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Der Subjektive Faktor

Kein typisch bürgerliches Theaterstück

Aus dem Off der Leipziger Kulturszene meldete sich Ende letzten Jahres die Theatergruppe TAG und präsentierte mit „Der subjektive Faktor“ ein Stück, das nicht nur die generelle Praxis von Politaktivist/innen, sondern auch die dabei wirkenden subjektiven Faktoren jedes Einzelnen thematisierte. Das dies auch heute noch Menschen bewegt, bewiesen nicht nur die vollen Zuschauerränge, sondern auch die Protagonisten selbst. So ist ihnen die grundsätzliche Thematik oftmals vertraut und dennoch hatten sie jeweils ihre eigenen subjektiven Beweggründe mitzumachen und verbinden auch unterschiedliche Inhalte bzw. Eindrücke mit dem Stück sowie dem Entwicklungsprozess, der auch ihren Alltag kräftig durcheinander wirbelte. Von eben jenen subjektiven Faktoren auf den Brettern, die die Welt bedeuten, erzählen nun die folgenden Seiten.

„Das Theater ist die tätige Reflektion des Menschen über sich selbst“, meinte bereits Novalis im 18.Jahrhundert. Wie reflexiv Theater sein kann, bewies jüngst die selbstorganisierte Theatergruppe TAG mit ihrem Stück „Der subjektive Faktor“. Schauplatz ist dort die Polit-Kommune Drei, in der Udo, Birgit, Andi und Günter gegen Nazis, Bullen und staatliche Repressionen kämpfen. Wie zeitlos diese Themen sind, wird dem Zuschauer schnell bewusst, denn während zu Beginn des Stückes alles auf die ’68er deutet, fühlt mensch sich am Ende vor allem in der aktuellen Zeit verortet. Die Spannbreite politischer Subversion ist aufgrund der Verschiedenheit der Subjekte und ihrer Beweggründe breit gefächert und beherbergt auch jede Menge Konfliktpotential: Während Andi Verfechter radikaler Aktionen ist und Freude daran hat bspw. Autoreifen zu zerstechen, findet der verstockte Udo seine Erfüllung in der kritischen Theorie, wodurch er, im Gegensatz zum extrovertierten Günter, nicht im positiven Sinne von der Weltrevolution philosophiert. Brisant wird die Geschichte, als eine Reporterin auftaucht und über die Kommune eine „Homestory“ schreiben will, die lediglich der selbstverliebte Günter als Chance betrachtet, um die eigenen Inhalte nach außen zu tragen. Die Konflikte verschärfen sich, als die spontan geplante politische Aktion gegen den bekannten „Unions-Nazi“ Krüger von Po­lizei und Staats­schutz mit harten Metho­den bekämpft wird und sich die Kom­mune­be­wohner nicht nur fragen, ob die Re­porterin da was verraten hat, sondern auch anfangen, die jeweiligen Aktivitäten der anderen zu kritisieren. Als dann auch noch der Staatsschutz aufgrund familiärer Beziehungen das Gesetz nach seinem Gutdünken beugt, offenbart sich die Subjektivität als Faktor für die Diskrepanz von Idealen und den dazugehörigen Handlungen endgültig. Doch auch anderweitig stehen die selbstgewählten Lebensentwürfe im Konflikt zu Anderen und eigenen Idealen: Während einerseits durch ein Gespräch zwischen Birgit und ihrer Mutter auf Generationskonflikte verwiesen wird, zeigen sich andererseits auch die Grenzen der postulierten Offenheit der Kommune, als Jochen und Steffi – ein junges Studentenpärchen – auftauchen und mitmachen wollen. Das Stück verhandelt also eine ganze Palette verschiedenster Themen, die linkspolitisch aktive Menschen bewegten und bewegen, nimmt sie auf die Schippe und stellt sie stereotypisch dar. Am Ende stellt sich die Frage, ob das Projekt als gescheitert zu betrachten wäre, denn einerseits knicken vor dem Gericht die Aktivist/innen nach­einander ein, anderer­seits offenbart der abschließende Dialog zwischen Jochen und Steffi neben Des­illusionierung auch Standfestigkeit den eigenen Idealen gegenüber. Die Antwort bleibt also – wie auch in anderen Szenen – dem Zuschauer und seiner subjektiven Interpretation überlassen. Frei nach dem Motto: „Alle versprechen Antworten. Wir nicht“, geht es eben nicht um richtige und vorhersagbare Lösungswege, sondern um die Darstellung der subjektiven Faktoren, die in der alltäglichen politischen Praxis wirken und Geschehnisse immer wieder neu beeinflussen.

Insgesamt betrachtet ist das Theater für eine große Bühne, denn die Inszenierung ist komplex an Inhalten und Medien, die Schauspieler wirken nicht wie Laiendarsteller und die Inszenierung bewegt Gehirnmasse und Lachmuskeln gleicher­maßen. Es werden Fragen aufgeworfen, ohne altbackene Patentrezepte zu liefern, durch das Spiel mit Klischees werden Lachmuskeln gefordert, ohne dabei das Thema lächerlich zu machen und mögliche Parallelen zu eigenen Lebensent­würfen regen Kopf und Herz an. Bei solch einem Tiefgang im Laientheater reizt es, vor allem einmal hinter die Kulissen zu schauen und nach den Motivationen, Einstellungen und Interpretationen von Schauspielern, Regisseur, Autor und Chorbegleitern zu fragen. Welchen Bezug haben sie zu Stück und Gruppe? Welcher Inspiration bedarf es, um gutes Theater hervorzubringen? Wie unter­schied­lich dabei die Ein­schätzungen sind, wird im folgenden Zu­sam­men­schnitt deutlich:

FA!: Was war deine Motivation in dem Stück mitzuspielen/ es zu inszenieren/ das Buch zu schreiben?

Daniel (Autor/Udo): Hauptmotivation war, dass das letzte Stück das wir gemacht hatten sehr viel Spaß machte und dass wir bei dem Thema „deutsche Linke“ dachten, es gäbe da noch Möglichkeiten das weiter zu behandeln, also Themen die wir noch nicht zur Gänze durchgekaut haben.

Matthias (Regisseur): Also erstmal wollte ich unbedingt wieder ein Stück machen. Dann hatten wir uns das irgendwie auch vorgenommmen, wir sind ja Nachfolgertruppe von „Oblomovs Erben“. Das stand eigentlich schon ein Jahr aus, wir waren also schon im Verzug. Und dann wollte ich vor allen Dingen was Großes machen, das war ja ein großes Stück was da angeboten wurde, also ein umfangreicheres was sich nicht auf eine dreiviertel Stunde beschränkt, sondern eine klassische Spiellänge oder vielleicht sogar eine Überlänge bedient. Und das war ganz spannend. Das fand ich cool.

Michael (Jochen): Als ich das Stück gelesen habe, wusste ich erstmal noch gar nicht, ob ich da unbedingt mitspielen will. Aber das hat sich dann mit der Zeit sehr schön ergeben, nicht nur gruppendynamisch, sondern auch inhaltlich hat sich das im­mer mehr ausdifferenziert und das hat voll Spaß gemacht, also die Charaktere mit zu entwickeln. Ich hab auch noch nicht viel Theater gespielt in meinem Leben und das wollt ich einfach mal ausprobieren.

Dorothee (REPORTERIN): Ich hatte Lust mal wieder zu Schauspielen und mich selbst auszuprobieren und mal andere Seiten auszuleben.

FA!: Was ist/sind für dich die Kernaussage/n des Stückes?

Christian (Andi): Letztendlich schon zentrales Thema: Scheitern. Das Scheitern – wie der Titel schon sagt – an den individuellen, subjektiven Eigenheiten der Protagonisten der WG, der Kommune, die alle glauben über einen politisch-ideologischen Konsens verbunden zu sein, dabei vergessen wie stark geprägt sie eigentlich sind, durch ihre eigene Geschichte, durch ihre eigene „Persönlichkeit“, durch ihre eigenen Abgründe. Und das auch nie thematisieren, quasi im Endeffekt überhaupt kein persönliches Verhältnis ha­ben. Und dann eben auch dieses politisch-ideologisch unterschiedlich in­ter­pretieren. Also alles steht unter dem Vorzeichen irgend eines Konsens’, der aber gar nicht existiert.

Hannes (Staatsschützer Schulz): Die Kernaussagen des Stückes sind für mich eigentlich die Problematisierung der Linken an sich, dass die Zielsetzungen eventuell die gleichen sind, aber der Weg ist unterschiedlich, wie man das Ziel erreichen will. Und dadurch kann es zu Differenzen kommen und man streitet sich oder zerstreitet sich, so wie das ja im Stück am Ende der Fall ist.

Nadine (Birgit): Also wir springen mit auf den Bader-Meinhoff- und Kommune-I-Zug auf und machen uns ein bisschen darüber lustig, dass wir in unserer Kommune eigentlich nicht viel politisch bewegen, obwohl wir sehr viel diskutieren und letztlich ein bisschen über-theoretisieren und über-dramatisieren.

Sabine (Masse/Mensch): Die Kernaussage ist, dass wir bei allem was wir tun, egal wie neutral wir sein wollen, was ja v.a. immer bei politischen Dingen eine Rolle spielt, die Subjektivität doch nie außen vor lassen können.

Matthias (Regisseur): Die Kernaussage ist für mich eigentlich, dass in der Aktivität der so genannten Szene-Linken, es nach wie vor gar nicht so unterschiedlich ist, wie es sich eigentlich ’68 gesetzt hat. Also als ein Aspekt. Und der nächste Aspekt, der glaube ich relativ bedeutend ist, ist ’68 auch unter der Warte zu beschreiben, dass es auch ein Medien-Event war. (…) Aber, wie auch die Perspektive von dem heute auf das gestern sich darstellt, ist die Kernaussage auch, dass ’68 auch ein Mythos ist. Das ist die zweite Kernaussage.

Daniel (Autor/Udo): Also der Haupt­themenkomplex für mich persönlich ist Repräsentation, erstmal mediale Repräsentation von Protest oder radikalen Bewegungen. Man hat da so bestimmte Symbolfiguren, die im Prinzip herausgehoben werden aus der Masse der einzelnen Aktivisten und Aktivistinnen und dann auch noch der Avantgarde-Anspruch, dass sich bestimmte Leute erstmal innerhalb der Bewegung über andere stellen und die Bewegung oder die Gruppe, die sich dann über andere Leute stellt. Und das, würde ich sagen, ist halt so der Hauptpunkt.

FA!: Haben die dort angesprochenen Themen etwas mit deinem Alltag zu tun? Wenn ja, inwiefern?

Michael (Jochen): Also ich kenne das, die Diskussionen die da teilweise geführt werden das sind so bestimmte Küchendiskussionen die man kennt. Auch Polizei so, Repressionen, das ist zwar alles überspitzt, aber da sind auch Ähnlichkeiten drin, da sind ganz viel Anspielungen, die ich irgendwie nachvollziehen kann oder selber erlebt habe.

Hannes (Staatsschützer Schulz): Ja mit dem richtigen Leben hat das insofern zu tun, dass – also es ist ja schon ziemlich viel geprägt von Idealismus, sag ich jetzt mal, und der wird schon im Stück ausgespielt, durch die vier Hauptdarsteller vor allem. Und diesen Idealismus gibt es im realen Leben auch. Nur die Umsetzung ist einfach – wie es beim Ideal eben so ist – nie von Erfolg gekrönt am Ende, das ist ei­gentlich der Bezug zum realen Leben. Hier in der überspitzen Version vom Theater.

Marcel (Masse/Mensch): Ich beschäftige mich ja nun schon seit ein paar Jahren ein bisschen auch mit Politkram und bin auch selbst immer wieder frustriert gewesen, nachdem ich mich politisch engagiert hatte, wie wenig dabei eigentlich rumkommt und wie sehr es dann doch wieder an Kleinigkeiten und Zerwürfnissen innerhalb der Gruppe hängen bleibt und wie viele Probleme da auftreten. Von daher sehe ich da schon Parallelen und auch was den Inhalt angeht, jetzt von wegen Über­wachungs­staat und Repressionen, das gab es ja nun vor 40 Jahren genauso wie heute und man hat eigentlich den Eindruck, dass die Überwachung vollständiger wird und die Repressionen auch eben dementsprechend lückenfüllender.

Nadine (Birgit): Teilweise. Also letzt­lich bin ich überhaupt kein militanter Polit-Aktivist oder so, aber in rechts- oder links-Fragen misch ich mich schon gern ein bisschen ein.

Sabine (Masse/Mensch): Ja insofern, dass ich selbst in einer WG wohne, wo gerne mal politische Themen diskutiert werden und manchmal fühl ich mich sogar so, als würde ich aus dem aus Bierkästen bestehenden Tisch sitzen und mich eigentlich genauso fühlen wie so ein Schauspieler in dem Stück.

FA!: Würdest du Theater generell und speziell dieses Stück als politische Praxis begreifen?

Christian (Andi): Nee. Ich glaube das würde zu weit führen. Also wenn wir das gewollt hätten, hätten wir ganz anders vorgehen müssen und spezieller Diskurse aus Leipzig aufgreifen müssen und da auch pikieren, anstoßen.

Dorothee (Reporterin): Ja es kommt darauf an, wie man den Praxisbegriff definiert. Aber an sich, Theater als Medium das Leute erreichen kann und wichtige Anstöße geben kann, würde ich schon so sagen, hat es nicht nur Unterhal­tungs­wert. Und Theater kann auch schon ein Medium sein, um die Gesellschaft ab­zu­bil­den in einer überspitzten Form und von daher kann Theater schon Auswirkungen haben, im positiven Sinne.

