die Gewerkschaften als ver­ban­desmäßige Organisation in ihrer konkreten Gestaltung nirgends sichtbar aus dem Sumpf der gewöhnlichen bürgerlichen Insti­tutionen herausragen. Die zu­kunfts­wei­sen­den Antworten auf die Frage nach den rechten Organisierungsmitteln der gewerkschaftlichen Bewegung werden also eng geknüpft sein an die Aspekte der Partizipation und Transparenz, an die Probleme der Mit- und Selbst­bestimmung und an die Schwierigkeiten der dezentralen und basisnahen Ver­knüp­fung lokaler Gruppen letzt­lich.

Die eine Seite der Organisations-Medaille bildet also die Frage nach den internen Verhältnissen der Organisierung, nach den rich­tigen Mitteln, um sich sinnvoller Weise als Kollektiv selbstbestimmter Individuen aufzustellen. Denn der Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, das ist höchstens ein nichtiger Aphorismus aus den Fibeln der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die andere Seite nun betrifft die Ausrichtung, diese Organi­sie­rungs­zwecke eben. Und dabei ist gerade die geschlossene Ideologisierung bzw. der Rückzug auf Partikularinteressen der falsche Weg. Denn eine vitale Bewegung wird um­ge­kehrt immer abhängig von ihrer Offenheit sein, will sie dem Anspruch genügen, die Selbstbestimmung der basisnahen Interessen wirklich ernst zu nehmen. Das betrifft nicht nur den internen Austausch zwischen den Generationen, es betrifft auch die syndikalistische Machtbasis in ihrem Kern. Denn nur wenn es gelingt, die Bewegung auf eine breite Basis zu stellen und über die Arbeits­kämp­fe die Menschen schichtübergreifend in einen Kampf ums Ganze, um eine sozialere und emanzipative Gesellschaft zu verwickeln, kann sich das verwirklichen, worauf es schließlich ankommt: Die Aufhebung der kapitalistischen Konkurrenz. Die gewerkschaftlichen Gruppen werden sich also Ziele stecken und Aufgaben planen müssen, die über die eigenen eng begrenzten Interes­senslagen hinausragen, wollen sie offen und einladend wirken. Selbst die beste Organi­sierung nützt letzten Endes wenig, wenn sie nicht in der Lage ist, immer wieder neue Menschen, Ideen und Interessen einzubinden, sie endet schließ­lich als Papiertiger oder bürokratische Aktenleiche.

Innere Einrichtung und äußere Ausrichtung, Selbstbestimmung einerseits, Offenheit an­de­rerseits bilden also den Nerv einer richtigen Organisation. Und genau dieses dialektische Spannungsfeld muss von denen ständig beackert werden, die sich kollektiv organisieren und damit einen emanzipatorischen Anspruch auf die bessere Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbinden. Gibt man dagegen einen der beiden Pole auf, in dem man sich entweder auf die Interessen der Mitglieder beschränkt und ihre selbstbe­stimm­ten Interessen unterdrückt, oder die einzu­be­ziehenden Menschen auf einen nachfragenden Kunden reduziert und deren Interessen nicht wahrnimmt – dann sprechen wir vielleicht über die zur Tradition degenerierten Kontinuitä­ten deutscher Gewerkschaften, nicht jedoch über die progressive Gestalt eines (post)mo­dernen Syndikalismus.

