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Vorschläge für das geplante „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ zu Leipzig

Hurra, hurra, endlich ist die Kohle da! Nach langem Hin und Her hat sich der deutsche Bundestag doch noch dazu durch­gerungen. Auch Leipzig soll neben Berlin ein „angemessenes und sichtbares“ Denk­mal erhalten, um an die friedliche Wen­de von 1989 zu erinnern. Ganze 15 Millionen Euro sollen dafür aus der Steuer­­kasse springen. Klar, dass bei soviel Geld noch 4-5 Jahre ins Land gehen werden, ehe die Millionen rechtmäßig ver­­scho­­ben sind. Genug Zeit jedenfalls, um tol­le Gestaltungsvorschläge zu sammeln. Wie den von Michael Arnold, seinerzeit ein Mitbegründer des Neuen Forums. Ihm schwebt ein ,walk of fame’ nach dem Muster Los Angeles’ vor. Alle damals an den De­­monstrationen Beteiligten sollen ihre Na­men auf den Leipziger Ring schreiben. Super Idee und der Einfachheit halber wä­re es noch besser, eine komplette Namen- und Adressenliste beim Verfassungsschutz Sachsen zu hinterlegen. Nur für den Fall, dass Vandalen versuchen sollten, einige Namen auszutauschen oder dergleichen, versteht sich. Andererseits ist das doch zu kompliziert und ineffektiv gedacht. Wie wä­­re es stattdessen, wenn man den Leip­ziger Citytunnel einfach zum Denkmal um­­etikettieren würde. Ein dunkler Tunnel durch den Untergrund als Symbol für die Freiheitsbedürfnisse des Einzelnen und die Stationen sozusagen als Licht­punk­te, an denen das nationale Einheits­be­­wußtsein zum Himmel schnellt. Aus dem Steuersäckel des Bundes könnte man so den Schuldenberg für das größenwahnsinnige Bauprojekt zu­min­dest etwas ver­rin­gern und für ein paar tausend Euronen würde man noch einige Ge­denktafeln anbringen. Pragmatisch, öko­nomisch, überzeugend – aber viel­leicht doch etwas zu bürgerfern. Andere Idee: An die Stelle der weggesprengten Asbest-Hochhäuser am Brühl kommt kein Einkaufszentrum sondern ein riesiger Lehmklumpen, und die Stadt­be­völ­kerung könnte in eigenverantwortlicher Detailarbeit selbst ein „ange­mes­senes“ Denkmal mo­del­lieren. Klar, man bräuch­te etwas Geld für Zäune und Sicherheitspersonal, um etwaige Streitigkeiten zu unterbinden, aber der Rest würde noch reichen für ein weit­hin „sichtbares“ Lehm-Monument. Ok, die Sache wä­re dann ästhetisch ziemlich be­liebig, aber der Mitmacheffekt würde sicher den Lo­kal­patriotismus und über­haupt das Na­tio­nal­bewußtsein der Bevöl­ke­rung stärken, ein „Wahrzeichen“ des Vol­kes sozusagen. Dritter Vorschlag: Für einen Teil des Geldes erwirbt die Stadt, sa­gen wir, 50km neu­sten Stacheldraht, mit dem an­de­ren Teil werden einige altgediente Grenz­schüt­zer aus Ost und West reaktiviert. Dann zäunt man mit dem Draht die Stadtteile Schö­nefeld, Reud­nitz und Lin­de­nau ein und positioniert an den zentralen Ausfallstraßen Schlag­bäume nach alten Mustern und die neugemischte Grenz­schutzgrup­pe. Neben spürbaren Sicher­heits­effekten wür­de man so auch die Leip­ziger Stadtent­wicklung als zu­kunfts­orien­tiert ausweisen und gleichzeitig mit den Check­points echte Orte der Be­gegnung für Touristen und die bil­dungs­fernen Schich­ten der Bevölke­rung schaf­fen. Orte, an denen die Äng­ste und Hoffnungen der Vergangenheit mit de­nen der Zukunft zusammen­tref­fen.

Aber viel­leicht ist diese Idee doch ein wenig zu vision­är. Hat jemand bessere? Der Feierabend! sammelt Eure Vorschläge und übergibt sie im Rahmen der diesjährigen Mon­tags­gespräche in der Run­den Ecke den Stadt­oberen. Schickt Eure Ideen einfach an: feierabendLE@web.de. Unter allen Einsendungen verlosen wir ein Jahres-ABO. Also lasst Euren Gedanken freien Lauf!

(clov)

60 Jahre deutscher Herbst

Bald ist es soweit. Die Kakophonie des bundesweiten Wahlkampfpalavers wird verstummen, die Tage werden kürzer, die ersten Öfen werden befeuert und die deutsche Staatsgemeinde findet sich ein zum besinnlich-harmonischen Singsang auf das Heil und die neugewonnene Einheit des Reiches … ähm der Nation. 40 Jahre BRD plus 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland, wer würde da nicht die Korken knallen lassen? Und was hat diese geläuterte Republik nicht alles vollbracht: Den Marschall-Plan und das französische Atomschild, den ostdeutschen Un­rechtsstaat, Exportweltmeisterschaften bis zum Abwinken, Siemens, Bayern München, Hartz IV, die Lindenstraße, „sichere Renten“ und Autobahnen bis zum Horizont. All dies und noch viel mehr hat der deutsche Michel geschultert, trotz der fiesen Repa­ra­tionen und trotz der schweren militärischen Verwüstungen zweier Weltkriege. Einfach toll und endlich mal ein echter Grund, stolz zu sein. „Wir“ sind wieder wer! „Wir“ diktieren den Rhyth­mus der europäischen Zusammenarbeit, WIR schaffen die globale Energiewende. „Unsere“ Polizisten und Soldaten sind es, die für Frieden und Freiheit weltweit operieren. „Wir“ sind eben ein moder­nes, fortschrittliches Deutschland. – So oder so ähnlich werden die Demagogen allenorts tönen, wie die Muezzine von ihren Mi­naretten. Teils als Klei­ster zwischen den so­­zialen Schichten, teils als Angstdämp­fer für die Krisenbe­wältigung und deren Zu­mu­tungen. Hauptsache die Opferbereitschaft in der deutschen Gemeinde der Staatsgläubigen steigt. Denn die wird benö­tigt, wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Verwer­tungs­krise die Schwächsten im­­mer zuletzt und am stärksten trifft. In die­­sem Sinne, Leute denkt daran: Wie Geld be­­kanntlich nicht essbar ist, machen warme Wor­te noch keinen gemütlichen Win­ter. Laßt euch durch den grassierenden Na­tio­na­lismus nicht den Verstand ersticken!                

(clov)

Heraus zum Sturm aufs „Große Haus“!