Marcel (Masse/Mensch): Das ist schwierig, Theater in erster Linie hat ja nun mal diesen Unterhaltungspunkt im Vordergrund. Natürlich ist es schön wenn politische Informationen oder politischer Gehalt irgendwo transportiert wird. Die Frage ist eben einfach, wie es auch vom Publikum aufgenommen wird und verarbeitet wird. (…) Ich glaube so viel kommt dabei nicht rüber. In erster Linie bleibt das schon Unterhaltung. Das wurde ja auch von unserem Publikum viel gelacht und im Endeffekt weniger über die politischen Inhalte nachgedacht.

Daniel (Autor/Udo): Politische Praxis nicht direkt, eher öffentliche Theoriebildung, dass man da versucht bestimmte Inhalte, bestimmte Themen, die einen selbst bewegen, in einer ansprechenden Form an ein Publikum weiterzureichen, was in gewisser Weise dann auch schon eine Praxis ist, aber eher eine theoretische Praxis in dem Sinne, wie man dann meinetwegen ein Transpi auf der Demo vor sich herträgt, wo irgendwas draufsteht, was man vermitteln will und dann hier in einer anderen Form.

Michael (Jochen): Speziell dieses Stück jetzt? Ich glaub dafür ist es fast zu viel einfach nur Darstellung eines IST-Zustandes und auch ziemlich unterhaltend. Es ist natürlich politische Praxis in dem Sinne, als dass es Leute zusammenbringt, die sich wiederentdecken können, auch über sich lachen können, über sich als Generation oder als soziale Gruppe. (…) Das ist ja auch eine politische Praxis, sich über Gesellschaft Gedanken zu machen und Anstöße zu kriegen. Aber ob Theater generell politische Praxis ist? Generell ist Theater keine politische Praxis – aber politische Stücke schon.

FA!: Wie gefiel dir die selbstorganisierte Arbeitsweise der Theatergruppe?

Matthias (Regisseur): Gut. Also die bestand ja vor allem darin, dass verschiedenen Leuten verschiedene Aufgaben zugefallen sind. Und das hat auch gut funktioniert und wurde auch immer besser. Das ist ein Lernprozess, das ist klar, und das musste sich auch immer erst alles finden, wie sich auch so eine Gruppe finden muss. Und dafür, also so im Rückblick muss ich sagen, war es gut, ist gut gelaufen.

Christian (Andi): <lachen> Ein Graus. Ja das Ganze wurde auf den Schultern von selbstaufopferungsbereiten Mitwirkenden ausgetragen, letztendlich. Also hätte es die nicht gegeben, Leute wie Micha, der immer wieder bereit war mit dem Auto zu fahren wann es nur ging und alle, die in Kauf genommen haben, dass nach 3 Stunden immer noch nichts geschehen ist, dann wäre es wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Also die Selbstorganisation die hat immer nur partiell stattgefunden, also in kleinen Absprachen zu zweit oder zu dritt. Die hatte nicht wirklich Struktur, so dass man sagen könnte, das wäre selbstorganisiert gewesen von den Schauspielern oder von den Mitwirkenden.

Nadine (Birgit): Lief super, also im Endeffekt ist es auch total bezeichnend für das Stück, dass wir uns überhaupt nicht gezofft haben. Wir sind 20 Leute und alle haben sich supergut verstanden und alle haben irgendwie mitgemacht und waren motiviert und haben das irgendwie gern gemacht. Ja nur halt die Probenzeiten einhalten, das hat nicht jeder hingekriegt.

Marcel (Masse/Mensch): Die selbstorganisierte Arbeitsweise, die war super, es hat alles total gut geklappt, alle waren immer pünktlich und ja: jederzeit wieder. Nein, ohne scheiß: hat mich teilweise ziemlich angekotzt, dass Proben für 14 /15 Uhr angesetzt wurden und dann die Probe erst eineinhalb Stunden später losgehen konnte, weil einzelne Leute immer erst so spät da waren. Es gab auch so ein paar kleinere Streitereien und Differenzen innerhalb der Gruppe ab und zu, immer mal wieder. Aber im Großen und Ganzen bin ich eigentlich recht zufrieden im Ergebnis, was dabei rausgekommen ist. Also die Auftritte waren meiner Meinung nach immer ziemlich gut und das war selbstorganisiert und hat trotzdem im Endeffekt eigentlich vom Ergebnis her ganz gut geklappt.

Robert (Günther): Gute Leute haben sich getroffen zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort.

(momo)

Für „Todesstrafe“ und „Nationalen Sozialismus“

Dass Neonazis jeden Fall von Kin­des­missbrauch für die eigenen Zwecke aus­schlachten und mit simplen Rezepten die Mehrheitsmeinung für sich zu ge­win­nen versuchen, ist nichts Neues. Der Fall der Ermordung der achtjährigen Michelle bekommt dadurch zusätzliche Brisanz, dass es sich beim Opfer zufällig um die Nichte von Istvan Repaczki han­delte, einem der Hauptakteure der Freien Kräfte Leipzig.

Repaczki und die Freien Kräfte nutzten die Gelegenheit und organisierten für den 21.8. einen Trauermarsch. An einem wei­te­ren Trauermarsch vier Tage später nah­men etwa 600 Menschen teil. Die trauern­den Bürger_innen ließen sich dabei von den zahlreich anwesenden Neonazis nicht stören. Dem Vorwurf einer politischen In­strumentalisierung des Falles widerspra­chen sie mit folgender Be­grün­dung: „Das Mitführen von Transparenten auf denen die Todesstrafe für Kinder­schänder ge­for­dert wird, ist angesichts des tra­gi­schen Er­eignisses vollkommen legitim. Di­ver­se Par­teifahnen, Flugblätter oder sonstiges sind unserem Kenntnis­stand zur Folge, nicht mitgeführt worden“ (1). Offen­sicht­lich ist es mit dem Ge­dächt­nis der Kame­ra­den nicht weit her – oder sie halten Trans­parente mit der Aufschrift „Natio­na­ler Sozialismus jetzt“ für unpolitisch (2). Zu­dem wäre es keinen Deut besser, wenn man sich tatsächlich „nur“ auf die For­derung nach „Todesstrafe für Kinder­schänder“ beschränkt hätte. Fakten wie die fehlende Wirkung solcher Maßnahmen auf Triebtäter werden dabei standhaft ig­no­riert, ganz abgesehen davon, dass die mög­liche Perspektive einer Gesellschaft, die sich anmaßt, Menschen ihr Existenz­recht abzuerkennen, keine besonders er­freu­liche ist. Politisch weitaus wirksamer sind da schon eher platte Parolen, die Er­schütterung und Wut in Rachsucht ver­wan­deln und mit der Angst der Bevöl­ke­rung spielen.

Die massive Präsenz von Neonazis bei den De­monstrationen konnten auch die Me­dien auf lange Sicht nicht ignorieren. Nach­dem Bürgerinitiativen und Antifa auf das Problem aufmerksam machten und sich sogar die Eltern der Ermordeten von dieser Sorte „Anteilnahme“ dis­tan­zier­ten, trennte sich die Spreu vom Weizen. An einer weiteren Kundgebung am 1. Sep­tember – ironischerweise ebenfalls zum Weltfriedenstag und zeitgleich zur Ver­lei­hung des Friedenspreis „LEIPZIG GEGEN KRIEG“ – nah­men etwa 280 Neo­nazis teil, die „Nor­mal­bürger_innen“ blie­ben diesmal wei­­test­gehend fern.

Die öffentliche The­matisierung war bit­ter nötig, immerhin sind Re­pacz­ki und die Frei­­en Kräfte Leip­­­zig keine Unbekannten mehr und bisher nicht durch übermäßig men­schen­freun­d­liches Ver­halten auf­ge­fallen (siehe FA! #28 und #29). So muss­te sich Repaczki Mit­te Juli, im Zu­sammen­hang mit einem Überfall auf das AJZ Bun­te Platte im letz­ten Jahr, vor Ge­richt ver­antworten. Er wurde beschuldigt, eine kör­perlich be­hin­der­te junge Frau als „ge­ne­tischen Dreck“ beschimpft und ge­äußert zu haben: „So was wie euch hätte man früher ins KZ gesteckt.“ Am Ende wurde Repaczki freigesprochen, das Ge­richt sah es nicht als erwiesen an, dass tat­sächlich er die be­tref­fenden Äußerungen von sich ge­geben hatte. Die Aussagen der Polizei und der Betroffenen seien wider­sprüch­lich, zudem seien die Angreifer bei dem Überfall ver­mummt ge­wesen. Die Staats­anwaltschaft erklärte dagegen, durch seine Brille sei Repaczki zwei­felsfrei zu identi­fizieren ge­we­sen. Im November sollen er und weitere Mitglieder der Frei­en Kräf­te wegen der bei dem Über­fall be­gan­gen­­en Kör­­per­ver­letzung erneut vor Gericht stehen.

(momo & nils)

(1) de.altermedia.info/general/ganz-leipzig-trauert-um-michelle-260808-2_15837.html, alle Fehler im Original

(2) Siehe: de.altermedia.info/general/achtjahrige-michelle-ermordet-220808_15747.html

Antirassistische Selbstdarstellung

Die Vereinten Nationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die vom Menschenrechtsrat der UNO einberufene zweite Antirassismus­kon­ferenz in Genf Mitte April erregte weltweit viele Gemüter. Nicht nur, weil be­stimmte Länder, wie Deutschland, Kanada und die USA, aus Protest wegen der dort erwarteten antisemitischen Grund­hal­tung nicht teilnahmen, sondern auch, weil es tatsächlich zum befürchteten „Eklat“ kam. Anlass hierfür lieferte der iranische Staatsführer Ahmadinedschad, der in seiner Einführungsrede den Gaza-Krieg einseitig bilanzierte und Israel dabei als „grau­samstes und rassistischstes Regime“ bezeichnete (1). Die darauf folgenden Proteste mehrerer (hauptsächlich) europäischer Ländervertreter_innen, die den Saal verließen, setzte zwar medial wirksame Zeichen, war allerdings nur von kurzer Dauer, da die Delegierten bereits am nächsten Tag wieder brav auf ihren Stühlen saßen, um noch schnell die gemeinsame Ab­schlusserklärung zu verabschieden. Diese frühzeitige Verabschiedung der UN-Deklaration, die aus Angst vor weiteren Auseinandersetzungen bereits am zweiten Tag gemeinsam beschlossen und befeiert wurde, bezeichnet den Charakter der UN-Kon­ferenz wohl am meisten. Da stellt sich doch die Frage, wie eine globale Zusammenkunft, die offensichtlich von inhaltlichen Kontroversen und unterschiedlichen Interessenslagen geprägt ist, ihren ver­meintlichen antirassistischen Konsens feiern kann? Wie muss eine UN-Deklaration zum Thema Ras­­­­­sis­mus verfasst sein, um alle an ei­­nen Tisch zu bekommen? Kann es als Erfolg bezeichnet werden, wenn ca. 140 Staaten eine Deklaration be­schließen, nach deren Worten keine Taten folgen? Und wie sinnvoll sind dann solcherlei Konferenzen überhaupt?

Historisch betrachtet

Die Vereinten Nationen (UN) gründeten sich 1945, um verheerende globale Ereignisse wie Kriege und Wirtschaftskrisen künftig verhindern und vorbeugen zu kön­nen. Insbesondere die massenhafte Ver­nichtung von Menschen, sprich der Holocaust‘ während des 2. Weltkrieges, war die Hauptmotivation einen internationalen Verbund zu schaffen, der gemeinsame Ziele verfolgt. Als eigene Grundsätze benannten die Vereinten Nationen daher die Wahrung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens durch wirksame Kollektivmaßnahmen, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit zwischen den Nationen und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ohne Unterschiede zwischen Herkunft, Ge­schlecht, Sprache oder Religionszuge­hö­rig­keit zu machen. Für die Umsetzung dieser hehren Ansprüche wurde im Rahmen der UN ein beständig wachsendes Netz verschiedener Institutionen geschaffen, die wiederum weitere Räte und Kommissionen gründeten, welche bisher zahlreiche, thematisch vielfältige Konferenzen einberiefen, in denen schon verschiedenste Deklarationen verabschiedet wurden. Doch Papier ist bekanntlich geduldig und die Nichtbeachtung von gemeinsam beschlossenen Deklarationen hat bei be­stimm­ten Themen für die Staaten kaum negative Folgen. So wie bspw. bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, die zwar von der UN verabschiedet wurde, dennoch immer wieder von Staaten, die auch Mitglied der UNO sind, verletzt wird (2).