Vom Ersten Mai, dem Generalstreik und dem Ende der Knechtschaft

Tradition versus Kontinuität ist das richtige Stichwort zum Schluss. Drei hartnäckige Missstände der gewerkschaftlichen Bewegung fallen hier besonders auf. Die Winkelemente-Zeremonien zum Ersten Mai, die romantisch-nostalgische Generalstreik-Rhetorik und der sozialstaatliche Irrsinn der So­zia­listen. Der Traditionalismus zeichnet sich nun dadurch aus, dass er sichtbar die Zeit aus­gesetzt hat und an die Stelle wirklicher Ent­wicklungen und geschichtlicher Konti­nui­täten die hohle und jedem Einspruch überhobene Einheit der Sache setzt. Und dementsprechend monoton und innova­tions­resistent erscheinen auch seine Rituale. Wie beim Ersten Mai, wo nach einem gemütlichen Spaziergang jede ernsthafte Auseinandersetzung zwischen Würstchen, bunten Kugelschreibern und schmalen Wer­beheftchen untergeht – alle Jahre wieder. Als hätte ihn nie jemand (mensch lese die Protokolle nach!) zum weltweiten Kampftag, zum Beginn einer globalen Arbeitsverweigerung, zum Generalstreik erklärt. Und als solcher ist er ja wohl an einem bürgerlichen Feiertag äußerst schlecht gelegen!

Ebenso fehl geht aber auch die syndikalistische Tradition des radikalen Flügels, die den Generalstreik immer nur als Anfang einer re­volutionären Neugestaltung der Gesellschaft begreift. In einem solchen Sinne kann er aber umgekehrt nichts anderes sein, als das Ende, die Vollendung einer organisatorischen Leistung, die an der Schwelle dahin steht, der kapitalistischen Konkurrenz kollektiv und global ein Ende zu bereiten. Die Welt muss dann schon ein schier uner­schöpf­liches Reservoir an Freiräumen, eine Vielfalt an sozialen Institutionen, selbstorganisierten und aufgeklärten Individuen bieten. Denn wie sollte sonst die Solidarität zwi­­­schen den Menschen den kapitalistischen Kleinkrieg mit einem Male ersetzen? Den höchsten Zweck als bloßes Mittel auszugeben und dabei stehen zu bleiben, solche Rhe­torik ist schließlich nichts als hohler Idea­lis­mus, der sich weder den konkreten Interessen der Menschen, noch den wirklichen Hindernissen und Problemen einer solidarischen Organisierung stellen will.

Über diesem allen Übel ragt jedoch die Tradition der Sozialdemokratie und der einge­schlif­fene Pragmatismus der Staatssozia­listen. Ganz blind für das Scheitern so ziemlich aller sozial­staat­lichen Projekte beharren diese Schein-Gewerkschafter von SPD bis Linkspartei auf dem bürgerlicher Apparat loyaler Beamten, auf der bürokratischen Verwaltung und den Maßnahmen sozialer Kontrolle und polizeilicher Überwachung. Als gälte es nicht gerade, sich davon zu befreien, um besseren Verhältnissen Platz zu machen. Doch diese neuen Herren sehen in gesellschaftlichen Prozessen nichts als Erfül­lungsbedingungen für die nationale Budge­tierung, den volkswirtschaftlichen Nutzen und die kapitalistische Konkurrenz. Ganz so, als wäre der Markt reiner Selbstweck und nicht lediglich ein Mittel. Ein so staatsgläu­biger Sozialist verschiebt die Organisie­rungs­probleme nachhaltiger und solidarischer Institutionen zwischen den Menschen letztlich auf den kalten Mechanismus einer durchgeregelten Arbeitswelt, wo weder vom individuellen Glück noch vom humanen Zusammenleben ernsthaft die Rede sein kann.

Nicht aber in den Fragen der national-staatlichen Rundum-Vorsorge, nicht in den Schwär­­mereien vom plötzlichen Aufzug eines unbestimmt Besseren, auch nicht in den sozial­part­nerschaftlich ergaunerten Ruhetagen und sonstigen Freizeiten, die nicht einmal für alle gelten, und deren Möglichkeiten der Mitgliedergewinnung – sondern in den Fragen der Organisation entlang der doppelten Linie von Selbstbestimmung und Offenheit, eingerichtet zur Emanzipation jedes Einzelnen und ausgerichtet auf die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der ganzen Welt, liegt das Geheimnis einer wirkmächtigen syndikalistischen Bewegung mit dem Anspruch, an die Stelle der globalen Konkurrenz eine weltweite solidarische Gegenseitigkeit zu setzen. Und das ist auch die einzig sinnvolle und zweckmäßige Antwort, die der Anarchosyndikalismus in Anbetracht der Geschichte auf die neoliberale Entwicklung der Welt geben kann.

