Schlagwort-Archive: Interview

Militarisierung vor der Haustür

Die ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“)* beschäftigt sich seit einiger Zeit u.a. mit dem Leipziger Flughafen, denn dieser wird momentan auch für die militärische Nutzung ausgebaut. Welche Pläne derzeitig in BRD und EU umgesetzt werden und welche Rolle Leipzig bei der zunehmenden Militarisierung einnimmt, soll das folgende Interview beleuchten. Dieses Tonbandinterview mit M. und L. aus der ig3o wurde im gegenseitigen Einvernehmen im Nachhinein der Schriftsprache angenähert.

 

FA!: Warum ist der Leipziger Flughafen für euch derzeitig Thema?

 

L: Der Flughafen Leipzig/Halle wird gerade ausgebaut, es entsteht eine neue Landebahn mit dem Ziel, dort ein Luftdrehkreuz ein­zurichten. Zum einen für DHL (1), zum an­deren ist es aber auch so, dass sich die NATO an diesem Flughafen beteiligen möchte, indem sie Charterflugzeuge dort stationiert.

 

FA!: Was für Pläne hat die NATO da genau?

 

L: Die NATO hat einen Chartervertrag mit ein­em russisch/ukrainischen Transportunternehmen über das Chartern von Großraum-Transport-Flugzeugen abgeschlossen. Es geht da insgesamt um sechs Antonov-124-Maschinen, die ab Herbst diesen Jahres zur Ver­fügung stehen sollen. Zwei davon werden permanent in Leipzig stehen und vier wei­tere stehen dann an den Heimatflughäfen Kiew und Uljanowsk.

 

FA!: Sollen die Antonovs in Leipzig auch für militärische Einsätze verwendet werden?

 

L: Das ist quasi das Hauptproblem. Sie sind hier stationiert und sie stehen eben für militärische Zwecke zur Verfügung. Es wird auch ein Teil des Flughafens für diese Flieger und die Abfertigung reserviert sein. Und wir können dann damit rechnen, dass hier Kriegsgeräte verladen werden.

M: Und die Antonovs sollen auch innerhalb von 72 Stunden einsatzbereit sein, um so ein schnelles „Eingreifen“ weltweit zu ermöglichen.

 

FA!: Mit welchem Hintergrund wird gerade jetzt in der Gegend aufgerüstet?

 

L: Der Hintergrund ist, dass bereits im Jahr 2000 bei der NATO-Tagung in Prag beschlossen wurde, den strategischen Trans­port­bedarf der NATO-Staaten bis 2012 sicherzustellen, weil die europäischen NATO-Staaten für Auslandseinsätze bisher keine Lufttransportkapazitäten haben. Bisher lief fast alles über Seetransporte, aber in neueren Kriegen „braucht“ man Lufttransporte. Und von den NATO-Staaten haben ausschließlich die USA Lufttransportkapazitäten für mi­litärische Zwecke. Erst ab 2012 wird zusätzlich der neue Militär-Airbus A400 M zur Verfügung stehen, und bis dahin muss sich die NATO eben mit Charterflügen behelfen. Es geht eben um die militärische Aufrüstung.

 

FA!: Wogegen richtet sich eure Kritik speziell?

 

L: Unsere Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Ausbau militärischer Kapazitäten. Also das ist halt ein Fall, wo Aufrüstungspolitik konkret vor unserer Haustür stattfindet, und das hat irgendwie noch niemand so richtig mitbekommen.

Es gibt jetzt erste Reaktionen von Gruppen, die ganz verblüfft sind, dass es in Leipzig bzw. Schkeuditz bald ein NATO-Drehkreuz für internationale Einsätze und wahrscheinlich auch für neue Angriffskriege geben wird. Und das ist ein Punkt, wo man die euro­päische Aufrüstungspolitik bzw. die NATO-Rüstungspolitik kritisieren kann. Zumal diese Transportkapazitäten hauptsächlich für die europäischen Staaten zur Verfügung stehen und auch von EU-Projekten genutzt werden können. Es werden gerade schnelle Eingreiftruppen – sowohl in NATO-Strukturen als auch in EU-Strukturen – geplant, bei der NATO die „Rapid Reaction Force“ und bei der EU die „Battle Groups“. Die „Battle Groups“ sollen bis 2007 aufgestellt sein. Das passt genau in diesen Zeitplan, wenn Ende Oktober die ersten Flieger hier stationiert werden können. Es ist auch so, dass die Bundesrepublik dieses Projekt unter ihrer Führung ausgearbeitet hat und im Prinzip diejenige ist, die es am stärksten vorangetrieben hat.

M: Zumal sich die BRD damit ein dauerhaftes Zugriffsrecht auf die Flugzeuge sichert, denn bisher musste sie alle Maschinen einzeln chartern, um zum Beispiel nach Afghanistan fliegen zu können, und jetzt stehen die hier bereit. Deutschland will auch 20 Millionen Euro im Jahr zahlen, um dann permanent auf sie zugreifen zu können.

L: Die Bundesrepublik bringt so die größte Summe für die Charterflugzeuge auf und hat dann auch die größten Nutzungsrechte.

M: Da kann man dann nicht nur die EU und die NATO, sondern auch die Rolle Deutschlands kritisieren.

Ja wir denken, dass das viele Gruppen interessieren könnte, und dass man da eventuell was zusammen machen könnte. Während es bei DHL eher zweifelhaft ist, ob das andere Gruppen so interessiert.

 

FA!: Gibt es denn von eurer Seite aus auch Kritik am Flughafenausbau wegen des DHL Drehkreuzes?

 

M: Das ist eigentlich ganz interessant, auch wenn es jetzt für uns nicht so der Hauptanknüpfungspunkt ist. Aber wenn man sich mal anguckt, was die DHL dafür erhalten hat, dass sie sich hier überhaupt ansiedelt, ist das schon ´n ziemliches Ding. Der Flughafenausbau kostet insgesamt ungefähr 380 Millionen Euro. Die DHL erhält zudem die Garantie für einen 24 Stundenbetrieb für die nächsten 30 Jahre. Und dann hat sie von der Landesregierung in Dresden noch weitreichende Zusagen für eine noch bessere Anbindung des Airports an das Straßen- und Schienennetz erhalten. Das kostet ja auch wieder viel Kohle, die der Bund und das Land tragen werden. Zusätzlich bekommt sie noch Fördermittel über 70 Millionen Euro. Also, das ist schon fett. Und wenn man dann so guckt, was „wir“ dagegen von der DHL erhalten… Sie versprechen da 3500 direkte Arbeitsplätze und 7000 indirekte Arbeitsplätze im Umfeld, wobei es aber schon Studien gibt, die belegen, dass das völlig aus der Luft gegriffen ist. Vor allem, wenn man sich die Arbeitsplätze anschaut, die es beim DHL-Drehkreuz in Brüssel gibt : 50 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten da auf Teilzeit für vier Stunden in der Nacht. Und auch der DHL-Postchef Klaus Zumwinkel hat ja auf die Frage der LVZ: „Gibt es einen Standortvorteil Ost?“ geantwortet: „Nüchtern betrachtet, der einzige und wesentliche sind die niedrigeren Löhne.“ Billigjobs halt.

 

FA!: OK, ihr sagt ja, dass eure Stoßrichtung jetzt weniger DHL und die Arbeitsbedingungen bzw. Subventionen sind, sondern eher die NATO und Militärnutzung. Aber ist der Flughafenausbau für die DHL nicht auch für die NATO von Nutzen?

 

L: Die DHL-Bedingungen sind natürlich vorteilhaft, weil irgendwann zwei Landebahnen fertig sind, die 24 Stunden am Tag genutzt werden können. Nachts fliegen zu können ist halt auch eine Voraussetzung für militärische Nutzung.

 

FA!: Und bis wann soll alles fertiggestellt sein?

 

M: Also das Drehkreuz soll Anfang 2008 eröffnet werden.

FA!: Wem gehört eigentlich der Flughafen?

 

M: Der Hauptanteilseigner am Flughafen ist mit 94% die Mitteldeutsche Flughafen AG, und da sind wiederum der Freistaat Sachsen mit ca. 73% und das Land Sachsen Anhalt mit ca. 14% die Hauptanteilseigner. Ansonsten gibt es noch mehrere Städte und Landkreise, die direkt und indirekt Anteile besitzen: Dresden, Halle, Leipzig, der Landkreis Delitzsch, Leipziger Land, die Stadt Schkeuditz. Im Prinzip ist der Flughafen ein Unternehmen der öffentlichen Hand, kein Privatunternehmen.

 

FA!: Gibt es denn schon Gruppen außer euch, die sich mit dem Flughafen beschäftigen?

 

M: Es gibt die IG Nachtflugverbot, die ist vor allem in den betroffenen Dörfern organisiert. Ihre Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den Nachtfluglärm, und sie fordert ein Flugverbot von sechs Stunden in der Nacht. Einzelne Mitglieder haben jetzt aber auch die militärische Nutzung ins Blickfeld genommen, richten sich auch dagegen und hatten eine Veranstaltung mit Monika Runge von der PDS zur militärischen Nutzung organisiert.

 

FA!: Und arbeitet ihr mit denen zusammen?

 

L: Wir versuchen momentan noch Kontakt aufzunehmen. Das ist nicht ganz so einfach. Das sind alles Leute von den Dörfern aus der Einflugschneise, wir sind hier alle in der Stadt irgendwie, da ist es schwierig was zusammen zu machen, zumal sie auch eine andere Stoß­rich­­tung und andere Aktions­­formen haben.

 

FA!: Und was plant ihr jetzt konkret, oder was ist euer Wunsch was passieren sollte und was man machen könnte?

 

M: Der erste Schritt ist erst mal informieren, weil man immer wieder hört, dass die Leute das einfach nicht wissen. Schön wäre auch, ein Bündnis von verschiedenen Leipziger Gruppen auf die Beine zu stellen

L: Es ist auch sehr schwierig, wirklich was effektiv dagegen zu machen und das in irgendeiner Weise zu verhindern. Die IG Nacht­flugverbot versucht das Ganze auf dem juristischen Weg zu machen, was auch nicht so sehr aussichtsreich erscheint. Es würde aber die militärischen Pläne zunichte machen, wenn es ein Nachtflugverbot gäbe, was sehr erfreulich wäre. Aber es ist bisher nicht gesagt, dass es soweit kommt.

M: Die IG Nachtflugverbot klagt ja hier vor dem Bundesverwaltungsgericht, und im Sommer müsste es da eine Entscheidung geben.

 

FA!: Ja genau, was sind denn so die nächsten Termine, wo man dann Anknüpfungspunkte finden könnte?

 

M: Das ist das Schwierige, denn irgendwie ist ja alles entschieden, bis auf die eine Klage vor´m Bundesverwaltungsgericht. Was die IG Nachtflugverbot zusätzlich überlegt, ist konkret gegen die militärische Nutzung zu klagen.

L: Die gehen beide Wege. Was sie tatsächlich machen, ist gegen die Stationierung der Militärflugzeuge aufgrund des Lärms klagen, also nicht gegen das gesamte Ausbauprojekt und das DHL-Drehkreuz. Die Antonov 124 ist das größte und lauteste Flugzeug der Welt, und die IG Nachtflugverbot versucht da, vor Gericht zu erwirken, dass die nicht stationiert werden dürfen.

Das Andere ist aber eben der militärische Teil, der gegen den „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ (2) verstößt. Aber bei der Klage besteht das Problem, dass alle Beteiligten, also auch der Flughafen selbst, diese Transportfirma, die NATO und eben auch das sächsische Innenministerium sagen: es sei ja ein ziviler Chartervertrag, es gehe ja bloß um den Transport des Kriegsgerätes durch eine zivile Transportfirma und sei damit vollkommen in Ordnung so.

M: Das ist ja auch ein bisschen unsere Schwierigkeit, dass wir noch nicht so einen richtigen Anknüpfungspunkt gefunden haben, wo man konkret noch Entscheidungen beeinflussen kann. Aber tun sollte man trotzdem was dagegen.

L: Man könnte versuchen, den Flughafen „anzugreifen“, wenn jetzt alle Entscheidungen irgendwie nichts bewegen. Leipzig hat sich beispielsweise im Irakkrieg als Friedenshauptstadt präsentieren wollen, und gleichzeitig ist es eben so, dass vor den Toren der Stadt Militärkapazitäten entstehen, die für neue Kriege da sind. Und von der Olbrecht-Kaserne in Leipzig aus sind auch schon Auslandseinsätze nach Afghanistan geleitet worden. Also auf der einen Seite gab es große Anti-Kriegs-Demonstrationen, auf der anderen Seite ist Leipzig ein wichtiger Militärstandort, der bei diesen Demonstrationen keine Rolle gespielt hat. Und wenn man das mehr in den Mittelpunkt rückt und den Leuten bewusst macht, was gerade hier jetzt passiert, gibt’s da glaub ich auch schon Potenzial, das man für Aktionen gewinnen kann, um am Image des Flughafens zu kratzen. Was denen dann vielleicht auch irgendwann nicht mehr egal ist.

M: Ja, inhaltlich dazu zu arbeiten und dann gemeinsam protestieren.

 

FA!: Danke für das Interview!

 

momo

(1) DHL ist ein Paket- und Brief- Express- Dienst. Der weltweit größte Express-Versender gehört seit 2002 dem Konzern Deutsche Post World Net. (vgl. FA! #16, Jan/ Feb ´05)
(2) Abschließende Regelungen zur deutschen Wiedervereinigung, worin gesagt wird, dass in Ostdeutschland keine ausländischen Truppen und Atombomben stationiert werden dürfen.

* Was ist eigentlich ig3o ?

Das Kürzel ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“) bezieht sich auf die Entstehung der Gruppe im Vorfeld des Naziaufmarsches am 1.10.2005 in Leipzig. Akteure aus verschiedenen Zusammenhängen schlossen sich zu einem Bündnis zusammen, das zu einer Sitzblockade aufrief, um den Naziaufmarsch zu verhindern.

Nach gelungener Zusammenarbeit beschloss man, sich weiterer Themen wie dem Flughafenausbau oder den Kürzungen im Leipziger Haushalt anzunehmen. Mit dem Ziel, soziale und politische Prozesse zu kritisieren, zu verändern oder zu verhindern, konzentriert sich die ig3o zwar auf vor Ort greifbare Themen, organisierte aber auch eine Veranstaltungsreihe mit Podiumsdiskussion zum „bolivarianischen Prozess“ in Venezuela und beteiligte sich an der Demo „Bewegungsfreiheit für Alle. Festung Europa niederreißen“. Ungern würde sie „als die Gruppe, die nur dafür zuständig ist, Naziaufmärsche zu verhindern“, wahrgenommen werden. Dennoch beschäftigt sie sich momentan wieder damit, diesmal zum 1. Mai, wo es erneut ein Bündnis und zentrale Gegenaktivitäten gibt, um den Marsch der Rechten zu stoppen. Die ig3o versteht sich als antikapitalistisch und internationalistisch, sucht zudem immer noch einen Namen und würde gern mehr als acht Leute werden.

Homepage: ig3o.fateback.com

„Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen!“

Antirassismus im StuRa

Ein StudentInnenrat ist nur für universitäre Politik zuständig. Und dort gibt es ja wohl keine rassistischen Vorurteile. Oder doch? Auch wenn es in Leipzig im Gegensatz zu manch anderer Universität leider kein direktes Referat für Antirassismusarbeit gibt, konnte auch in diesem Semester wenigstens eine Anlaufstelle für dieses Thema besetzt werden: mit Rico Rokitte, 26, seines Zeichens Student der Erziehungs- und Politikwissenschaften sowie der Philosophie. Feierabend! hat nachgefragt, wie der so tickt und was er vor hat…

FA!: Wie bist du zum Thema Anti­rassismus gekommen?

R.: Ich glaube, wenn du anfängst, dich mit der Perversion unserer „zivilisierten“ Ge­sellschaft zu beschäftigen, kommt Rassis­mus als ein krankhafter Auswuchs (von Tausenden) sofort heraus. Für mich ist es nur ein Teilgebiet, mit dem ich mich be­schäftige, wenn auch jetzt mehr. Aber da es im StuRa keinen Bereich „Ver­än­derung der Gesellschaft“ gibt, ist Anti­rassis­mus mein momentanes Hauptthema.

FA!: Wofür steht die Stelle im StuRa und was willst DU draus machen?

R.: Die AntiRa-Stelle im StuRa ist erst rela­tiv neu (ein halbes Jahr) und deutsch­land­weit in StuRas/Astas auch nicht oft ver­treten. Bisher hatte eine sehr kompe­tente Studentin (Sylvia) diese Stelle inne, die sie auch mitgegründet hatte. Ich glaube, für sie war Anti-Rassismusarbeit erst mal eine Aufarbeitung anti­faschis­tischer und antirassistischer Strukturen an der Uni. Und durch den Versuch einer öffentlichen Diskussion ein Problem­be­wusstsein zu schaffen.

Die Mitarbeit im StuRa ist für mich des­wegen wichtig, weil ich denke, dass man die Diskussion in den Organisationen und Be­trieben führen und nicht nur von außen kri­tisieren sollte. Und gerade in der Stu­dierendenschaft mit ihrem ach so toleran­ten Mäntelchen gibt es viel zu tun.

FA!: Was für ein „Mäntel­chen“?