189 Mitgliedstaaten schmücken sich der­zeit damit, in den Vereinten Nationen für Frieden und Menschenrechte aktiv zu sein – tatsächlich aber überwiegen andere Interessen bei ihren Treffen. So verhielt es sich auch mit der Menschenrechtskom­mis­sion (MRK), die von 1946-2006 existierte und die Aufgabe hatte, Menschen­rechts­verletzungen anzuzeigen. Langjährige Kritik an der gegenseitigen Deckung von Menschenrechtsverletzungen seitens der in diesem Gremium aktiven Staaten führte allerdings dazu, dass die MRK 2006 durch den Menschenrechtsrat (MRR) ersetzt wurde. Im neu gegründeten MRR wurden die Spielregeln mo­di­fiziert, so dass Staatenkungeleien und einseitige Interes­sen­­politik nun einer stärkeren Kontrolle obliegen sollen (siehe Kasten). Zur ersten UN-Anti-Rassismuskonferenz 2001 lud jedoch noch die MRK ins Südafrikanische Durban ein. Wie auch die kürzlich stattgefundene Folgekon­ferenz in Genf (die vom MRR einberufen wurde), hinterließ diese erste Zusammenkunft bereits einen enttäuschend faden Nachgeschmack:

Zweifelhafter Konferenzcharakter

Die erste UN-Anti-Rassismus-Konferenz 2001 weckte im Vorfeld große Erwartungen und wirkte angesichts der weltweit be­stehenden Probleme mit vielfältigen Formen von Rassismus auf viele Minderheiten, Frauen, Unterdrückte und Unberührbare vielversprechend. Denn sie erwarteten eine Rückbesinnung auf die „Grundsätze der Menschenrechte“, dass jedeR un­abhängig von Herkunft oder Geschlecht gleich zu behandeln ist, sowie eine Verur­tei­lung der Staaten, die Rassismus und Diskriminierung befördern. Die Realität belehrte sie jedoch eines besseren, denn schon dort verständigten sich die Staatsführer auf eine selektive Wahrnehmung dessen, was unter Rassismus zu verstehen sei (3). An der Thematisierung von staatsinternem, institutionellem Rassismus gegen unliebsame Minderheiten hatte – welch Wunder – kein Staat Interesse. Schließ­lich geht es bei solchen Konferenzen ja hauptsächlich um die gute Darstellung nach außen bzw. die Wahrung des ei­genen Images, welches zudem Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern haben kann. Und welchen Nutzen soll es haben, sich für (meist wirtschaftlich arme) Minderheiten anderer Länder einzusetzen und dafür außenpolitische Konflikte zu riskieren? Die Interessenlage der Staatsvertreter_in­nen bei ihren internationalen Allianzpartnern ist dementsprechend klar – ledig­lich bei „politischen Feinden“ erscheint eine öffentliche Anklage ihrer Kriegsfüh­rung unter bestimmten außenpolitischen und geostrategischen Umständen lohnenswert. Diese Einstellung wurde in der UN-Men­schenrechtskommission und auf der ersten UN-Anti-Rassismus-Konferenz in Durban besonders deutlich. Während be­stimmte Rassismen nicht thematisiert, oder unter dem Verweis auf die „nationale Selbstbestimmung“ von den betroffenen Staaten abgewiegelt wurden, gab es eine Staatenmehrheit in der Kommission, die vor allem Interesse daran hatte Israel zu diffamieren. Sowohl auf der UN-Kon­fe­renz und in deren Abschlussdokument, als auch auf der parallel dazu stattfindenenden NGO-Konferenz, wurde das Ver­hal­ten Israels gegenüber den Palästinensern so feindselig verurteilt und pauschalisiert, dass die israelische und US-amerika­nischen Delegationen überstürzt abreisten.

Aufgrund dieser Ereignisse und einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den politischen Veräußerungen der MRK, wurde diese reformiert. Man wollte kein zweites Durban, so dass auch in den vorherigen Zusammenkünften zur zweiten UN-Anti-Rassismus-Konferenz heftig um die Formulierungen in der Abschlusserklärung gerungen wurde, um eine scheinbare globale Har­monie wieder herzustellen und ge­mein­same Zeichen gegen den weltweiten Rassismus zu setzen. So findet man in der Abschlusserklärung von Genf bspw. keinen konkreten Israel-Bezug, um einige der „westlichen“ Staaten zur Teilnahme zu mo­ti­vieren. Dies wäre auch fast geglückt, wäre der neu gegründete MRR nicht schon vorher durch seine der MRK stark ähnelnde Politik in Misskredit geraten. Denn seit seinem Bestehen 2006 wurden von ihm lediglich vier Resolutionen zu bedenklichen Menschenrechtssituationen in Somalia, Kongo, Nordkorea und Burma verfasst, die die Beteiligten zur „Achtung ihrer Verpflichtungen“ ermahnten. Dagegen gab es noch fünf weitere Resolutionen, die die Politik Israels in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte scharf kritisieren. Zudem wurde in einer anderen Deklaration des Rates die Verurteilung der Verfolgung homosexueller Menschen gestrichen und stattdessen die „Diffamierung von Religionen“ als rassistisches Verhalten festgeschrieben. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass fortan Themen wie der Karikaturenstreit größeres Gewicht auf den Sitzungen bekamen, sondern auch, dass die Thematisierung der Unterdrückung von Frauen z.B. in islamischen Ländern mit dem Argument, man wolle hier die islamische Religion kritisieren, beständig ignoriert werden konnte. Diese Hand­lungspraxis des Rates verweist nicht nur auf eine unveränderte „Blockhaltung“ von staatlichen Interessengemeinschaften, sondern auch auf eine relative Stimmenmehrheit der Israel-feindlich eingestellten Staats­führer im Rat. Zudem erklärt das auch die Haltung derer, die dem MRR misstrauisch gegenüberstehen und der Kon­ferenz von vornherein fernblieben. Wie erwartet bestätigte Ahmadinedschad mit seiner Hetzrede gegen Israel auch prompt die Befürchtung. Der fragwürdige und einseitige Konferenzcharakter, der sich bereits auf der ersten UN-Konferenz gegen Rassismus andeutete, setzte sich so auf der zweiten Konferenz fort und führte zu einer weiteren Verhärtung, die das eigentliche Anliegen – den weltweiten Rassis­mus zu bekämpfen – nicht nur in Frage stellen, sondern zu einer Farce verkommen lassen.

Dabei sein ist NICHT alles

Organisationen wie Amnesty International kritisieren trotzdem das Nichterscheinen auf der Konferenz, da man es sich so zu einfach mache. Frei nach dem Motto: Wer nicht mitredet, kann auch den Charakter solcher Konferenzen nicht mitbestimmen und dementsprechend auch nicht zu Verbesserungen beitragen. Auf den ersten Blick kein schlechtes Argument – doch wel­chen Sinn machen solche Konferenzen überhaupt, wenn heikle Themen aus Rücksicht auf eigene Interessen ohnehin nicht angesprochen werden? Wäre es nicht besser Rassismuskonferenzen und dazugehörige Deklarationen abzuschaffen, da sie ohnehin nur Bühne des Populismus sind und nur zur Imagepolierung, Selbstdarstellung und Verdrehung von Tatsachen dienen? Ist es überhaupt möglich, in diesem Rahmen offen und ehrlich die weltweiten rassistischen Handlungen anzu­spre­chen und zu verändern?

Der Blick in die Geschichte der UNO und im Speziellen der MRK verrät einige der Antworten be­reits: Anti-Rassismus-Konferenzen machen keinen Sinn, wenn es die Staats­ver­treter_innen selbst sind, die darüber diskutieren. Im globalen Interes­sen­poker und insbesondere auf der Ebene internationaler Beziehungen kann jede Äußerung schwerwiegende Konsequenzen mit sich ziehen, so dass die Mächtigen diese Tribüne wohl immer nur für ihre eigenen und spezifischen Interessen nutzen werden. Rassis­mus, der zwischen den Menschen, irgendwo auf der Welt passiert, ist für Re­gie­rungen nur von Relevanz, wenn ihre In­teressen in irgendeiner Weise davon berührt werden. Ob dies dann aber einen positiven Effekt auf die zuvor diskriminierten Menschen hat, ist äußerst fraglich. Ebenso fraglich ist es, ob gemeinsame Lippenbekenntnisse der Staatsvertre­ter_in­nen, in Form von verabschiedeten Deklarationen gegen Rassismus und Diskriminierung tatsächlich Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Und wie zynisch muss solch Heuchelei oben­drein in den Ohren derer klingen, die unter deren institutionalisierter rassistischer Diskriminierung leiden?

Demzufolge ist es auch irrelevant darüber zu debattieren, ob Deutschland an der UN-Rassismuskonferenz hätte teilnehmen sollen. Selbst wenn es kein Stimmenübergewicht der antisemitisch motivierten Regierungsvertreter gäbe und Israel nicht mehr das alles dominierende Thema wäre, so hätte die Konferenz dennoch einen heuchlerischen Charakter. Denn leider sind beim UN-Staatenbund die Staaten immer die Chefs.

Rassismus von unten bekämpfen

Rassismus hat vielerlei Gesichter und wird von Nationalstaaten zumindest indirekt durch diskriminierende Gesetze gefördert. Während die Liste der Ungleichbehand­lungen in einzelnen Staaten von der Länge her sicherlich differiert, kann sich ins­gesamt wohl kein Staat damit rühmen, nicht in seinen Grenzen zu diskriminieren. Im deutschen Kontext sei hier kurz die Residenzpflicht für Asylbewer­ber_in­nen erwähnt, die im Grunde auch gegen das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit verstößt (4). Durch solche Regelungen werden Staaten auch oft Wegbereiter für den Rassismus zwischen den Menschen, der verletzt oder sogar tötet. Auch wenn dieses Problem global ist, muss es auf lokaler Ebene in Angriff genommen werden. Will heißen, dass es nicht die Staatschefs sein sollten, die abstrakt über Rassismus reden, um sich am Ende nur selbst zu feiern, sondern dass solche Austauschplattformen den NGOs, sozialen Vereinen und Organisationen zur Verfügung stehen sollten, um sich konkret austauschen, absprechen und Lö­sungsv­orschläge erarbeiten zu können. Dann würden Probleme, die von Staaten inszeniert und befördert werden auch radikaler und offener thematisiert werden. Gegen Rassismus vorzugehen und das Problembewusstsein bei den Menschen zu schärfen, ist extrem wichtig – nicht nur wegen der vielen Opfer von Übergriffen, sondern auch, um das Fundament für eine Gesellschaft zu legen, die sich jenseits rein äußerlicher Merkmale orga­nisiert und solidarisiert. Setzt man dabei auf den Staat, wird dieses Fundament allerdings auf Sand gebaut.

(momo)

(1) Achmadinedschad sprach u.a. auch vom Zionismus als „personifiziertem Rassismus“. Link zum englischsprachigen Text der Rede, die während der Konferenz als Flugblatt verteilt wurde: www.image. guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2009/04/21/speech.pdf

(2) Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ oder „UN-Menschenrechtscharta“, wurde 1948 von der UN-Generalversammlung (dem höchsten beschlussfassenden Gremium) verabschiedet. Zwar müssen Staaten mit ihrem Beitritt zur UNO die Charta anerkennen, allerdings besitzt sie keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter, so dass eine Verletzung der Menschenrechte nicht automatisch negative Konsequenzen für den Staat hat oder zum Ausschluss aus der UNO führt.

(3) Analytisch betrachtet ist es höchst umstritten, was begrifflich unter Rassismus zu verstehen ist und wird auch unterschiedlich definiert. Grundsätzlich können Schlüsse von äußerlichen Merkmalen auf Charaktereigen­schaf­ten, Intellekt oder soziale Verhaltensweisen als rassistisch betrachtet werden (biologischer Rassismus). Während einige Vertre­ter_innen den Begriff sehr eng fassen und auf bestimmte Ethnien (sog.“Völker“) beziehen, begreifen andere Rassismus umfassender als Diskriminierung von Menschen, die sich z.B. auch im Geschlecht, der Religion oder anderen Kategorien unterscheiden (kultureller Rassismus). Von institutionalisiertem (oder funktionalem) Rassismus kann hingegen gesprochen werden, wenn bestimmten Bevölkerungsgruppen Leistungen vorenthalten werden, die anderen garantiert sind.

(4) Die Residenzpflicht sieht vor, dass Asylbewerber_innen ihren ihnen zugeordneten Landkreis nur mit Genehmigung verlassen dürfen. Wird diese Verordnung übertreten, dann hat der oder diejenige eine Straftat begangen und demzufolge keine Aussichten mehr auf eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Praktisch hat das verheerende Auswirkungen: Wer die bürokratische, deutsche Sprache nicht versteht, hat es schwer einen Antrag für „Ausgang“ zu stellen. Familienmitglieder, die in unterschiedlichen Heimen untergebracht sind, haben keine Möglichkeit sich öfter zu sehen. Der kleinflächige Bewegungskreis um das Heim, das meist in ländlichen Gebieten liegt, macht selbst Besuche in der Stadt zur großen Hürde und schlussendlich dauern die Verfahren bis zu einem (ohnehin eher unüblichen Aufenthaltsstatus) mitunter bis zu 5 Jahre. Das Gesetz der Residenzpflicht wurde 1982 in Deutschland im übrigen auch nur eingeführt, um Migrant_innen vor der Immigration abzuschrecken. Es gibt auch kein anderes Land mit solch einem diskriminierenden Gesetz.