(clov)

* Der Text versteht sich als inhaltliche Aktuali­sierung des bereits 1896 von Gustav Landauer im „Sozialist“ veröffentlichten Textes anlässlich der Streikwelle, die die durch den verstärkten Militarismus prosperierende deutsch-preußische Nationalökonomie damals erfasste: „Die Bedeutung der Streiks“ (28.03.1896), nachlesbar bspw. in: „Signatur: g.l.“, hrsg. v. R. Link-Salinger, edition suhrkamp 1113, Frankfurt (M.), 1986, S. 233-236.

„Militante Gruppe (mg) aufgelöst!“

So oder so ähnlich jubilierte die bürgerliche Presse ob der letzten Zuwort­meldung der Gruppe in der aktuellen radikal #161. Konnte man dort doch den Satz lesen: „Wir lösen uns heute und hier mit diesem Beitrag als (mg) auf! Von nun an ist die (mg) in die Widerstandsgeschichte der revolutionären Linke in der BRD eingegangen. Es gibt von nun an nur noch eine ex-(mg).“ Recht einleuchtend für die frohlockende Journaille, die dabei jedoch übersah, dass die Gruppe gleichzeitig von einem „scheinbaren Widerspruch“ schrieb, der sich hinter dieser Formulierung verberge. Die Nichtidentität der Identität der mg ist nämlich: die ex-mg!

Im Rückspiegel: 2001 war die militante gruppe erstmalig in Erscheinung getreten. Im Zusammenhang mit der Debatte um die NS-Zwangsarbeiterentschädigungen hatte sie scharfe Patronen per Post an die führenden Vertreter (Gibowski, Gentz und Lamsdorff) der Stiftungsini­tiative Erinnerung, Verantwortung, Zukunft der deutschen Wirtschaft verschickt, die sich für einen Klagestopp und finanziellen Schlußstrich einsetzte. Das dazugehörige Bekennungs- und Erläu­terungs­schreiben wurde in der interim #529 veröffentlicht. Darin heißt es: „Unsere Aufgabe als linksradikale Akti­vistIn­nen ist es, den Akteuren dieser perfiden Politik ihre Selbstzufriedenheit und Selbstsicherheit zu nehmen.“, und weiter unten: „Wir müssen die Ebene der reinen Proklamation von ‚revolutionären Ansprüchen‘ verlassen, wenn unsere militante Politik zu einem wirkungsvollen Faktor in der Konfrontation bspw. mit der Stif­tungs­ini­tiative werden soll.“ (1)

Seitdem gingen bis zum 26.02.2009 zwischen 30 und 40 „militante Angriffe“ auf das Konto der mg. Brandanschläge auf Bun­deswehrfahrzeuge und Polizeikraft­wagen, Sozial-, Arbeits- und Finanzämter, auf eine LIDL-Geschäftsstelle, auf das Deutsche Institut für Wirt­schafts­for­schung (DIW) und einiges mehr. Die Aktionen wa­ren immer gut geplant und richteten sich nach aktuellen politischen Themen, nie kam ein Mensch zu Schaden und im­mer veröffentlichte die mg ausführliche Erklärungen zu den Aktionen. Doch auch die Gegenseite schlief nicht. Schon 2001 lei­tete die Generalbundesan­wal­tschaft ein BKA-Ermittlungsverfahren gegen die Grup­pe ein, das sich bis zuletzt zu einer fieberhaften bundesweiten Fahndung nach Mitgliedern des klandestinen Zusammenhangs um die mg ausweitete. Der Vor­wurf: „Bildung einer terroristischen Ver­einigung“ nach §129a StGB. Bisher konnte jedoch kein Mitglied der mg beweiskräftig überführt werden. Von den ins­gesamt minde­stens vier Verfahren läuft derzeit offiziell nur noch eines. Die drei fest­genommenen Personen, die 2007 in Bran­­den­burg (Havel) beim Brandsatzlegen unter einen Bundeswehr-LKW beobachtet worden sein sollen und aktuell vor Gericht stehen (2), gehören aber nach Angaben der mg nicht zu ihrem Organisa­tions­zu­sam­men­hang. Dort frotzelt man eher über die verkrampften Bemühungen der Bundesbehörden, den drei Aktivisten der antimilitaristischen Szene die Mit­glied­schaft in der militanten gruppe unterschieben zu wollen, denn „… dann wäre unser Verständnis (der mg) von politischer Gefangenschaft und einer offensiven politischen Prozessfüh­rung als revo­lu­tionäre Kom­mu­nistInnen für alle Interessierten unverkennbar und unüberhör­bar zum Ausdruck gekommen.“