Der gemeine Demokratiefan hierzulande verhält sich zur Sub­ven­tion wie der gemeine Schlaraffe zum fliegenden Brathuhn. Bei­­­den ist selbstverständlich, die Quelle all ihres Glücks und Leidens nicht zu erforschen, sondern stattdessen entweder träge dahinzu­düm­peln oder mit aufgeplusterten Backen zu motzen. Und beiden Hal­tungen ist gleich, dass sie einzig an die „unsichtbare Hand“ ei­nes überirdischen Gönners, ob nun Gott, Staat oder ewigen Koch al­ler Köche, glauben wollen. Ähnlich in Leipzig: Da wundert sich der kulturbegeisterte Bürger doch tatsächlich, dass die Stadtver­wal­­tung unter dem Eindruck des allgemein schrumpfenden Staates, Fehl­investitionen, Korruption und der Schuldenbelastung im ge­gen­­wär­tigen Haushalt die sogenannte „Freie Kulturszene“ nur mit we­nig Geldern beschenken will, während der Hauptteil des Kuchens an die großen Bühnen geht. Als wäre es je im Interesse der Verwal­tung gewesen, die „subkulturellen Sümpfe“ jenseits des Zentrums ernst­­haft zu fördern. Klar, wer hätte nicht gern einen Goldesel in der Garage, aber Spott bei­seite, angesichts der sich anbahnenden öko­­logischen Kata­strophen, der geostrategischen Konflikte und wirt­schaftlichen Krisen, ist das Herbeigerede einer Wetterlage, die puren Geldregen brächte, mehr als illusorisch. Das heißt nicht, dass sich alle verkriechen und wir jetzt fortan Kultur hinten anstel­len sollen oder uns diese nicht mehr leisten. Im Gegenteil! Kultur bie­tet genau jenen Raum, wo mit neuen Ideen, Entwürfen und Prak­tiken experimentiert werden kann, sie bleibt ein unerläss­licher Kreativmotor einer lebendigen Gemeinschaft der Men­schen. Und ohne diese, vielmehr als ohne das große Geld, werden wir für die Zukunft schlecht aufgestellt sein. Solidarität und ver­stärkte Bündnisarbeit zwischen großen und kleinen Bühnen und mit der Off-Szene bis hin zum aktiven Zuschauer, das ist das Ge­bot der Stunde. Und es gibt hierfür auch konkret eine Chance, denn wer die „ganze Szene“ im Auge hat, dem wird bereits aufge­fal­len sein, dass die Intendanz am Leipziger Schauspielhaus zur nächsten Spielzeit wechselt. Der Neue heißt Sebastian Hartmann und kommt von der Volksbühne Berlin. Es wird viel umstruktu­riert dieser Tage. Schenkt man den ersten Verlautbarungen Glau­ben, soll das Haus sich weiter öffnen und mehr an Willen /Be­­­dürf­­nissen des Umfeldes orientieren. Die Neue Szene voll­zieht nicht nur einen Namenswechsel zur Skala, sondern soll auch in­haltlich eher eine halböffentliche Experimentierbühne wer­den. In der Spinnerei dagegen entsteht ein festes theater­pä­da­gogisches La­bor namens Spinnwerk. Deshalb meine Empfehlung zum Schluss: Kulturleute die­ser Stadt, macht Euch auf und stürmt die Große Bühne des neuen Centraltheaters, anstatt Euch vom müden Palaver der Stadtoberen ein­schläfern zu lassen!

(clov)

Braucht Leipzig einen Friedenspreis?

Was passt besser zum Weltfriedenstag am 01. September als ein Friedens­preis? So zumindest dach­ten wohl die Ini­tia­toren des in diesem Jahr erstmalig aus­ge­lobten Preises „LEIPZIG GEGEN KRIEG“. Immerhin wurden im Vorfeld zahl­reiche Wahlurnen an Gruppen und Ini­tiativen verteilt und man konnte so 32 Vor­schläge von Einzel­per­sonen, Vereinen und Ini­tiativen sammeln, die damit zur Wahl standen. Auch noch positiv zu sehen ist, dass die VeranstalterInnen sich für eine öffentliche Jurydiskussion entschieden, so dass sowohl dem Aspekt der Transparenz als auch dem der Partizipation genüge ge­tan wurde. Dass der dreistündige Diskus­sions- und Entscheidungsprozess dann je­doch eher einem mathematischen Teil­sum­menspiel glich, als einer in­haltlichen Aus­­ein­an­dersetzung, trübt das Bild und ist schon Symptom des Zustandes der Frie­dens­bewegung hier­­zulande. Zwar wur­de der Zusammenhang von Krieg mit Militaris­mus und Faschis­mus durchaus gesehen und der Friedens­preis stand auch aus­drücklich inhaltlich unter diesem Drei­schritt. Dennoch wurden bei der Auswahl der eingereichten Vorschläge mit Verweis auf schon ausreichend bestehende anti­faschistische Aus­zeichnungen zu allerst alle antifaschistisch orientierten Initia­ti­ven/Personen aus den Vorschlägen aus­sortiert und deren Zahl damit deut­lich reduziert. Und nach der im zwei­ten Schritt voll­zogenen Elimi­nierung aller mit der veranstaltenden Initiative asso­ziier­ten Gruppen/Personen blieben so nur noch 16 Vorschläge übrig. Als nächstes ent­­schied sich die Jury, auch jene von der Wahl auszuschließen, deren Friedens­enga­ge­ment eher beruflichen als ehren­amt­li­chen Tätigkeiten entsprang, was eine wei­te­re formale Halbierung der Aspiran­ten be­deutete. Danach wurde die Ver­zichts­fra­ge aufgeworfen, die letztlich darin mün­dete, dass nur noch drei Kandidaten in den „Endlauf“ gelangten: Johannes Schroth (attac) und die Vereine Medizin für Gambia und Lebendiges Kongo. Da nun ersterer nicht anwesend war und das Ge­rücht kursierte, dass Herr Schroth auch zu Gunsten anderer von einer Preisver­lei­hung zurücktreten würde, reduzierte die Ju­ry die tatsächliche inhaltliche Abwägung auf eine 1:1-Entscheidung zwischen den bei­den letztgenannten Vereinen. Dabei gab schließlich die Aktivität von Leben­di­ges Kongo den Ausschlag, der noch im letz­ten Jahr symbolträchtig zwei aus­ge­muster­te Feuer­wehr­fahrzeuge in den Kongo ver­schickt hatte, um nach eigener Aus­sage da­ran ehemalige Kinder­soldaten zu Feuer­männern aus­zu­bilden. Die bei dem diesjährigen Ostermarsch aus einem Schwert geschmiedete Sichel ging so­mit an die Initiatoren des Vereins Le­ben­­­diges Kongo.

Herzlichen Glück­wunsch!

Doch so begrüßenswert die erzeugte öffentliche Aufmerksamkeit auf diese sicher lobens­werte Intitiative ist, so schwer wiegt auch die Frage, ob man denn in Leipzig überhaupt einen sol­chen „Friedenspreis“ braucht bzw. aus­­loben sollte. Zumal ja schon vor­der­hand einsichtig ist, dass es wohl eher den betroffenen Men­schen im Kongo zustände, zu beur­tei­len, in­wie­weit ei­ne Ini­tia­tive wie Le­­ben­diges Kongo dem Frieden vor Ort wir­klich zu­träg­lich ist. Und un­ter dieser Maß­gabe ver­steht sich eben ge­ra­de nicht, warum gerade an­ti­fa­schistische und anti­mili­taristische Initiati­ven zurück­gestellt wurden und die Jury statt­dessen ihr Heil in der Ent­­wicklungs­zu­sammen­arbeit suchte. Si­cher, Leipzig ist als Messestadt selbst zu DDR-Zeiten welt­offen gewesen. Aber ak­tuell gehören auf die „Agenda für den Frie­den“ viel mehr die forcierte Militari­sie­rung an den Stadt­rän­dern, die neofaschi­stischen Zusam­men­rottungen in einigen Stadt­vierteln, die Gentri­fi­zierungsträume der Stadtoberen oder auch die verschärften Ar­beits­bedin­gun­gen vieler Leipziger­In­nen. Global zu den­ken, heißt hier nicht, sich in ferne Kriegs­­szenarien ein­zu­spin­nen, sondern zu erkennen, dass ein antifa­schi­stischer, an­ti­militaristischer Kampf – der selbst­ver­ständ­lich auch gegen Aus­beu­tung, Kon­kur­renz, Selektion und Segrega­tion ge­rich­tet sein muss – lokal vor Ort, hier in Leipzig, das mit Abstand Beste ist, was tat­sächlich für eine friedlichere Welt getan wer­den kann.

Zum Schluss: Was Leipzig derzeit fehlt, ist also nicht ein Friedens­preis, selbst wenn damit Geldmittel verbunden wären, son­dern eine ernsthaft inhaltliche Kritik, die zu allerst einmal das Selbstverständnis der „Friedensbewegten“ hinterfragt, das was un­ter „Frieden“ überhaupt verstanden wird. Eine Kritik, die damit die Voraus­set­zun­gen für eine wirksame Friedens­be­wegung erst schafft, deren Prota­go­nis­ten man dann im Nach­gang einer fernen Zu­kunft mit Gold über­häufen möge. Sofern, ja sofern das dann überhaupt noch Sitte ist.

(clov)

www.leipzig-gegen-krieg.de

www.lebendiges-kongo.org

www.medizin-fuer-gambia.de

Kommunen: Selbstermächtigung oder -isolierung?