Exkurs: Menschenrechtsrat versus Menschenrechtskommission

Der Menschenrechtsrat (MRR) ist nun ein Nebenorgan der UN-Generalversammlung und kein Unterorgan vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat mehr, wie die Menschen­rechts­­kommission (MRK). Der MRR ple­niert jetzt 10 statt sechs Wochen im Jahr und besteht aus 47 von der UN-Generalversammlung gewählten Mitgliedern (die MRK bestand aus 53 Mitgliedern). Wichtig für die Neukonstitution ist v.a., dass der MRR schneller auf Menschenrechtsverletzungen reagieren kann, weil er das Recht hat, Sondersitzungen einzuberufen und nun auch das Mandat besitzt Men­schen­rechts­ver­letzungen in einzelnen Ländern zu thematisieren und Hand­lungs­em­pfeh­lungen für andere UN-Kommissionen zu formulieren. Zudem besteht jetzt die Möglichkeit einer Abwahl von Staaten im MRR, wenn sie nachweislich gegen Menschenrechte verstoßen. Außerdem gibt es nun eine Rechenschaftspflicht der Staaten, die im MRR aktiv sein wollen bezüglich ihrer eigenen Menschen­rechts­­situation. Eine differenzierte Re­gionalzusammen­set­zung im MRR hat zudem dazu geführt, dass sich die Stim­menmacht der europäischen und lateinamerikanischen Staaten verringert hat. So stellen Afrika und Asien jeweils 13 Sitze, 6 Sitze gehen an Osteuropa, 8 an Lateinamerika und die Karibik, sowie 7 Sitze an Europa und die restlichen Staaten. Obgleich diese strukturellen Veränderungen dem Rat bessere Voraussetzungen bieten, Menschenrechts­ver­letzun­gen unabhängig zu behandeln und anzuklagen, hat sich an der Praxis bisher wenig verändert.

May-Action – IT WORKS!

Endlich mal wieder was los in L.E.! Und das zum Ersten Mai und ganz ohne Nazis. Grund genug für die gesamte Feierabend!-Redax in kleinen Teams überall vor Ort zu sein, um zu sehen, wie erfolgreich sich das Sterndemo-Konzept eines breiten Bündnisses von politischen Gruppen umsetzen ließ.

FA!-Zentrale: Saluta, geneigtes Publi­kum! Ich melde mich hier aus der FA!-Zentrale, um Euch durch den Tag zu füh­ren. Und was für ein Tag das ist! Die Sonne strahlt makellos, und wie mir eben be­richtet wurde, haben sich an den verschiedenen Treffpunkten zum heutigen Mai-Sternenmarsch bereits hunderte Akti­vistIn­nen versammelt. Anlass dieser alternativen Mobilisierung zum 1. Mai ist die allgemeine Unzufriedenheit über das alljährliche Bratwurstfest der Zen­tra­l­gewerkschaften und deren Forderung nach immer noch mehr Arbeit im Rahmen kapitalistischer Verwertungslogik. Stattdessen wollen die Veranstal­terIn­nen hier und jetzt ein klares Zeichen ge­gen den Arbeitswahn und die Aus­beutung der menschlichen Arbeitskraft setzen. Unter verschiedenen Motti werden die AktivistInnen aufeinander zu­laufen und dann vom Südplatz ge­mein­sam unter einem arbeits­kritischen Slogan durch die Innenstadt zum Jo­hannisplatz zie­hen. Wir sind gespannt, ob das Kon­zept aufgeht. Noch eine letzte Info, ehe ich zu unserem Redak­tionsteam am Connewitzer Kreuz schalte: Heute morgen waren gerade mal 100 Menschen bei der DGB-Demonstration. Allein das sollte den Funktionären zu denken geben! Aber nun ans Kreuz, von wo justus und clov live berichten …

justus: Hier sind schon gut 400 Leute vor Ort. Noch ist alles ruhig. Halt! Da passiert was! Ein Punk erklärt herum­stehenden Polizisten, sie seien Scheiße – die bieten im Gegenzug an, ihn in Gewahrsam zu nehmen. Eine Eskalation wird zum Glück vermieden…

clov: Ich sehe auch gerade 12 Konflikt­manager_innen auflaufen. Die sollen wohl das Alkoholverbot durchsetzen. Beim Verlesen der ganzen Demoauf­lagen bin ich fast eingeschlafen.

FA!-Zentrale: Am Kreuz scheint ja schon einiges los zu sein. Wie sieht es in der Johannisallee aus?

wanst: So langsam sammeln sich etwa 150 pinkbunte und dunkle Leute in praller Sonne. Ein selbstgebasteltes Papp­schild beschreibt die Stimmung: „Wir sind niedlich! – Was seid Ihr?“. Vom Lauti aus werden gerade einige Polizist­Innen aufgefordert, nicht zwi­schen der Demo rumzulaufen. Am Rande werden Taschen nach Alkohol durch­sucht.

bonz: Ein Skandal! Gerade noch recht­zeitig konnte eine Sektflasche, ein po­tentieller Molli, konfisziert werden. Die Auflagen und der Aufruftext wurden verlesen. Ah, es geht los!

FA!-Zentrale: Und jetzt noch schnell zum West­platz. Wie ist die Lage bei Euch?

momo: Also hier haben sich gerade rund 100 Leute versammelt. Wir stehn zwar noch planlos auf dem Fußweg rum, aber das wird sich hoffentlich bald ändern.

k.mille: Einige schwarzgekleidete Men­schen bringen gemächlich ihr Front­trans­parent – „Still not Loving Police“ – in Stellung. Demoauflagen werden ver­lesen. Die Stimmung ist entspannt. Wir geben zurück an die Zentrale.

FA!-Zentrale: Wahnsinn! Wenn ich mich nicht irre, ist die Mobilisierung ein voller Erfolg. Zusammen demonstrieren derzeit über 650 Menschen für eine alternative antikapitalistische Perspektive durch Leipzig. Die breite Kompromiss-Linie der Ver­an­stal­ter­Innen hat sich offenbar gelohnt. Es ist lange her, dass eine solche Menge von AktivistInnen in Leipzig an einer eigenständigen Pro-Demo teilge­nom­men hat. In wenigen Minuten müssten sich die drei Demonstra­tionszüge am Südplatz ver­einigen. An alle Teams: Seid Ihr schon vor Ort?

momo: Ja, unser Demozug vom West­platz ist der erste am Südplatz. Aber im Moment sind wir noch ein eher kläg­liches Häufchen.

k.mille: Oh was, so schnell?! Da ist man mal für einen Moment bedürfnis­orientiert …

justus: Unser Demozug nähert sich jetzt von Connewitz aus. Die Polizei ist deutlich in der Unterzahl, die Stimmung dementsprechend entspannt.

clov: Jo, alles chillig hier. Mir fehlts persönlich etwas an Inhalten. Sehe nur wenige Fahnen und ganze zwei Trans­parente. Außer dem 8.Mai-Aufruf kursiert auch nur der allgemeine Demo-Flyer. Schade, eine verpasste Chance.

wanst: Nach der Kundgebung am Bay­rischen Platz mit Reden, die u.a. for­der­ten „Schafft mehr Läden“ und einer ABBA-Coverband ging es weiter zur Karli mit einem schlecht ausgesteuerten Jingle, der für nächste Woche zum „Rock am Kreuz“ aufrief. Wir sind kurz vor dem Südplatz. Ich höre schon Gejubel. Die Demo legt jetzt einen Schritt zu.

droff: Es bleibt hoffentlich bewegt. Gera­de wurde der letzte Demozug von der Jo­hannesallee mit Jubel­rufen empfangen. De­mo komplett! Jetzt kann´s richtig losgehen.

FA!-Zentrale: Also, der versammelte Demonstrationszug bewegt sich jetzt fröhlich und ausgelassen in Richtung Stadtring. Die Stimmung ist dank des guten Wetters und der vielen Leute ausgezeichnet… Halt, ich höre gerade, dass der Demonstrationszug von der Polizei direkt am Polizeipräsidium aufgehalten wurde. Was ist da los, Leute?!

justus: Zwei Reihen Polizei in voller Montur haben die Straße blockiert! Vom Lauti­wagen aus wird die Menge aufgefor­dert, ruhig zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen.

clov: Abgekartetes Spiel! Nach der LVZ war die Stimmung am Höhepunkt. Jetzt sit­zen wir im Schatten des Polizeipräsi­diums fest. Die einzige Stelle, wo die Polizei mit ihren wenigen Kräften dichtmachen konnte. Scheiß Provo!

momo: Ach, es hätte so schön sein können. Aber nein, da fehlt noch der Aufhänger für die Presse morgen, damit die Demo schlecht- und die Bullen gutgeredet werden können!

FA!-Zentrale: Ich höre gerade, dass die Demo weitergeht. Offensichtlich hat die Polizei erkannt, wie überflüssig es war, die bisher ausgesprochen friedliche Demonstration weiter zu provozieren. Ein Punkt für die Ordnungs­behörden. Wie ist die Stimmung nun? Wir schalten ein letztes Mal zur De­mons­tra­tion …

wanst: Ja, wir haben am Roßplatz noch ein­mal Halt für Reden zu Uni und Ar­beit gemacht. Auf der geänderten Rou­te geht´s jetzt zum Johannisplatz, wo noch etwas Musik und Chillout sein soll. Trotz Alkoholverbot bin ich auch schon nicht mehr ganz nüchtern und freu mich auf die Wiese.

FA!-Zentrale: Unser Fazit zum heutigen 1. Mai: Die Sache mit der dreige­teilten Demo hätte echt schiefgehen können. Es war aber nicht so. Im Gegenteil: Stun­den­­lang konnten die un­ter­schied­lichen po­litischen Grup­pen die öffent­l­ichen Räu­me der Stadt mit ihren Inhalten besetzen. Außer­dem zeigte das Teilneh­mer­Innen-Ver­hält­nis von beinahe 1:10 zwischen der DGB-Demo und dem alter­na­tiven Sterndemo, dass es richtig war, ein Zeichen gegen die Pro-Arbeits-Demo des DGB zu setzen. Denn die meisten politisch­en Akti­vist­Innen in Leipzig haben begriffen, dass es nicht um mehr, sondern um eine andere Art der Arbeits­orga­ni­sation, nicht nur um eine Re­form, sondern um eine Revolution der Ver­hält­nisse gehen muss. Sicher, die breite Kom­pro­miss-Linie hat nicht alle in jedem in­halt­­lichen Punkt befriedigt, aber die schiere Masse der Teil­­nehmer­­Innen war heute ein weithin sicht­bares Zeichen der Hoffnung.

Weiter so, wünscht deshalb allen der Feierabend!

Thor Steinar ist verkauft

Die Nazi-Marke Thor Steinar hat ihren Besitzer gewechselt. Was erst im März breiter bekannt wurde, ist schon seit November 2008 Realität: Die hinter der Marke stehende Mediatex GmbH wurde an den arabischen Großinvestor Faysal al Zarooni, der sich ansonsten auf Immobi­lien­geschäfte und Beratungsdienstleistun­gen spezialisiert hat, verkauft. Der neue Eigentümer aus Dubai hat seinen Berater und engen Mitarbeiter Mohammed M. Aweidah als neuen Geschäftsführer von Mediatex eingesetzt. In Nazikreisen ist nun die Aufregung groß: Einige meinen, die alten Geschäftsführer Uwe Meusel und Axel Kopelke hätten sie verraten und sich jahrelang aus der Szene bereichert, ohne dieser was zurück zu geben. Weitere sind am Überlegen, ob die Marke jetzt boykottiert werden sollte, da sie ja nun keinem „ech­ten Deutschen“ mehr gehöre. Wiederum andere finden die Klamotten so cool, dass ihnen der Besitzer egal ist, oder heben die kollektive Identifikationswirkung von Szene-Klamotten heraus. Und schlussendlich gibt es auch solche, die das abgehen auf derlei Marken nie verstanden haben und sich eher das „braune Hemd“ als Identi­fika­tionsmerkmal zurückwünschen. Großes Kino – kruder Film. Solange sich die rechte Szene jedoch in ihrer Ablehnung nicht einig ist, solange muss sich auch die Ladenschluss-Kampagne nicht umorien­tieren und kann diese Marke weiter den Faschisten zuordnen.

(momo)

„Jedem Ende wohnt ein Anfang inne …“

Thor-Steinar-Laden in Halle eröffnet

Während viele Leipziger_innen am 30.Juni den erfolgreichen Kampf gegen den Nazi-Laden ‘Tönsberg’ ausgiebig mit „antifaschistischem Festbankett“ und einer Jubeldemo unter dem Motto „Nazizentren zu Tanzschuppen“ feierten, haben die Hallenser_innen noch keinen Grund zur Freude: Denn die Firma ‘MediaTex GmbH’, die die von Nazis beliebte Marke ‘Thor Steinar’ vertreibt und bundesweit derzeit ca. 10 Läden direkt betreibt, hat kurzerhand die Klamotten eingepackt und die Geschäftsstelle in’s 40 km entfernte Halle verlegt. Der neue alte Laden heißt jetzt ‘Oseberg’, befindet sich bahnhofsnah in der Leipziger Straße 70 und erfreut sich zahlreicher Kundschaft aus Halle, Leipzig und Umgebung.

 

Dass Meusel – der ehemalige Geschäftsführer von Media­Tex* und Betreiber des Ladens – auch in Halle keine Ruhe haben wird, zeigte sich bereits bei der Ladeneröffnung am 4. Juni. Denn am Morgen erschienen spontan ca. 150 Menschen, die z.T. mit Transpis und Flyern bestückt ihren Unmut äußerten, Mist vor die Schaufenster kippten und signalisierten, dass auch dort kein Platz sei für eine aussichts­rei­­che Zukunft von Naziläden.