Solche Drohungen klingen dann doch etwas hohl, zumal sie aus dem oben er­wähn­ten Auflösungspapier stammen. Schein­bar ein weiterer Widerspruch? Nicht unbedingt, denn das Ende der mg, bedeutet ja den Anfang der ex-mg, wie wir von den dialektikelnden Ge­nossInnen lernen. Diese jedoch wollen in Zukunft weniger mili­tant auftreten. Die Gruppe begründet diese Abkehr mit einem langen Prozeß der Selbstkritik und internen Spannungen. Das Ziel des Aufbaues eines Netzwer­kes militanter Kerne hätte man verfehlt. Außerdem ist wohl auch die mangelnde Basis in der sozialen Klasse, für deren Interessen man ja kämpferisch antreten wollte, augenscheinlich geworden. Zwar könne man militante Aktionen aus der Spontanität und einer gewissen revolutionären Ungeduld begründen, als politische Mittel würden solche Aktionen aber nur dann wirkungsvoll sein, wenn sie mit den Interessen einer breiteren politischen Bewegung auch organisatorisch zusammentreffen. Demnach wolle die ex-mg ihr Gewicht nach dem Vorbild der italienischen Kommunistischen Partei politisch-militärisch (PC p-m) stärker auf Fragen des Politisch-Or­ga­nisatorischen verschieben, also versuchen „… aus der Enge der Fragestellung um Militanz herauszukommen, d.h. die Ebe­ne eines ‚militanten Reformismus‘ bzw. ‚Militantismus‘ zu verlassen und eine De­batte um eine klassenspezifisch-proletarische Organisierung und eine daraus resultierende Organisation aufzunehmen.“

Fast ist mensch versucht zu spotten: Willkommen im 21. Jahrhundert! Aber so modern fallen die Einlassungen der mg/ex-mg zur Organsations­frage dann doch nicht aus. Es wird über die Notwendigkeiten der „Par­tei-Form“ fabuliert, eine Menge Marx, Marcuse, Lukacs, Lenin und auch Mao zitiert. Und am Ende stellt man fest, die ex-mg steht wirklich am Anfang. Zwar „… ausgestattet mit einem umfangreichen inhaltlich-ideologischem Rüstzeug (inklusive aller Widersprüche und Leerstellen), einer langen Kette von militanten Ak­tions­­erfah­rungen und verschiedenen orga­ni­satorischen Versuchen des Strukturaufbaus und der entsprechenden reprodukti­ven Absicherung“, aber inhaltlich zu deutlich verstrickt in die theoretisch-abstrakten Fragestellungen eines untergegangenen Jahrhunderts und zu wenig konkret hinsichtlich erfolgsverspre­chenden emanzipatorischen Organisa­tions­modellen. Das Ge­rede von der Parteiform, die den in­ner­sten Kern einer Bewegung zusammenhalten soll, verkleistert dabei nur den klaren Blick auf ihre aktuellen Organisa­tions­probleme. Es ist ein ideologischer Ana­chro­nismus, um die enorme Spannung und Entfernung zur Blütezeit der kommunistischen Bewegung vor 90 Jahren überhaupt auszuhalten. Ein Blick auf die politische Kultur und Geschichte der „Partei“ jedoch genügt, um eine „Partei-Form“ prinzipiell in Frage zu stellen. Dies ist ein vertei­digenswertes Erbe schon des frühen Anarchismus. Wenn die ex-mg sich nach eigenen Worten also zwischen Kommunismus und Anarchismus ernsthaft positionieren will, ist den Genoss_innen nach der vorgezogenen Lektion in Sachen Aktionismus nun dringend auch eine Portion Organisations- und Herrschaftskritik anzuraten.