Die Idee der Kommune wird bereits seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert, da sie auf der einen Seite Sehnsüchte nach Unabhängigkeit, persönlicher Entfaltung und kollektiver Selbstermächtigung weckt, allerdings andererseits Befürchtungen von internen Abhängigkeiten und Abschottungsprozessen gegenüber der „Außenwelt“ hervorruft.  Ebenso umstritten ist es, ob es politisch sinnvoll sei, für die Gründung von Kommunen als Mittel zur langfristigen Überwindung des Kapitalismus, zu streiten. Oder sind sie diesem vielmehr von vornherein unterlegen? Fördern nun Kommunen kapitalistische Herrschaftsstrukturen oder ist sie deren beispielgebender Gegenentwurf?

PRO

Die weitverbreiteste Mär über die „Kom­mune“ beginnt in etwa so: „Hinter sieben Bergen, bei den sieben Zwer­gen …“ und wird von einer urba­nesken Bohemé kolportiert, für die „revolutionär“ höchstens noch ein Prädikat für eine neue Kneipe auf der gewohnten Partymeile bedeutet. Sachlich betrachtet, ist die förderal organisierte, kommunale Selbstverwaltung dagegen der realistischste Gegenentwurf zum modernen Flächenstaat mit seinen zähen und korruptionsanfälligen, zentralen Verwaltungsapparaten. Und die politische Vorstellung eines Netzwerkes dezentraler, unabhängiger Kom­munalverwaltungen, die vielfältige, vitale Austauschbeziehungen miteinander pflegen, ist tatsächlich älter und historisch weitaus wirksamer gewesen, als die krude Idee eines allumfassenden, beständig mehr Ohnmacht produzierenden, römischen Leviathans. Sei es nun im politischen Leitbild der griechischen Polis, in den vormittelalterlichen Christengemeinden, in den unzähligen neuzeitlichen Siedlungs­be­wegungen, im Städtebundgedanken, in den Anschauungen der frühen SozialistIn­nen, in der Kibbuzim-Bewegung der Neo-Israeliten oder etwa in der Bolo-Bolo-Utopie der AnarchistInnen. Immer dann, wenn man ernsthaft die politische Mitbestimmung und damit zwingend verbunden, die Verantwortung der gemeinschaftlich organisierten Individuen, also die Selbstermächtigung jedes Einzelnen, ins Zentrum politischer Überlegungen rückt, wird mensch letzt­lich bei der Vorstellung eines Netzwerkes selbstverwalteter Kommunen enden. Nicht anders der anti­kapi­ta­listische Kampf des Kommunismus der Arbeiter UND Bauern, deren revo­lutionä­rer Fixstern nachwievor die Pariser Com­mune von 1871 ist. In diesem mo­dernen Idealbild kommunaler Selbstverwaltung spielt die direkte Kontrolle der landwirtschaftlichen Grundversorgung ebenso eine Schlüsselrolle wie die gemeinschaftliche Verfügung über Werkzeuge bzw. Produktionsmittel, um Güter des alltäglichen Be­darfs herstellen und/oder mit anderen Kom­munen tauschen zu können, und so eben von den zentralen Verteilungsmecha­nis­men des korrupten Staates bzw. des ausbeutenden Kapitals unabhängig zu sein. Man mag die Möglichkeiten solcherart lo­kaler Autonomie vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten, omnipräsenten Rechtsstaates aktuell ungünstig einschätzen, allein diese Einsicht entbindet uns nicht von der politischen Verantwortung, für zukünftige Generationen die Experi­men­tierräume zu erkämpfen und zu verteidigen, die sie dereinst befähigen werden, zu besseren politischen Verhältnissen miteinander fortzuschreiten.

Das politische Ideal der Kommune ist deshalb nicht nur für die weitere Entwicklung der sterbenden Industrienationen von entscheidender Bedeutung. Es ist auch eine zentrale Kategorie, wenn in Zu­kunft wirklich Ernst gemacht werden soll mit einer auf Ge­genseitigkeit be­ruhenden Entwicklungszusammenarbeit zwischen mehr und weniger technisch bzw. kulturell entwickelten Regionen rund um den Globus. Das Leitmotiv aufklärerischer Exportschlager sollte deshalb nicht Nation-Building sondern vielmehr Kommunen-Building heißen. Die Kommune ist dabei jedoch gleichzeitig kei­ne universelle Lösung mit genauen Parametern, sondern lediglich eine gemeinsame Richtung. Der Grad und die Art und Weise der jeweiligen Kommunalisierung muss von Gruppe zu Gruppe und von Re­gion zu Region nach eigenen Ansprüchen und Herausforderungen selbst bestimmt werden. Das betrifft ihre Größe, um politische Mit­bestimmung und individuelle Selbstbestimmung zu gewährleisten, das betrifft das Maß an landwirtschaftlicher und energetischer Subsistenz, um eine unabhängige Grundversorgung sicher zu stellen, und das betrifft die Menge an betrieblicher Gemein­schaftsproduktion, um durch Austausch alle weiteren Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass die Arbeit hierfür zur Qual wird.

Die selbstverwaltete Kommune, ob nun als Aussteigerprojekt müder Großstädter oder als Genossenschaft von Bauern und Bäuerinnen, ob als besetzte Fabrik oder Kleingärtner-Syndikat, ist also nach wie vor die einzige vernünftige Antwort, die mensch den revolutionären Geistern dieser Erde geben kann, wenn sie nach mehr Selbstbestimmung, mehr politischer Mitbestimmung und damit nach mehr lokaler Autonomie verlangen.

(clov)

CONTRA

Neben anderen Aktionsformen war und ist auch der Aufbau von Kommunen ein beliebtes Mittel der libertären Bewegung, um der herrschaftsfreien Gesellschaft ein Stück näher zu kommen. Die lange Tradition dieses Ansatzes sagt freilich wenig über seine Brauchbarkeit aus. Um die zu beurteilen, muss man zunächst wissen, was man mit der Kommune erreichen will. Mögliche Ziele wären z.B. Abkopplung von der kapitalistischen Ökonomie, Propaganda der Tat, Herrschaftsfreiheit in der kleinen Gemeinschaft, Überwindung des Systems durch Aufbau einer Parallelökonomie.

Wenn Leute sich angesichts der herrschenden Zustände in ihre eigene geschützte Ni­sche zurückziehen, mag das im Rahmen der jeweiligen Biographie ein vernünftiger Schritt sein. Das heißt nicht, dass es auch politisch sinnvoll ist. Der Versuch, den Kapitalismus durch den Aufbau einer Pa­rallel­öko­nomie zu über­winden, ist je­denfalls zum Scheitern ver­urteilt – die ka­­pi­talistische Öko­nomie ist we­ni­ger kon­kur­renz­orien­tierten Wirt­schafts­formen stets überlegen, wenn es darum geht, sich im­mer neue Bereiche der Welt ein­zuverleiben. Selbst eifrige Propagandisten des Kommunelebens (wie G. Landauer) machten sich da keine Illusionen, die Entwicklung z.B. der israelischen Kibbuz-Bewegung hat es auch praktisch bewiesen.

Auch was die Propaganda durch die Tat, das praktische Beispiel angeht, ist der Wert des Kommu­ne­modells gering. Die Ab­kopplung von der kapitalistischen Öko­­nomie und die Konstruktion einer ge­schlos­senen Einheit von Arbeitsplatz, Wohn­­ort, Politgruppe und Freundeskreis führt dazu, dass mensch sich auch von de­nen abkoppelt, die durch das eigene Beispiel überzeugt werden sollten. Dies gilt um­so mehr, da das Kommunemodell vor allem auf den ländlichen Raum zuge­schnit­ten ist – in der Stadt gibt es schließ­lich kaum einen Grund, warum mensch z.B. am Arbeitsplatz auch noch wohnen sollte.

Zudem garantiert die kleine Gemeinschaft keineswegs Herrschaftsfreiheit. Auch sie kann einen repressiven, von starren Hier­ar­chien geprägten Charakter annehmen. Die freie Assoziation setzt nämlich nicht nur die Freiwilligkeit des Eintritts in eine Ko­operation voraus, sondern ebenso die Mög­lichkeit, aus der so entstandenen Vereinigung auch wieder auszutreten. Diese Mög­lichkeit muss nicht nur theoretisch be­stehen (als flapsiges „Du kannst ja gehen, wenn dir was nicht passt!“), sondern auch praktisch, d.h. ohne dass dies (wo­mög­lich untragbare) negative Folgen für das Individuum hat. Nur dann ist die tatsächliche Freiwilligkeit einer Zusammen­ar­beit gewährleistet. Die Struktur der Kom­mune mit ihrer Kopplung aller wichtigen Lebensbereiche steht dem entgegen: Wer mit einem Schlag seinen Lebensunterhalt, seine Wohnung und sein soziales Umfeld zu verlieren droht, überlegt im Kon­fliktfall dreimal, ob er der Mehrheit widerspricht oder sich nicht doch eher unterordnet.