R.: Ich denke und lese, dass Studenten als to­lerant, offen etc. gesehen werden. Dies ist aber praktisch nicht so, auch wenn sich na­tionale, rassistische und autoritäre Um­triebe anders äußern als außerhalb der Uni – keine Skins, keine offene Gewalt etc.. Im Gesamten jedoch sieht es auch nicht an­ders aus – die durch die Soziali­sation ge­setzten Verknüpfungen werden meist un­reflektiert weitergeführt. Auch wenn es sich nicht überall in einer Mitgliedschaft in Burschenschaften und Corps oder an­deren perversen Unter­drückungs­ver­bin­dungen äußert. Ich denke, dass die meisten Studenten sich unter einem AntiRa-Sprecher jemanden vorstellen, der gegen jegliche rassistischen Auswüchse vorgeht und informiert. Ich werde sicherlich Informationen über und die Bekämpfung von auftretendem Rassis­mus weiterhin vorantreiben, halte das aber allein für zu kurzatmig. Es ist wichtig, gegen Nazis, Nationale und Gewalttäter zu kämpfen, aber ich denke, es muss darüber hin­aus­gehen. Besonders hier an der Universität (in einem Bildungsbetrieb) sind viel mehr Ein­flussmöglichkeiten vorhanden.

Anti-Rassismusarbeit ist bei mir stark mit Prä­vention und einer lebens­welt­orien­tier­ten Sichtweise verbunden. Ich muss dem Rassismus die Basis wegreißen, die aus Uninformiertheit, nie erlebter Demokra­tie, Unmündigkeit und autoritärer Struk­tu­ren in der Gesellschaft besteht.

Ne­ben der Erstellung von Readern zu Burschenschaften, Rassismus an der Uni etc. möchte ich dieses Semester damit be­ginnen, einen Diskurs über Gesellschaft und Rassismus zu eröffnen. Praktisch kann das zu Beginn nächsten Jahres durch einen an­visierten Kongress, bzw. einem Work­shop­­wochenende zu diesem Thema ge­schehen. In Zusammenarbeit mit den Fach­schaften und weiteren studentischen Gruppen soll da praktisch unser ei­gener Ein­fluss, z.B. durch spätere Berufe, ana­ly­siert und verbildlicht werden. Das be­trifft vor allem Pädagogen, Soziologen u. a..

FA!: Kann da dann jedeR hingehen?

R.: Natürlich soll dieser Kongress be­ziehungs­weise Workshop für alle Inter­essierten offen sein.

FA!: Wo außerhalb der Uni und mit wem sollte die Auseinandersetzung mit Rassis­mus vorangetrieben werden?

R.: Rassismus ist in Europa und anderswo in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Sicherlich äußert es sich bei Dozenten an­ders als bei der Studierendenschaft. Doch tragen wir fast alle diese unheilvollen Kei­me in uns. AntiRa- Arbeit muss durch alle uni­versitäre Strukturen gehen und nicht nur in der Studentenfreizeit an­setzen. Ich hoffe, dass da mit Dozenten, Fachschaften etc. eine Zusammenarbeit möglich ist. Besondere Hoffnung setze ich auf Studen­ten, die sich in bestehenden oder noch zu gründenden Gruppen finden lassen, auch um mehr als Rassismus anzugehen.

FA!: Wo sind dir im hochschulpolitischen Rahmen Grenzen gesetzt?

R.: Eigentlich darf ich den universitären Rah­men nicht verlassen und mich auch nicht in die Lehre einmischen. Das ist der Rahmen. Doch kann Antirassismus sich nicht so entfalten, wir leben ja nicht in der Uni. Praktisch sind dem aber durch Zu­­sammenarbeit und Unterstützung ein­zelner Studenten, Projekte oder Lehren­­den keine wirklichen Grenzen ge­setzt.

FA!: Danke für das Gespräch und viel Erfolg!

clara

Grenzen sprengen

Der israelisch-palästinensische Kon­flikt ist in der deutschen Linken ein kon­­tro­­verses Thema. Sich zwischen den Fall­­stricken bedingungsloser Solidarität mit der einen oder der anderen Seite durch­zu­schlän­geln ist ein schwieriges, aber nö­ti­ges Unter­fangen. Denn auch wenn Na­tio­na­lismus, Antisemitismus und Isla­mismus auf palästinensischer Seite ein erns­tes Problem sind – wie antideutsche Lin­ke zu Recht bemerken – , sollte man auch die negativen Folgen der israelischen Be­sat­zung für die palästinensische Bevöl­ke­­rung nicht über­sehen. Die simple Freund-Feind-Logik des bewaffneten Kon­flikts einfach zu über­nehmen, bietet keinen Ansatz­punkt für emanzipatorisches Han­deln und konstruk­tive Lösungen. Diese Lo­gik hat das Geschehen die letzten 40 Jah­re lang bestimmt und ebenso wenig po­si­tive Folgen gezeitigt wie die immer neuen An­läufe zu Friedensverhandlungen und ei­ner Zwei-Staaten-Lösung. Die Arbeit der is­ra­elischen Anarchists Against The Wall (AATW) könnte hier eine Perspektive bie­ten, da sie mit ihren gewaltfreien Aktionen ge­gen den Mauer­bau, die sie zusammen mit palästinen­sischen AktivistInnen durch­führen, die simple Logik des „Wir-gegen-die“ über­schrei­ten. Das macht sie für uns inte­ressant. Yossi von den Anar­chists Against The Wall erläuterte in einem per Mail geführten Interview Hinter­gründe und Ziele der Arbeit der Gruppe.

Die Feierabend!-Redaktion

FA!: Zunächst mal: Seit wann gibt es die AATW, wie habt ihr euch gegründet?

Yossi: AATW wurde im April 2003 von ei­ni­gen größtenteils anarchistisch orien­tier­ten israelischen AktivistInnen gegrün­det, die schon zuvor in unterschiedlicher Form in den besetzten Gebieten aktiv wa­ren. Der Anlaß war ein Protestcamp in Mas´ha. Die Mauer näherte sich dem Dorf, letztlich hätten sich dadurch 96% der Ackerfläche auf der „israelischen“ Seite be­fun­den. Das Camp, an dem sich auch pa­läs­tinensische und internationale Akti­vis­tInnen beteilig­ten, bestand aus zwei Zel­ten auf dem Gelände, das konfisziert wer­den sollte. Die AktivistInnen waren vier Mo­nate vor Ort, in der Zeit war das Camp ein Zentrum für die Informa­tions­ver­brei­tung und für basisdemokratische Entschei­dungs­­fin­dung, direkte Aktionen gegen den Mau­er­­bau wurden dort vorbe­reitet. Ende Au­gust 2003, als die Mauer um Mas´ha fast fertig war, zog das Camp in den Garten ei­nes Hauses um, der auch weg sollte. Nach zwei Tagen, in denen wir die Bull­dozer blockier­ten und viele verhaftet wur­den, mussten wir aufgeben. Aber die Idee des Wider­standes blieb erhalten.

FA!: Was für Leute machen bei euch mit?

Y.: Die meisten sind junge Israelis, meist aus Oberschichts- oder Mittelklasse­familien europäischer Herkunft. Es gibt aber auch ältere AktivistInnen, viele arabisch-jüdischer Herkunft und aus der früheren Sowjetunion, auch Leute aus der Unter­­schicht. Ideologisch und kulturell ist die Gruppe ziemlich vielseitig: Es gibt Punks und Hippies, Queers, Veganer und Straight Edger, Pazifisten und Nicht-Pazifisten, und viele würden sich nicht mal als Anarchisten bezeichnen.

FA!: Kannst du etwas zu eurer Arbeit sagen, wie sehen eure Aktionen aus?

Y.: Seit ihrer Gründung hat die Gruppe an Hunderten Demonstrationen und di­rekten Aktionen – gegen die Mauer und die Besetzung allgemein – in der West Bank teilgenommen. Mit unserer Arbeit in Palästina wollen wir in erster Linie die Leu­te vor Ort unterstützen. Meist gibt es ei­nen Demonstrationszug vom Dorf dort­hin, wo die Mauer gebaut wird, und wir ver­suchen, die Bulldozer und Arbeiter zu blockieren. Wir versuchen auch oft, zu­sammen mit palästinensischen und inter­na­tionalen AktivistInnen die Mauer oder die Checkpoints zu sabotieren. Es gibt auch fokussiertere Aktionen – nicht in Form von Demonstrationen – gegen den Mau­er­bau, die Checkpoints oder die „Apart­heids-Straßen“ (Straßen, die von Pa­läs­tinenserInnen nicht benutzt werden dürfen). Wir nehmen auch an vielen De­mons­trationen in Israel teil und machen di­rekte Aktionen gegen Unternehmen, die von der Besatzung profitieren. Unsere Aktionen in der West Bank werden meist sehr gewalttätig unterdrückt. Friedliche Gummi­geschossen, Gummigeschossen, manch­mal sogar scharfer Munition zer­schla­­gen. Bei rein palästinensischen De­monstrationen gibt es noch ein weit höhe­res Maß an Gewalt als bei den Demos, an denen wir uns beteili­gen. Die Anwesen­heit von Israelis bietet einen gewissen Schutz. Die israelischen Soldaten verhal­ten sich deutlich anders, wenn wir dabei sind, und die Gewalt läuft auf niedrigerem Level ab. Obwohl viele israelische Aktivis­tInnen bei diesen Demonstrationen verletzt wurden, haben die Palästi­nenser­Innen den höchsten Preis zu zahlen. Bis heute sind zehn palästinen­sische Demons­tran­ten getötet und Tau­sende verletzt wor­den. Die Armee und die israelische Regie­rung wollen den palästi­nensischen Wider­stand mit allen Mitteln brechen und isra­elische AktivistInnen daran hindern, sich da­ran zu beteiligen. Die Repression ist auch deshalb für die palästinensischen Ak­ti­vistInnen wesentlich härter, weil es zwei Sys­teme bei der Justiz gibt. Wir werden nach dem Zivilrecht behandelt, während für die Palästinenser Militärrecht gilt. De­ren Haftstrafen sind also viel länger, sie be­kommen auch mehr und höhere Geld­strafen.

FA!: Was sind eure Ziele, unmittelbar und auch langfristig?

Y.: Wir haben kein Manifest oder eine kla­re Ideologie. Wir sind gegen Rassismus, Apart­heid und Krieg, wir wollen eine freie Ge­sellschaft, in der Juden und Palästi­nen­ser gleichberechtigt zusammenleben. Ich den­ke, unsere Aktionen zeigen, was wir er­rei­chen wollen. Gegen eine Mauer, die die Leu­te voneinander trennt, arbeiten wir mit Pa­lästinensern zusammen. Gegen Beset­zung und staatliche Herrschaft, die dazu da sind, die Leute ihrer Logik zu unter­wer­fen, kommen wir und brechen ihre Ge­setze mit einer nicht-hierarchischen Gruppe.

FA!: Wie sollte eurer Meinung nach eine Lösung des Konflikts aussehen?

Y.: Wir haben keine klare Lösung. Viele von uns unterstützen die Kein-Staaten-Lö­sung, andere denken, dass es zuerst eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung geben muss. Mir ist egal, wie viele Staaten es gibt, so­lange wir Freiheit und Gleichheit für alle Ein­­­wohner dieses Landes erreichen. Eine wirk­liche Lösung sollte auf sozialer Ge­rech­tigkeit und der Überwindung von Na­tio­nalismus und Kolonialismus basie­ren, d.h. dem Ende von Israel als ein „jü­discher“ Staat und dem Aufbau einer neuen bi-nationalen Gesellschaft. Uns wird immer gesagt, das sei unrealistisch, aber derzeit gibt es ohnehin keine „rea­lis­tische“ Lösung. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein Apartheids­plan, welcher von Bush und (Israels Ministerpräsident) Olmert ge­gen den Willen der Palästinenser durch­ge­setzt wurde. Was von der israe­lischen Re­gie­rung als Frieden verkauft wird, ist nur die Fortsetzung der Ok­ku­pation mit ande­ren Mitteln. Der Kon­flikt ist auch nicht von allein da. So lange euro­pä­ische und ameri­ka­nische Inte­ressen die isra­elische Po­li­tik und die Lage in der Re­gion be­stimmen, wird es keine Versöh­nung geben.

FA!: Die israelische Friedensbewegung (Grup­pen wie Peace Now und so weiter) ist derzeit ziemlich schwach, soweit ich weiß. Kannst du dazu etwas sagen? Wie ist euer Verhältnis zu diesen Gruppen?

Y.: Wir sehen uns nicht als Teil der „Friedens­bewegung“. Wir sind eine Bewe­gung gegen die Besatzung. Der Frieden wird oft benutzt, um den Status quo zwischen Unterdrückern und Unter­drückten zu erhalten. Der Hauptun­terschied in der israelischen „Linken“ besteht zwischen den Zionisten und den Nicht- oder Antizi­onisten. Für die meisten von uns sind Gruppen wie Peace Now, One Voice, das Peres-Center für Frieden und andere sogenannte „Friedens“-Gruppen irrelevant oder sogar eine Gefahr. Israe­lische Grup­pen, die einen Frieden in Form von Freihandelszonen und unter Beibe­haltung der meisten Siedlungen wollen, sind nicht links und werden keinen Frieden bringen. Diese Art von „Friedens“-Grup­pen sind viel schwächer, als sie vor der zweiten Intifada waren. Das liegt an dem Traumge­bilde einer „Pax Americana“ im Na­hen Osten, das sie der israelischen Öffent­­lichkeit verkaufen wollten – ein Traum­­gebilde, das ihnen nun auf die Füße ge­fallen ist. Wir arbeiten eng mit Anti-Be­satzungsgruppen wie Gush Shalom, Taa­yush, Coalition of Women for Peace zu­sammen. Die Zahl dieser Gruppen ist seit der zweiten Intifada stark gestiegen.

FA!: Hier hört man meist nur etwas über die Hamas oder die Fatah. Gibt es auf paläs­ti­nensischer Seite linke Gruppen, die dem Na­tio­nalismus der Fatah oder dem Isla­mismus der Hamas etwas entgegen­setzen, habt ihr da Kontakte?

Y.: Wir arbeiten nicht mit Parteien zu­sammen, also auch nicht mit Hamas oder Fatah. Unsere Arbeit läuft vor allem über die Kommitees in den Dörfern, wo die gan­­zen Familien vertreten sind, aber na­tür­lich auch Vertreter der Parteien – oft Leu­te von der Fatah, auch von kleinen lin­ken Parteien. Es sind auch Hamas-Leute da­bei, mit denen wir dann auch zusam­men­­arbeiten. Es gibt auch Unterschiede zwi­schen den Parteimitgliedern in den Dör­­fern und der Führung der Hamas. Wir wer­­den als Israelis akzeptiert – die Basis ist, dass wir gewaltfreie Aktionen gegen die Be­­set­zung machen. Die Hamas-Leute ar­bei­ten natürlich nicht so gern mit Israelis zu­sammen, aber wenn sonst alle dafür sind, widersprechen sie auch nicht. Wir sel­­ber schließen keinen aus – wir sind auch nicht in der Position, jemand ausschließen zu können.

FA!: Gibt es auch palästinensische Anar­chis­tInnen?

Y.: Wenige. Es gibt Leute auf palästinen­sischer Seite, mit denen wir eng zusam­men­­arbeiten, aber die sehen sich nicht un­be­dingt als AnarchistInnen. Wir haben auch eine gute Zusammenarbeit mit paläs­tinen­sischen Marxisten, Trotzkisten usw. Wir haben Kontakt zu Anarchisten im Liba­non und versuchen, mit anderen anar­chis­tischen Gruppen im Nahen Osten Kon­takte zu knüpfen.

FA!: Und wie würdest du die Hamas beurteilen?

Y.: Die ist mir natürlich nicht so sympathisch. Aber Fakt ist, dass die Hamas anfangs sehr von Israel unterstützt wurde, ähnlich wie die Taliban durch die USA. Die Hamas hat keine Waffen bekommen, wurde aber politisch unterstützt. Man wollte sie als Gegenpol zur PLO stärken, weil man dachte, die Islamisten wären besser zu kontrollieren. Die Hamas ist antiimpe­rialistisch, antiwestlich, sie macht auch viel sozia­le Arbeit, und sie ist sicher weniger korrupt als die Fatah. In gewisser Weise haben sie sich auch mit der Demo­kratie abgefunden – sie akzeptieren, dass Wah­len nicht gegen den Islam sind. Sie akzep­tieren die Demokratie, weil sie ihnen nützt. Wenn es nur die Wahl zwischen Hamas und Fatah gibt, ist es schwer, sich zu entscheiden. Die Hamas will einen islamischen Staat, in dem Schwule, Frauen, Juden usw. unterdrückt werden. Aber die Fatah würde Palästina zur Freihandelszone machen, was auch auf Ausbeutung und Unterdrückung hinaus­läuft. Wir gehen damit so um, dass wir nicht mit den Parteien kooperieren, sondern mit den Leuten an der Basis.

FA!: Ihr seid wegen eurer Arbeit starker Repression ausgesetzt, Prozessen usw. Wie ist da die Lage?

Y.: Die Repression gegen uns findet vor allem bei den Demonstrationen statt, bei denen regelmäßig Gummigeschosse einge­setzt werden. Viele von uns wurden schon angeschossen, haben Kopfverletzungen davongetragen und mitunter immer noch mit den Folgen zu kämpfen. Das ist härter als bei Demonstrationen hier in Deutsch­land. Andererseits werden bei uns seltener Verfahren eröffnet, wenn man festge­nommen wird. Ich wurde schon zehnmal verhaftet, andere zwanzig oder dreißig mal. Meist wird man am selben Tag wieder freigelassen. Wenn es Verfahren gibt, dann Monate später. Zur Zeit laufen 70-80 Verfahren. Man muss dazu sagen, wir sind etwa 200 Leuten, also sind fast 50% betroffen. Das ist hart, aber es gibt auch viel Solidarität und Spenden, so dass wir die Anwaltskosten zahlen und weiter­machen können. Das Problem besteht aber weiter.