Zum Schluss: Dass mensch als militante gruppe zu einseitig auf militante Aktionen setzte, war unüberlegt, voreilig, aber verständlich bei der Wut, dem Unmut und der Resignation, die mensch zuweilen verspürt. Sich selbstkritisch zu besinnen, aus den Erfahrungen zu lernen und „quicklebendig“ weitermachen zu wollen, ist gut und das Bemühen um Fragen der Organisation richtig. Denn inwieweit gelangt mensch über eine offene und transparente, partizi­pa­torische und dezentrale Orga­ni­sierung zu subversiven und im letzten Schritt auch militanten Aktionen, um effektiv gemeinsame Ziele zu erreichen? Die Perspektive einer gesellschaftlichen Veränderung im besten anarcho-kommunistischen Sinne hängt von dieser Frage ab. Bleibt also zu hoffen, dass sich die Ge­noss_innen der ex-mg auf diesem neuen Terrain ebenso hartnäckig schlagen werden, wie die Ge­noss_innen der mg es auf dem Terrain der Militanz taten. Die mg ist tot, es lebe die ex-mg!

(clov)

 

(1) Die gesamte Stellungnahme unter: mirror.so36.net/home.arcor.de/dokumentationX/

(2) siehe hierzu auch FA!#27, Wie bilde ich eine terroristische Vereinigung?, Seite 1/22-24)

Alle anderen Zitate aus dem in der radikal #161 veröffentlichten Interview mit der mg. U.a. hier nachzulesen: www.einstellung.so36.net

Schwarzseher in roten Roben

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den EU-Grundlagenvertrag von Lissabon

Heil der obersten Richterschaft, so denken hierzulande viele, was wäre Deutsch­land bloß ohne den nüchternen Patriotismus des Bundesverfassungsgerichts? Das arme Deutschland wäre den grotesken Spielchen korrupter Politiker_innen vollends aus­ge­setzt, eine ganz gewöhnliche Bananenrepu­b­lik ohne durchgreifendes Rechtsstaatsprin­zip. Aber gottlob, es gibt das Grundgesetz, wenn auch nur als Quasi-Verfassung, und li­be­rale Justizbeamt_innen, die über die ver­bürg­ten Grundrechte aufmerksam wachen, denkt sich der gemeine Patriot und heimliche Deutsch­landfan. Es ist sicher nicht zuviel gesagt, dass in Deutschland viele Leu­te lieber das Bundesverfassungsgericht wäh­len würden, als die Kanaillen des Deutschen Bundestages. Und nicht ganz zu un­recht. Denn weit wirksamer als das Auf und Ab parteiischer Gesetzgebung hat die kontinuierliche Rechtspflege dieses unabhängigen obersten Gerichtes die bun­desdeut­sche Rechtsgeschichte seit 1951 geprägt. In beinahe 7000 Einzel­entschei­dungen und über 133.000 Kam­merbeschlüssen wurden Gesetze aus dem Parlament und Bundesrat und deren Auslegung beeinflusst – bestätigt, für nichtig erklärt oder außer Kraft gesetzt. Durch die besondere Stellung des Gerichtes, allein, einzig und ein­zelinstanzlich über die Auslegung des Grund­­­gesetz­tex­tes zu verfügen, der wiederum al­le anderen deut­­schen Rechtstexte fol­gend bindet, kommt den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes eine einzigartige Auslegungsvormacht zu, wenn es um den Ein­fluss auf den weit verzweigten juristischen Instanzenzug vom kleinsten Kreisgericht bis zum Bundesgerichtshof geht. Kaum ein_e Richter_in noch Politiker_in wür­de es derzeit wagen, die Urteile dieser obersten Richterschaft in Frage zu stellen.