In den darauf folgenden Wochen wurde das Oseberg nicht nur durch Farbbeutel an der Fassade und Risse in den Fensterscheiben „verschönert“, sondern auch strategisch unter die Lupe genommen. Eine Gruppe engagierter Personen und zivilgesellschaftlicher Initiati­ven tauschte Erfahrungen mit Ladenschluss-Kampagnen in Leipzig und Magdeburg aus und gründete daran anlehnend die Aktion Ladenschluss, unter deren Label der Protest nun laufen soll. Seither gibt es jeden ersten und dritten Montag im Monat ein offenes Treffen, bei dem neue Infos ausgetauscht, Ideen gesammelt und geplante Aktionen besprochen werden. Eingeleitet werden die Plena jeweils mit vor dem Ose­berg stattfindenden Picknicks um 18 Uhr, bei denen nicht nur Präsenz gezeigt, sondern auch die Bevölkerung informiert werden soll.

Inzwischen sind mit der Kün­di­gung seitens des Immobi­lien­be­­sit­­zers be­reits rechtliche Schritte eingeleitet worden und eine Reihe von Ak­tions­ide­en – wie vor den Laden platzierte Altkleidercontainer, Straßen­thea­­ter, Workshops und Pla­kat­wett­be­wer­be – in Umsetzung. Um das von Mag­­­de­­burg bekannte „Örtchen-wechsel-dich-Spiel“ einzugrenzen, gibt es außerdem Briefe, die potentielle Vermieter in Halle aufklären und war­­nen sollen. Der Wi­der­stand gegen den Thor-Steinar-Laden in Halle läuft also an – wird sich aber auch verstärken müssen. Denn wie bereits am Fall Leipzig deutlich wurde, scheuen die Betreiber keine langwierigen gerichtlichen Auseinander­set­­zun­­­gen. In Halle dürfte die rechtliche Lage zudem erschwert sein, da der Immobilienei­gen­tü­mer scheinbar nicht „arglistig ge­täuscht“ wurde.

Schade ist jedoch, dass im Gegensatz zum Spektrum des Leipziger Ladenschluss-Aktionsbündnis gegen Nazis das Engagement der Hallenser_innen hauptsächlich von zivilgesellschaftlichen Akteuren, also Vertreter_innen lokaler politischer Organisationen ausgeht und „klassische“ Antifa-Kreise kaum am runden Tisch der Aktion Ladenschluss anzutreffen sind. Dass es an dieser Stelle (noch) so wenig strategische Zusammenarbeit gibt, hat sicher­lich mehrere Ursachen. Aus den Erfahrungen der anderen Kampagnen gegen Thor-Steinar-Läden heraus sollte dies jedoch auch kritisch betrachtet und verändert werden. Denn wie fruchtbar eine Zusam­men­ar­beit durch Zuwachs an aktiven Menschen und vielfältigen Aktionsformen sein kann, wird sich vor allem dann zeigen, wenn der Atem – wie befürchtet – länger sein muss.

(momo)

 

* Die Firma Mediatex wurde Ende letzten Jahres an den arabischen Investor Faysal al Zarooni in Dubai übertragen. Zwar gibt es innerhalb der rechten Szene vereinzelte Forderungen nach Boykott der Marke, der jedoch angesichts der Verbreitung und Identitätsstiftung unter Nazis vorerst zu vernachlässi­gen ist (siehe auch FA!#33). Meusel, der ehemalige Geschäftsführer der Firma versucht weiterhin offensiv bundesweit Geschäftsstellen zu eröffnen und war auch am 04.06. in Halle persönlich zugegen.

„Viehmarktatmosphäre“ im Polizeikessel

„20 Jahre Mauerfall“ treibt nicht nur eventbewegte Bürger_innen (wie zum Leipziger Lichtfest, siehe S. 4) auf die Straße, sondern auch Neonazis. Unter dem Zusatzmotto „Wir sind das Volk“ mobilisierten die JN (Junge Nationaldemokraten) aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am 7.11. nach Halle, um dort die Vereinigung „der Deutschen“ als wichtigen Schritt zum ersehnten „Groß­deutschland und „Teilsieg über das Ende der Fremdherrschaft seit 1945“ zu zelebrieren. Statt der anvisierten 500 Demo­teil­neh­mer_in­nen folgten zwar nur ca. 300 dem Aufruf, diese allerdings konnten sich am reibungslosen Ablauf ihrer Veranstaltung ergötzen. Denn das riesige, ca. 1000 Leute umfassende Polizeiaufgebot – verbunden mit großflächigen Absperrungen, massiven Platzverweisen und Kontrollen, Verboten von räumlich nahen Gegenkundgebungen sowie dem Einkesseln der angemeldeten zivilgesellschaftlichen Protestveranstaltung – verhinderte den direkten antifaschistischen Widerstand, der ohnehin geringen Anzahl von ca. 600 Aktivist_innen. So blieb es bei vereinzelten Störungsversuchen derjenigen, die nicht im Kessel saßen und Gelegenheit bekamen während des Aufmarsches durch die Neustädter Plattenbauten näher an die Faschos heran zu kommen. Insgesamt war der Tag für die Antifaschist_innen eine Pleite – Nazis und Polizei hingegen klopfen sich auf die Schultern.

Während die Nazi-Demo drei Wochen zuvor in Leipzig vor allem durch die repressive Polizeitaktik aufgelöst werden konnte (siehe S. 1, 5), führten die Repressionen gegen Linke gerichtet in Halle zum Durchmarsch der Rechten. Zwar gab es vom zivilgesellschaftlichen Bündnis Bestrebungen (u.a. mittels hochkarätiger Poli­tikpräsenz durch den sachsen-an­haltinischen Innenminister Hövelmann) eine gute Verhandlungsbasis zur Polizei aufzubauen, dennoch passierte Gegenteiliges. Schlussfolgernd wurde wieder deutlich, dass mensch weder der Polizei vertrauen sollte, noch dass ein Grund zum Feiern bestünde, wenn diese doch mal einen Aufmarsch maßgeblich (mit-)verhindert.

(momo)

„Wir brauchen Nachwuchs“

Wächterhaus Triftstraße 19A in Halle

Der Export vielversprechender Konzepte ist oftmals nur eine Frage der Zeit. So verhält es sich auch mit dem Wächterhauskonzept des Leipziger Haus­Halten e.V., welcher seit über 5 Jahren aktiv ist, mittlerweile 11 Häuser betreut und eines schon wieder „entlassen“ hat. Der im November 2006 im nahen Sachsen-Anhalt gegründete Haushalten Halle e.V. verfolgt die gleichen Ziele, er ist ebenfalls angetreten um die „von Verfall und Abriß bedrohten Häuser schützen“, wie es ihm der Leipziger Verein vortut. Nach einem halben Jahr Wächterhausinitiative war es im Juni 2007 auch in Halle soweit – das erste Wächterhaus konnte feierlich eingeweiht werden. Es handelt sich dabei um ein Gründerzeithaus in der Triftstraße, dessen günstige finanziellen Konditionen durch das Wächterkonzept das Interesse einer Gruppe Studierenden weckte, die dort mit dem eigens gegründeten Triftpunkt e.V. endlich einen Ort für die Verwirklichung ihrer zahlreichen kreativen Ideen gefunden haben. Während sich Haushalten Halle e.V. um neue Objekte bemüht, die trotz enormen Leerstands so einfach gar nicht aufzutreiben sind, hat sich in der Triftstraße in den vergangenen zwei Jahren einiges getan.

Raumtraum

Der bunte Strauß von Studierenden und jungen Künstler_innen, die sich im Triftpunkt e.V. zusammen schlossen, brachte allerlei Vorstellungen, Ideen und Enthusiasmus mit, wie das neue Haus genutzt werden könnte. Was alle einte, war der Anspruch sich selbst und Anderen offene Räume zur kreativen Nutzung zur Verfügung zu stellen: Raum, der unabhängig von den rar gesäten universitären Freiräumen besteht. Raum der von den Agierenden selbst verwaltet wird. Raum, der mit einem Café auch die Nachbarschaft einlädt. Also Raum, der all jene anzieht, die auf der Suche nach Freiraum sind, um dort ihre Ideen zu verwirklichen – nicht um zu wohnen.

So wurden nicht nur die Räumlichkeiten zum Kinosaal, einer Bar oder einem Treffpunkt umfunktioniert, sondern es gab auch jede Menge Aktivitäten, die der Triftpunkt organisierte, wie z.B. die erfolgreich verlaufene Veranstaltungsreihe „Why Democracy “ mit sieben Terminen, die weniger erfolgreiche Veranstaltungsreihe „Aus-Wahl 09“ ein Semester später, zahlreiche Ausstellungen, regelmäßige Film- und Tatort-Abende und auch jede Menge Feierei. Der Triftpunkt, der sich im politischen Selbstverständnis ausdrücklich „neutral“ verhalten möchte, stellte auch verschiedenen anderen Gruppen ihren Raum für ihre Veranstaltungen, Workshops und Seminare, Infoabende, Parties und Plena zur Verfügung.

Neben der organisierten Nutzung durch Triftpunkt e.V., gibt es inzwischen allerdings noch andere Gruppen und Personen, die im Wächterhaus aktiv sind: eine Künst­ler_in­nen­gruppe, welche die Gale­rieräume im Erdgeschoss für Ausstellungen nutzt, zwei Frauen, die Keramikgegen­stände herstellen, ein kommerzieller Mietkochservice und Atelier-Nutzer_innen im Obergeschoss. Was alle eint, ist aber lediglich ihr eigenständiger Nutzungsvertrag mit HausHalten.

Traumschaum

Die Wächterhaus-Nutzer_innen sind leider nicht so gut miteinander vernetzt. Regelmäßige Hausplena gab es zuletzt vor ungefähr zwei Jahren, als wichtige Standards wie Wasser und Elektroanschluss gemeinsam geklärt werden mussten. Inzwischen macht jede_r ihr_sein eigenes Ding, wobei der Triftpunkt nicht nur die aktivste Gruppe ist, sondern auch mit den wöchentlichen Tatort-Abenden und den regelmäßigen Plena am kontinuierlichsten arbeitet. Die Außenwahrnehmung des Hauses ist maßgeblich von Triftpunkt geprägt, von einer darüber hinaus gehenden Hausgemeinschaft kann mensch aber leider nicht sprechen. Dafür fehlt es an Kommunikation, Kontakt und der gemeinsamen Auseinandersetzung über geteilte Visionen bezüglich der Wächterhaus-Ausrichtung.

Aber auch intern herrscht Unzufriedenheit unter den Aktivist_innen von Triftpunkt. Irgendwie scheint in letzter Zeit die Luft raus zu sein, was sich an den seltener stattfindenden Veranstal­tun­­gen, den generell zurückgegangenen Besucher_innen-Zahlen dieser und dem gedrosselten Engagement der aktiv Beteiligten festmachen lässt. Knackpunkte dieser Entwicklung scheinen dabei auch Unstimmigkeiten zu sein, was die neutrale politische Positionierung und die Entscheidungsfindung bzw. Arbeitsweise von Triftpunkt betrifft. Denn der Verein ist sehr pragmatisch ausgerichtet, stimmt seine Entscheidungen nach Mehrheitsprinzip ab und entscheidet auch mal schnell über die Köpfe er anderen hinweg. Die scheinbar neutrale Ausrichtung spaltet ebenfalls die Aktivist_innen: Denn die einen schätzen die Heterogenität der Gruppe und die Vielfalt der unterschiedlichen Denkansätze und sind zudem froh, Veranstaltungen, Events und Kulturereignisse wie Ausstellungen realisieren zu können, ohne anstrengende Plena über die eigene politische Ausrichtung darin führen zu müssen. Andere hingegen empfinden die scheinbare Neutralität als Hemmschuh für mehr Bewegung nach Innen und Außen. Wenn bspw. innerhalb der Gruppe ernsthaft diskutiert wird, ob man Vattenfall als Sponsor einer Veranstaltung zulässt, so ist das gerade für Menschen mit bestimmten politischen Werten kaum nachvollziehbar und macht die Gruppe zudem unattraktiver. So könnte der Rückgang des Engagements alter und potentiell neuer Nutzer_innen auch damit zusammenhängen, dass der Verein kein eigenes politisches Profil besitzt, sondern fast jeder_m die Tür aufhält.

Schlussendlich könnte auch das Verhältnis zu HausHalten besser sein. Dort hat sich die Gruppe von Anfang an auf ein hierarchisches Mieter-Vermieter-Verhältnis eingestellt. Als dann noch der privatwirtschaftliche Mietkochservice (mit dem es auch jenseits seiner kommerziellen Orientierung Differenzen gibt) in das Haus einzog, manifestierte sich der Eindruck, keinerlei Mitspracherecht über die generelle Nutzung des Wächterhauses zu bekommen.

Schaum schlagen!

Doch allzu trübe Graumalerei scheint auch unangebracht. Zwar befindet sich der Triftpunkt personell in einer Umbruchphase und sucht engagierten Nachwuchs, allerdings kann ein positiv vollzogener Generationswechsel auch wieder neuen Schwung und Kreativität in die alten Gemäuer bringen. Die Bedingungen für frischen Wind sind sogar richtig günstig: Es gibt bereits ein Haus mit Raum, der nicht von festgefahrenen Strukturen oder dogmatischen Gruppenzusammenhängen geprägt ist, sondern wo Leute für kreative Köpfe offen sind. Die Frage allerdings bleibt, inwiefern die Gruppe dann eine gemeinsame Basis etabliert – sei es über ihren politischen Anspruch, gemeinsame Interessen oder einfach Sympathie. Daran nährt sich dann der lange Atem.