(justus)

Mehr Informationen zur Arbeit der Gruppe und Spendenmöglichkeiten findet ihr unter: xttp://www.awalls.org

Kleine Schritte, große Sprünge – Anarchie als Alltag

Interview mit Horst Stowasser zur Situation der libertären Bewegung in der BRD

Horst Stowasser, Jahrgang 1951, fand in seiner Jugend in Argentinien zum Anar­chismus und lebt heute als freier Journalist in Neustadt an der Weinstraße. In seinen Publikationen befasst er sich mit dem Thema Anarchismus in Ge­schichte und Gegenwart. Im Frühjahr diesen Jahres veröffentlichte er zwei neue Bücher: „Anti-Aging für die Anarchie“ sowie „Anarchie!“, das erst kürzlich auf Platz 1 der deutschen Sachbuch-Besten­liste stand. Derzeit engagiert er sich beim Aufbau eines generationsübergreifenden Wohn- und Lebensprojektes (www.eil­hardshof.de) in Neustadt.

Feierabend!: Herr Stowasser, was sagen Sie zum Wetter aktuell?

Horst Stowasser (HS): Das Wetter passt zur Situation der libertären Bewegung in Deutschland…

FA!: Können Sie das näher beschreiben?

HS: …etwas triste aber mit der Aussicht auf Besserung. Wir bleiben beim „Du“, ja?

FA!: Wie würdest Du die Aussichten auf Besserung beschreiben?

HS: Ja, wollen wir mal von der Metapher mit dem Wetter wegkommen. Ich glaube, dass die meisten Probleme der Libertären hausgemacht sind, selbst gemacht, selbst verschuldet. Als ich ein junger Libertärer war, da war es immer der böse Klassen­feind und die Polizei, die schuld an allem waren. Und heute sind es die Faschos oder die Prekarität. Aber ich finde, dass unsere Bewegung viel zu sehr im eigenen Saft schmort, auf sich selbst bezogen ist, sich selbst reflektiert, sich gegenseitig kritisiert und sich dadurch im Laufe der Zeit so ein richtig bequemes Insidernest ge­schaffen hat, aus dem sie nicht raus kommt. In manchen Szenen glaube ich, auch gar nicht raus will.

FA!: Ja, womit glaubst Du hängt diese Auf-Sich-Selbst-Bezogenheit zusammen? Ist das theorieimmanent oder hat es sich so entwickelt aus praktischen Engpässen, die passiert sind?

HS: Es ist in der Theorie mit Sicherheit nicht so angelegt, denn der Anarchismus ist – bzw. es gibt ja nicht den Anarchismus – aber sagen wir mal: der „Mainstream-Anarchismus, ist ja eigentlich eine Idee, die sich nichts weniger auf die Fahnen geschrieben hat, als die Gesellschaft, die ganze Gesellschaft zu verändern. Dagegen ist diese Rückbeziehung auf sich selbst, die Nabelschau, das Kultivieren von immer perfekter ausgedachten Verhaltens­weisen, szenespezifischen Sprachen oder sonstigen Ritualen eigentlich ein Zeichen der Schwäche, der Isolierung – und zwar schon immer. Das war historisch in den anar­chistischen Bewegungen nach großen Niederlagen und Einbrüchen so, ein Symptom der Rat­losigkeit. Bei­spiels­­weise nach der Pariser Kom­mune, die Phase des indi­vi­duellen Ter­rors, der in eine Sack­gasse führte. Es hat 20, fast 30 Jahre gedauert, bis sich danach wieder etwas Kon­s­truktives wie der Anar­cho­­syndi­kalismus heraus­bilden konnte. Der hat dann tat­säch­lich inner­halb von wenigen Jahren in einem er­sten großen Ex­peri­ment mit Millionen Men­schen gezeigt, dass es funk­tio­niert. Nach dem Krieg allerdings war der Anar­chis­mus praktisch am Boden, de facto völlig aus­gerottet, zu­mindest in Deut­schland.

Aber es gab auch Länder, in denen der Anarchismus ganz normaler Alltags­bestandteil von Gen­erationen gewesen war, von vielen Men­schen, nicht von ein paar Tausend, ich rede jetzt mal von Hundert­tausenden oder Millionen. Das hinterlässt natürlich Spuren in Gesellschaft und Kultur. Wenn ich heute in Italien oder Frankreich oder Spanien über Anarchismus rede, dann ist das etwa so, wie wenn man hier über Sozial­demokratie oder die Evangelische Kirche redet. Der Anar­chismus hatte in solchen Phasen immer etwas „Normales“, er war verwurzelt und zwar nicht nur ideen­geschichtlich sondern auch sozial-prak­tisch, d.h. er hat es verstanden, lebendige Dinge erschaffen, die im alltäglichen Leben der Menschen eine Bedeutung hatten. Also ganz kon­krete Dinge, so dass die Chance bestand, auch diejenigen Menschen für anar­chistische oder anar­chische Struk­turen zu begeistern, die sich theoretisch selbst nicht als Anarchisten bezeichnen würden.

FA!: Überhaupt diese Bezeichnung „Anarchismus“, was würdest Du eigent­lich darunter verstehen? Inwiefern kenn­zeichnet das eine Art von anderer sozial­istischer Bewegung oder Theorie als die der Marxisten?

HS: Also, die bewussten Anarchisten, die sich selbst so nennen, das sind ja Über­zeugungs­menschen, und da gibt’s für die meisten eine ganz einfache Formel: A=S+F, heißt Anarchismus gleich Sozialismus plus Freiheit. Und das ist genau der springende Punkt, ganz vereinfacht: Dem autoritären Sozialismus fehlt das freiheitliche Element oder anders ausgedrückt, das Vertrauen in die Selbstverwaltungskräfte der Men­schen. Der klassische Marxismus – es gibt natürlich auch ein paar nette libertäre Marxisten darunter – aber der „Main­stream-Marxist“ glaubt, er wüsste die ganze Wahrheit und müsste die Menschen zwangsbeglücken. Die Menschen sind noch nicht reif, also werden sie halt reif gemacht. Das ist selbstverständlich ein unfreiheitlicher Ansatz.

Trotzdem gibt es natürlich auch eine große Deckungsmenge in den sozialen Pro­jektionen. Der Anarchismus ist ja schließ­lich auch eine soziale Bewegung, und nicht nur eine andere Lebens­philosophie. Er will ja auch die Wirtschaft zum Beispiel völlig auf den Kopf stellen, die Ökologie und viele andere Dinge anders anpacken, die natürlich auch dringend einer radi­kalen Wende bedürfen – und zwar unabhängig davon, ob die Anarchisten nun gerade eine attraktive Idee haben oder nicht.

FA!: Allerdings will der Marxismus auch eine komplette gesellschaftliche Umwälzung vonstatten gehen lassen.

HS: Einspruch… also komplett ja eben nicht, weil es nach der marxistischen Theorie nach wie vor klare Hierarchien geben wird. Und die Frage der Hier­archien hängt wiederum sehr stark mit wirtschaftlichen Strukturen zusammen. Ich glaube auch nicht, dass man ein wirklich sozialistisches Wirtschaftssystem durch Zentralisierung hinkriegen kann, das muss dezentral laufen, um die Menschen dahin zu bekommen, dass sie Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ent­wickeln und freiwillig anders leben wollen. Das ist der Schlüssel.

Man sagt oft, die anarchistische Utopie ist ja ganz nett, aber im Ganzen ist es Spinnerei, zu naiv gedacht, denn wir bräuchten dafür einen völlig neuen Menschen. Aber das entspricht überhaupt nicht der Dialektik des Anarchismus, die im Grunde sagt: Indem wir virulente Projekte schaffen, in denen die Menschen in kleinen Schritten die Angst verlieren, den Respekt vorm Staat, gewinnen sie gleichzeitig das Vertrauen in die eigene Kraft.

FA!: Also ist eine Umwälzung im anar­chistischen Sinne eine Umwälzung der kleinen Schritte?

HS: So sehe ich das zumindest. Was ja nicht heißt, dass natürlich in bestimmten Momenten auch eine Revolution im um­stürzlerischen Sinne gebraucht wird. Aber das, was man gemeinhin unter Revolution versteht, ist ein Miß­ver­ständnis, ein semantisches. Die meisten Leute verstehen unter Revolution Bar­rikaden­bau und Pulverdampf. Das darf man nicht mit der eigentlichen Re­volution verwechseln. Die Revolution, die Umwälzung, ist immer ein Prozess, der kleine Schritte und große Sprünge macht.

FA!: Welche Bedeutung nimmt im diesem Zusammenhang das Lieblingskind der Anarchisten ein, die Spanische Revolution 1936-39?

HS: Wenn wir diese „Revolution“ mal genau betrachten, die hat ja nicht erst 1936 stattgefunden, das ist ein Märchen. Das Ganze hat mindestens 20 Jahre vorher angefangen. Die Vorarbeit, die da geleistet wurde, diese kleinen Schritte, haben den Erfolg erst möglich gemacht. Dass eine revolutionäre Situation bestand, dafür konnten die Anarchisten am wenigsten. Die Faschisten haben ja schließlich geputscht. Hätten die Anarchisten einfach nur gesagt: Wir sind in der Lage, diesen Putsch militärisch niederzuschlagen; dann hätte es vielleicht eine Woche gedauert und der Atem wäre aus gewesen. Aber die Leute hatten sich 20 Jahre auf die Revolution vorbereitet. Wie übernehme ich eine Fabrik? Wie manage ich den Warenfluss? Geldfluss, Import, Export, Ressourcen?

Die Arbeiter hatten wirklich Betriebs­wirtschaft gebüffelt. Das ist sicher nicht so spektakulär wie Barrikadenkämpfe aber notwendiger Teil einer richtigen sozialen Revolution. Und das hatte im Umkehr­schluss zur Folge, dass die Menschen plötzlich massenweise, millionenweise gesagt haben: OK, da machen wir mit, das ist besser als was anderes, wir vertrauen den Anarchisten. Es ist ein Mythos, dass das alles Anarchisten waren. Die Mil­lionen, das waren viele Mitläufer, aber Mitläufer im positiven Sinn, die wurden nicht gezwungen. Und das ist der Unter­schied …

FA!: Also da hatte der Anarchismus eine gewisse Integrativkraft entwickelt. Wie ist das eigentlich heute?

HS: Der Anarchismus hatte eine At­traktivität, weil die Menschen, die sich so bezeichneten, Schulen und Kindergärten bauten, Lebensmittelkooperativen hatten, Streiks führen konnten und die Fabriken besetzt haben. Denen glaubte man halt einfach, dass sie auch die Gesellschaft besser „managen“ würden als der Staat. Wenn ich dagegen sage, Anarchisten, das sind Menschen, die machen eine tolle Zeitung wie den Feierabend! und organi­sieren so ein nettes Ladenlokal wie die Libelle, dann hätte auch ich wohl meine Zweifel, ob sie deswegen beispielsweise auch ganz Leipzig managen könnten. Soweit zu kommen, das ist ein Prozess, der braucht seine Zeit. Das ist natürlich auch eine Frage der Selbstdarstellung nach außen.

FA!: Und wie würde das allgemein heute aussehen, gibt’s da überhaupt Möglichkeiten? Du hast ja auch immer wieder Kritik an der „Versumpfung“ in der Subkultur formuliert?

HS: Die Frage ist die, was wollen wir denn erreichen? Wollen wir diese Gesellschaft revolutionieren, wollen wir Millionen Menschen ansprechen oder wollen wir im Schmollwinkel sitzen und sagen, ihr seid alle Spießer, wir sind besser, ihr könnt uns mal den Buckel runterrutschen, wir schaffen uns hier unseren Freiraum. Das ist ohne Zweifel legitim, aber um die Frage zu beantworten: Selbstverständlich gibt es solche Möglichkeiten, ich kenne auch eine ganze Reihe davon, die sind nur nicht so spektakulär …

Also ich bin ja ein Anarchist, der eher dazu neigt zu sagen: Ich finde das, was der Anarchismus zu einem Thema sagt, eine tolle Idee, aber lasst es uns erstmal ausprobieren. Ja und manchmal sind die Ideen dann gar nicht so toll und phan­tastisch, zumindest die Aus­führungs­bestimmungen, die daran hängen. Man muss immer testen: Verbessere ich eine Idee oder begehe ich mit der Verbesserung Verrat am Grundsätzlichen, an der Substanz? Das ist immer ein heikler Weg, aber man sollte offen sein und un­dog­matisch. Von daher ist der Anarchismus wie eine lebendige Wundertüte und ich hoffe, die wird er auch noch lange bleiben.

FA!: Ok, vielen Dank für das Gespräch, super Sache …

(u.a. k.rotte)

Muscha heißt Beschützer

– Porträt eines als Kind von den Deutschen verfolgten Sinto –

Ich war bereits zwölf Jahre alt und konnte mehr verstehen, als die Erwachsenen glaubten. Nur eines konnte ich nicht verstehen, warum die Menschen so dumm sind, um Kriege zu führen und sich selbst zu vernichten. Das hatte doch der liebe Gott bei der Erschaffung des Menschen bestimmt nicht gewollt. Die Tiere ermorden sich ja auch nicht massenweise. Solche Gedanken kommen einem, wenn man einsam in einem Zimmer ausharren muss.

Mein Zimmer wurde nun nicht mehr bewacht und verschlossen und angebunden war ich auch nicht mehr. Das war auch nicht nötig, denn für eine Flucht wäre ich viel zu langsam gewesen. Auch hatte ich immer noch ganz schöne Schmerzen im Bauch und in den Beinen. Natürlich bekam ich auch Besuch. Mutti und Vati kamen getrennt zu den Besuchszeiten.

Eines Tages, vielleicht war es auch in der Nacht, standen plötzlich Fremde in meinem Zimmer, um mich abzuholen. Einen Pfleger erkannte ich wieder. Es war der Mann, der mir vor der Operation die Bauchfusseln abrasiert hatte. Er sagte mir, ich solle ganz leise sein, nicht sprechen und nur das tun, was man mir sage. Neben der Tür stand noch ein Mann, den ich schon einmal bei meinen Eltern gesehen hatte. Es war Onkel Peter. In der Tat ging ich auch freiwillig mit ihnen mit. Es wurde nicht gesprochen. Nur durch Zeichen verständigten sie sich.

Später habe ich erfahren, dass der SS-Mann Bartelt meine Eltern davor gewarnt hatte, dass man mich nach der Operation in das KZ Bergen-Belsen bringen wollte. Dort hätte ich in meinem Alter niemals überlebt. Die sozialdemokratischen Widerstandskämpfer wussten das und setzten alles auf eine Karte, um mein Leben zu retten. Diese Menschen bezeichnete man mir gegenüber als Angehörige des Roten Kreuzes. Jedenfalls brachte man mich an den Goldberg in der Nähe von Halle, wo man mich in einem Gartenhäuschen versteckte. “

(aus dem Buch: „Und weinen darf ich auch nicht…Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – Eine Kindheit in Deutschland“, 2002)

Ein Kinder-Leben

Am 6. Januar 1932 wurde Josef Muscha Müller in Bitter­feld geboren und es sollte 54 Jahre dauern, bis er dort auf eine Spur seiner Herkunft stieß. Doch eins nach dem anderen: Er konnte noch nicht ganz alleine laufen, da holten Otto und Minna Hinz, die von Königsberg nach Halle gekommen waren, wo sie sich weiterhin im kommunistischen und sozialdemokratischen Spektrum bewegten, den Kleinen aus dem Kinderheim in Grölwitz bei Halle und nahmen ihn in Pflege. Obwohl Sinti-Kinder nicht adoptiert werden durften, arrangierte eine Frau vom Jugendamt diese Rettung. Später sollten noch andere Rettungen folgen, denn Muscha zählte als „Zigeuner“ in Nazi-Deutschland zum „unwerten Leben“. 1940 wurde er von der Berliner „rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ registriert. In der Schule wurde er vom Lehrer und den Mitschülern gedemütigt und misshandelt und noch Ende 1944 von einem Dr. Rothmaler sterilisiert. Bei einer späteren Konfrontation mit dem Arzt sollte dieser dazu bemerken: „Und das was ich getan habe, habe ich getan für das deutsche Volk!“

Vom Krankenhaus aus sollte das Kind in das KZ Bergen-Belsen verschleppt werden, der Widerstandskreis der Eltern konnte ihn jedoch davor bewahren, indem sie ihn bis Kriegsende versteckt hielten. Dabei kam es nach mehreren Gestapo-Verhören zum Suizid eines der widerständigen Aufpasser, „Onkel Peter“, der verhindern wollte, dass er selbst das Versteck preisgibt. Nach der Befreiung klärten die Eltern ihn über seine Herkunft auf und rieten ihm gleichzeitig, nicht über sie zu sprechen, da sie weiterhin eine Rassenverfolgung in Deutschland befürchteten.

Erst 1986 sollte der damals 54-jährige jedoch bei einem Besuch in Bitterfeld zufällig von seinem Taufnamen „Muscha“ erfahren, eine Nonne zeigte ihm die Kirchenbücher, in denen noch ein weiterer Name auftauchte: Vinzenz Rose Müller – wahrscheinlich ein Zwillingsbruder, ein Stück Hoffnung auf ein Stück Familie. Leider fand er ihn aber bis heute nicht. Ein in den 50ern gescheiterter Adoptionsversuch eines kleinen Jungen durch Muscha und seine Frau verstärkte zusätzlich sein lebenslang wiederkehrenden Gefühl der Einsamkeit.

Doch der inzwischen 74-jährige hat eine Berufung: Kinder. In einer Berliner Kinderpsychiatrie arbeitete er als Pädagoge, auch nach der Rente noch ehrenamtlich. Er geht aber auch in Kindergärten und Schulen, um aus seiner Kindheit zu erzählen. Dabei veranstaltet er immer eine Art Rollenspiel, bei dem er sich selbst und die anderen in bestimmte Situationen bringt und verschiedene Personen dargestellt werden, selbst in die Haut seiner Peiniger schlüpft Muscha.