Mehr noch: Wenn jemand eine Möglichkeit suchen würde, um eine Gruppe von Menschen in größtmöglicher ökonomischer Abhängigkeit zu halten, die lückenlose Überwachung nicht nur der Gruppe als ganzer, sondern auch die wechselseitige, alle Lebensbereiche umfassende Kontrolle der Gruppenmitglieder untereinander zu gewährleisten, so könnte derjenige nur schwer ein Modell finden, dass besser dafür geeignet wäre als die Landkom­mune.

Soweit wird es in den meisten Fällen nicht kommen. Es geht mir auch nicht darum, irgendwelche Horrorszenarien zu entwerfen – der Punkt ist, dass die Struktur der Kommune nicht geeignet ist, im Falle des „Größten Anzunehmenden Unfalls“ dem Entstehen neuer Herrschaftsverhältnisse entgegenzuwirken, sondern diese im Gegenteil noch verstärkt. Das „System“ aussperren zu wollen ist nutzlos – wenn man sich selbst dabei einsperrt, wird es gefährlich.

(justus)

Vom Ende der Arbeit

Ein kurzes Plädoyer gegen die Leistungsmoral

Im Superwahljahr 2009 werden wir es wieder bis zum Erbrechen ertragen müssen, das Loblied auf die Heilige Arbeit. Parteiideologen aller Fraktionen vereinigen sich zu einer plärrenden Kakophonie mit einer einzigen Botschaft: Arbeite, Mensch! Es ist kaum zu glauben, wie einig sich doch die angeblich so zerstrit­te­nen Parteien des deutschen Parlamentarismus von NPD über CDU bis SPD und LINKE in diesem Punkt sind. Wie besessen starren sie auf das nationale, volkswirtschaftliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bzw. die Steuererträge und säuseln fortwährend: Mehr, mehr, mehr! Ganz so, als wäre der größte Segen der modernen technischen Revolutionen die knechtische Abhängigkeit und nicht die freiwillige Unabhängigkeit von der Arbeit. Dem armen Proleten ist eine zweite Natter an den Lohn­beutel gesprungen. Neben den Chefs und Verwaltern der Kapitalerträge schwingt nun auch der Staat seine Peitsche über den arbeitenden Massen und treibt sie beständig zu noch mehr Leistung an. Dabei haben Milliarden von Händen und Geistern in weniger als zwei Jahrhunderten mehr Wunderwerke und unvorstellbaren Luxus geschaffen, als jemals zuvor, hat die rationale Arbeitsteilung und technische Innova­tion das Quantum der nötigen Arbeit fortwährend minimiert.

Es liegt daran, dass viele Politiker Europa lieber als Sündenbock missbrauchen, anstatt sich dem Grundproblem zu stellen: Die Arbeit verschwindet. Das will kein Politiker seinen Wählern erzählen.“ – Jeremy Rifkin (1)

Doch anstatt dererlei Errungenschaften unserer Eltern und Älteren sinnvoll einzusetzen und zweckmäßig zu nutzen, nachhaltig mit unseren natürlichen Voraussetzungen und Ressourcen umzugehen, proklamieren die politischen Parteien eine verschwenderische Ver­brauchskultur, um möglichst viele Menschen, oh Segen, möglichst lange in lohnabhängiger Arbeit zu halten. Aber würde nicht JedeR gerne weniger arbeiten, wenn die Arbeitszeit nicht gleichzeitig die Höhe des Lohnes bemessen würde? Doch anstatt bspw. für den 4-Stunden-Tag und vernünftige Löhne zu kämpfen, können sich die Herren und Damen in der EU nicht einmal auf eine maximale Arbeitszeit von 65 Stunden pro Wo­­che einigen. Ein Grund mehr, keiner/m dieser Fa­na­ti­kerIn­nen der Arbeit eine Stimme zu geben. Offensichtlich ist denen die Arbeit derart zum Selbstzweck geraten, dass sie wie der dümmste Bauer ernsthaft glauben, dass man die Saatkartoffeln selbst und nicht deren Früchte ernten könnte. Und der Zweck dieser Art von ständiger „Mehrarbeit“ steht tatsächlich in Frage, wenn er nur zur Entschuldung der staatlichen Budgets und zur Rückversicherung riskanter Finanzspekulationen nutzt. Noch dazu wenn die Formen der kapitalistischen Lohnarbeit die Menschen zu­einander isolieren, demütigen, erniedrigen und ihre natürlichen Kräfte ohne Regene­rationszeit verheizen. Ganz zu schweigen von dem zügellosen Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten. Was wir dagegen brauchen sind qualitative Veränderung in den Arbeits- und den daran gekoppelten Lebensverhältnissen anstelle von rein quantitativem Wachstum, dessen Verteilung obendrein nach wie vor unfair und ungerecht verläuft. Unter solchen Bedingungen den Arbeitswahn noch anzuheizen, ist nicht nur dumm sondern auch grob fahrlässig gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern. Ja wozu arbeiten wir überhaupt, wenn die Werte, die wir erschaffen, nicht mal mehr unsere Kinder erreichen? Der Zweck der Arbeit, also das Ziel, welches wir mittels der Arbeit anvisieren, scheint uns in der kapitalistischen Arbeitswelt völlig entraten zu sein. Stattdessen arbeiten wir, um Geld zu verdienen: Hauptsächlich für die ohnehin Ultrareichen und die stets klam­men Staats­kassen. Pfennigfuchsend klauben wir dann noch unseren miesen Restlohn zusammen und hoffen darauf, uns mit dem bisschen Geld ohne Verschuldung all das erkaufen zu können, was uns ja eigentlich die menschliche Arbeit vermitteln sollte: Essen, Luxus, Mobilität, Frei­heit – Glück. Oder anders ausgedrückt: Das Ende der Arbeit. Denn in wel­chen Bereich der Gesellschaft und auf welche Art der Arbeit wir auch schauen, überall ist als lohnender Sinn der Arbeit doch ihr Zu-Ende-gehen mitge­setzt, verbunden mit einem Wohlgefühl von Zufriedenheit und Los-Gelassenheit, von Genuss und Müßiggang – am Abend nach der Schicht, am Sonn­tag nach der Gartenarbeit, nach erfolgreichem Ab­schluss eines Projektes, bei der Ausstellung einer vollendeten kreativen Schöpfung. Es steckt eben ein tieferer Sinn hinter der Arbeit, als uns die kapitalistischen Verhältnisse glauben machen. Der Mensch arbeitet sich an seiner Umwelt ab, nicht um der Arbeit selbst wegen, auch nicht wegen des Geldes, sondern um seine vielfältig gesteckten Ziele zu erreichen und seine Welt so einzurichten, dass sie ihm oder ihr bequem, gefällig und heimisch wird. Arbeit und Geld sind hierfür nichts als die Mittel. Und dieser Sinn der Arbeit lässt sich derzeit utopisch kaum besser fassen, als wenn wir von ihrem Ende redeten.