(momo)

Mehr Infos gibt es auf www.triftpunkt.de

Occupy in deutschen Landen

Ein Blick in und über den Tellerrand der Blockupy-Protesttage in Frankfurt  

Die Welt kennt eine neue Bewegung: Occupy. Angestoßen durch die Aufstände in Tunesien und anderen arabischen Staaten, emporgestiegen während der spanischen, griechischen und israelischen Sozialproteste 2011 und populär geworden durch die US-ameri­kanische Occupy-Wall-Street-Bewegung, ist Occupy zum Sammelbegriff für soziale Proteste und Bewegungen rund um den Globus geworden. Occupy wurde zum Label, es steht sowohl für die Besetzung öffentlicher Plätze in den verschiedensten Städten und Weltregionen, als auch für die Empörung verschiedenster Menschen. Sie prangern soziale Missstände an, wollen etwas in Politik und Wirtschaftsausrichtung grundlegend ändern. Sie werden laut. Auch in Deutschland – ein wenig.

Offenheit zeichnet die Bewegung aus – Vielfalt wird da zum Programm: Nicht nur die Ausgangslage und die darauf aufbauenden Protestausrichtungen sind in den jeweiligen Staaten sehr unterschiedlich. Auch auf lokaler Ebene zeichnet sich das Spektrum der Aktivist_innen vor allem durch seine Unterschiedlichkeit in Kritik und Utopie aus.

Diese Offenheit und Diversität ist auch ein Grund, weshalb viele politisch aktive Menschen hierzulande meist skeptisch reagieren, wenn vom deutschen Ableger der Occupy-Bewegung die Rede ist. Befremdlich wirkt es, wenn die deutschen Proteste mit den Revolutionen im arabischen Raum oder der US-amerikanischen Protestbewegung in Zusammenhang gebracht werden. Ist das hierzulande denn eine soziale Bewegung? Welche aktuellen Missstände werden wie thematisiert? Welchen Anspruch an gesellschaftliche Veränderung haben die? Und wer sind die überhaupt? An Skepsis und Vorurteilen mangelt es uns sicher allen nicht, beim Versuch, sich die Occupy-Proteste im deutschen Lande vorzustellen. Mitte Mai 2012 gab es die Gelegenheit einen direkten Einblick zu bekommen und die eigene Kurzschlüssigkeit kritisch zu hinterfragen – bei den Blockupy-Protesttagen in Frankfurt am Main.

Die Aktionsplanung zu den drei Protesttagen klang vielversprechend: Zurückeroberung des öffentlichen Raumes durch vielfache Camps und Platzbesetzungen. Einen Tag später die Blockade des Bankenviertels, bei der vor allem die europäische Zentralbank (EZB) bestreikt und blockiert werden sollte. Parallel sollte die Innenstadt mit politischen Inhalten und kreativen Aktionen „geflutet“ werden. Die Aktivist_innen waren angehalten sich anhand verschiedener Themenfelder zu organisieren: Ökologie, Militarisierung, Prekarisierung, Migration, Recht auf Stadt, Care-Work, Krieg und Krise, Rechtspopulismus und Soziale Revolution. Eine Großdemonstration am dritten Tag sollte dann die Aktionstage vorerst abschließen.

Bankfurt blockieren

Ein breiter Zusammenschluss aus Gruppen und Aktivist_innen organisierte das Happening. Sie kamen aus der Occupy-Bewegung, Erwerbsloseninitiativen, Krisenbündnissen, Gewerkschaften, Attac, Studierendenorganisationen, linken Parteien sowie diversen Initiativen mit antirassistischer, antifaschistischer, migrantischer, umwelt- und friedenspolitischer Ausrichtung. Zentraler logistischer Angelpunkt für die Aktivitäten sollte v.a. das Occupy-Camp sein – ein seit Oktober 2011 bestehendes Zeltlager direkt vor der EZB. Die Stadt Frankfurt machte jedoch diesem Plan einen kräftigen Strich durch die Rechnung. Sie ließ nicht nur das Camp ein paar Tage vorher räumen (wenn auch die Besetzer_innen nach den Aktionstagen zurückkommen durften), sondern reagierte gleich mit einem umfassenden Verbot aller Aktivitäten rund um die Aktionstage. Obendrein wurde jede Menge Angst geschürt und Ablehnung von der Frankfurter Bevölkerung forciert. Die medial gemalten Horrorszenarien führten sogar so weit, dass einige Läden vorsorglich ihre Schaufensterware beiseite schafften. Obendrein wurden 15.000 Polizist_innen aus der ganzen Bundesrepublik geordert, um den sog. „Extremist­_innen“ aus ganz Europa das erwartete Steinewerfen zu versauern. Zwar wurde schlussendlich das Verbot der Großdemonstra­tion am dritten Tag zurückgenommen, dennoch waren die Ausgangsbedingungen für die Protesttage äußerst schwierig. Als Sammelort für die Aktivist_innen blieb fast nur der Unicampus in Bockenheim, und die Versuche, am ersten Tag weitere innenstadtnahe Plätze zu besetzen, scheiterten an rigorosen Kesselungen, Räumungen und Ingewahr­samnahmen (an allen drei Tagen wurden zusammen ca. 1500 Menschen für gewisse Zeit weggesperrt).

Auch lagen die Erwartungen bei der Zahl der aktiven Blockupierer höher, als die Realität zeigte. Während am ersten Tag mehrere hundert Menschen versuchten Plätze zu besetzen, wuchs die Anzahl am Bankenbesetzungstag auf ca. 2000 (einige Busse wurden von der Polizei an der Einfahrt in Frankfurt gehindert). Insgesamt viel zu wenig, um eine solche Blockade wirklich umsetzen zu können. So endete auch der zweite Tag für Hunderte mit Kesselungen und Gewahrsamnahmen. Allerdings gelang es ca. 50-200 Menschen für kurze Zeit vor der EZB-Absperrung auszuharren. Auch wenn die Aktion intern insgesamt als Erfolg gewertet wurde, da die EZB ja durch die Polizei schon abgesperrt war und im Bankenviertel auch ohne Blockade kein Normalzustand herrschte, scheiterte die eigentliche Besetzung. International und innerhalb der EZB hat sie wenig Aufsehen erregt.

Mehr Aufmerksamkeit gab es hingegen für jene Aktivist_innen, die im Zentrum inhaltliche Aktionen machten, zum Beispiel zum Thema Landraub im globalen Süden. Allerdings war die Innenstadt ob der angekündigten Proteste weitaus menschenleerer als an anderen Tagen (der Einzelhandel beklagte sich übrigens im Nachhinein über einen Umsatzverlust in Höhe von ca. 10 Millionen Euro). Von und für die Blockupierer und andere Interessierte wurden zudem einige inhaltliche Workshops und Veranstaltungen angeboten, auf denen sich bspw. mit verschiedenen sozialen Bewegungen in Europa, dem sog. Arabischen Frühling, der Schuldenproblematik und dem Fiskalpakt sowie der Occupy-Bewegung an und für sich auseinandergesetzt wurde. Auch die bekannten Gesellschaftskritiker und Buchautoren Michael Hardt („Empire“) und David Graeber („Inside Occupy“) füllten den Saal am Bockenheim-Campus und philosophierten über die systemische Krise und das Potential der neuen globalen sozialen Bewegung.

Insgesamt verdeutlichte die Staatsmacht in diesen ersten zwei Tagen vor allem eines: Ihren Willen, das reibungslose Funktionieren der Banken zu schützen. Die Blockupy-Organisator_innen hingegen verdeutlichten sowohl ihren inhaltlichen Anspruch und die Entschlossenheit, was das Blockadevorhaben betraf, als auch ihr Verständnis von Selbstorganisation und Basisdemokratie. Die Aktivist_innen wurden eingebunden, ohne auf starre Hierarchien und Organisationsdominanzen zu stoßen.

Ein rundes Bild der Protesttage lässt sich jedoch nur unter Einbeziehung des dritten Tages malen. Dieser wirft ein ganz anderes Licht, zumal die letztlich doch ge­nehmigte Demonstration ca. 25.000 Menschen aus ganz Europa anlockte.

Größe demonstrieren

Die Demonstration am Samstag wirkte wie eine kleinformatige Mischung aus Protestmärschen, die mensch vom G8-Gipfel in Rostock oder den ersten Berliner Hartz4-Protesten 2004 kennen mag. Die Veranstalter_innen zeigten sich zufrieden, dass so viele Menschen dem Aufruf folgten und – entgegen der medial verbreiteten Prognosen – vollkommen friedlich durch Innenstadt und Bankenviertel zogen. Die Assoziation mit vergangenen globalisierungskritischen und sozialen Protesten war vor allem auch dem extrem breiten Spektrum geschuldet, das sich in verschiedenen bunten Blöcken formierte. Während in den ersten zwei Tagen die Organisationszugehörigkeit der jeweiligen Aktivist_innen kaum erkennbar war, kam sie nun stärker zum Vorschein. Mit entsprechenden Fahnen, Plakaten, Transparenten, Lautis, Sprechchören und Flyermaterial machten die Gruppen auf sich aufmerksam und verbreiteten ihre Kritik an der Krisenpolitik und dem kapitalistischen System sowie ihre Utopie einer „besser“ organisierten Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner Aller bestand in der Ablehnung der derzeitigen europäischen Finanzpolitik insbesondere des Fiskalpaktes (1). Die Politik der sog. Troika (2) wurde scharf kritisiert, da von dieser lediglich Banken und transnationale Unternehmen profitieren, während den Griechinnen und Griechen rigorose soziale Kürzungen aufgezwungen werden. Ein verbindendes Ziel bestand in der Demonstration von Solidarität mit den Sozialprotesten, die in Griechenland und in anderen Weltregionen stattfinden. Dabei wurde vielfach auch der hiesige Sozialabbau scharf kritisiert.

Ansonsten war die Diversität bei der inhaltlichen Problemanalyse, den Lösungsrezepten und den Vorstellungen einer „besseren“, „gerechteren“ oder „befreiten“ Gesellschaft so hoch wie das organisationale Spektrum breit war: Man konnte zahlreiche antikapitalistische (Splitter-)Gruppierungen entdecken, die wahlweise sozialistisch, kommunistisch, marxistisch-leninistisch-maoistisch oder anarchistisch orientiert waren, mal auf die LINKE Partei oder andere, sog. revolutionäre Parteien als Lösung setzten oder den Parlamentarismus ganz abschaffen wollten. Das gewerkschaftliche Spektrum erstreckte sich von der anarchosyndikalistischen FAU über ver.di, IG Metall bis hin zur IG BCE. Während erstere ihre hohe Mobilisierungsfähigkeit zu dieser Thematik durch einen eigenen Demoblock verdeutlichten, traten die DGB-Aktivist_innen eher durch vereinzelt auftauchende Fähnchen in Erscheinung. Darüber hinaus demonstrierten auch zahlreiche Gruppen, deren originäres politisches Handlungsfeld eher in anderen Themenfeldern liegt, wie bspw. Stuttgart-21-Gegner_innen, das Tierbefreiungs-Aktionsbündnis, das Befreiungstheologische Netzwerk und Friedensbewegte. Relativ großen Raum nahm neben Attac der selbsternannte „antikapitalistische Block“ ein, zu dem die Interventionistische Linke und Ums Ganze aufgerufen hatten. Hier war der Großteil der Leute eher „individuell“ unterwegs und machte v.a. mit inhaltlichen Plakaten, Sprechchören und Transparenten auf Themen aufmerksam. Auch der so genannte Schwarze Block fehlte nicht und wurde – zum Ärgernis aller Anwesenden – von hoch ausgerüsteten und behelmten Beamt_innen umrahmt und provoziert.

Neben der „Grup­­pen­­­zu­ge­hö­rig­keit“ spie­gel­­­ten v.a. Sprech­­chöre und unzählige Flyer das breite und zum Teil widersprüchliche Spektrum wider. Während dem Großteil der Protestierenden wohl die Ablehnung gegenüber dem kapitalistischem Wirtschaftssystem als Ganzes unterstellt werden kann, gab es auch Flugschriften, die lediglich die Bändigung des sog. „Raubtiers“ – sprich die entkoppelte Finanz- und Spekulationswelt – mittels staatlicher Regelungen forderten, um zu einer sozialeren Marktwirtschaft zurückzukehren. Einigkeit hingegen bestand darin, dass die Proteste nicht von Rechten vereinnahmt werden dürfen – dementsprechend häufig wurde auch in Flyern auf die Gefahr einer Verkürzung der Kapitalismuskritik auf die „Gier“ einzelner Unternehmer aufmerksam gemacht. Statt zu personifizieren und damit die Tür für Verschwörungstheorien, nationalem Ausschluss von Menschen und Antisemitismus zu öffnen, wurde auf vielen Flyern das Wirtschaftssystem in seiner Funktion kritisiert.

Noch deutlicher wurde das Spannungsfeld der Positionen, wenn es um die Problematisierung der Rolle der politischen Akteure bzw. das parlamentarische Politiksystem in der Krise ging. Nahezu alle Facetten waren vertreten: angefangen von der Meinung, dass lediglich die „falschen Köpfe“ an der Macht seien, weil sie sich von den Banken bevormunden ließen, bis hin zu anarchistischen Positionen, in denen der Parlamentarismus als Herrschaftssystem für die Ausbeutungsverhältnisse mitverantwortlich gemacht und abgelehnt wird. Dem entgegengesetzt wird eine gesellschaftliche Organisation, die auf direkte politische Partizipation und Mitbestimmung setzt. Wie sehr das nationalstaatliche Konstrukt als solches kritisch betrachtet wurde, verdeutlichten die Demon­strant­_innen z.B. indem sie wahlweise ein Hoch auf die antinationale oder internationale Solidarität im Chor skandierten.