Diesen Stil benutzte er auch kürzlich auf zwei Veranstaltungen der „Zeitzeugengespräche“ in Jena und Leipzig, für die er als „Ersatz“ für den erkrankten Hugo Höllenreiner eingesprungen war. Weniger glücklich verliefen leider die Mobilisierung und inhaltliche Vorbereitung zu dieser Reihe. Für die ca. 50 BesucherInnen war die sicher ungewohnte Art der Wissensvermittlung nichts desto trotz sehr aufschlussreich, da die Perspektive eines Kindes erfahrbar werden konnte. Vor der Leipziger Veranstaltung am 2. Juni bekam ich freundlicherweise die Gelegenheit, ein Gespräch bzw. Interview mit Muscha zu führen, das nun hier in Teilen zu lesen sein wird. Am Ende des Abends sagte Muscha, und das bedeutet „Beschützer“: „Ich bitte euch von ganzem Herzen, lasst so was nie wieder zu, wenn ihr davon erfahrt. Kämpft dagegen an, wenn man gegen wehrlose Kinder vorgeht.“

Interview

FA!: Bist du eigentlich inzwischen als Verfolgter anerkannt?

Ja, ich bin anerkannter „Verfolgter des Nazi-Regimes“, nach 30 Jahren Kampf. Ich war in der DDR seit 1947 anerkannt, als jüngstes verfolgtes Kind. Und dann wollte ich die Überschreibung im Westen haben, die habe ich nicht bekommen. Ich war als junger Mann in deinem Alter in einem Prozess, da sagte die Richterin zu mir: „Verschwinden sie sofort, sie sind kein Verfolgter!“ Und ich wollte etwas sagen. – „Halten sie ihren Mund und sie fliegen raus hier! Und wer ist eigentlich die Dame?“ – „Na ja, meine Begleitung.“ Sie war Journalistin, das habe ich der aber nicht gesagt. Aber in ihrem Artikel bei der taz ging es knallhart gegen das Gericht. Später bin ich mit Hans-Joachim Vogel und so zusammen gekommen, das waren also SPD-Leute. Die sagten: „Das kann doch nicht wahr sein!“ – „Es ist aber Tatsache, ich habe das auch schriftlich, dass ich nicht anerkannt wurde.“ Und da haben sie im Abgeordnetenhaus einen Beschluss gefasst und haben die Gesetzgebung zur Anerkennung geändert. Und als die Mauer wegging, wurde ich auf einmal anerkannt. Aber eine Entschädigung habe ich nie bekommen. Na ja, ich habe gut verdient. „Und eine Rentensache?“ – „Ja, das könnten wir eventuell machen. Aber nicht so, wie die jüdischen Verfolgten!“ Ich habe in Hamburg, aber auch in Amerika die Sinti und Roma vertreten, in Polen zum Weltkongress, um wenigstens etwas zu kriegen.

FA!: Konntest du nach dem Krieg mit deinen Pflegeeltern über die Geschehnisse sprechen?

Na ja, am Anfang habe ich natürlich gefragt, warum der – sag ich jetzt mal – Neger, wir kannten keinen anderen Ausdruck dafür, zu mir gesagt hat: „Jetzt bist du frei, du schwarzer Zigeuner.“ – „Was ist ein Zigeuner?“, fragte ich. Und da haben sie mich erst mal aufgeklärt und mir gesagt, dass sie nicht meine Eltern sind. Da habe ich natürlich einen vollen Schock gekriegt und wollte es nicht glauben und habe geschrien. Erst später habe ich das richtig begriffen, als sie es mir wieder gesagt haben: „Deine Eltern sind nicht mehr da.“ Sie konnten mir nicht sagen, ob sie tot sind. Aber sie waren auch noch nicht verfolgt worden, denn das war ja erst 1932, die Machtübernahme war ja später.

FA!: Habt ihr auch über den Widerstand gesprochen?

Ja, es kam öfter mal zu Gesprächen. Da hatte ich doch z.B. mal in einer Weinkammer gestöbert und Flugblätter gefunden. Und da habe ich dann gefragt: „Ich kann mich erinnern, wie ihr gemeckert habt, weil ich die Flugblätter gefunden habe. Warum waren die denn da drin?“ Das ist eine Frage von einem 12-jährigen Kind. Dann hat der Vater gesagt: „Pass mal auf: Wir haben dir doch immer erzählt, dass die Kollegen, die da immer kamen, Sportkameraden sind. Das waren aber keine Sportkameraden, das waren Kameraden des Widerstandes.“ Und dann hat man mir auch erklärt, was der Widerstand war, wer die Nazis waren. „Du hast doch gesehen, wenn sich die HJ mit dem Kommunistischen Jugendverband geprügelt haben. Und da war ein Widerstand auch zwischen den Erwachsenen gegen die Nazis.“

Die Sache mit der Sterilisation kam so: Ich bin total verknallt gewesen und bin zum Papa gegangen und habe gesagt: „Du, ich hab da ´ne dufte Mieze und wir wollen heiraten. Und da hat er gesagt: „Was willst du machen?“ – „Na heiraten, wie du, ganz einfach.“ – „Sag mal, weißt du, wieso du damals im Krankenhaus warst?“ – „Was hat denn das damit zu tun?“ – „Da bist du doch operiert worden.“ – „Ja, am Blinddarm.“ – „Schau doch mal nach, ob das stimmt.“ – „Wieso?“ – „Mein Junge, du sollst dir das mit dem Heiraten überlegen, du bist sterilisiert worden. Und die Ehe ging damals auseinander denn sie wollte dann zuletzt doch ein Kind haben. Das war eine schwierige Situation für Sterilisierte. Von den Frauen, die man sterilisierte, haben sehr viele Selbstmord begangen. Die haben auch teilweise heftigere Schmerzen gehabt als Männer und die psychische Belastung haben sie einfach nicht überwunden. Ich habe es eben durch mein Aufgabengebiet überwunden – nicht ganz, es kommt immer wieder zum Vorschein. „Da, guck mal, das ist eine Familie.“ Ich sehe in ihnen meine Familie, ob er das ist, oder du das bist. Ich sehe es nur so, aber es ist nicht meine Familie. Oder an Weihnachten, wenn andere feiern, dann sitzen wir beide alleine da, die Müllerin und ich, immer alleine. Wo werden wir denn eingeladen? Dadurch, dass ich ein bisschen bekannt geworden bin, habe ich natürlich einen Kreis, aber ich bin eben ein Sinto.

FA!: Ich habe noch eine grundsätzliche Frage: Was ist für dich Rassismus?

Die größte Schweinerei, die es überhaupt gibt. Wir sind nur ein Planet, ein Planet. Es gibt eine wunderbare Tierwelt, eine wunderbare Vegetation, aber einen unberechenbaren Menschen, der auf dem Planeten ist und es wird ihn auch immer wieder geben.

Also, ich würde mir wünschen, dass es dahin geht, dass alle Menschen gleich sind egal welcher Hautfarbe, egal, welcher politischen Einstellung, sie darf nur nicht kriegerisch sein. Wir müssen alle einfach gleich sein, so wie wir geschaffen wurden, so sollten wir bleiben.

FA!: Aber wie kommt man denn da hin? Wie kann man dem Rassismus begegnen?

Ich weiß es nicht. Wenn der Mensch selbst es nicht will, er würde es vielleicht schaffen, aber er will es nicht. Schon ist der Unterschied da, der Nachbar ist der Türke, „Das sind die Türken, die sind ja ein dreckiges Volk!“, so geht das wieder los bei uns in Berlin. Oder vorhin: da habe ich meinen Spaß gemacht mit denen, die nur schwarze Klamotten tragen. Aber ich habe nicht gesehen, dass die irgendwie feindlich sind oder dass ich eine Abneigung gegen sie habe. Warum soll ich auch eine Abneigung haben, wenn ich überhaupt nicht weiß, was das für Menschen sind, was die überhaupt machen. Wenn das überall so wäre, dann könnte man sagen, es ist gut so, das ist der Planet des Friedens. Aber er ist es nicht.

FA!: Es ist ja eigentlich auch eine antifaschistische Tätigkeit, wenn man in die Schulen geht, so wie du das machst, so anschaulich und intensiv – wie reagieren die Kinder auf dieses Thema?

Also, ich muss sagen, die Kinder haben sehr gut reagiert. Das liegt aber daran, dass die das spielen. Manchmal hat das auch mit Erwachsenen geklappt. Die Kinder haben mir Briefe geschrieben, ich sollte wiederkommen, alles in der BRD hauptsächlich. Ich bin Stamm-Zeitzeuge an vielen Schulen. Das läuft ganz gut, jedenfalls besser, als ich es erwartet hatte. Die Kinder empfinden das richtig, manchmal habe ich Szenen erlebt, da haben sie so geweint, dass ich aufgehört habe, zu erzählen. Das ist so: ich trete dann auch irgendwie weg, ich bin in dem Moment dann nicht mehr da. Ich erlebe das noch einmal. Deswegen kommen dann auch immer wieder einmal diese Gefühlsausbrüche zum Vorschein, dass ich auf einmal nicht mehr sprechen kann und gegen die Tränen ankämpfe, denn das tut weh.

FA!: Du machst aber immer noch weiter?

Na ja, pass mal auf, mit 35 Jahren ist man ja schon ein bisschen langsam… Dass ich hier bin, ich wurde ja angerufen und habe Ja gesagt. „Du musst doch ein Ding am Koppe haben, wie kannst du denn das so auf die Schnelle machen?“ Das wird langsam zuviel, das ist schon anstrengend. […]

Ich gehe auch zu den Baptisten und mache da Kinderstunden. Also, das, was ich noch kann. Meine Frau ist gehbehindert, daran muss ich auch denken. Ich habe auch gesagt: „Müllerin, ich glaube, es wird das letzte mal sein.“ Es ist praktisch wie ein Abschied.

„Vom Rand her schrumpfen“

Fritjof Mothes im Interview

Fritjof Mothes, geboren 1970, innerhalb des Vereins für Nutzerbetreuung und Eigentümerberatung zuständig, ist Stadt- und Regionalplaner, Mitherausgeber der „Leipziger Blätter“ und einer der Initiativgeber zur Gründung von HausHalten e.V. sowie Vorstandsmitglied.

FA!: Sie sind von Beruf Stadt- und Regionalplaner, wie kam es zur Idee, zum Verein HausHalten und wann?

Fritjof Mothes: Als Stadtplaner produziert man ja viel Papier, nur an der Umsetzung ha­­pert es meistens. Wir wollten 2003 mal pro­­bieren, ob man das Konzept der Stadt­teilplanung für den Leipziger Westen auch in die Tat umsetzen kann. Damals haben wir uns pro Haus nur eine Person vorgestellt, die dort lebt und arbeitet. Letzt­end­lich hat sich ein Team aus Beteiligten, welche sich aus diesen Zusammen­hängen kannte, zusammengefunden mit dem Ziel, ein praktisches Beispiel zu schaffen und zu sehen, ob das tragfähig ist.

FA!: In knapp 4 Jahren von einer lokalen Initiative zu einem staatlich gefördertem Kompetenzzentrum. Sind sie zufrieden mit den Fortschritten des Vereins? Werden ihnen Steine in den Weg gelegt?

FM: Wir sind von der Resonanz, vor allem von der Nachfrage, was Interessenten für die Nutzung der Gebäude betrifft, über­­rascht. Wir hatten schon Zweifel, ins­be­­­­­­­­son­­­dere als wir im letzten Jahr den Schritt in den Osten getan haben, wo wir mit der Ludwigstraße und der Eisenbahn­stra­­ße zwei Häuser haben, die sehr groß sind. Aber auch dort hatten wir nach we­nig­­­­­en Besichtigungen das Haus quasi voll. Nur manch­mal hatten wir Schwierigkeiten, die Eigentümer zu überzeugen, weil die sich unter dem Konzept nichts vor­stel­­l­­­­en konnten. Generell können wir uns über mangelnde Unterstützung nicht be­schwe­­r­­en. Problematisch ist eher, dass wir als kleiner Verein mit rund zehn Mitgliedern mit den Kapazitäten an die Grenzen stoßen.

FA!: Das Wächterhaus-Konzept ist eigentlich unabhängig vom Interesse der Stadt, be­vor­­zugt die Substanz an vorhandenen Grün­der­häusern zu erhalten. Warum also stehen ge­rade diese Häuser im Zentrum der Aktivi­tä­ten des Vereins und können Sie sich vorstellen, dass etwa auch Plattenbauten bspw. in Grünau als „Wächterhäuser“ fungieren?

FM: Grundsätzlich orientieren wir uns da­nach, dass wir bewusst nicht in Stadtteile wie Südvorstadt oder Connewitz gehen, die es auf dem Immobilienmarkt leich­ter ha­ben. Wir glauben, dass sich da auch nor­male Investoren zur Genüge finden. Wir ge­hen ganz bewusst in die Stadtteile, wo wir Probleme sehen, wie bei­spiels­­­weise im Leip­ziger Osten und Westen. Man kon­nte vor einigen Jahren nicht sagen, dass Lin­denau jetzt der hippeste Stadt­teil ist. Wir hatten Anfangs in einem Haus in der Dem­meringstraße auch durch­aus eine hohe Fluktuation, weil Bewohn­er wieder zu­­rück nach Connewitz ge­zogen sind, da ihnen der Stadtteil nicht kre­ativ und hip ge­­nug war, das hat sich mitt­ler­weile geän­dert. Wir glauben, dass das durchaus ein Bau­stein ist, dass Wächter­häuser sich in­zwi­schen dort auch konzentrieren. Mitt­ler­­weile gibt es dort meh­re­re, die sich gegen­­seitig befruchten und Ge­gen­den, die vor­her eben nicht so ange­sagt waren, mit in den Fokus rücken. Zur Aus­wahl der Ge­bäu­de kann ich nur sagen: Unser Hauptziel ist es, die his­torisch­en, das Stadtbild prä­­gen­den Gebäude zu hal­ten und für Leip­­zig über die Zeit zu ret­ten. Wir gehen ganz bewusst nicht nach Grün­au, weil wir der Überzeugung sind, dass wir es dort mit einem erheblichen Leer­stand zu tun ha­ben und natürlich auch sehen, dass es Ge­­biete und Wohnungs­­­­überhänge geben wird, die abgebaut wer­den müssen. Und da sagen wir: den his­torischen, urbanen Kern zu behalten ist wich­tig. Das heißt auch, dass wenn man schon schrumpft, man vom Rand her schrumpft.

FA!: Es ist aber vorstellbar, dass der Verein etwa in Reudnitz oder Neustadt/Schönefeld Häuser übernimmt?

FM: Wir sind da dran und wenn sich Partner finden, sowohl auf Eigentümerseite als auch bei den Nutzern, dann werden wir das auch angehen. Uns ist es allerdings wichtig, besonders die den Stadtteil prägenden Gebäude anzugehen und das sind vor allem die Eckgebäude an den Haupt­ver­kehrsstraßen. Ich glaube, das kann man ja an der allgemeinen Sanierungsent­wick­lung sehen, dass sich die ruhigen Seitenstraßen oft von ganz alleine entwickeln, aber sich an den Hauptverkehrsstraßen, die das Bild der Stadt ganz besonders prägen, die Probleme konzentrieren. Das ist unser Hauptbetätigungsfeld. Da befinden wir uns übrigens vollkommen im Einklang mit den Stadtentwicklungszielen der Stadt Leipzig. Da arbeiten wir eigentlich Hand in Hand und haben auch keine gegen­sätzlichen Auffassungen.

FA!: Der Verein bildet ja einen runden Tisch der Interessen. Neben denen des Eigentümers und der Stadt sollen auch die NutzerInnen-Interessen eine Rolle spielen. Wie deckt sich die Arbeit im Verein mit ihren Idealvorstel­lungen von Stadtentwicklung insbesondere in Bezug auf die soziale Entwicklung von Quartier und Milieu?

FM: Unser Ansatz verfolgt mehrere As­pek­­­te, das ist zum Ersten der bereits er­wähn­­­te Substanzerhalt. Der Zweite ist, dass dort Stadtteile belebt werden sollen. Aber wir wollen auch ganz bewusst jene un­­ter­stützen, die es auf dem klassischen Markt schwer haben. Das bedeutet ei­ner­seits, Räumlichkeiten zu bieten für Kreative, Künstler, für soziale Initiativen, die oft auch am Anfang stehen. Manche haben vor ihrem Einzug nur auf dem Papier ex­­istiert, weil sie sagten: „Wir können nicht arbeiten, wenn wir keine Räume haben.“ Wir bieten zu sehr günstigen Kon­­­ditionen die Räume, aber auch Zeit – aufgrund dessen weil es nicht so teuer ist – zu probieren und sich zu entwickeln. Das Andere, was uns auch sehr wichtig ist, ist für Existenzgründer Möglichkeiten zu bieten. Wir haben mehrere kleine Büros, zum Beispiel ein Grafikbüro, oder eine Sei­fen­siederei, die es sich überhaupt nicht hät­ten erlauben können, sich eine klassische Einheit irgendwo auf dem regulären Markt zu mieten, aber sich jetzt ausprobie­ren können und vielleicht irgendwann so­weit entwickeln, dass sie damit auch Geld verdienen können und sich in den normalen Wirtschaftskreislauf einbringen.

FA!: Wenn sich nun viele soziale Vereine für ein leerstehendes Ladenlokal bewerben würden, wie würden sie entscheiden, wem sie den Vorzug geben?

FM: Wir machen mehrere Besichtigungen und meistens fügt es sich dann, dass sich im Prinzip so ein oder zwei be­son­ders sinnvolle für den Laden zusamm­en­finden. Dann sehen wir, was uns auch im Zusammenspiel mit den anderen Nut­zern am sinnvollsten erscheint und dann ver­suchen wir auch relativ schnell, die Nut­­zer im Haus gemeinsam entscheiden zu lassen, was dort sinnvoll ist. Weil die Nut­­z­ungen sich ja auch vertragen müssen, also wenn auch mal wo länger Musik ge­spielt wird, passt das nicht, wenn da­run­­ter etwa ein Yogakurs gemacht wird. Das ist immer ein sehr diffiziler, spannender und einzelfallbezogener Prozess.