Von dieser einzigartigen Machtbasis aus, die eine wohlwollende liberale Öffentlichkeit nur noch verstärkt, ist das Bundesverfassungsgericht integraler Bestandteil des deutschen Staates. Und aus dieser zentralen Funktion wird auch verständlich, warum dem Urteil des Gerichtes im Zusammenhang mit der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon (EU-Grundlagenvertrag bzw. -reformvertrag) (1) soviel Bedeutung zukommen musste, dass selbst der Bundespräsident zögerte, die deutschen Zustimmungsgesetze zur längst getätigten Ratifikation zu unterzeichnen.

Sechs Klagen gegen den Vertragsschluss waren anhängig, die das Bundesverfassungsgericht für entschei­dungswürdig erachtete. Nicht ganz uneigennützig, wenn man bedenkt, dass der Vertrag von Lissabon in der ursprünglichen Form eine Quasi-Verfassung für Europa werden sollte und damit faktisch eine Relativierung des deutschen Grundgesetzes als obersten Rechtstext bedeutete, also direkt die Machtbasis des Bundesverfassunsgerichtes betraf, es geradezu in verstärkte Konkurrenz zum Europäischen Gerichtshof setzte. Und dementsprechend trocken und konservativ fiel das Urteil am 30. Juni dann auch aus. Einig Europa? Von wegen! Zwar sehe das Grundgesetz nach Artikel 23 einen europäischen Integrationsprozess vor, was es Deutsch­land prinzipiell erlaube, zwischenstaatliche Verträge in dieser Form abzuschließen. Aber das Übertragen von Hoheitsrechten, welche unmittelbar die Souveränität der Bundesrepublik beträfen, könne nur in Form der vertraglich gebundenen Einzelermächtigung stattfinden und müsse jeweils in deutsche Gesetze überführt werden. Dabei sehen die Richter durchaus einen, wenn auch bloß summarischen, Zugewinn an Demokratie über die neuen Einspruchsrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten. Nicht jedoch ein Europäisches Parlament, dass über freie und gleiche Wahlen zustande käme und so eine „Unionsbürgerschaft“ begründen könne, die als neue Legitimationsbasis den Volkssouverän der einzelnen Staaten ersetzen würde. Insbesondere die vereinfachten Ent­scheidungsverfahren, welche der neue Vertrag vorsieht, sind den Richter_innen dabei ein Dorn im Auge.

Durch die Abschaffung des Kon­sens­prinzips könne es zu Übertragung von „Kompetenz-Kompetenz“ kommen, sprich zu einer nachträglichen Ver­än­derung der Vertragsbasis ohne die jeweilige Zustimmung jedes Mitglieds­staa­tes. Deshalb sei es erforderlich, sich als Ver­­tragspartner aktiv über die diversen Ein­spruchsrechte einzubringen. Dafür wie­­derum können in der Bundesrepublik nach Ansicht der Richter_innen, nur die demo­kra­­tischen Organe Bundestag und Bun­des­rat in Frage kommen. Das Bundes­ver­fassungsgericht leitet also aus dem europäischen Demokratiedefizit und der Gefahr der Kompetenz-Kompetenz-Übertragung eine erhöhte Aktivität der hierzu­lan­de gewählten Vertreter ab. Das bereits verabschiedete Zustimmungsgesetz und die dazugehörigen Begleitgesetze, die das deut­sche Recht an den neuen Vertrag anpassen sollten, erklärt es gar für nichtig, weil sie diesen weitreichenden Aufgaben nicht gerecht würden.