Das ist die Hoffnung, an die wir uns seit Jahrzehnten geklammert haben. Die kapitalistische Logik sagt, dass technologischer Fortschritt und gesteigerte Produktivität alte Jobs vernichtet, dafür aber mindestens genauso viele schaffen. Aber die Zeiten sind vorbei.“ – Jeremy Rifkin (2)

Jacques Derrida hat in einem Vortrag 1998 in Amerika ein ähnliches Thema aufgegriffen (3), als er über die Veränderung an den Universitäten sprach. Nach ihm sollten wir für einen neuen Blick auf die Arbeit so tun, als ob das Ende der Arbeit schon am Ursprung der Welt stünde. So verrückt, wie die Post­modernisten oftmals sind, etwas Spannendes verbirgt sich in diesem virtuellen Blick zurück. Denn aus dieser Perspektive erblicken wir plötzlich, dass in den mythischen Ursprungserzählungen über unsere Welt, ein utopischer Gehalt bereits enthalten ist, der von Ausgang und Ende der Arbeit kündet. Wie bspw. die christlich müßig­gän­ge­rische Metapher vom Garten Eden, dernach am Ursprung der Welt die Arbeit und ihr Ende gleichzeitig und mühelos verlaufen. Erst nach Paulus’ kosmologischer Entrückung von Paradies und Welt, der Trennung von Diesseits und Jenseits, erscheint das irdische Leben als ein Ver­dammt­sein zur Arbeit und unausweichlicher Buße. Worauf uns Derrida mit dieser historischen Spur aufmerksam machen will, ist, so meine ich, ein zumindest kulturgeschichtlich überlieferter Zusammenhang zwi­­schen dem Sinn, den wir der Arbeit bei­­messen und dem Zweck, für den wir sie auf uns nehmen. Genauer: Wir arbeiten beständig am Ende der Arbeit, um im Moment des Erreichens, unsere gesteckten Ziele zu erfüllen und wir setzen uns stets Aufgaben vor, um im Augenblick ihrer Lösung, die Arbeit auch beenden zu können. Derrida denkt hier sicher auch an Marxens Begriff der nicht entfremdeten Arbeit, doch will er nicht abstrakt die kapitalistische Lohnarbeit als fremdbe­stimmte auszeichnen, sondern sie ganz kon­kret um eine seines Erachtens wichtige Bestimmung ergänzen, um die gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt besser begreifen zu können. Denn wenn wir uns mit Niedergang der großen Fabriken, mit dem maschinellen und digitalen Fortschritt beschäftigen und die moderne Cyber-Welt der Roboter, die menschenlose Fabrikation betrachten (4), müssen wir in kein Klagelied über den Verlust der Vollbeschäftigung verfallen. Im Gegenteil, mit einer geschärften Perspektive auf ein mögliches Ende der Arbeit, erkennen wir, dass es ja gerade der Sinn der technischen Innovation war, die menschliche Arbeit zu erleichtern und hier nahezu zu beenden. Der Mensch erfindet sich eben keine Werkzeuge, allein um sie durch bessere zu ersetzen, sondern vor allen Dingen, um die Mühe und notwendige Arbeitszeit abzusenken. Solcherlei philosophische Klugheit hält Derrida für uns bereit: Das Ende der Arbeit nach mehr als 200 Jahren irrwitziger Produktivität auch geschehen zu lassen. Was nicht heißt, dass es in Zukunft überhaupt keine Arbeit mehr geben wird, sondern nur, dass wir uns die Gelassenheit leisten können, dem Verschwinden der kapitalistischen Lohnarbeit unaufge­regt zu zusehen, und eher auf die Chancen zu achten, die sich daraus ergeben. Klar, wir werden immer für bessere Lebensbedingungen arbeiten und kämpfen müssen. Eine Welt ohne Arbeit wäre ja eine, die andere für uns hergestellt haben und die wir nur bedenkenlos verbrauchen. Und eine solche Haltung zur „Arbeitslosigkeit“ ist geradezu kindisch, wie der Glaube der Kapitalisten, dass „nur“ das Geld für ihren Luxus arbeiten würde. Optimistisch betrachet, können wir uns aber in dieser unserer Welt viel weniger Arbeit leisten, als uns so manche Ideologen glauben machen wollen. Stattdessen sollten wir uns mehr Zeit nehmen, Gedanken und Ideen darüber zu erspinnen, wie sich Güter und Waren auch ohne Lohnabhängigkeit besser verteilen lassen und wie wir den Herren und Damen Funktionären des kapitalistischen Wirtschaftssystems endlich verklickern können, dass unser neues Ar­beitsethos nicht das ewige Leistungsdiktat sondern das heilsame Ende der Arbeit verspricht.

(clov)

 

(1) Aus dem Interview „Langfristig wird die Arbeit verschwinden“ der Stuttgarter Zeitung vom 29. 04. 2005, u.a. nachlesbar hier: www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/916564?_skip=0

(2) Ebenda

(3) Jacques Derrida, „Die unbedingte Universität“, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2001

(4) Mehr dazu hier: Jeremy Rifkin, „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 2005

May-Action – IT WORKS!

Endlich mal wieder was los in L.E.! Und das zum Ersten Mai und ganz ohne Nazis. Grund genug für die gesamte Feierabend!-Redax in kleinen Teams überall vor Ort zu sein, um zu sehen, wie erfolgreich sich das Sterndemo-Konzept eines breiten Bündnisses von politischen Gruppen umsetzen ließ.

FA!-Zentrale: Saluta, geneigtes Publi­kum! Ich melde mich hier aus der FA!-Zentrale, um Euch durch den Tag zu füh­ren. Und was für ein Tag das ist! Die Sonne strahlt makellos, und wie mir eben be­richtet wurde, haben sich an den verschiedenen Treffpunkten zum heutigen Mai-Sternenmarsch bereits hunderte Akti­vistIn­nen versammelt. Anlass dieser alternativen Mobilisierung zum 1. Mai ist die allgemeine Unzufriedenheit über das alljährliche Bratwurstfest der Zen­tra­l­gewerkschaften und deren Forderung nach immer noch mehr Arbeit im Rahmen kapitalistischer Verwertungslogik. Stattdessen wollen die Veranstal­terIn­nen hier und jetzt ein klares Zeichen ge­gen den Arbeitswahn und die Aus­beutung der menschlichen Arbeitskraft setzen. Unter verschiedenen Motti werden die AktivistInnen aufeinander zu­laufen und dann vom Südplatz ge­mein­sam unter einem arbeits­kritischen Slogan durch die Innenstadt zum Jo­hannisplatz zie­hen. Wir sind gespannt, ob das Kon­zept aufgeht. Noch eine letzte Info, ehe ich zu unserem Redak­tionsteam am Connewitzer Kreuz schalte: Heute morgen waren gerade mal 100 Menschen bei der DGB-Demonstration. Allein das sollte den Funktionären zu denken geben! Aber nun ans Kreuz, von wo justus und clov live berichten …

justus: Hier sind schon gut 400 Leute vor Ort. Noch ist alles ruhig. Halt! Da passiert was! Ein Punk erklärt herum­stehenden Polizisten, sie seien Scheiße – die bieten im Gegenzug an, ihn in Gewahrsam zu nehmen. Eine Eskalation wird zum Glück vermieden…

clov: Ich sehe auch gerade 12 Konflikt­manager_innen auflaufen. Die sollen wohl das Alkoholverbot durchsetzen. Beim Verlesen der ganzen Demoauf­lagen bin ich fast eingeschlafen.

FA!-Zentrale: Am Kreuz scheint ja schon einiges los zu sein. Wie sieht es in der Johannisallee aus?

wanst: So langsam sammeln sich etwa 150 pinkbunte und dunkle Leute in praller Sonne. Ein selbstgebasteltes Papp­schild beschreibt die Stimmung: „Wir sind niedlich! – Was seid Ihr?“. Vom Lauti aus werden gerade einige Polizist­Innen aufgefordert, nicht zwi­schen der Demo rumzulaufen. Am Rande werden Taschen nach Alkohol durch­sucht.

bonz: Ein Skandal! Gerade noch recht­zeitig konnte eine Sektflasche, ein po­tentieller Molli, konfisziert werden. Die Auflagen und der Aufruftext wurden verlesen. Ah, es geht los!

FA!-Zentrale: Und jetzt noch schnell zum West­platz. Wie ist die Lage bei Euch?

momo: Also hier haben sich gerade rund 100 Leute versammelt. Wir stehn zwar noch planlos auf dem Fußweg rum, aber das wird sich hoffentlich bald ändern.

k.mille: Einige schwarzgekleidete Men­schen bringen gemächlich ihr Front­trans­parent – „Still not Loving Police“ – in Stellung. Demoauflagen werden ver­lesen. Die Stimmung ist entspannt. Wir geben zurück an die Zentrale.