FA!: Inwieweit hilft und berät der Verein bei der Planung und Finanzierung der NutzerInnen-Interessen?

FM: Im Grundsatz sind die Leute für ihr Kon­zept selbst zuständig, wir hoffen – und das hat bisher auch immer geklappt – dass es innerhalb des Hauses eine Mischung gibt und die sich gegenseitig helfen können. Zum Beispiel funktioniert in­zwi­sch­en auch die Kommunikation zwischen den Wäch­terhäusern ganz gut. Das betrifft nicht nur Nutzerkonzepte, sondern auch bau­liche Sachen, weil am Anfang der Ausbau dominiert – die Häuser sind ja teil­weise in nicht gerade berauschendem Zustand. Wir sehen es aber nicht so sehr als unsere Aufgabe an, dort inhaltliche Unter­stützung zu geben, das ist in anderen Städten ganz anders. Wie jetzt in Halle oder auch in Chemnitz, wo ein Verein die Wäch­terhäuser etablieren will. Dort will der Verein die Kreativen auch in den in­halt­lichen Konzepten unterstützen, das ist hier in Leipzig nicht so sehr das Thema.

FA!: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Inte­gration der Nutzungsinitiativen der „Wäch­ter“ mit ihrer nach­bar­schaft­lichen Um­gebung/ihrem Milieu?

FM: Unterschiedlich. Ich habe den Eindruck im Gespräch mit den Nutzern, dass die Akzeptanz steigt und man sich auch damit auseinandersetzt, was hier im Stadtteil passiert. Ich glaube, dass es wichtig ist, für eine gewisse Offenheit einzustehen, das ist der positive Aspekt. Auf der an­deren Seite ist es aber auch so – und da­für gibt es auch ein, zwei Beispiele – dass wenn Abends mal Party ist und das nicht unbedingt Konzept des Ladens war, dass sich Leute gestört fühlen, wenn da Leute auf der Straße stehen mit ’ner Bierflasche und drinnen Musik kommt. Da gibt’s dann auch mal Nachbar­schaftskon­flikte, wo wir dann wieder dran sind und gucken müssen, das im Zaum zu halten, zu vermitteln und die Nutzer aufzufordern, sich an die Regeln zu halten. Man kann eben nicht bis 24 Uhr Techno spielen, wenn ein anderes Konzept eigentlich vereinbart war.

FA!: Ziel des Vereins ist es ja, irgendwann aus der Betreuung der Wächterhäuser auszu­stei­gen, sie sozusagen in die „Selbstbestimmung“ zu entlassen. Bisher ist das nur mit dem Wäch­terhaus in der Kuhturmstraße gelung­en. Was waren hier die besonderen Umstände, die dies er­mög­lichten? Und werden bald weitere „Wächterhäuser“ diesem Beispiel folgen?

FM: Grundsätzlich ist es so, dass wir eine Art Durchlauferhitzer sind. Unser Ziel ist es, eben nicht unendlich viele Wächterhäu­ser zu haben, sondern es geht darum, die Nut­zergemeinschaften so zu bilden, dass sie irgendwann in die Selbständigkeit ent­lassen werden können. Dass das bei der Kuh­turm­straße gut funktioniert hat, liegt da­ran, dass es in diesem Haus nur wenige Nut­zer gibt, so drei oder vier an der Zahl, die sich unter­einander sehr gut kennen, und auf der anderen Seite haben wir eine Ei­gen­tümerin, die selbst Leipzigerin ist, mit der wir sehr gut zusammenarbeiten und eng verbunden sind, also eine Ver­trau­ensbasis da ist. Bei den anderen Häusern ist es grundsätzlich ein bisschen kompli­­­zierter, weil es einfach sehr viel mehr Nutzer gibt und das Verfah­ren ja so ist, dass wir als Verein mit dem Haus­ei­gen­­tümer eine ‚Gestattungsverein­ba­rung Haus’ auf der einen Seite treffen und auf der anderen mehrere ‚Ge­stat­tungs­­ver­ein­ba­r­ungen Raum’ mit den Nut­zern. Wenn nun die Nutzer eines Hauses sich zu einer Ge­mein­schaft zusammen­schlie­ßen und statt mehrerer nur noch einen Vertrag mit uns haben als Zwischenstufe und dann die­ser eine Vertrag mit dem Eigentümer di­rekt zusammengeführt wird, da können wir uns dann herausziehen. Und das ist na­tür­lich in einem Haus, wo es zehn verschie­dene Nutzer gibt, sehr viel kom­pli­zierter als in einem kleinen Haus wie in der Kuhturmstraße. Wir haben jetzt auch zwei Häuser, wo wir uns vor­stellen können, dass das sehr bald der Fall sein wird. Man darf aber auch nicht ver­gessen, dass die Eigentümer auch froh sind, einen seriösen „Puffer“ zwischen den Nutzern und sich selbst zu haben.

FA!: Hoffen sie denn, dass sich der Verein durch positive Entwicklung eines Tages selber überflüssig machen könnte?

FM: Ja, wir sehen das Projekt ‚Wächterhäuser’ bewusst als temporär. Wir glauben oder erhoffen, dass wenn man sich die Sanierungsentwicklung in Leipzig anschaut und auch die weniger wertvollen Häuser, die diese extremen Probleme haben, dass man uns in zehn Jahren nicht mehr braucht, weil dann dieses Problem der geflickten Häuser hoffentlich weitgehend befriedigt ist. Wir sind gerade dabei – das wird unser Schwerpunkt in nächster Zeit sein – dieses Modell in andere Städte zu exportieren; der andere Schwerpunkt ist es, das Modell weiter zu entwickeln, uns zu überlegen, ob es nicht auch andere Varianten des Hauserhaltes gibt. Da werden wir schauen, ob es gerade für Kleinstädte, wo die Probleme ja noch viel, viel größer sind als in Leipzig, noch weitere Modelle gibt und uns dann darauf konzentrieren in Zukunft.

FA!: Vielen Dank für das Interview.

bonz

„Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden“

Interview mit einem Medinetz-Aktivisten in Leipzig

Am 07.06. belebte eine kleine aber feine Demo die Leipziger Innenstadt und die Eisenbahnstraße. Circa 120 Aktivist_innen, die vorwiegend  in den bundesweit verstreuten Medinetzen aktiv sind, informierten und sensibilisierten dort die Öffentlichkeit für ihre Arbeit, die Situation der Menschen ohne Papiere in Deutschland und ihre Forderungen nach Veränderung. Zuvor trafen sie sich ein Wochenende lang zu ihrem dritten Vernetzungstreffen in der G16 in Leipzig, um sich auszutauschen, gemeinsame politische Standpunkte zu finden und die bundesweite Vernetzung voranzutreiben. Feierabend! sprach mit einem Aktivisten aus Leipzig über die konkrete Medinetz-Arbeit, Hintergründe, Organisation und Anspruch: 

PRAXIS & RECHT

FA!: Hallo. Du bist ja einer der Aktiven im Leipziger Medinetz. Was macht ihr dort eigentlich konkret?
Unsere Arbeit orientiert sich hauptsächlich in zwei Richtungen: Zum einen organisieren wir medizinische Versorgung für Menschen, die keinen Aufenthaltsstatus haben, und zum zweiten versuchen wir politisch dahingehend zu arbeiten, dass sich ihre rechtliche Situation verbessert. Die rein praktische Arbeit nimmt momentan die meiste Zeit in Anspruch. Wir hatten bisher 13 Patientinnen und Patienten und haben u.a. eine Operation organisiert.

FA!: Wie funktioniert eure Arbeit, also die medizinische Versorgung der illegalisierten Migrant_innen, konkret?
Wir haben vor unserem wöchentlichen Plenum jeden Dienstag von 16-18 Uhr unsere Sprechstunde in den Räumen des Eurient e.V.. Je nachdem, was der oder die Patientin dann braucht, schicken wir sie direkt zu Spezialisten oder zum Allgemeinarzt. Da wir uns keine Differentialdiagnose zutrauen – also wenn z.B. jemand mit Bauchschmerzen kommt – gucken wir unsere Karteikarten durch, wen wir von den Fachmedizinern ansprechen können, rufen dann an und vermitteln gleich einen Termin. Wenn es gewünscht ist auch mit Begleitung. Dann organisieren wir in der Regel noch Dolmetscher oder Dolmetscherinnen, weil es meistens etwas schwierig mit der Kommunikation ist. Das heißt, wir selber behandeln überhaupt nicht, sondern vermitteln! Das ist auch unser Anspruch: Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden. Wir wollen nicht so ein Parallelsystem etablieren, wo die Leute dann „Hinterhofmedizin“ bekommen, sondern wir wollen richtig für die Leute das, was ein Mensch der hier legal lebt, auch bekommen würde.

FA!: Warum ist es für Menschen ohne Papiere denn so schwierig medizinisch adäquat versorgt zu werden?
Das ärztliche Personal ist ja vor die Aufgabe gestellt, das Geld zu bekommen für die medizinische Dienstleistung, die sie erbringen. Weil die Menschen aber mittellos sind und keine Krankenversicherung haben, ist eigentlich rein rechtlich das Sozialamt für sie zuständig. Das heißt, die Menschen gehen zum Arzt, geben ihre Personalien ab, der Arzt bzw. das Verwaltungspersonal schickt dann die persönlichen Daten zum Sozialamt und bittet um die Rückerstattung der Kosten. Das Sozialamt ist rein rechtlich verpflichtet die Kosten zu  übernehmen. Nach § 4 und § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes müssen sie Akutbehandlung, Schmerzbehandlung, schwangerschaftsbegleitende Maßnahmen und Maßnahmen, die zum Erhalt der Gesundheit notwendig sind, finanzieren. Das Problem ist, dass das Sozialamt verpflichtet ist, die Daten an die Ausländerbehörde weiter zu geben. Und die Ausländerbehörde ist natürlich daran interessiert diese Menschen zu finden und „rückzuführen“, so nennen die das. Und das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Leute erst dann zum Arzt gehen, wenn die Abschiebung nicht mehr schlimmer ist, als die Krankheit. Und das ist natürlich ganz schön krass.

FA!: Und ihr hintergeht quasi diese Übermittlungsverpflichtung des Sozialamtes an die Ausländerbehörde, indem ihr die Ärzte überredet, sie anonym zu behandeln? Bekommen die dann das Geld von euch?
Ja, der Kern ist dieser § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Und das ist auch das, was wir alle abgeschafft haben wollen – wo sich auch alle Medinetze einig sind. Weil diese Übermittlungspflicht verhindert, dass die Menschen ihre Personalien angeben können. Deswegen haben wir zu den Ärzten gesagt: „Wir möchten sie bitten diese Menschen zu behandeln, ohne dass sie die Personalien aufnehmen. Führen sie die Patienten unter einem Synonym“. So kann der Patient unter einer Kartei geführt werden und der Arzt soll uns dann die Rechnung schicken. Aber in vielen Fällen bekommen wir auch gar keine Rechnung, da machen die Ärzte das dann einfach kostenlos.

FA!: Setzen sich die Ärzte eigentlich rechtlich betrachtet irgendeiner Gefahr aus, wenn sie die Illegalisierten behandeln?
Nee, gar nicht. Denn Ärzte haben zum einen eine Schweigepflicht, d.h. sie dürfen gar nicht über das reden, was sie machen. Und sie sind zum anderen zu ärztlicher Hilfe verpflichtet. Also wenn ein Mensch mit Behandlungsbedarf zum Arzt kommt, dann muss der Arzt auch helfen. D.h. sie machen sich auf gar keinen Fall strafbar. Aber da gibt es auch noch viel Aufklärungsbedarf. Viele Ärzte denken, das ist „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“. Das ist der sog. Schlepperparagraph des Aufenthaltgesetzes, wo es heißt, dass wenn ein Mensch seinen illegalen Aufenthalt in Deutschland von der Hilfe eines anderen Menschen abhängig macht, dann macht sich dieser Andere strafbar und wird mit 3-5 Jahren Freiheitsentzug bestraft. Das ist eine ziemlich krasse Regelung. Das heißt aber konkret, wenn du einem Menschen deinen Pullover schenkst oder 10€ gibst, reicht das nicht aus, aber wenn du ihn bei dir wohnen lässt oder regelmäßig finanziell unterstützt, wird das bestraft. Das gilt aber nicht für Angehörige humanitärer Berufe, also für ärztliche Dienstleistung, für Sozialarbeiter und karitative Geschichten – also auch für uns. Das ist ganz interessant, denn die NPD in Dresden hat mal die dortige Medinetzgruppe angezeigt wegen „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“ – aber ist natürlich nicht durchgekommen.

ORGANISATION &THEORIE

FA!: Wie viele Leute seid ihr eigentlich in der Leipziger Kerngruppe, die das Ganze organisieren?
Na, ich sag mal so 10-15, die ziemlich aktiv sind und noch mal 10-15 im Umfeld, die immer mal aktiv werden. Wir sind im Vergleich zu anderen Städten eigentlich ziemlich viele.
Und dann haben wir zurzeit ungefähr einen Stamm von 25-30 in Leipzig niedergelassenen Ärzten. Die haben wir bekommen, indem wir 2009 über 1000 Ärzte angeschrieben haben.

FA!: Und wie lange gibt es das Leipziger Netzwerk schon?
Wir haben uns Anfang des Jahres 2009 zusammengefunden, das Gründungsdatum ist irgendwann im Februar. Es gab vorher eine Leipziger IPPNW Gruppe von den Medizinstudenten der Universität Leipzig. Das steht für International Physicians for the Prevention of the Nuclear War, auf deutsch: Ärzte in sozialer Verantwortung – frei übersetzt.  Die hatten sich vor 1990 zum Ziel gesetzt den Atomkrieg zu verhindern. Nach der Wende haben sie sich andere Aufgabenbereiche gesucht, u.a. die Abschaffung der Atomenergie zur Zivilnutzung und auch humanitäre Geschichten. Und die Leipziger IPPNW-Gruppe hat dann Ende des Jahres 2008 über eine Person, die aus dem Hamburger Medinetz gekommen ist und den Studienort gewechselt hat, erfahren, dass es so was wie ein Medinetz gibt und dass das in anderen Städten schon praktiziert wird. Ja ,und dann wollten sie das hier auch machen und haben sich als kleiner Kreis zusammengefunden. Daraufhin hat sich die bisherige IPPNW-Gruppe aufgelöst und ist zum Medinetz geworden. Mitte letzten Jahres hat sich dann auch wieder eine IPPNW-Gruppe gefunden. D.h. es gibt jetzt beides in Leipzig.

FA!: Wie seid ihr organisiert und wie finanziert ihr eure Arbeit?
Also wir sind auf jeden Fall völlig hierarchiefrei organisiert, auch wenn wir so was wie einen Vorstand und eine Kassenwärtin haben. Wir treffen uns 1x die Woche zum Plenum und besprechen dort alles was anliegt. Wir haben  immer ein paar Menschen die sich um die Stiftungen, ein paar die sich um die Finanzen und ein paar Menschen die sich um Presse kümmern. Es gibt also schon eine Arbeitsteilung, aber im Prinzip machen diejenigen die Lust und Zeit haben die Aufgaben die anfallen.
Das meiste Geld das wir haben, bekommen wir von Stiftungen. Eine andere Einnahmequelle sind Mitgliedsbeiträge, jeder von uns zahlt im Jahr 10€ ein. Dann kann man bei uns Spendenmitglied werden oder auch einfach so spenden – dafür bekommt man auch eine Spendenquittung, weil wir ein gemeinnütziger Verein sind. Und wir organisieren hin und wieder Soli-Partys, Cocktail-Bars und so’n Zeug.

FA!: Du hast vorhin gemeint, das eine ist die praktische Arbeit die ihr macht, was du ja jetzt auch ausführlich beschrieben hast, der andere Teil ist die politische Arbeit. Kannst du letzteres mal noch näher ausführen?
Ja, zur politischen Arbeit gehört v.a. Aufklärungsarbeit. Erstens versuchen wir die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, zweitens versuchen wir den Ärzten klar zu machen, dass sie sich in keinster Weise strafbar machen, drittens versuchen wir den Sozialämtern klar zu machen, dass sie verpflichtet sind zur Übernahme der Kosten, und zum vierten versuchen wir bundesweit politisch zu arbeiten. Wobei wir da noch ganz in den Kinderschuhen stecken: Wir versuchen gerade die Medinetze untereinander zu vernetzen und eine Kampagnenfähigkeit hinzubekommen, um dann so Ziele wie die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes durchzusetzen oder die Einführung des anonymen Krankenscheins [siehe Kasten].

FA!: Was ist die Motivation hinter eurem Engagement? Warum hast du z.B. beschlossen beim Medinetz mitzumachen und was ist generell euer Anspruch, also was kritisiert ihr an den bestehenden Verhältnissen?
Zumindest bei mir und vielen anderen Leuten die hier dabei sind, besteht ein recht radikaler Anspruch, nämlich dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat und dass jeder Mensch die absolute Bewegungsfreiheit genießen sollte. Jeder sollte selber seinen Aufenthaltsort, seinen Arbeitsbereich, seine Lebensumstände frei wählen können und daran versuchen mit zu arbeiten. Ich bin auch dafür, dass die Grenzen geöffnet werden, dass die Menschen hier her können. Denn Deutschland hat in seiner Position in den letzten Jahrhunderten eigentlich daran mitgewirkt, dass in den Ländern der sog. „Dritten Welt“ so ein Mangelzustand entsteht, so dass die Menschen dort einfach nicht mehr leben wollen oder können. Auch jetzt noch z.B. durch diese Freihandelsabkommen [siehe FA! 37, Anm.d. Red.]. Wir verschlechtern die Situation dort einfach dermaßen, dass die Menschen nur noch weg wollen – und dann hindern wir sie daran. In meinen Augen besteht da ein ganz großes Unrecht und ich versuche einfach im Rahmen meiner Möglichkeiten einen Ausgleich zu schaffen. Und ich finde den Gedanken, dass ein Mensch verletzt ist und keine medizinische Versorgung bekommt, unerträglich. Egal was das für ein Mensch ist.