Am Ende des ellenlangen Urteilstextes ge­langt man schließlich zu der Einsicht, dass die obersten Verfassungsrichter_innen kei­nes­wegs zu den Europa-Euphorikern zählen. Stattdessen nutzte das Gericht die Gelegenheit um klarzustellen, dass es sich in seiner Zu­ständigkeit nicht so einfach beschneiden lasse und im Rahmen der Wahrung der „Ver­fassungsidentität“ den deutschen Volks­souverän auch weiterhin gegen jede fremde Einflussnahme verteidigen werde. Der implizite Vorwurf an Bundestag und -rat, diese Aufgabe durch die schlecht gearbeiteten Zustimmungs- und Be­gleitge­setze zu vernachlässigen, ist offensichtlich, wiedermal. Und die Bundes­re­gierung muss nachsitzen, wiedermal. Es wurde auch schon eine Sitzung Ende August, in­mitten des großen Wahlschattens, anberaumt. Am Ende wird mehr Bürokratie und Arbeit für die Parlamen­ta­rie­r_in­nen stehen und die Erkenntnis, dass die konservative deutsche Richterschaft auch in Zukunft da­rüber wachen wird, dass die Verhältnisse in Deutschland bleiben, wie sie sind. Mehr noch, den politischen Vertretern droht ein juri­stischer Nackenschlag, sollten sie allzu forsch die nationalstaatliche Basis untergraben. Wie es indes in der Vorstel­lungswelt dieses Gerichtes wi­der­spruchslos zusammenpasst, dass eine nicht durch freie und gleiche Wahlen legitimierte, sondern völlig intransparent ernannte Judika­tive (2) gleichzeitig dem Souverän in der Form seiner legitimierten Volksver­treter_innen die Verhältnisse diktieren kann – diesen de­mokra­tie­theoretischen Widerspruch halten die Verfas­sungs­pa­trio­ten locker aus. Wer fragt schon nach dem Zustandekommen der Macht, wenn man sie erstmal hat. Da sind sich dann selbst die feinsinnigen Jurist_innen nicht zu schade, einem ganz gewöhnlichen Nationalismus das Wort zu reden. Und mensch fragt sich, ob die Herren und Damen Zustands­be­wah­­rer unter ihren vor Patriotismus rotgülden schimmernden Roben noch immer das mehr als 150 Jahre alte, muffig deutsch-preußische Korsett tragen. Von dieser staatlichen Institution deshalb eine substanzielle Veränderung der deutschen Zustände zu erwarten, ist nicht nur eine idealistische Illusion, es ist geradezu blau­äugig. Im Gegenteil: Wer hierzulande wirklich etwas bewegen will, wird sich auf kurz oder lang dem Bundesverfassungsgericht gegenüber sehen, bereit den angeblichen und völlig abstrakten Volkssouverän noch gegen jede_n einzelne_n Bürger_in auszuspielen. Zu­min­dest das lernen wir aus Europa: Wer diese deutschen Richter_innen wählen will, wird die Reaktion ernten.

(clov)

 

(1) Der Vertrag ist die mittlerweile dritte modifizierte Version des ursprünglichen „Vertrages für eine Verfassung für Europa“ – der bekanntlich 2005 durch die negativen Ergebnisse der Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte – und soll die schon 2000 beschlossenen Übergangsverträge von Nizza endlich ersetzen.

(2) Die Verfassungsrichter_innen werden für 12 Jahre abwechselnd von Bundestag und Bundesrat ernannt. SPD und CDU einigen sich seit Anbeginn der Bundesrepublik in geheimen Absprachen über die jeweilige Ernennung. Erstmalig gelang es einer kleinen Partei (GRÜNE/Bündnis 90) 2001 über eine Koalitionsabsprache mit der SPD einen eigenen Verfas­sungs­richter zu bestimmen.

Das ganze Urteil unter:

www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html