Eine Besonderheit der Demonstration war die hohe Präsenz von Menschen aus anderen vorwiegend europäischen Ländern und die explizite Verortung in einen globalen (Occupy-) Protestzusammenhang. Zudem zeichnete die Demo die Verbindung und Gleichzeitigkeit von globalen und lokalen Themen aus – im Unterschied zu bekannten globalisierungskritischen Protesten.

Da das hohe Polizeiaufgebot, die umfassenden juristischen Verbote und die negative Stimmungsmache so unverhältnismäßig zu den friedlich verlaufenden Protesttagen stand, musste die Stadt Frankfurt im Nachhinein einiges an Kritik einstecken. Dies könnte vielleicht künftige Aktionstage in Frankfurt zumindest logistisch erleichtern.

Teil einer globalen sozialen Bewegung?

Soweit so gut. Doch was verdeutlichen die Blockupy-Protesttage für den Stand der deutschen Occupy-Bewegung? Kann mensch hier von einer neuen sozialen Bewegung sprechen? In welchem Verhältnis steht sie zu den globalen Protesten?

Zunächst muss unterschieden werden, zwischen den Blockupy-Protesttagen, die als Mobilisierungskampagne angelegt waren, und der „Occupy-Bewegung“, die in Deutschland v.a. durch Demonstrationen in verschiedenen Städten am 15. Oktober 2011 und dabei entstandene Protestcamps auf öffentlichen Plätzen in Erscheinung trat. Zwar nimmt die Blockupy-Kampagne ausdrücklich Bezug zur Bewegung und das Occupy-Camp in Frankfurt war maßgeblich in die Organisation eingebunden. Während das eine jedoch als punktuelle Kampagne erscheint, haben die Occupierer deutschlandweit den Anspruch, durch dauerhafte Präsenz im öffentlichen Raum auf die soziale Ungleichheit aufmerksam zu machen. Dabei versteht sich die Bewegung als offen – offen für alle Menschen und offen für verschiedene Vorstellungen, wie der Reichtum der Gesellschaft gerecht verteilt werden könnte. Die 99%, für die die Occupierer (medienwirksam) stehen wollen, bezeichnen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die weitgehend leer ausgeht bei der Verteilung des Kuchens. Gemein ist den Occupy-Aktivist_innen, dass sie sich basisdemokratisch organisieren, echte politische Partizipation und Teilhabe fordern und den Neoliberalismus bzw. Finanzkapitalismus als ungerecht kritisieren. Statt dessen stehen sie für eine „ethische Wende“, die den Menschen und die Natur in den Mittelpunkt rückt. Ein festes politisches Programm vertreten sie nicht. Ebenso wenig stellen sie eine feste Organisation dar, starre Hierarchien werden abgelehnt. Allerdings haben die einzelnen Aktivist_innen ihre jeweiligen politischen Visionen und auf lokaler Ebene wird oft bündnisorientiert zusammengearbeitet. Auf der organisatorischen Ebene zeichnen sich die Occupierer und Campierer v.a. durch partizipative Kommunikationsstruk­turen aus: Entscheidungen werden konsensorientiert in öffentlichen Versammlungen getroffen, die in Anlehnung an die spanischen Sozialproteste Asamblea genannt werden. Miteinander gehört zur Occupy-Identität, auch in der Kommunikationspraxis (siehe Artikel S.18f). Neu ist vor allem die Verortung als globale Bewegung und die fortwährende Bezugnahme und So­li­­da­ri­täts­bekundungen zu weltweit stattfindenden Sozialprotesten. Die mediale Vernetzung, u.a. über soziale Netzwerke ist auch ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen Bewegung.

Die deutsche Occupy-Bewegung teilt all diese Ansprüche und in sechs Städten gab (und z.T. gibt) es öffentliche Protestcamps – wie bspw. in Frankfurt seit dem 15. Oktober 2011 vor der EZB. Dort gab es vor allem vor den kalten Wintertagen auch wöchentliche Diskussionsveranstaltungen, um mit möglichst vielen Menschen aus der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Zwar hat sich die Außenwirkung des Zeltlagers im Laufe der Zeit vom Protestcharakter zum Campcharakter gewandelt und inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen mitwirkenden Gruppen trugen zu Spaltungen bei. Dennoch haben die Blockupy-Protesttage bei vielen dort wieder für Motivation gesorgt, die lokalen sozialen Kämpfe mit neuem Schwung anzugehen.

Im Vergleich zu anderen Weltregionen fallen die Proteste hierzulande jedoch recht klein aus. So waren die größten Demonstrationen, die zwischen 100.000 und 500.000 Menschen anzogen, in Madrid, Barcelona, Rom und Valencia. An der Demo in Oakland (USA) nahmen ca. 50.000 Menschen teil, glatt doppelt so viele wie Mitte Mai in Frankfurt. Unter diesem Licht betrachtet bewegt sich relativ wenig in Deutschland. Zwar kann man von einer Bewegung sprechen, da noch keine Institutionalisierungen stattfinden, allerdings erscheint die Anzahl, Entschlossenheit und Ausdauer der Aktivist_innen hierzulande derzeit nicht ausreichend, um sie als neue soziale Bewegung zu bezeichnen. Dazu fehlt es vor allem an einem gemeinsamen Bezugspunkt, um den sich die Menschen der verschiedensten Lebens- und Einkommenswelten sammeln und gemeinsam kämpfen können. Notwendig wäre eine konkrete inhaltliche Basis, was für Veränderungen angestrebt werden und wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus funktionieren sollte. Eine auf Ausdauer ausgerichtete Bewegung benötigt einen gemeinsamen „politischen Korridor“ (3) der zu einem Ak­tions­konsens führt und dennoch viel Raum für eine Vielfalt an Positionen lässt. Zudem würde ein aktueller Anlass, wie er bspw. bei den extremen Sozialkürzungen in Griechenland und Spanien besteht, die Formierung einer solchen sozialen Bewegung begünstigen. Diese Art der Kürzungen sind in Deutschland allerdings schon vor 10 Jahren mit der Agenda 2010 und den Hartz4-Gesetzen beschlossen wurden. Leider reichte schon damals die Empörung hunderttausender Menschen nicht aus, um die Reformen zu kippen. Die sozial prekären Biographien werden sich selbst überlassen, Probleme sind individualisiert. Außenpolitisch wird den Deutschen zudem medial suggeriert, ihre Steuergelder würden massenhaft in die Taschen „fauler Griechen“ fließen. Demzufolge hält sich auch die Empörung über den geplanten Fiskalpakt in Grenzen. All das sind schlechte Ausgangsbedingungen für einen Protest, der einerseits eigene soziale Missstände und andererseits auch die problematische Rolle der deutschen Wirtschaft als Krisengewinner anprangern will. Es scheint, als komme die Bewegung in Deutschland aus der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung, die unter dem Occupy-Label nun versucht auch deutsche soziale Missstände thematisch zu integrieren und die Menschen inhaltlich gegen den Kapitalismus zu radikalisieren. Zu kämpfen hat sie dabei zudem mit Spaltungstendenzen zwischen „Bürger_innen“, wahlweise „Arbeiter_innen“ und „Linken“. Die Gräben wirken zu groß, um über symbolische Großdemonstrationen hinaus (wie sie in Frankfurt stattfanden) gemeinsam gegen herrschende Verhältnisse aktiv zu werden. Dieses altbekannte Problem haben überhaupt nur die „echten“ neuen sozialen Bewegungen überwinden können – in Deutschland z.B. die Anti-Atomkraft-Bewegung. Diese zeichnet sich außerdem durch vielfältige Aktivitäten verbunden mit einem langem Atem aus.

Aktivitäten sollten dabei auch über die symbolische Wirkung hinaus gehen, um wirklich zu bewegen – z.B. durch gemeinsame Streiks. Den sich als Occupy-Bewegung verstehenden Aktivist­_innen in Deutschland mangelt es sicher nicht an Willen und Plänen, ihre Bewegung zu einer neuen sozialen Bewegung werden zu lassen. Die Protestcamps, die regelmäßigen Demos und Veranstaltungen, die Offenheit gegenüber allen Bevölkerungsgruppen und der Versuch der direkten Aktion mittels einer Blockade der EZB sind Beispiele dieser Bestrebungen. Ihr Erfolg jedoch wird davon abhängen, wie viele Menschen bereit sind, mit ebenso großer Entschlusskraft auf diesen Zug aufzuspringen. Im Moment scheint diese Bereitschaft zu wachsen – auch wenn sie im internationalen Vergleich betrachtet relativ gering ist. Nimmt man hingegen Occupy in seinem Anspruch ernst, eine globale soziale Bewegung zu sein, dann erscheinen die Proteste hierzulande als Teil eines großen Ganzen. Unter dieser veränderten territorialen Brille ist Occupy gleichwohl eine soziale Bewegung – schließlich ist die Anti-Atomkraft-Bewegung in Bayern auch nicht so stark wie im Wendland. Vielmehr noch ist sie eine neue globale soziale Bewegung, und der Anteil in Deutschland ist durchaus wichtig, gerade weil hier auch die Profiteure des globalen Kapitalismus sitzen.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

Auch wenn die deutsche Occupy-Bewegung im Vergleich zu anderen Weltregionen noch nicht so recht in Schwung gekommen ist, so hat sie dennoch Potential, im Rahmen einer neuen transnationalen Bewegung in die Geschichte einzugehen. Dafür jedoch bedarf es hier einerseits mehr Partizipation und Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen und andererseits einer gemeinsamen politischen Agenda. Die Offenheit der Bewegung ist dafür Hindernis und Chance zugleich. Sie sollte nicht als Beliebigkeit oder Profillosigkeit vorschnell abgetan werden. Denn sie ist Programm, um eine kritische Mehrheit der Menschen darunter zu vereinen. Dieser Mehrheit dann einen gemeinsamen politischen Rahmen zu geben und konkrete Inhalte festzulegen für die langfristig zusammen gekämpft wird, wäre der zweite notwendige Schritt (3).

Dass es für tatsächliche Umbrüche gegen diese herrschenden Verhältnisse immer das Zusammenwirken einer sonst sehr gespaltenen Menschenmasse braucht, sowie Kräfte, die sowohl innerhalb etablierter Systemstrukturen als auch von außen gegen diese aktiv werden, ist nicht neu und hat die Geschichte auch schon etliche Male bewiesen. Ebenso lehrt uns die Geschichte, dass erst nach dem Durchbruch einer sozialen Bewegung absehbar wird, welche der Kräfte und Strömungen sich durchsetzen und was sich genau verändert. Aber impliziert das, dass sich das Engagement in sozialen Bewegungen von vornherein nicht lohnt, weil die Menschen in ihren Utopien so unterschiedlich sind? Wohl kaum – allerdings sollte es zu kritischer Achtsamkeit sensibilisieren, welche Kräfte versuchen sich an die Spitze etwaiger Bewegungen zu stellen. Allgemein gesprochen ist diese Kontroverse sogar äußerst fruchtbar, weil daraus Menschen erwachsen, die ihre eigenen Positionen kritisch reflektieren und weiterentwickeln. Eine wirklich herrschaftsfreie Gesellschaft kann nur aus einem Nährboden erwachsen, der von einer politischen Kontroverse zeugt, und in dem die politisch bewussten Menschen auch das Recht haben, sich in ihren Einstellungen zu unterscheiden. Eine „rebellierende Demokratie“ ist nicht homogen, wohl aber radikal gegen das staatliche Herrschaftssystem gerichtet (4). Die Occupy-Bewegung kann solch ein Nährboden sein und werden, sofern ihre Offenheit nicht für reformistische Schönheitskorrekturen ausgenutzt wird. Die wirkliche Herausforderung der Occupy-Bewegung besteht in ihrer glokalen Verortung – gleichwohl ist es auch ihre große Chance.

(momo)

(1) Im Fiskalpakt werden finanzpolitische Entscheidungen von Nationalstaaten an die EU-Ebene abgetreten. Damit einher geht v.a. eine Neuverschuldungsobergrenze, die an hohe Strafen gekoppelt wird und finanzschwache Ökonomien zu Sozialkürzungen verpflichtet. Der Fiskalpakt wird als Notwendigkeit argumentiert, um die europäische Staats­schuldenkrise in den Griff zu bekommen. Ausschlaggebend für diese Schuldenkrise waren v.a. die Rettungspakete an die Banken. Denn diese gerieten 2007 weltweit in Geldnot, als die Finanzspekulationsblase platzte. Die Immobilienkrise in den USA und die Spekulation mit schlecht gedeckten Krediten waren Auslöser der globalen Finanzkrise.

(2) Troika: Im Zusammenhang mit der Schuldenkrise wird das entscheidungsführende Dreiergespann, bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond als Troika bezeichnet.

(3) Ein interessanter Aufruf zur „Wendlandisierung“ der antikapitalistischen Proteste in Frankfurt, verbunden mit Überlegungen zu inhaltlichen und organisatorischen Notwendigkeiten: antinazi.wordpress.com/2012/06/09/frankfurt-wendland-und-zuruck-ein-vorschlag-fur-blockupy-2-0/ .