FA!: Ist dein politischer Anspruch auch ein Konsens innerhalb des Leipziger Medinetzes? Was habt ihr in eurem Selbstverständnis diesbezüglich festgehalten?
Naja, Konsens würde ich jetzt so nicht sagen. Die Meinungen gehen da schon auseinander. Aber ich glaube, die meisten würden das schon mit unterstützen. Was wir alle ganz zentral fordern, ist die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Dann fordern wir als Leipziger Medinetz das Recht auf adäquate, gleichwertige medizinische Versorgung für jeden Menschen, Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Aufenthaltsortes.

FA!: Wie kann man sich das Medinetzwerk bundesweit vorstellen? Was existiert da an Strukturen, wie viele Medinetze gibt es da?
Also meinem Wissen nach sind es 22 Medinetze, die auch in allen größeren Städten Deutschlands vertreten sind. Das erste Medibüro wurde 1994 in Hamburg gegründet, gefolgt 1995 vom Medinetz Berlin. Die sind total heterogen strukturiert. Ich glaube, meistens sind sie auch hierarchiefrei organisiert. Aber in Freiburg sind es fast ausschließlich Ärzte, die das organisieren, in Hamburg meist Geisteswissenschaftler und hier v.a. Medizinstudenten – also sehr gemischt. Diese Anlaufstellen tragen auch überall andere Namen – das muss nicht immer Medinetz heißen. Und wir haben uns in diesem Jahr das dritte Mal in Folge getroffen, dieses Mal hier in Leipzig. Es gab auch eine ziemlich gute Resonanz, es waren genau 100 Leute da. Also ungefähr 5 von jedem Medi-Büro, und das ist schon ziemlich gut.

FA!: Was habt ihr da konkret besprochen und gemacht auf dem diesjährigen Vernetzungstreffen?
Es gab eine Workshop-Reihe, da war zum einen Thema: Schwangerschaft in der Illegalität, Frontex, § 87 des Aufenthaltsgesetzes, Probleme in den Medinetzen usw. Ein großes weiteres Thema war Vernetzung, und da hat sich jetzt herauskristalisiert, dass wir uns eine Kampagnenfähigkeit erarbeiten wollen. Und wir wollen eine gemeinsame Internetplattform aufbauen, wo dann auf einer zentralen Seite alle Medinetze miteinander verlinkt sind. Wir wollen auch einen Reader herausbringen, der inhaltlich und politisch Stellung beziehen soll, den man auch auslegen kann und der für die Öffentlichkeitsarbeit da ist.

FA!: Du hast vorhin erwähnt, dass es da auch politische Differenzen gibt: kannst du noch mal das bundesweite Spannungsfeld oder Spektrum von Medinetz-Aktivist_innen und ihren Positionen darstellen?
Ja, also es gibt Menschen, denen geht es primär um die medizinische Versorgung, also die handeln aus einem humanitären Beweggrund heraus, sind aber nicht daran interessiert die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern. Zumindest nicht so massiv, wie das andere Medinetze wollen. Wir als Leipziger Medinetz stehen da schon deutlich weiter links, weil wir am liebsten die ganze Aufenthaltsgesetzgebung abschaffen wollen und fordern, dass alle Menschen sich überall frei bewegen können. Es gibt aber Medinetze, die dem nicht zustimmen würden, aus welchen Gründen auch immer. Um aber gemeinsam was in die Öffentlichkeit tragen zu können, haben wir uns in langen Diskussionen erstmal auf einen Minimalkonsens geeinigt.

FA!: Kannst du ungefähr sagen, wie viele Aktivist_innen in ganz Deutschland im Medinetzwerk so aktiv sind?
Na, ich denke mal, pro Medinetz kann man ca. 10-15 feste Leute rechnen, macht insgesamt so 200-300 Leute. Plus die Ärzte, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Dolmetscher und alles was noch in dem Umfeld hängt, da kommt man noch auf ganz andere Zahlen. Denn allein in Leipzig arbeiten insgesamt ca. 80 Leute für oder in gewisser Weise mit dem Medinetz. Aber so genau können wir das gar nicht sagen, denn wir erheben keine Studien.

GELEBTE SOLIDARITÄT

FA!: Wie viele der Illegalisierten suchen eure Sprechstunde inzwischen auf?
Ein Knackpunkt ist auch die Frage, wie wir unsere Zielgruppe erreichen. Das ist recht schwierig und tatsächlich auch unser größtes Problem. Wir arbeiten da mit Flyern, die wir an Orten auslegen, wo eine große Dichte an Menschen mit Migrationshintergrund ist. Bisher kommen so ca. 1-2 Menschen im Monat, mit steigender Tendenz. Das liegt natürlich auch daran, dass es unsere Sprechstunde erst seit knapp über einem Jahr gibt. Und es ist natürlich so, wenn die Menschen nichts von uns wissen und kein Vertrauen haben, dann ist erstmal ein sehr verhaltener Zulauf da. Aber das spricht sich auch rum. Wir wissen nicht genau, wie groß der Bedarf ist, aber es wird geschätzt, dass es in Leipzig so ca. 4000-10.000 Menschen ohne Aufenthaltstatus gibt und das wäre natürlich ein immenser Bedarf.

FA!: Die Menschen, die zu euch kommen, leben ja sicherlich schon in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Aber kannst du mal so allgemein erzählen, wie es den illegalisierten Leuten geht, die zu euch kommen – auch unabhängig von ihrer Krankheit? Was kannst du da beobachten?
Also das was sich so durchzieht, ist Verzweiflung. Jahrelang in der Illegalität zu leben, ist eine Situation, die hochgradig depressionsfördernd ist. Der Anteil an Menschen mit psychischen Erkrankungen, von denen die in der Illegalität leben, liegt bei 50% oder so. Und das ist Wahnsinn. Und was ich bei den Menschen beobachte, die ich auch persönlich kennen gelernt habe, ist, dass sie einfach völlig frustriert, verzweifelt und verunsichert sind. Ja, und die meisten sind ziemlich happy, wenn ihnen geholfen wird, da sie oftmals in einer ausweglosen Situation sind. Es erfordert auch Mut sich einer Organisation zuzuwenden, die man jetzt nicht kennt –  also, wenn ich in einem völlig fremden Land wäre, wo ich die Sprache nicht spreche und eine Verletzung oder Krankheit habe, ich würde mir dreimal überlegen, wo ich hingehe. Viele wissen auch gar nicht was wir machen, da steht nur ‚anonyme und kostenlose Behandlung“, aber das kann ja auch ein Fake vom Staat sein. Deshalb sind die Leute am Anfang auch oft zurückhaltend und schüchtern, aber wenn sie merken, dass wir es gut mit ihnen meinen, dann werden sie irgendwann sehr herzlich.

FA!: Kannst du abschließend noch sagen, wie man bei euch mitmachen kann, wo man euch findet und was ihr für die Arbeit gebrauchen könnt?
Ja, wer Interesse hat, uns kennen zu lernen, kann Dienstags 18 Uhr in die Räume des Eurient e.V. kommen (Kurt-Eisner-Str. 44). Dann können wir uns und unsere Arbeit kurz vorstellen und man kann auch beim Plenum mit dabei sein. Das ist meistens ganz spannend, weil man mal einen Einblick kriegt, wie wir so arbeiten. Und wer sich eine aktive Mitarbeit nicht vorstellen kann, der kann uns einmal mit Spenden unterstützen und auch durch z.B. Dolmetschertätigkeiten. Oder wenn jemand einen medizinischen Beruf hat, wie z.B. Hebamme, Krankenschwester, Arzt, Physiotherapeut, Logopäde, Psychotherapeut, wer da irgendwie examiniert ist oder eine abgeschlossene Ausbildung hat, kann sich an uns wenden und sich anbieten, für uns zu arbeiten. Und der oder diejenige wird dann in die Kartei aufgenommen und bei Bedarf angesprochen.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei der weiteren Arbeit sowie dem nächsten Vernetzungstreffen in Mainz 2011.

(momo)

 

Anonymer Krankenschein &  Paragraph 87 des Aufenthaltsgesetzes:

Die bundesweiten Medinetze fordern gemeinsam die Abschaffung des §87 des Aufenthaltsgesetzes und unterstützen die Idee des anonymen Krankenscheines.
Der §87 besagt hauptsächlich, dass alle öffentlichen Stellen verpflichtet sind unverzüglich die Polizei oder zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie Kenntnisse über Menschen ohne rechtlichen Aufenthalttitel erlangen, einen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung (Residenzpflicht) bemerken oder zu Informationen kommen, die einen anderen Ausweisungsgrund betreffen. Seit September 2009 existiert jedoch eine neue Verwaltungsvorschrift, die besagt, dass auch für Verwaltungsangestellte und das Sozialamt der verlängerte Geheimnischutz (ärztliche Schweigepflicht) gilt, so dass diese bei akuten Behandlungen die Daten nicht weitergeben sollten. Leider wird diese Vorschrift bisher noch nicht von den Ämtern umgesetzt.
Im Konzept des „Anonymen Krankenscheines“ gibt es eine öffentliche Anlaufstelle, bei der sich Menschen ohne Aufenthaltstatus melden können. Sie bekommen dann bei Nachweis ihrer Statuslosigkeit, eine anonyme Krankenkarte, wo statt der Personalien ein Code erfasst ist, der auch dem Sozialamt übermittelt wird. Dieses übernimmt dann die Kosten für die medizinische Dienstleistung, da ja eine Person hinter dem Code registriert wurde. Im Berliner Stadtrat wurde die Einführung dessen bereits diskutiert, in Berlin und Hamburg laufen dazu auch Modellprojekte. Auch die Bundesärztekammer fordert die Einführung des anonymen Krankenscheines.

Der Wald bleibt!

Interview mit einer Szene-Aktivistin über Waldbesetzungen und das Camp Lappersfort in Belgien

Am Rande der belgischen Touristenstätte Brügge befindet sich ein Industriegebiet in den Händen der Firma Suez/Fabricom. Nicht ungewöhnlich soweit – doch setzt mensch die Lupe genauer an, so wird neben Fabriken, breiten Straßen, Parkanlagen und Bürokomplexen ein ca. 3,5 ha großer Wald sichtbar. Dieser Wald ist jedoch kein gewöhnlicher, hat er sich doch seinen Platz seit 1960 sukzessive zurück erobert und marode gewordene Fabriken dabei ver­drängt. Doch nicht nur das: Seit September 2008 halten viele Menschen verschiedener Herkunft diesen Wald zum zweiten Mal besetzt und versuchen ihn so vor seiner Rodung zu schützen, da Fabricom seinen Industriekomplex gerne ausweiten würde, obwohl satte 30% der Industriefläche in Brügge leer stehen.Dagegen machen sie mobil, haben Baumhäuser errichtet, leben bedacht in und mit der Natur ohne Elektrizität oder Wasseranschluss und führen direkte Aktionen in ihrer Umgebung durch, um auf die Problematik der kapitalistischen Umweltzerstörung im Allgemeinen und ihr antinationales Camp Lappersfort im Speziel­len aufmerksam zu machen.

Immer wieder gibt es Menschen, die sich aktiv dagegen wehren, dass aus reinem kapitalistischen Profitinteresse immer mehr Natur zerstört und Wälder gerodet werden. In Europa existiert bereits eine Mini-Szene, die an verschiedenen Standorten Wälder durch Besetzung schützen und dort gemein­sam alternative und nachhaltige Lebenswei­sen ausprobieren. Der Feierabend! sprach mit der Szene-Aktivistin else, die seit nunmehr fast 2 Jahren auf verschiedenen sog. „Protest-Sites“ lebt und zuletzt in Lappersfort aktiv war, über die Lebensweise dort, den politischen Anspruch und die Ziele der Waldbesetzungen im Allgemeinen.

FA!: Wie kann man sich das Leben auf einer Protest-Site wie Lappersfort vorstellen? Wie organisiert ihr euch, was macht ihr den ganzen Tag?

Im Grunde sind es zwei Dimensionen: die Kampagne und Aktionen und dann das Zusammenleben und das Alltägliche, Sachen wie Wasser holen, Essen besorgen, Struktu­ren aufbauen – all das soziale Zusammenle­ben eben. Die Leute [je nach Saison und Brisanz leben ca. 8-28 Menschen unter­schied­li­cher Herkunft mit individuell differierender Dauerhaftigkeit in Lappersfort] tun wonach ihnen ist, alles spielt sich aber draußen ab. Wir schlafen in selbst gebauten Baum­häusern, kacken in Kompostklos, essen Sachen die uns z.B. einheimische Bäckereien überlassen oder die wir containern oder finden. Was zu tun gibt es immer und jede_r bringt sich ein wie er/sie will und kann. Es ist auch noch einiges im Wald neu entstan­den, z.B. ein kleiner Garten, eine Schwitz­hütte, eine Fahrradwerkstatt und natürlich ganz wichtig der Feuerplatz bzw. die „Küche“ drumherum – das Zentrum quasi.

FA!: Wie gestaltet sich das Zusam­men­le­ben der Menschen, die dort wohnen oder mal vorbei schauen? Kann man es als „anarchisti­sches Zusammenleben“ begreifen?

Informell, intuitiv, kollektiv und doch individualistisch, das sind so Attribute mit denen man das Zusammenleben beschreiben könnte. Die Leute machen was sie wollen, für richtig halten und was getan werden muss. Das kollektive Zusammenstehen, die Community steht im Mittelpunkt, aber dennoch funktioniert vieles durch individu­elle Entscheidungen, vieles ist nicht formell geregelt aber hier und da diskutiert, im Alltag, es gibt kaum feste Regelungen sondern eher so Sachen wie „nicht mehr Sachen anschleppen als wieder mitgenommen werden“ oder „das Essen abends weg­packen“, common-sense-Sachen. Diese haben sich im Laufe der Zeit entwickelt und zwischendurch immer wieder geändert. Es sind auf jeden Fall nicht Entscheidungen die von oben gefallen sind. Der Anspruch besteht darin ohne Hierarchien, Führer oder etliche Plena zusammen zu leben. Die Leute arbeiten zusammen, wenn sie ein gemeinsa­mes Ziel verfolgen. Insofern kann man das Zusammenleben schon als anarchistisch bezeichnen, auch wenn so einige diese Zuschreibung ablehnen würden. Die Leute dort wollen keine bestimmte Ideologie vertreten und es ist auch nicht notwendig das Zusammenleben in einer politischen Kategorie zu beschreiben.

FA!: Inwiefern geht ihr mit eurem Protest nach außen, was gibt es für Akti­vitäten? Kennt euch die Bevölkerung in der Umge­bung und wie er­reicht ihr sie?

In Lappersfort speziell sind die Beziehungen zu Anwohner_innen relativ gut, es gibt seit Jahren bereits eine laufende, lokale Kampag­ne für den Erhalt dieses speziellen Waldes. Es war auf Initiative von Ortsansässigen hin, dass der Wald besetzt wurde, und wenn diese Unterstützung und Zustimmung erst einmal da sind, braucht es vor allem das „in Kontakt bleiben“ und „sich auf dem Laufenden halten“. Wir haben und halten ganz guten Kontakt zu einigen Nachbarn und Leuten in der Stadt, die uns unterstützen bzw. wo wir uns gegenseitig helfen. Ansonsten versuchen wir relativ viel Öffentlich­keits­ar­­beit zu machen, mit Transparenten, Flyern und Infoständen in der Stadt und auf dem Markt, um zu zeigen, was mit den Wäldern in Belgien passiert. Aber wir machen auch Sachen wie ein offenes Café oder Kletterkurse und laden Kinder und Familien und Men­schen allgemein in den Wald ein. Wir haben auch eine eigene kleine Zeitung gebastelt, eine Internetseite gemacht [lappers­fort.freehostia.com], aber auch Aktionen, wie das Stürmen von Büros oder Demos etc. Allerdings ist es natürlich schon so, dass damit nicht jede_r erreicht wird. Ist ja klar, gerade in Brügge gibt es auch ziemlich viele ignorante Leute, die mit dem Status Quo zufrieden sind.

FA!: Was wollt ihr mit eurem Protest erreichen, was sind die Ziele? Wie lange werdet ihr ausharren?

Das ist sicherlich für Jede_n verschieden, aber generell kann man sagen, dass wir alle mit der Besetzung in Lappersfort zum einen die Pläne der Rodung und Bebauung stoppen, fürs erste, mit der Option, dass mit dem Aufschieben vielleicht das ganze von Fabricom geplante Projekt gekippt wird und der Wald als Wald erhalten bleibt. Vor allem wird aber erstmal Aufmerksamkeit erzeugt für die Problematik. In Lap­­pers­fort verteidigen wir konkret einen ganz bestimm­ten Wald, der jedoch auch symbolisch für hunderte und tausende andere bedrohte Wälder steht. Dadurch, dass wir im Wald sind, werden wiederum andere Menschen angezogen die das interessiert, nicht nur Aktivist_innen, sondern auch Ortsansässige. Und die lokalen Initiativen gewinnen dadurch wieder mehr Auftrieb und Perspek­ti­ven. Es ist aber speziell in Lappersfort schon so, dass verschiedene Leute auch verschiedene Forderungen vertreten, wie z.B. generell: keine weiteren Waldrodungen, sondern Wiederaufforstung oder gar Flächen einfach als Wälder wieder wachsen lassen, wilde Flächen wild lassen und mehr Flächen wieder wild wachsen lassen. Außerdem steht für viele generell die Idee der Community im Mittelpunkt, ein kollektives Schaffen und eine DIY-Attitüde, selbst Verantwortung übernehmen ganz praktisch. Und Leute näher an die Natur und Wildnis heranbrin­gen und dazu bringen, neue alternative Wege zu suchen. Auf jeden Fall aber werden wir so lange bleiben, bis die Kampagne entweder erfolgreich war und der Wald gerettet, oder wir gewaltsam geräumt werden.