FA!-Zentrale: Wahnsinn! Wenn ich mich nicht irre, ist die Mobilisierung ein voller Erfolg. Zusammen demonstrieren derzeit über 650 Menschen für eine alternative antikapitalistische Perspektive durch Leipzig. Die breite Kompromiss-Linie der Ver­an­stal­ter­Innen hat sich offenbar gelohnt. Es ist lange her, dass eine solche Menge von AktivistInnen in Leipzig an einer eigenständigen Pro-Demo teilge­nom­men hat. In wenigen Minuten müssten sich die drei Demonstra­tionszüge am Südplatz ver­einigen. An alle Teams: Seid Ihr schon vor Ort?

momo: Ja, unser Demozug vom West­platz ist der erste am Südplatz. Aber im Moment sind wir noch ein eher kläg­liches Häufchen.

k.mille: Oh was, so schnell?! Da ist man mal für einen Moment bedürfnis­orientiert …

justus: Unser Demozug nähert sich jetzt von Connewitz aus. Die Polizei ist deutlich in der Unterzahl, die Stimmung dementsprechend entspannt.

clov: Jo, alles chillig hier. Mir fehlts persönlich etwas an Inhalten. Sehe nur wenige Fahnen und ganze zwei Trans­parente. Außer dem 8.Mai-Aufruf kursiert auch nur der allgemeine Demo-Flyer. Schade, eine verpasste Chance.

wanst: Nach der Kundgebung am Bay­rischen Platz mit Reden, die u.a. for­der­ten „Schafft mehr Läden“ und einer ABBA-Coverband ging es weiter zur Karli mit einem schlecht ausgesteuerten Jingle, der für nächste Woche zum „Rock am Kreuz“ aufrief. Wir sind kurz vor dem Südplatz. Ich höre schon Gejubel. Die Demo legt jetzt einen Schritt zu.

droff: Es bleibt hoffentlich bewegt. Gera­de wurde der letzte Demozug von der Jo­hannesallee mit Jubel­rufen empfangen. De­mo komplett! Jetzt kann´s richtig losgehen.

FA!-Zentrale: Also, der versammelte Demonstrationszug bewegt sich jetzt fröhlich und ausgelassen in Richtung Stadtring. Die Stimmung ist dank des guten Wetters und der vielen Leute ausgezeichnet… Halt, ich höre gerade, dass der Demonstrationszug von der Polizei direkt am Polizeipräsidium aufgehalten wurde. Was ist da los, Leute?!

justus: Zwei Reihen Polizei in voller Montur haben die Straße blockiert! Vom Lauti­wagen aus wird die Menge aufgefor­dert, ruhig zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen.

clov: Abgekartetes Spiel! Nach der LVZ war die Stimmung am Höhepunkt. Jetzt sit­zen wir im Schatten des Polizeipräsi­diums fest. Die einzige Stelle, wo die Polizei mit ihren wenigen Kräften dichtmachen konnte. Scheiß Provo!

momo: Ach, es hätte so schön sein können. Aber nein, da fehlt noch der Aufhänger für die Presse morgen, damit die Demo schlecht- und die Bullen gutgeredet werden können!

FA!-Zentrale: Ich höre gerade, dass die Demo weitergeht. Offensichtlich hat die Polizei erkannt, wie überflüssig es war, die bisher ausgesprochen friedliche Demonstration weiter zu provozieren. Ein Punkt für die Ordnungs­behörden. Wie ist die Stimmung nun? Wir schalten ein letztes Mal zur De­mons­tra­tion …

wanst: Ja, wir haben am Roßplatz noch ein­mal Halt für Reden zu Uni und Ar­beit gemacht. Auf der geänderten Rou­te geht´s jetzt zum Johannisplatz, wo noch etwas Musik und Chillout sein soll. Trotz Alkoholverbot bin ich auch schon nicht mehr ganz nüchtern und freu mich auf die Wiese.

FA!-Zentrale: Unser Fazit zum heutigen 1. Mai: Die Sache mit der dreige­teilten Demo hätte echt schiefgehen können. Es war aber nicht so. Im Gegenteil: Stun­den­­lang konnten die un­ter­schied­lichen po­litischen Grup­pen die öffent­l­ichen Räu­me der Stadt mit ihren Inhalten besetzen. Außer­dem zeigte das Teilneh­mer­Innen-Ver­hält­nis von beinahe 1:10 zwischen der DGB-Demo und dem alter­na­tiven Sterndemo, dass es richtig war, ein Zeichen gegen die Pro-Arbeits-Demo des DGB zu setzen. Denn die meisten politisch­en Akti­vist­Innen in Leipzig haben begriffen, dass es nicht um mehr, sondern um eine andere Art der Arbeits­orga­ni­sation, nicht nur um eine Re­form, sondern um eine Revolution der Ver­hält­nisse gehen muss. Sicher, die breite Kom­pro­miss-Linie hat nicht alle in jedem in­halt­­lichen Punkt befriedigt, aber die schiere Masse der Teil­­nehmer­­Innen war heute ein weithin sicht­bares Zeichen der Hoffnung.

Weiter so, wünscht deshalb allen der Feierabend!

Auf zur zentralen Einheitsgemeinde!

Klage gegen Gemeindegebietsreform in Sachsen-Anhalt endgültig gescheitert

Dass der deutsche Bundesstaat vom Prinzip des Föderalismus und damit von einer Mitbestimmung durch die Betroffenen nicht viel hält, sieht mensch schon an dem Fakt, dass immer mehr Entscheidungskompetenzen auf die nächst höhere, europapolitische Ebene verschoben werden, anstatt die Autonomie und Selbstbestimmung auf den unteren Ebenen sicherzustellen. In Sachsen-Anhalt geht Staat nun exemplarisch noch einen Schritt weiter. Was hier bisher freiwillige Verhandlungssache zwischen den kommunalen Gemeinden war – der Zusammenschluss in größere Verwaltungseinheiten – wird nun per Dekret durchgesetzt. Die juristische Zwangsmaßnahme heißt Gemeindegebietsreform (2007/08), nach der eine kommunal organisierte Gemeinde mindestens 10.000 EinwohnerInnen (!!!) umfassen muss, um überhaupt so etwas wie Selbstverwaltung ausüben zu können, und wurde maßgeblich von der SPD vorangetrieben. Fast 200 Gemeinden hatten dagegen vor dem Landesgericht Sachsen-Anhalts geklagt. Doch ohne Erfolg. Richter Schubert verkündete am 21.04. 2009, dass der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Landes ausreichend wäre, um so massiv in die Selbstverwaltung der Kommunen einzugreifen. Er berief sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1988. Mensch könnte diese einheitliche deutsche Rechtsprechung auch so lesen: Da es billiger ist, wenn weniger mehr entscheiden, darf prinzipiell immer zentralisiert werden. Ob solche Einsparungen dann auch wirklich den Betroffenen dienen, prüft freilich kein Gericht der Welt und darf getrost bezweifelt werden.

Fakt ist: Gemeinden, die sich nun bis Ende Juni keiner größeren Verwaltungseinheit anschließen, werden dann zwangsangegliedert. Schöne neue Welt! Der historische Trend könnte eindeutiger nicht sein. Denn nicht nur in Deutschland wurden seit 1945 tausende von Gemeinden aufgelöst und zentralisiert, die Mitbestimmung von unten beständig beschnitten. Drastischstes Beispiel ist Dänemark. Hier schrumpfte die Anzahl der Gemeinden von 1400 (1950) auf sage und schreibe 98 (2007). Dass solche Zwangsmaßnahmen zur Zentralisierung von Entscheidungen in den Händen weniger mit einer föderal organisierten Mitbestimmung von unten nach oben wenig zu tun haben und letztlich der transparenten Kontrolle von Gemeindebudgets entgegenarbeiten, sollte jedem vernünftigen Mensch einleuchten. Deshalb: Ein Hoch auf die EinwohnerInnen des unterfränkischen Ermershausen, die 1978 Widerstand gegen ihre Auflösung leisteten, das Rathaus besetzten und Barrikaden errichteten. Mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei mussten das 800-Seelen-Dorf damals erstürmen, um die Gemeinde zu entmachten. Dass der Mut der Betroffenen in Sachsen-Anhalt ähnlich groß ist, bleibt nur zu hoffen.