(4) Prof. Miguel Abendsour philosophiert in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ 05/2012 über die ursprüngliche Bedeutung einer „rebellierenden Demokratie“. Diese wird von einer politischen Gemeinschaft getragen, die sich in all ihrer Heterogenität und Konfliktivität gegen die staatliche Herrschaft richtet. Sie steht als „beständiger Kampf für das Handeln und gegen das Herstellen“.

Der Wald bleibt!

Interview mit einer Szene-Aktivistin über Waldbesetzungen und das Camp Lappersfort in Belgien

Am Rande der belgischen Touristenstätte Brügge befindet sich ein Industriegebiet in den Händen der Firma Suez/Fabricom. Nicht ungewöhnlich soweit – doch setzt mensch die Lupe genauer an, so wird neben Fabriken, breiten Straßen, Parkanlagen und Bürokomplexen ein ca. 3,5 ha großer Wald sichtbar. Dieser Wald ist jedoch kein gewöhnlicher, hat er sich doch seinen Platz seit 1960 sukzessive zurück erobert und marode gewordene Fabriken dabei ver­drängt. Doch nicht nur das: Seit September 2008 halten viele Menschen verschiedener Herkunft diesen Wald zum zweiten Mal besetzt und versuchen ihn so vor seiner Rodung zu schützen, da Fabricom seinen Industriekomplex gerne ausweiten würde, obwohl satte 30% der Industriefläche in Brügge leer stehen.Dagegen machen sie mobil, haben Baumhäuser errichtet, leben bedacht in und mit der Natur ohne Elektrizität oder Wasseranschluss und führen direkte Aktionen in ihrer Umgebung durch, um auf die Problematik der kapitalistischen Umweltzerstörung im Allgemeinen und ihr antinationales Camp Lappersfort im Speziel­len aufmerksam zu machen.

Immer wieder gibt es Menschen, die sich aktiv dagegen wehren, dass aus reinem kapitalistischen Profitinteresse immer mehr Natur zerstört und Wälder gerodet werden. In Europa existiert bereits eine Mini-Szene, die an verschiedenen Standorten Wälder durch Besetzung schützen und dort gemein­sam alternative und nachhaltige Lebenswei­sen ausprobieren. Der Feierabend! sprach mit der Szene-Aktivistin else, die seit nunmehr fast 2 Jahren auf verschiedenen sog. „Protest-Sites“ lebt und zuletzt in Lappersfort aktiv war, über die Lebensweise dort, den politischen Anspruch und die Ziele der Waldbesetzungen im Allgemeinen.

FA!: Wie kann man sich das Leben auf einer Protest-Site wie Lappersfort vorstellen? Wie organisiert ihr euch, was macht ihr den ganzen Tag?

Im Grunde sind es zwei Dimensionen: die Kampagne und Aktionen und dann das Zusammenleben und das Alltägliche, Sachen wie Wasser holen, Essen besorgen, Struktu­ren aufbauen – all das soziale Zusammenle­ben eben. Die Leute [je nach Saison und Brisanz leben ca. 8-28 Menschen unter­schied­li­cher Herkunft mit individuell differierender Dauerhaftigkeit in Lappersfort] tun wonach ihnen ist, alles spielt sich aber draußen ab. Wir schlafen in selbst gebauten Baum­häusern, kacken in Kompostklos, essen Sachen die uns z.B. einheimische Bäckereien überlassen oder die wir containern oder finden. Was zu tun gibt es immer und jede_r bringt sich ein wie er/sie will und kann. Es ist auch noch einiges im Wald neu entstan­den, z.B. ein kleiner Garten, eine Schwitz­hütte, eine Fahrradwerkstatt und natürlich ganz wichtig der Feuerplatz bzw. die „Küche“ drumherum – das Zentrum quasi.

FA!: Wie gestaltet sich das Zusam­men­le­ben der Menschen, die dort wohnen oder mal vorbei schauen? Kann man es als „anarchisti­sches Zusammenleben“ begreifen?

Informell, intuitiv, kollektiv und doch individualistisch, das sind so Attribute mit denen man das Zusammenleben beschreiben könnte. Die Leute machen was sie wollen, für richtig halten und was getan werden muss. Das kollektive Zusammenstehen, die Community steht im Mittelpunkt, aber dennoch funktioniert vieles durch individu­elle Entscheidungen, vieles ist nicht formell geregelt aber hier und da diskutiert, im Alltag, es gibt kaum feste Regelungen sondern eher so Sachen wie „nicht mehr Sachen anschleppen als wieder mitgenommen werden“ oder „das Essen abends weg­packen“, common-sense-Sachen. Diese haben sich im Laufe der Zeit entwickelt und zwischendurch immer wieder geändert. Es sind auf jeden Fall nicht Entscheidungen die von oben gefallen sind. Der Anspruch besteht darin ohne Hierarchien, Führer oder etliche Plena zusammen zu leben. Die Leute arbeiten zusammen, wenn sie ein gemeinsa­mes Ziel verfolgen. Insofern kann man das Zusammenleben schon als anarchistisch bezeichnen, auch wenn so einige diese Zuschreibung ablehnen würden. Die Leute dort wollen keine bestimmte Ideologie vertreten und es ist auch nicht notwendig das Zusammenleben in einer politischen Kategorie zu beschreiben.

FA!: Inwiefern geht ihr mit eurem Protest nach außen, was gibt es für Akti­vitäten? Kennt euch die Bevölkerung in der Umge­bung und wie er­reicht ihr sie?

In Lappersfort speziell sind die Beziehungen zu Anwohner_innen relativ gut, es gibt seit Jahren bereits eine laufende, lokale Kampag­ne für den Erhalt dieses speziellen Waldes. Es war auf Initiative von Ortsansässigen hin, dass der Wald besetzt wurde, und wenn diese Unterstützung und Zustimmung erst einmal da sind, braucht es vor allem das „in Kontakt bleiben“ und „sich auf dem Laufenden halten“. Wir haben und halten ganz guten Kontakt zu einigen Nachbarn und Leuten in der Stadt, die uns unterstützen bzw. wo wir uns gegenseitig helfen. Ansonsten versuchen wir relativ viel Öffentlich­keits­ar­­beit zu machen, mit Transparenten, Flyern und Infoständen in der Stadt und auf dem Markt, um zu zeigen, was mit den Wäldern in Belgien passiert. Aber wir machen auch Sachen wie ein offenes Café oder Kletterkurse und laden Kinder und Familien und Men­schen allgemein in den Wald ein. Wir haben auch eine eigene kleine Zeitung gebastelt, eine Internetseite gemacht [lappers­fort.freehostia.com], aber auch Aktionen, wie das Stürmen von Büros oder Demos etc. Allerdings ist es natürlich schon so, dass damit nicht jede_r erreicht wird. Ist ja klar, gerade in Brügge gibt es auch ziemlich viele ignorante Leute, die mit dem Status Quo zufrieden sind.

FA!: Was wollt ihr mit eurem Protest erreichen, was sind die Ziele? Wie lange werdet ihr ausharren?

Das ist sicherlich für Jede_n verschieden, aber generell kann man sagen, dass wir alle mit der Besetzung in Lappersfort zum einen die Pläne der Rodung und Bebauung stoppen, fürs erste, mit der Option, dass mit dem Aufschieben vielleicht das ganze von Fabricom geplante Projekt gekippt wird und der Wald als Wald erhalten bleibt. Vor allem wird aber erstmal Aufmerksamkeit erzeugt für die Problematik. In Lap­­pers­fort verteidigen wir konkret einen ganz bestimm­ten Wald, der jedoch auch symbolisch für hunderte und tausende andere bedrohte Wälder steht. Dadurch, dass wir im Wald sind, werden wiederum andere Menschen angezogen die das interessiert, nicht nur Aktivist_innen, sondern auch Ortsansässige. Und die lokalen Initiativen gewinnen dadurch wieder mehr Auftrieb und Perspek­ti­ven. Es ist aber speziell in Lappersfort schon so, dass verschiedene Leute auch verschiedene Forderungen vertreten, wie z.B. generell: keine weiteren Waldrodungen, sondern Wiederaufforstung oder gar Flächen einfach als Wälder wieder wachsen lassen, wilde Flächen wild lassen und mehr Flächen wieder wild wachsen lassen. Außerdem steht für viele generell die Idee der Community im Mittelpunkt, ein kollektives Schaffen und eine DIY-Attitüde, selbst Verantwortung übernehmen ganz praktisch. Und Leute näher an die Natur und Wildnis heranbrin­gen und dazu bringen, neue alternative Wege zu suchen. Auf jeden Fall aber werden wir so lange bleiben, bis die Kampagne entweder erfolgreich war und der Wald gerettet, oder wir gewaltsam geräumt werden.

FA!: Wie ist der aktuelle Stand der Dinge? Wie reagieren Unternehmen und Stadt auf den Protest?

Die Stadt Brügge ist sehr konservativ und würde uns am liebsten aus dem Wald heraus haben. Der Bürgermeister sitzt bei Fabricom, dem Eigentümer des Geländes und Baupla­ner, im Vorstand, der würde den Wald gern gerodet und bebaut sehen. Die Polizei ist auch sehr repressiv, es gab eine Reihe von Verhaftungen außerhalb des Camps, um uns einzuschüchtern, bspw. wurden zweimal Leute wegen Containern für bis zu zwei Wochen ins Gefängnis gesperrt. Bis zum 30.11.2009 gibt es allerdings gerade eine Art „Waffenstillstand“, der zwischen uns, der Stadt und Fabricom ausgehandelt wurde. Danach kann es aber durchaus passieren, dass Lappersfort gewaltsam geräumt wird!

FA!: Gibt es eigentlich viele Protest-Sites wie Lappersfort?

Ich weiß momentan von drei weiteren, alle in Großbritannien: Bilston Glen bei Edin­burgh, Titnore Woods bei Brighton und seit kurzem Mainshill Woods in South Lanark­shire. In den 90er Jahren hingegen gab es viele Protest-Sites dieser Art mit massenhaft Leuten, die vor allem gegen den Bau weiterer Straßen gerichtet war­en, was für einige Zeit sogar den Regierungskurs in puncto Stra­ßen­­bau beeinflusst hat. Letztes Jahr gab es noch zwei weitere Sites, eine ist nach nur sechs Wochen geräumt, die andere ist nach 9 Jah­ren und einem erfolgreichen Ende verlassen und der Natur über­lassen worden. Auch in Deutschland gab es schon einige ähnliche Geschichten, z.B. die Waldbesetzung um den Frankfurter Flughafen herum, wo bis heute der Protest anhält, wenn auch abge­schwächt. Außerdem gibt es Proteste in Holland, Polen und Frankreich, oder bspw. die Feldbesetzungen auf Gentechnik-Feldern oder den Widerstand ganzer Dörfer gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitszu­ges TAV in Italien und Spanien.

FA!: Sind die ähnlich organisiert oder gibt es wesentliche Unterschiede?

Die Taktiken und wie bspw. das Camp aussieht, sind natürlich verschieden. So sind z.B. die Camps im Baskenland noch viel kurzweiliger weil sie immer schnell geräumt werden. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten, wie die Prinzipien der Organisierung, des Widerstandes gegen geltende Gesetze und der Pläne von oben. Oft hängt viel mehr davon ab, welche Individuen dort leben – wofür sie kämpfen, welche Strategien sie nutzen und welche Protest- und Gruppendy­na­mik im allgemeinen dort entsteht – und weniger in welchem Land es überhaupt ist.

FA!: Kann man da überall einfach vorbeikom­men und mitmachen?

Ja, auf jeden Fall!

FA!: Wie gestaltet sich der Austausch zwischen den Camps? Woher wisst ihr wenn anderswo geräumt wird, wie reagiert ihr darauf?

Viel läuft über persönlichen Austausch und informelle Netzwerke. So einige Leute reisen viel umher, verbreiten Informationen, wir versuchen Neuigkeiten auch über das Internet zu verbreiten, aber vieles ist einfach auch Mund-zu-Mund-Propaganda. Wenn es eine größere Bedrohung gibt, z.B. eine bevorstehende Räumung, gibt es Alarm über diese bestehenden Kanäle und dann wird unterstützt, d.h. wer kann und will, geht hin. Wobei natürlich eine Räumung oft relativ unerwartet kommt. Es wäre cool wenn wir mehr wären… das ganze kann dann sogar noch viel stärker sein!

FA!: Der Protest richtet sich ja in erster Linie gegen die Umweltauswirkungen im Kapitalis­mus, sprich die Rodung von Wäldern um bspw. Industrieviertel oder einen Tagebau zu errichten. Inwiefern geht der Protest über Umweltziele hinaus? Wie weit geht eure Kapitalismuskritik?

Auch wenn nicht Jede_r, der auf einer Protest-Site lebt, unbedingt antikapitalis­tisch eingestellt ist (wie gesagt, wir sind keine homogene Masse), gilt das in gewisser Weise schon für die meisten. Doch selten wird das konkret formuliert: Der (scheinbare) Bedarf an so viel Platz für Industrie und allem was Profit macht, ist ja erst im Kapitalismus so groß geworden und die massenhaften Waldrodungen von einem Großteil Europas sind ja in diesem Zusammenhang auch schon viel früher passiert. Wir kämpfen einfach für freie und natürliche Flächen, wo Menschen auch lernen, sich zu entwickeln und verschiedene Formen des Zusammenlebens ausprobieren können. Mit dieser Lebenswei­se stehen wir nicht außerhalb der Gesell­schaft, sondern sind offen und interagieren mit der Außenwelt.

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Durchhaltevermögen und Erfolg bei eurem Protest!

(momo)