FA!: Wie ist der aktuelle Stand der Dinge? Wie reagieren Unternehmen und Stadt auf den Protest?

Die Stadt Brügge ist sehr konservativ und würde uns am liebsten aus dem Wald heraus haben. Der Bürgermeister sitzt bei Fabricom, dem Eigentümer des Geländes und Baupla­ner, im Vorstand, der würde den Wald gern gerodet und bebaut sehen. Die Polizei ist auch sehr repressiv, es gab eine Reihe von Verhaftungen außerhalb des Camps, um uns einzuschüchtern, bspw. wurden zweimal Leute wegen Containern für bis zu zwei Wochen ins Gefängnis gesperrt. Bis zum 30.11.2009 gibt es allerdings gerade eine Art „Waffenstillstand“, der zwischen uns, der Stadt und Fabricom ausgehandelt wurde. Danach kann es aber durchaus passieren, dass Lappersfort gewaltsam geräumt wird!

FA!: Gibt es eigentlich viele Protest-Sites wie Lappersfort?

Ich weiß momentan von drei weiteren, alle in Großbritannien: Bilston Glen bei Edin­burgh, Titnore Woods bei Brighton und seit kurzem Mainshill Woods in South Lanark­shire. In den 90er Jahren hingegen gab es viele Protest-Sites dieser Art mit massenhaft Leuten, die vor allem gegen den Bau weiterer Straßen gerichtet war­en, was für einige Zeit sogar den Regierungskurs in puncto Stra­ßen­­bau beeinflusst hat. Letztes Jahr gab es noch zwei weitere Sites, eine ist nach nur sechs Wochen geräumt, die andere ist nach 9 Jah­ren und einem erfolgreichen Ende verlassen und der Natur über­lassen worden. Auch in Deutschland gab es schon einige ähnliche Geschichten, z.B. die Waldbesetzung um den Frankfurter Flughafen herum, wo bis heute der Protest anhält, wenn auch abge­schwächt. Außerdem gibt es Proteste in Holland, Polen und Frankreich, oder bspw. die Feldbesetzungen auf Gentechnik-Feldern oder den Widerstand ganzer Dörfer gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitszu­ges TAV in Italien und Spanien.

FA!: Sind die ähnlich organisiert oder gibt es wesentliche Unterschiede?

Die Taktiken und wie bspw. das Camp aussieht, sind natürlich verschieden. So sind z.B. die Camps im Baskenland noch viel kurzweiliger weil sie immer schnell geräumt werden. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten, wie die Prinzipien der Organisierung, des Widerstandes gegen geltende Gesetze und der Pläne von oben. Oft hängt viel mehr davon ab, welche Individuen dort leben – wofür sie kämpfen, welche Strategien sie nutzen und welche Protest- und Gruppendy­na­mik im allgemeinen dort entsteht – und weniger in welchem Land es überhaupt ist.

FA!: Kann man da überall einfach vorbeikom­men und mitmachen?

Ja, auf jeden Fall!

FA!: Wie gestaltet sich der Austausch zwischen den Camps? Woher wisst ihr wenn anderswo geräumt wird, wie reagiert ihr darauf?

Viel läuft über persönlichen Austausch und informelle Netzwerke. So einige Leute reisen viel umher, verbreiten Informationen, wir versuchen Neuigkeiten auch über das Internet zu verbreiten, aber vieles ist einfach auch Mund-zu-Mund-Propaganda. Wenn es eine größere Bedrohung gibt, z.B. eine bevorstehende Räumung, gibt es Alarm über diese bestehenden Kanäle und dann wird unterstützt, d.h. wer kann und will, geht hin. Wobei natürlich eine Räumung oft relativ unerwartet kommt. Es wäre cool wenn wir mehr wären… das ganze kann dann sogar noch viel stärker sein!

FA!: Der Protest richtet sich ja in erster Linie gegen die Umweltauswirkungen im Kapitalis­mus, sprich die Rodung von Wäldern um bspw. Industrieviertel oder einen Tagebau zu errichten. Inwiefern geht der Protest über Umweltziele hinaus? Wie weit geht eure Kapitalismuskritik?

Auch wenn nicht Jede_r, der auf einer Protest-Site lebt, unbedingt antikapitalis­tisch eingestellt ist (wie gesagt, wir sind keine homogene Masse), gilt das in gewisser Weise schon für die meisten. Doch selten wird das konkret formuliert: Der (scheinbare) Bedarf an so viel Platz für Industrie und allem was Profit macht, ist ja erst im Kapitalismus so groß geworden und die massenhaften Waldrodungen von einem Großteil Europas sind ja in diesem Zusammenhang auch schon viel früher passiert. Wir kämpfen einfach für freie und natürliche Flächen, wo Menschen auch lernen, sich zu entwickeln und verschiedene Formen des Zusammenlebens ausprobieren können. Mit dieser Lebenswei­se stehen wir nicht außerhalb der Gesell­schaft, sondern sind offen und interagieren mit der Außenwelt.

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Durchhaltevermögen und Erfolg bei eurem Protest!

(momo)

übelst schlecht versteckt

the upsetter im Interview

Ein Abend in der Stadt. Im Auftrag der Neugier finden sich Frau Sch. und Frau Sch. im herbstlich-kalten Schleußig wieder. Die Mis­sion: Aufklärung des Leipziger Blätterwaldes. Der Interview­ter­min mit Matti vom „Society-Magazine“ the upsetter hat kurzfristig noch ge­klappt. Es ist mollig gemütlich im Hin­ter­zimmer des Schlechten Ver­stecks, der „Hauptzentrale“ des upsetters wie sich herausstellt. Die Ver­hörlampe wabert in der Ecke. Die Stunden verfliegen, während das generalstabsmäßig geplante Interview immer mehr ins freie Gespräch driftet. Mit je­dem Zug neigt sich das Bier. Abschweifend wer­den die Frager zu Befragten. Langsam aber zielstrebig füllt sich der Aschenbecher von drei Seiten. Sie sprechen über das Schreiben an der Front des künstlerischen Journalismus, über das Leben im All­ge­mei­nen und die Zukunft kleiner Druckerzeugnisse im Speziellen.

Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da und das gesprochene will in das geschriebene Wort übersetzt werden. Doch auf zwei Seiten Feierabend! muss ein Inhalt passen, der auch 10 Seiten einnehmen könnte. Was muss rein, was kann raus? Sollen wir die zeitliche Abfolge beibehalten? Wo liegen thematische Schwerpunkte? Wie übersetzt man Worte, die ihre Bedeutung nicht aus dem Inhalt, sondern aus dem Hauch ihrer Äußerung beziehen? Wir wissen es auch nicht so genau. Aber eins ist sicher: Zeitung wird gemacht! Es geht voran!

Wie bist du auf den Namen the upsetter gekommen?

In Granada – immer noch meine Lieb­lings­stadt – da gibt es einen Club, der heißt the upsetter. Das ist ein Flamenco-Club, wo sonst nicht viel los ist, außer dass Spanier Bier und Wein trinken. Aber manchmal gibt es halt Flamenco-Konzerte und ich war auf einem dabei, wo El Nino, der Godfather of Flamenco gesungen hat. Ein ganz alter Mann, so 70 Jahre, der saß da mit einem Stock auf seinem Stuhl und hat übelst Flamenco gesungen total leidenschaftlich. Irgendwie war das ein Erlebnis, das mich berührt hat und dann hab ich gedacht, meine Zeitung soll der upsetter heißen. Weil, wenn man jemanden upsettet, dann regt man ihn auf oder berührt ihn. Dann hab ich aber herausgefunden, dass ich das niemals schützen kann, weil es den upsetter schon gibt – als Zeitung sogar. Das ist ein Reggae Magazine. Kennt ihr Lee „Scratch“ Perry? Der hat dieses Wort „the upsetter“ eigentlich geprägt. Es gibt sogar einen Song und auch einen Film die so heißen. Furchtbar!

Im aktuellen upsetter stellen unterschiedliche Autoren diverse Kneipen in Linde­nau vor und erzählen dabei recht gruselige Geschichten. Meinst du, dass diese Bilder allgemein dem von Lindenau entsprechen oder dass du damit einigen Menschen aus dem Herzen sprichst?

Ich denke schon. Viele Leute tragen mir sogar noch mehr Geschichten zu. Naja, es ist schon sehr klischeehaft aber ich hab einfach nur wiedergegeben, was mir die Leute erzählt haben. Ich habe in der letzten Ausgabe auch versucht, einen neutralen Beobachtungspunkt einzunehmen, obwohl ich natürlich die Ironie nicht verheimlichen kann. Aber was da drin steht über diese Kneipen in Lin­denau, das wurde mir genau so erzählt. Ich hab mich kurz als jemand geoutet, der interessiert ist am kulturellen Lindenauer Leben und die ganzen Klischees und Vorurteile und Geschichten wurden mir so unglaublich bestätigt. Ich habe nichts dazu erfunden und ich glaube schon, dass ich vielen Leuten aus dem Herzen spreche.

Aber praktisch gehen die Autoren schon direkt in die Kneipen?

Ja natürlich. Aber langsam wird es auch langweilig Kneipenrecherchen zu machen. Man geht halt nur hin, um irgendwelche Anekdoten aufzusaugen und wartet nur darauf, dass irgendein Scheiß passiert. In manchen Kneipen passiert dann aber genau das Gegenteil, wie zum Beispiel in „Die 20“ auf der Industriestraße. Ich hab auch gedacht nur Säufer anzutreffen aber letztlich waren es sehr nette und angenehme Leute. Die haben mich rumgeführt durch die Kneipe und die ganze Geschichte erzählt. Und auch im „Lady Luck“ bin ich mit der Kneiperin sehr gut ins Gespräch gekommen. Seitdem grüßt sie sich mich immer.

Die Nr. 9 wird mit einem Zitat von Hunter S. Thompson eingeführt: „Wenn die Verhältnisse irre werden, werden Irre zu Profis“…

Ja, er war schon eine große Inspirationsquelle für mich. Man kann diesen Gonzo-Journalismus nicht nachahmen und eigentlich war er auch ein ziemliches Arschloch. Ich habe mal seine Biografie gelesen, den immer verehrt. Weil er einfach so wild war und sich nichts von niemanden sagen lassen hat. Dann hab ich darüber gelesen, dass er seine Frau geschlagen hat und da war es vorbei. Er hat mich aber sehr zu diesem Stil hingeführt. Meine eigentliche Inspiration war aber die „Vice“. Das ist so `nen kostenloses Hoch­glanz­magazin, finanziert sich nur über Werbung und ist in Klamottenläden zu finden. Und die schreiben so richtig derbe Scheiße. Die sind politisch dermaßen inkorrekt, dass es zum Himmel stinkt. Das ist aber irgend­wie lustig. Es hat mich so gefläscht, dass ich gedacht habe, das muss ich auch machen. In den ersten Ausgaben wollte ich so vulgär wie möglich schreiben, um die Leute so richtig zu schockieren und aufzuregen, auch wenn sie mich mit Scheiße be­schmeißen, dann ist das genau, was ich will.

Was wir in the upsetter gelesen haben, hat uns eher erheitert und unseren Sinn für Ironie und Sarkasmus völlig getroffen, gar nicht so vulgär.

Ja, ich bin von dem Credo irgendwie abgekommen, weil meine größte Kritikerin mich vor die Frage gestellt hat, was es mir bringt, jemandem sinnlos ins Maul zu hauen. Und es bringt dir überhaupt nichts. Es gab irgendwann so eine Zeit, als der upsetter populär war. Die Leute haben mich bedrängt, „Wann kommt denn der Neue raus?“ Die haben sich nur darüber amüsiert, wenn ich andere Leute beleidigt habe. Sie wollten möglichst schlimme Geschichten über schlimme Leute, die scheiße sind. Ja und davon bin ich halt abgekommen, denn das hat dann nichts mehr mit Kunst zu tun.

Welchen Anspruch hast du?

Der Raum der Kunst wird weiter. Es war irgendwie zu wenig, nur den Ansprüchen gerecht zu werden, die die Leute, denen es gefällt, so haben. Ich möchte mehr Texte drin haben, die literarisch sind. Auch Freunde von mir haben aufgrund des upsetters eine Zeitung angefangen. „Frau Kristel“ heißt die. Die haben wirklich nur Texte geschrieben, die künstlerischen Anspruch haben, die deine Seele berühren und Gedichte usw. Das war ein totaler Erfolg und hatte übelst Resonanz. Da hab ich mir gedacht: Ich schreibe gerne und ich schreibe für mein Herz. Ich will nicht sagen das und das, wo, wann, wer, was – das wäre halt Journalismus und nicht Kunst – sondern, dass man sich an den Worten erfreuen kann, dass es einen berührt … dass man sagt: Das ist wunderschön geschrieben, das gefällt mir. Ich will dass der Journalismus künstlerisch ist.

Im upsetter ist die Ich-Perspektive sehr stark. Das wäre eine literarische Komponente an den Texten. Der Gegenstand, die Recherche ist dann vielleicht das journalistische? Könnte man das so sagen?

Ja, z.B. der Günter Wallraff. Das ist auch so einer. Ist das jetzt Journalismus? Oder ist das jetzt Kunst? Was ist das? Ist das Prosa? Es ist halt in der Wirklichkeit verankert, also es ist passiert aber trotzdem ist es künstlerisch abgebildet. So was in der Art will ich machen.

Aber vielleicht stehe ich gar nicht so einsam da? Was es jetzt gibt, das sind so blogs, twitter, facebook und myface und was weiß ich. Was ich mich aller­dings frage, vielleicht muss man ja jetzt wieder konservativ werden, damit das überhaupt noch cool ist, weil ja jeder Wichser seine Meinung irgendwo hinschmiert.

Apropos Internet. Haben so kleine Papiermagazine wie Feierabend!, the upsetter oder Frau Kristel denn noch eine Chance auf eine aktive Leserschaft?

Doch, doch, auf jeden Fall! Es ist immer so, wenn Dinge populär werden, werden sie langweilig. Also wenn irgendwas vom Mainstream ausgebeutet wird, dann gibt es immer diese reaktionäre Bewegung, die sich dann auf was anderes besinnt und was anderes will. Z.B. dein Kommilitone, wo hinten auf´m Pullover Abi 2008 steht, der erzählt dir dann was von facebook und diesem ganzen Mist. Und wenn das dann alle machen und alle machen bei twitter mit und alle haben eine myspace-Seite und alle haben so eine digitale Selbstbeweihräucherung, dann willst du was anderes haben, was dich da raus holt. Es ist auch noch nicht soweit, dass jeder seinen Minilaptop in der Straßenbahn auf´m Schoß hat.

Und vielleicht ist es auch genau dieses Format. Man kann es in der Hand halten, kann es riechen, man kann es anfassen und das ist was völlig anderes. Ich könnte natürlich, wenn ich so drauf wäre, wenn ich mal gerade Zeit habe von meine world-of-warcraft abzulassen und dann schreibe ich in meinen Blog, was ich so erlebt habe und wo ich war und das ich da mit dem gesoffen habe. Aber so ne Zeitung zu machen ist was völlig anderes, weil es halt materiell-physisch da steht. So ´ne kleinen Dinger sind total wichtig. Die Leute freuen sich darüber. Es ist wie so ein Kleinod.

Wie geht ihr mit Texten um? Gibt es Stationen, die ein Text durchlaufen muss, bis er im Heft landet?

Ich geb ja die Zeitung raus und entscheide, ob ich den Text gut finde oder er ästhetisch und inhaltlich zum Himmel stinkt. Ich bin ja im Gegensatz zu euch relativ unpolitisch. Deswegen muss ich da nicht irgendwelche Zensurmaßnahmen ergreifen. Ich muss eigentlich nur drauf gucken, schreibt er es so, dass der Leser das kapiert. Vielleicht ändere ich ein Wort und rufe an, ob das okay ist, aber dann geht der Text so raus. Bei den Texten über die Kneipen gibt es schon eine übelste Arbeitsphase, wo die dann 30 Mal unter die Lupe genommen werden. Dann wird daran rumgefeilt aber das ist es dann eigentlich auch.

Wie finanzierst du the upsetter eigentlich und wie hoch ist die Auflage?

Ich verkaufe ihn mittlerweile für 1,50, was ich sehr schade finde, denn eigentlich müsste er kostenlos sein.

Mittlerweile produziere ich mindestens 80 Stück und bei Nachfrage halt mehr. Es funktioniert auf Vertrauensbasis. Ich drucke das aus, stell das da hin, schreib 1,50 dran und wer es gibt, der gibt´s und wer nicht, der halt nicht. Aber mittlerweile ist es so, dass ich bei Null rauskomme. Ich finanziere das auf jeden Fall selber und durch die Werbung für das Schlechte Versteck und den Waldfrieden. Und Werbung mach ich nur für Leute, wo ich persönlich dahinter stehe. Ich werde z.B. niemals eine Sparkassenwerbung machen, nur weil ich dafür Geld kriege. Ich mache Werbung aber nur so un­ka­pi­ta­lis­tische Sachen. Also wenn jetzt Coca-Cola käme und sagt, ich gebe dir tausend Euro und tausend Euro und ein Tomatenfisch, würde ich sagen, fick dich.