(clov)

Aus für deutschen Luft-Boden-Schießplatz

Wahlkampf hin oder her, das sogenannte „Bombodrom“ in der Kyritz-Ruppiner Heide (Brandenburg) mit einem Areal von 144qkm wird es nicht geben. Zwar lügen Verteidigungsminister schon öfter mal, aber eine Revisionsfrist ist bekanntlich kurz und der juristische Spielraum klein. Au­ßer­dem hatte noch der Bun­destag am 02. Juli einem Antrag des Petitionsaus­schusses stattgegeben. Es dürfte also für den neuen wie alten Minister auch politisch schwierig werden, die Pläne so schnell wieder herbeizuzaubern. Was bleibt? In erster Linie eine riesige Fläche in Bundesbesitz, die nun teilweise touristisch erschlossen werden kann, aber hauptsächlich wohl Naturschutzgebiet werden wird. Die Bundeswehr dagegen muss ihre Luft-Boden-Schießübungen auf etwas kleineren Terrains abhalten, was nicht viel stört, da man sich eh längst auf andere Kriegs­techniken spezialisiert hat. Und die an­sässige Bürgerschaft darf sich illusio­nieren, nach dem fast 17jährigen juristisch-politischen Ringen den Weg freigemacht zu haben für bahnbrechende Neuansiedlungen und phantastische Jobwun­der.

Na ja, ganz so fade fällt das Ergebnis dann doch nicht aus, denn immerhin konnten einige kleinere antimilitaristische Gruppen und Initiativen durch die lange Widerstandszeit hindurch reichlich Aktions- und Organisationserfahrung sammeln, auch im Umgang mit einem breiten bürgerlichen Bündnis. Daran gilt es weiter anzuknüpfen, gerade jetzt, da ein symbolträchtiges Ziel durchgesetzt wurde. Die Parole lautet: Neu orientieren, Kraft mitnehmen, weitermachen. Venceremos!

(clov)

WENDLAND 2010 – Widerstand der Schule macht

Optimismus ist hierzulande ja ein teures Gut geworden. Stattdessen durchherrscht die Köpfe Angst, Zynismus und Verzweiflung bei dem Gedanken an die Zukunft. Alle Köpfe? Nein – es regt sich Hoffnung. Ein kleiner Archipel, von der Industrialisierung weitestgehend unberührt, leistet Widerstand. Im unbeugsamen Wendland hat der Optimismus dieser Tage neuen fruchtbaren Boden gefunden, auf dem der Glaube an bessere Verhältnisse gedeihen kann. Die Wiedererweckung der Anti-AKW-Bewegung aus dem Schlummer falscher Kompromisse ist mehr als nur eine Machtbedrohung für die schwarz-gelbe Koalition, es ist ein Lehrstück in Sachen entschlossenen Widerstands, das Schule machen wird.

Denn der Erfolg der diesjährigen Anti-Castor-Proteste lag weniger darin, den Castor-Zug um xy-Stunden zu verzögern und damit die Transportkosten exorbitant zu verteuern, nicht so sehr in der Ver­stetigung der einzelnen Initiativen, auch nicht in dem breiten und positiven medialen Echo. Nein, es waren diese beiden denkwürdigen Nächte vom 7. zum 8. und vom 8. zum 9. November, an denen es schien, als käme die gesamte Polizeimaschinerie zum Erliegen und die Allmacht des Staates bekäme Risse im Angesicht dieses bunten Haufens von Entschlossenen, der sich da mit Strohsäcken, Kerzen und körperlicher Entbehrung gegen die Ent­schei­dungs­vormacht der verantwortlichen PolitikerInnen stemmte. Es war die Wirkmacht dieser kollektiven Aktion, die jedem und jeder rund um den Globus zu sagen schien: Da geht doch noch was!

Doch von vorn. Den diesjährigen Castor­protesten ging eine bislang beispiellose Mobilisierung voraus, wie die unzähligen Kampagnen, Vortragsreihen, Trainings und Work­shops belegen, die die unterschiedlichen Initiativen bundesweit veranstalteten. Freies Radio Wendland sendete 24h rund um die Uhr, während der Castor rollte und wurde vom Netzwerk der Freien Radios bundesweit geschaltet. Ein Heer von JournalistInnen bereiste das beschauliche Land, allein die taz setzte 10 Korres­pon­­den­tIn­nen ein, um den hauseigenen Online-Ticker zu versorgen. Überhaupt: Die Rolle der neuen Medien ist bei der Vernetzung kaum noch wegzudenken und Informationen werden durch sie wieder zu einer ernstzunehmenden Waffe*. Unzählige namenlose BeobachterInnen speisten die Internet­seiten während der Reise des Castorzuges mit konkreten Daten über Zeit, Geschwindigkeit, Route und jeweiligen Standort. Das hat diesmal auch über die Landesgrenzen hinaus funktioniert. Erstmalig konnten AktivistInnen aus Frankreich den Zug schon wenige Stunden nach seinem Start für mehrere Stunden stoppen.

Machtlose Polizei

Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit – bei optimistischen Schätzungen kommt man nicht substanziell über 10.000 „im Feld“ Aktive hinaus, denen ca. 16.000 eingesetzte plus nochmal 4.000 nachgezogene BeamtIn­nen entgegenstanden – gelang es diesmal durch eine einzigartige Ver­netzung der verschiedenen Aktionen seit langem wieder, Schiene und Straße tatsächlich zu erobern. Auch weil die Bewegung einen spürbaren Strategiewechsel vollzogen hat. Statt sich aus Angst vor Unterwanderung und Spionage durch Zivilbeamte und Spitzel in den verschiedenen Aktionsformen und -gruppen abzugrenzen, setzte mensch auf verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und freien Informations­fluß. Statt in der Ecke zu tuscheln, wurde offen pleniert, statt heimlich zu üben, wurde gemeinsam öffentlich trainiert. Die Initiative Castor?Schottern! (siehe auch S. 21f) konnte durch das offene Aussprechen der Taktik und Ziele der Schotter-Aktion im Vorfeld ihre Kampagne derart popularisieren, dass es erstmals gelang, die Kräfte, die sich bisher immer in dezentral agierenden Bezuggruppen aufgerieben hatten, zu bündeln. Das zwang die Polizei, die sonst weiträumig stattfindende Abschirmung der Gleise und der Straßen ins Lager schon frühzeitig aufzugeben und sich stärker auf die Schot­terIn­nen zu konzentrieren. Die Taktik, dabei auf Festnahmen zu verzichten und stattdessen die SchotterInnen mit harter körperlicher Gewalt abzuschrecken, ist letztlich völlig schiefgegangen. Über tausend verletzte AktivistInnen und zahlreiche Pres­sebilder von Polizeigewalt, ledig­lich 12 Ingewahrsamnahmen über den ganzen Tag, die allesamt einer richterlichen Prüfung nicht standhielten, und nicht eine einzige Festnahme waren ein unmißverständ­licher Beweis der Gewaltlosigkeit des Widerstandes. Allein ein abgebrannter Einsatzwagen – vermutlich von den eigenen Leuten kontrolliert angezündet und dann schnell wieder gelöscht – mußte als Mittel der Propaganda herhalten. Das hat auch die Moral der eigenen Truppe nachhaltig untergraben, die ohnehin unter viel zu langen Einsatzzeiten, Unlust und dem bewußten Gefühl leidet, im Wendland nicht gerade als „guter Freund und Retter“ aufzutreten. Es war deshalb auch Ausdruck der Resignation, dass die Einsatzleitung der Polizei auf eine frühzeitige Räumung der Sitzblockaden verzichtete und sich lange darauf beschränkte, den Zulauf zu den Blockaden zu hemmen. Man spielte auf­grund der bereits angelaufenen Verspätung lieber auf Zeit, anstatt wie etwa 2001 in einem letzten Kraftakt den Transport hektisch durchzupeitschen und setzte dagegen bei den Räumungen auf Deeskalation und Verhandlung. Ein Umstand, der der Entschlossenheit des Widerstandes sicher entgegenkam und so ungewollt die enormen Verspätungen mit bewirkte. Tatsächlich war es aber der Mut, den gewaltlose Aktionen benötigen, die Vielfalt und Kreativität des Widerstandes, der die BeamtIn­nen in ihrem Handeln beeinflußte.

Der Staat in der Defensive

Die wiedergeborene Anti-AKW-Bewegung hat überzeugt. Beeindruckt zeigt sich nicht nur die bürgerliche Presse und der sympathisierende Teil der Bevölkerung, auch innerhalb der Polizei wächst der Widerstand gegen derartig unzumutbare Mülltransporte. Anders ist die teilweise stoisch anmutende Gelassenheit der Einsatzführung im Blick auf die Sabotage der eigenen Logistik nicht zu erklären. Die lästigen Traktorenblocka­den“ der Bauern hätten durch Festnahmen und Beschlagnah­mung relativ einfach beseitigt werden können. Hier war die Staatsmacht auch mal kreativer. In den Neunzigern bspw. sprangen kurzerhand Fallschirmkommandos über den einschlägig bekannten Höfen ab und legten die Trecker durch das Zerstechen der Reifen lahm. Doch statt­dessen berichten die Bauern dieser Tage darüber, wie ganze Einsatzzüge ratlos wieder umkehrten, während der zivile Verkehr ungehindert fließen konnte. Vielen BeamtIn­nen fehlte offensichtlich die Lust und auch der Druck von oben, sich ernsthaft auseinanderzusetzen. Die großen Sitzblockaden wurden verhältnismäßig zurückhaltend geräumt, es gab diesmal auch keine Camp-Kesselungen oder Festnahme-Exzesse.

Ob es der Regierung, dem Innenministerium und der Obersten Leitung der Bundespolizei gelingt, an diese erlöschende Lunte neues Feuer zu legen, ist angesichts der positiven Presseresonanz, die die Proteste erzielten, und deren nachhaltig gewaltlosem Auftreten, stark zu bezweifeln. Von daher ist derzeit auch völlig unklar, mit welcher Strategie bei weiteren Transporten den Protesten überhaupt effektiv entgegengewirkt werden kann. Um zu verhindern, dass die erfolgreichen Protestaktionen weiter an Zulauf gewinnen, bräuchte man dringend eine starke Abschreckungswirkung. Die wird sich aber nur dann erzielen lassen, wenn die Polizei dementsprechend martialisch auftritt, was innerhalb der Beamtenschaft kaum noch zu vermitteln ist und außerdem eine viel höhere Zahl an Einsatzkräften bedingen würde, was, zumindest so wie derzeit, nicht bezahlbar wäre. Es ist also sogar möglich, dass die diesjährigen Proteste ein längeres Aussetzen der Atom­mülltransporte bewirken und die Regierung stattdessen lieber neue Verträge über die Zwischenlagerung des radioaktiven Materials mit den Betreibern der Wiederaufbereitungsanlagen bei Le Hague (FR) und Sellafield (UK) aufsetzt, wo derzeit sowieso fast 3/4 des deutschen Atommülls lagert. Dass Umweltminister Röttgen dieser Tage die geplante Verklappung des radioaktiven Mülls aus dem ehemaligen Forschungsreaktor Rossendorf (bei Dresden) im fernen Majak (RU) kurzerhand wegen Bedenklichkeit der dortigen Zustände abblies, kann mensch durchaus als politisches Zeichen in diese Richtung werten. Und um so entschlossener gilt es jetzt gegen den letzten Atommüll-Transport nach Lubmin (siehe auch S. 20) aufzutreten, der für dieses Jahr noch genehmigt ist!

Unverantwortliche Politik

Das Problem der deutschen Atomenergiepolitik ist einfach zu offensichtlich. Einer­seits will man den durch die Laufzeitgarantien weiter verbilligten Atomstrom, um die hiesigen Industrien zu befeuern, ande­rerseits gibt es für den entstehenden, hochradio­akti­ven Müll keinerlei Konzept der sicheren Lagerung. Stattdessen werden die verbrauchten Brennstäbe zur wenig lukrativen Erzeugung von neuen Brennstäben und ganz nebenbei waffenfähigem Material nach Frankreich und England transportiert, und dann wird der Müll – um ein Vielfaches an strahlenden Masse angewachsen – wie­der zurückgekarrt, um in Gorle­ben letztlich in einer Betonhalle oberirdisch abgestellt zu werden, während völlig unklar ist, ob der Salzstock bei Gorleben überhaupt jemals zu einer Endlagerstätte wird. Die lokale Grafschaft, die das Schürfrecht an dem Salz besitzt und bereits in den Neunzigern ein millionenschweres Kaufangebot von Seiten des Staates abgelehnt hat, wird man zu­vor wohl erst enteignen müssen, ebenso wie die örtliche Kirchengemeinde und eine hand­voll Bauern. Die legislativen Weichen dafür hat Bundespräsident Wulff zumindest gerade im Zusammenhang mit dem neuen Atomgesetz abgesegnet. Außerdem gibt es nach dem katastrophalen Wassereinbruch in der Asse II (siehe u.a. FA!#38 Seite 1/23) wieder erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit von Salz als Wirtsgestein überhaupt. Doch statt über die Probleme der Endlagerung des Atommülles offen zu diskutieren und alle erdenklichen Möglichkeiten auszuloten, eine vielseitige Forschung zu betreiben und die hochgiftige Müllproduktion schnellstens zurückzufahren, hat sich die deutsche Politik an Gorleben als Endlager festgebissen. Ge­gen­wärtig lagern 102 Castorbehälter, also ca. 1.000 Tonnen radioaktives Material in dem provisorischen Containerlager, das damit schon zu 25% gefüllt ist. Nimmt man den bereits wiederaufbereiteten deutschen Müll hinzu, der allein in Le Hague und Sellafield lagert, wäre das Lager jetzt schon voll. In dieser Lage ist es nicht nur grob unvernünftig sondern geradezu fahrlässig, die hochgefähr­lichen Transporte weiter quer durch die Lande zu jagen und durch längere Lauf­zeitgarantien gleichzeitig deren Menge noch zu erhöhen. Egal wieviel Geld dadurch kurzfristig zusätzlich ins Staatssäckel fließt. Die Beseitigung der verheerenden Folgen auch nur des kleinsten Transportunfalls in so einem eng besiedelten Gebiet wie Deutsch­land wären durch keinen Rettungsschirm dieser Welt finanzierbar.

Abschalten, aber sofort!

Die Anti-AKW-Bewegung muss also auch in Zukunft mit aller Macht darauf dringen, dass die unsinnigen und hochge­fährlichen Mülltransporte unterbleiben, bis es eine allseitig akzeptable Endlager-Lösung gibt, und gleichzeitig darauf beharren, dass alle AKWs umgehend abgeschaltet werden. Außerdem muss es ihr noch stärker gelingen, den Technologie-Export deutscher Firmen in den Fo­kus und Aktionsradius mit einzubeziehen, was gleichbedeutend mit der Internationali­sie­rung der Bewegung ist. Die unzähligen Mails mit Solidaritätsbekundungen aus anderen Ländern, die allein das Radio Freies Wendland über das Aktionswochenende hinweg erhielt, bezeugen, dass der erfolgreiche Pro­test hierzulande über die Grenzen hinweg Vorbild und Inspiration ist. Und Papa Staat macht es ja schon vor. Auch bei diesem Castortransport wurden französische Po­­li­zeieinheiten gesichtet, die offensichtlich „in freier Wildbahn“ Schulung in Demon­stra­­tionsbekämpfung erhielten. Ähnliches soll­te mensch auch auf der Gegenseite noch stär­ker praktizieren. Denn das Wendland die­ser Tage ist, was es ist: Eine Kulturnische des politischen Protestes, ein gewachsenes La­boratium für verschiedene Formen des non-konfrontativen, subversiven Widerstandes. Ob daraus in Zukunft eine mächtige Bür­gerbewegung entsteht ist allerdings so fraglich, wie ausgeschlossen ist, dass die der­zei­tige Anti-AKW-Bewegung Vorreiterin einer tiefergehenden Umwälzung der Verhäl­tnisse sein könnte, dafür ist der anti-atomare Konsens einfach zu klein. Sicher ist aber auch: JedeR AktivistIn, gleich welcher sozialen Bewegung, sollte ge­nau hinschauen, wie diese ‘gallischen Wendländer’ Gegenmacht organisieren. Der Erfolg lädt zum Nachahmen ein. Weiter so!

(clov)

 

* Am Beispiel der Strahlenbelastung bei der Begleitung von Castor-Transporten. War da nicht mal was? Als 1998 herauskam, dass die Castor-Behälter doch erheblich mehr abstrahlen, als die Industrie zuvor behauptet hatte, weigerte sich die Gewerkschaft der Polizei zeitweilig, die Transporte abzusichern. Über die nach wie vor bestehenden erheblichen Strahlenrisiken in der Nähe der Castorbehälter klärte eine eigens für Polizisten und Polizistinnen eingerichtete, sachlich fundierte Internetseite auf, die während der Protesttage immer wieder beworben wurde – castoreinsatz.110mb.com