In der aktuellen Ausgabe gibt es einen Text, wo der Situationist Guy Debord zitiert wird. Gibt es innerhalb der Redaktion direkte Bezüge oder ist das eher zufällig?

Das ist total beabsichtigt und total wichtig, speziell für diese Ausgabe, weil es um Lindenau geht und den Platz den man sucht zum Leben.

Die Zollschuppenstraße etwa ist ein sehr hoffnungsvolles Hausprojekt. Die Autorin dieses Textes hat das Projekt Zollschuppenstraße maßgeblich mit aufgebaut, und Guy sagt: „Das Leben geht auf die Architektur über“, also: Das schöne Leben hat auch schöne Schauplätze. Die Zollschuppenstraße war ein Projekt für Jugendliche, die in diesem heruntergekommenem Haus ihre Träume verwirklichen konnten. Sie haben sich das gebaut, was sie halt haben wollten. Das finde ich total wichtig, weil es auch für mich immer wichtiger wird, wo ich wohne. Ich möchte nicht mein ganzes leben in Lindenau wohnen, wo an jeder Ecke Drogen verkauft werden. Es ist leider so.

Wieviel Zigaretten oder Promille brauchst du, um ‘nen upsetter zu produzieren?

(lacht) Geile Frage. Ähm? Warte mal. Das ist jetzt wichtig, weil es wird ja gedruckt. Also wenn ich einen Text schreibe, so einen Kneipentext, dann rauch ich mindes­tens ne Schachtel Zigaretten und trinke mindestens 3 Bier. Nein, nicht wirklich. Es ist nicht so, dass ich Rauschmittel brauche, um zu schreiben. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, im Nichtraucherbereich auf meiner Schreibmaschine rumzuhacken

Du schreibst auf Schreibmaschine? Was für ‘ne Marke?

Erika. Meine liebste Erika, die liebe ich über alles…Wisst ihr eigentlich, dass ich mit der 10. Ausgabe aufhören wollte? Ich wollte noch eine machen und dann eigentlich was anderes machen. Ich wollte schon immer einen Roman schreiben.

Du wolltest also von Anfang an nur 10 Ausgaben rausbringen?

Nein, nein, jetzt erst. Es ist halt jedes Mal so ein Stress. Das alles selber zu layouten. Und dann hast du gesagt, das kommt dann und dann raus und dann kommt es doch nicht raus. Dann vertraust du auf jemanden der einen Text abliefern wollte und der liefert den nicht ab. Und dann fehlen die Seiten. Das war so furchtbar. Dann hab ich gedacht, ich mach noch die eine und dann reicht´s.

Wie sieht also die Zukunft aus?

Also, wenn ich euch das jetzt sage, muss das auch klappen. Am 5. Dezember hat das Schlechtes Versteck 5 Jahre Jubiläum. Wir wollten eigentlich zumachen und saufen gehen. Aber nun wird es eine riesige Party geben mit gleichzeitigem Release des 10. upsetters.

Es gibt auch Auslandsrecherchen, z.B. Hamburger oder Berliner Kneipen, aber konkrete Pläne gibt´s noch nicht. Der künstlerische Aspekt wird auf alle Fälle mehr Raum einnehmen. Ich will ironisch und zynisch bleiben aber auch Leute erreichen, die was wollen von der Literatur. Aber ich will the upsetter nicht aufgeben. Da hängt doch mein Herz dran!

Danke für das Interview.

Kein Ding und so.

p.s. Wir grüßen David und Phil, die dieses Interview erst ermöglicht haben und danken unvergesslich Matti für seine Offenheit.

p.p.s. Auch drei Jahre alter polnischer Wodka schmeckt leichter als gedacht.

„Keine graue Masse“

Theater-1-Euro-Jobber und FA! im Gespräch über Wölfe, Hartz 4 und Egoismus

Eigentlich stehen sie meist als Servicepersonal in der Straßenbahn und hieven Kinderwägen über die Schwelle. Eigentlich tragen sie Overalls und sammeln Großstadtreste auf. Und uneigentlich feierten Gerhard Schröder und andere Agendaisten Hartz 4 als Entlastung der Sozialsysteme, während Betroffene und Zuschauer eher über Stigmatisierung und stattlich subventionierte Armut debattierten. Nun gibt es tatsächlich Jobs für einen Euro pro Stunde, die etwas mit Selbstwertgefühl zu tun haben und gleichzeitig als Sprachrohr für Hartz4-Empfänger fungieren können. Dresden schmuggelte 2004 einige Arbeitslose in das Theaterstück „Die Weber“ und löste damit eine heftige Debatte in theatralen Fachkreisen aus. Wenn man wirklich jeder Stimme Gehör verschaffen will, ruft dies quasi eine Inflation der Meinungen hervor und delegitimiert den Kunstgedanken von einmaliger Bedeutsamkeit. Laientheater ist ja ganz nett anzuschauen, aber als bezahlter Job für fachfremde Hartz-4-Empfänger – wo gibt’s denn sowas?! Na in Leipzig. Matthias Schluttig bekam in Zusammenarbeit mit dem soziokulturellen Zentrum „Die Villa“ wieder eine Zusage vom Arbeitsamt und fertig war die Grundlage für das nächste bezahlte 1-Euro-Job-Theaterprojekt. Von den ersten Improvisationsübungen und Gruppenspielen angefangen, bis hin zum eigens verfassten Drehbuch, mussten sich die Darsteller immer wieder einer Selbstbefragung unterziehen: Wie würde es uns ohne Hartz 4 gehen? Was passiert, wenn die Krise im Sozialsystem angekommen ist? Wie sieht meine eigene Geschichte aus? Dafür beschwören sie eine brutale Zukunftsvision herauf, in der der Kampf um das Überleben um sich greift. Die Welt hat sich in Ober- und Unterschicht aufgespalten, von der arbeitenden Mittelschicht sind nur noch Rudimente übriggeblieben, dafür kommen die Wölfe der Stadt immer näher und streunen zwischen den Abfällen der Menschheit. Der Hunger zwingt die Armen zur Solidarität, man rottet sich zusammen, der satte Feind kann sich nicht mehr länger sicher sein. Und während die Rebellengruppe den Angriff auf die Tyrannen plant, soll ein junges Mädchen den Anführer Johann Schmidt verraten, in den sie sich letztlich verliebt und alles noch ein wenig komplizierter wird. Der Untergrundorganisation bleibt nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorn. Der finale Kampf zwischen Arm und Reich endet trotz Blutvergießen mit der offenen Frage: Können wir Machtstrukturen wirklich ändern?

Ein halbes Jahr später stehen die 25 Teilnehmer unter dem Regisseur Matthias Schluttig im Spinnwerk vor vollendeten Tatsachen. Ihr Stück „Egoismus“ ist fertig. Und es ist sehenswert. Gewesen.

FA!: Euer Stück heißt ganz einfach „Egoismus“. Warum?

Daniel (ACHIM): Ich denke, es gibt verschiedene Arten von Egoismus und zudem handelt der Mensch prinzipiell immer egoistisch in dem Sinne, dass er von eigenen Bedürfnissen geleitet wird. Wenn es keine Bedürfnisse gäbe, würde der Mensch gar nicht mehr handeln. Die Arten des Egoismus bestehen einmal in der Konkurrenz, also man versucht, eigene Interessen gegen die der anderen durchzusetzen und sich Vorteile zu verschaffen, und zum anderen eine Art von solidarischem Egoismus, man schließt sich mit Leuten zusammen und versucht auf diesem Weg, seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Diese beiden Arten stellen wir im Stück dar. Es gibt Menschen, die sich zusammentun, um gemeinsam über die Runden zu kommen, aber am Ende drif­tet man wieder aus­ein­ander. Die Gruppe zer­bricht nach dem Sieg und jeder kehrt zu seinem individuellen Egoismus zu­rück.

Matthias (Regisseur): „Egoismus“ war für mich am Anfang nur ein Arbeitstitel, um Material zu sammeln. Wenn wir die emotionale Behaftung von Egoismus einmal weglassen und die negative Bedeutung nur noch für das Wort Egomanie einsetzen – der Gegenpool von Egomanie wäre Altruismus – dann gelangen wir zu zwei Varianten: Jemand, der ausschließlich an sich denkt auf Kosten anderer oder eben ein altruistischer Mensch, der auf eigene Kosten für das Gemeinwesen handelt. Irgend­wo auf dieser Skala sollte man den Begriff Egoismus wertfrei verorten, weil es durch­aus einen gesunden Egoismus gibt, den der Mensch braucht. Im Laufe des Stückes habe ich keinen besseren Titel gefunden.

FA!: Worin besteht die konkrete Zukunftsvision in eurem Stück und wie viel Realität steckt schon darin?

Ronald (KANZLER): Die Realität besteht wahrscheinlich in dem real existierenden Turbokapitalismus. Das Stück spielt in 10 Jahren, aber keiner weiß heute, was in 10 Jahren sein kann. Es wird beispielsweise nicht klar, warum der Kanzler in dem Stück das Gas abdreht, wahrscheinlich weil in 10 Jahren das Gas zu teuer ist. Da muss man als Herrscher eben Prioritäten setzen und dreht den Leuten das Gas ab, die keine Lobby haben. Aber gleichzeitig wird die Arroganz der Macht vorgeführt, weil die Mächtigen heute nicht damit rechnen, dass so etwas passieren könnte wie in unserem Stück [Anmerk.: Revolution], dass die Hungernden und Frierenden sich einmal erheben.

Hendrik (PRIESTER): Es ist wohl eher ein Negativszenario, ein Horrorszenario und keine Prophezeiung, die zeigen soll, so wird es auf jeden Fall kommen, sondern nur: das könnte passieren und so könnten Menschen auf bestimmte Situationen reagieren. Wir zeigen die Gefahr.

FA!: Die Figur Johann Schmidt gilt als Anführer der Untergrundorganisation, er ist also dramaturgisch gesehen ein absolut zentraler Handlungsträger. Warum wurde er im Stück nicht stärker gewichtet als die anderen Figuren?

Julia (MARIE): Wir wollten alle Geschichten erzählen – von jeder Figur – vom Anfang bis zum Ende. Deswegen hatten wir gar keine Zeit, uns nur um den Anführer zu kümmern.

Matthias (Regisseur): Ich wollte nicht, dass nur eine Person so ein Gewicht im Stück innehat, damit wären die anderen Personen zu Statisten verkommen. Es ging schließlich darum, den 6monatigen Arbeitsprozess für alle Teilnehmer so lustbetont wie möglich zu gestalten – es wäre in diesem Prozess weder schön noch produktiv gewesen, wenn Johann Schmidt zwei Drit­tel der Pro­ben­zeit bekommen hätte und der Rest als graue Masse verblieben wäre. Es gab die klare Prämisse: keine graue Masse im Stück, sondern jede Figur erhält ein Gesicht und eine Geschichte und jeder bekommt die Möglichkeit, eine kleine Entwicklung zu erleben.

Daniel (ACHIM): Man kann es auch auf einer inhaltlichen Ebene verteidigen. Bei der Betrachtung historischer Prozesse ist man oft stark auf die Anführer fixiert. Bei uns taucht die Masse eben nicht nur als Masse auf, sondern auch als Akteur – sie ist eben kein passives Objekt eines Rädelsführers.

FA!: Am Ende eures Stücks hängt der Kapitalismus in den Seilen. Wofür steht dieses Symbol?

Ronald (KANZLER): Alles ist in einer Art Schwebe. Es hat eine Revolution stattgefunden, der bisherige Herrscher ist durch seinen Günstling getötet worden. Der Herrscher, und hier zeigt sich eben der Egoismus, hängt bis zur letzten Sekunde an seiner Macht. Das zeigt sich ja in den letzten Jahrzehnten – und hier wieder der Bezug zur Realität – in der Bundesrepublik ebenso, die Herrschenden hängen bis zum Schluss an ihrer Macht, bis sie endlich runter geprügelt werden von ihrem Thron. In unserem Stück verbleibt der Wirtschaftskapitalismus in der Schwebe – es könnte also weitergehen.

FA!: Warum kein Lösungsvorschlag?

Hendrik (PRIESTER): Weil wir das gar nicht liefern können. Es wäre vermessen.

Thomas (Licht und Bühne): Wir hatten drei Möglichkeiten, wie das Stück enden könnte. Möglichkeit A hieß, der Rebellenführer Johann Schmidt übernimmt die Herrschaft und wird von ihr korrumpiert. B war ein schwarzes Ende und C ein offenes Ende. Es war purer Pragmatismus, dass wir uns für C entschieden haben.

FA!: Was hat die Bühnenarbeit im Vergleich zu anderen 1-Euro-Jobs in euch bewegt?

Daniel (SONNTAG): Ich hab schon viele Jobs gemacht – vom Kindergarten bis Müllaufsammeln – das Projekt hier war eine Abwechslung, eine große Erfahrung mit tollen Menschen. Als ich das erste Mal von der Bühne runterkam, war mein Selbstvertrauen extrem in die Höhe geschossen. Ich hab dadurch gelernt, mich ab und zu in den Arsch zu treten.

Julia (MARIE): Ich bin Schauspielerin von Beruf, deswegen ist dieses Projekt sehr wichtig für mich. Es hat mir viel gegeben. Ich habe eben eine Krankheit. Diese Krankheit heißt Theater. Deswegen nutze ich jede Gelegenheit. Wenn du verstehst, dass du die Herzen der Zuschauer berühren kannst, hast du ein unvergessliches Gefühl, dass du sehr stark bist und dass du alles kannst. Das ist eine Sucht.

Hendrik (PRIESTER): Ich war sehr erstaunt von dieser Gruppendynamik, die ich so nicht kannte. Das ist ein sinnvoller 1-Euro-Job, es gibt da durchaus Jobs, deren Sinnhaftigkeit eher fragwürdig ist und nur darin besteht, die Leute daran zu hindern, Zuhause zu bleiben. Mit diesem Stück prägen wir die Kultur von Leipzig, wir geben der Stadt etwas wieder. Ideal.

Matthias (Regisseur): Ich glaube, bei manchen Übungen sind einige Teilnehmer extrem an die Grenzen gekommen. Du kannst deine Persönlichkeit auf der Bühne nicht überspielen, sie ist immer da. Der erste Schritt bestand also darin, zu begreifen, dass man aus seiner Haut nicht rauskommen kann. Danach folgt das Bekenntnis zu seiner Stimme, zu seinem Körper und zu seinen Bewegungen. Das muss man einsetzen können. Man lernt.

FA!: Es ist dein 3. Projekt in der Richtung. Warum hast du dich wieder dafür entschieden?

Matthias (Regisseur): Ich hab damals 2005 das erste 1-Euro-Job-Theaterprojekt in Leipzig zusammen mit der „Villa“ aus dem Boden gestampft. Es hat gedauert, das Amt davon zu überzeugen, aber es wurde bewilligt und es gibt mittlerweile viele Nachfolgeprojekte. Es interessiert mich, wie die Teilnehmer ihre Visionen entwickeln und wie sich das ausdrückt. Natürlich gibt es genügend Werkmaterial, aber mich interessieren die Themen, die jetzt aktuell sind. Die Bühne ist ein Ort, von dem aus man Botschaften senden kann. Für die Frage der Authentizität ist es besser, wenn man sich die Rolle so baut, wie man sie eben spielen kann.

FA!: Gab es Umstellungsschwierigkeiten?

Matthias (Regisseur): Die Gruppe muss natürlich ihre eigenen Gesetze aufstellen. Wie gehen wir mit Themen um wie Pünktlichkeit oder Achtung vor dem anderen? Und da gab es ziemlich intensive Phasen, wo diese Grenzen ausgetestet und benannt wurden – bis ein, zwei Spieler das Projekt verlassen haben.

FA!: Wofür steht der 1-Euro-Job in unserer Gesellschaft?

Thomas (Licht und Bühne): Zu 90% ist der Job kein Einstieg ins geregelte Arbeitsleben. Es ist meistens eine pure Be­schäftigungsmaßnahme, die vielleicht aus einem sozialen Kalkül heraus entstanden ist, aber in der Realität nicht den gewünschten Effekt hat. Es ist halt die Nachfolge der ABM-Stelle, allerdings mit einigen Einschränkungen – weniger Geld und härtere Zuteilung.

Ronald (KANZLER): Es ist ja auch egal, wie man es nennt. Hartz 4 könnte man auch als eine Art Stigma­tisierung auffassen, ich mach es nicht. Hauptsache ist doch, ich werde beschäftigt und mit ein paar Euro bezahlt.

Daniel (SONNTAG): Es hat eine gute Nebenwirkung: Man weiß danach, was man nicht machen möchte.

Matthias (Regisseur): Hartz 4 ist so ein Topf, indem alles Zuhause ist, sowohl die Leute, die keine Lust haben zu arbeiten und sich eine freie Zeit machen, vielleicht für eine Sinnsuche, aber auch die Leute, die gerne möchten, aber wegen einem Bandscheibenvorfall irgendwie in die 1-Euro-Job-Schiene reingerutscht sind und nicht mehr herauskommen.

Daniel (ACHIM): Um es knapp zusammenzufassen: Arbeit ist scheiße, keine Arbeit aber auch. Letztlich ist der 1-Euro-Job auch nur eine Zwangsmaßnahme, die in unserem Fall positive Seiten hatte. Hartz 4 verschärft bestimmte Probleme, aber letztlich ist der Sozialstaat selbst das Problem, ein Teil des schlechten Ganzen. Dessen Zweck ist schließlich nicht, den Leuten ein angenehmes Leben zu ermöglichen, sondern sie für den Arbeitsmarkt verfügbar zu halten – dafür zu sorgen, dass sie nicht total verwahrlosen und gar nicht mehr zu verwenden sind, und zu verhindern, dass sie irgendwann Rabatz machen. In unserem Stück machen sie halt Rabatz.

Das Gespräch für den Feierabend! führte

amu.