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Queer-feministische Kneipenkultur (Teil 2)

Anfang März 2012 im gemütlichen Hinterzimmerchen einer Eckkneipe am Lindenauer Markt. Wir freuten uns auf ein Wiedersehen mit den zwei redseligen Kneipenmacher_innen und wurden nicht enttäuscht …

FA!: Es sind seit unseren Interview jetzt drei Monate vergangen. Wie hat sich das entwickelt mit der joseph_ine?

M.: Es hat eine Transformation stattgefunden, wir haben noch nicht zugemacht. Dadurch, dass die Gruppe relativ verkleinert ist, war das Problem, dass so etwas wie eine Kerngruppe nie so wirklich vorhanden war. Und jetzt haben sich nochmal ein paar Leute zusammengesetzt und es ist relativ klar, dass es schon irgendwie weitergeht, allerdings nicht mit regelmäßigem Jeden-Mittwoch-Betrieb. Sondern immer nur wenn Veranstaltungen sind, werden die gemacht. Im Moment werden immer so Veranstaltungen gemacht, so wie gerade Bedarf, Ideen da sind. Was jetzt nicht jeden Mittwoch ist, aber der März war schon ganz gut gefüllt. Und immer nur bis zwölf; wenn Kneipenbetrieb gewünscht ist, dann können die ja einfach nebenan in’s Skorbut kommen. Aber aufgelöst noch nicht. Noch nicht!

A.: Aber es war schon kurz davor. Die letzten Treffen, wo wir dann zu dritt waren; gemerkt haben, dass es einfach nicht mehr geht. Haben wir auch gedacht, machen wir jetzt nur noch bei Bedarf und Veranstaltungen und setzten nochmal einen Hilferuf aus. Und es sind ja jetzt plötzlich auch vier, fünf neue Leute aufgetaucht, die Bock haben, da auch verbindlich regelmäßig Tresen zu machen oder irgendwas. Und damit läuft das jetzt wieder.

FA!: Zumindest Du warst beim letzten Mal nicht so gut drauf, bist Du jetzt besser gelaunt?

A.: Ich hab’ mich einfach ein bisschen rausgezogen, ne? Also ich bin da selten, mache nächste Woche da ‘ne Veranstaltung, ok. Also ich find’s super, wenn neue Leute kommen. Gucken, wie’s wird ….

M.: Und ich mag’s auch sehr. Grade in so ‘nem Kontrastprogramm zu einem Skorbut-Kneipenabend finde ich joseph_ine immer sehr warm und sehr leicht. Kann ruhig noch weiter geh’n.

FA!: Ich frage mich, wie’s kommt, dass die joseph_ine nicht ganz so gut besucht ist, im Gegensatz zum Skorbut. Liegt das am Angebot – hier ist ‘ne richtige Kneipe und dort ist mehr so … naja, nicht so ‘ne richtige Kneipe? Also wollen die Leute sowas hier?

M.: Also ich glaube, das zieht nochmal ganz andere Zielgruppen an. Joseph_ine war ja schon immer ziemlich so Szenepublikum. Also wenn’s jetzt um so Hausprojekte ging oder halt wirklich um diesen queer-feministischen Anspruch, der dahinter steht. Und hier sind halt einfach auch so ziemlich viele, die halt nicht unbedingt sich in solchen Szenen bewegen, sondern eher hier in der Kuhturmstraße aktiv sind und so Ausstellungen machen oder viele aus dem Theater der jungen Welt, viele junge Schauspielende sind da und so. Ist einfach nochmal ein ganz anderer Anreiz.

A.: Normale Leute einfach aus dem Kiez. Die mal gucken kommen, was hier so in ihrer alten Stammkneipe wieder los ist. Was ich auch glaube, ist jetzt nur ‘ne Vermutung, es ist einfacher hierher zu kommen, weil es hier so klar ist – hier bezahl’ ich Geld und krieg’ dafür was. Das ist so ‘ne klare Aufgabenverteilung. Und in der Bäckerei [Anm.: Synonym für Casablanca] ist es ja schon immer so, eigentlich soll ich dann auch noch da was mithelfen. Und am Ende mit aufräumen und dann soll ich noch mein Geld selber einschätzen, ist schon anstrengender. Da wird von den Leuten einfach mehr erwartet. Mich verantwortlich zu fühlen für den Raum – das ist hier überhaupt nicht.

M.: Ich weiß noch grad zu Beginn, dass viele Leute so ein bisschen ängstlich, unsicher waren, ob sie jetzt einfach so reinkommen dürfen in diese Kneipe da unten, also in die joseph_ine. Ist halt einfach einfacher, in eine Kneipe zu gehen.

A.: Hier machen wir auch größere Veranstaltungen, da kommen auch viel mehr Leute. ‘Ne Kneipe, die sechs Tage offen hat, ist auch einfacher hinzugehen als … mittwochs und dann vielleicht auch nicht jeden Mittwoch. Und dann regnet’s und dann geht man doch nur einmal im Monat hin.

FA!: Ich wüsste gerne zur „Türpolitik“ was. Ihr hattet ja beim letzten Mal so schön davon erzählt, dass es hier anders sein soll als in anderen alternativen Kneipen und Ihr selbst bei der joseph_ine schon Leute vor die Tür setzen musstet. Wie hat sich das hier ergeben?

A.: Ist schon auch passiert, aber wenig. Der Typ mit dem Deutschlandtrikot, den ich bei der joseph_ine rausgeschmissen hab’, der war hier und redete nur Scheiße.

FA!: Aber diesmal war er ohne Deutschlandtrikot da?

A.: Ja, aber ich hab’ ihm trotzdem gleich gesagt, er soll gehn. Hatt’ ich kein Bock. Nee ach … was haben wir für ‘ne Tür? Erstmal isses offen und Leute können erstmal kommen und wenn sie anfangen, sich daneben zu benehmen, dann fliegen sie halt raus oder dann passiert irgendwas. Hier herrscht so ‘ne höhere Sensibilität dafür, was passiert hier grad im Raum und wie gehen Leute grad miteinander um.

M.: Wir haben nicht in der Gruppe so eine Art Checkliste, die erfüllt werden muss, bevor man rausschmeißt.

A.: Das andere ist halt auch, wenn Leute besoffen sind, grad am Wochenende und zu später Stunde, dann reden die halt auch einfach Müll. Ich nehm’ das mittlerweile auch alles nicht mehr so ernst, aber da kommt schon immer mal irgendso ein blöder rassistischer Spruch. Klar, dann kann ich hingehen und sagen: Hey, reiß Dich mal zusammen! oder so, aber dann fange ich nicht mehr irgendwelche Diskussionen an. Aber da gehe ich davon aus, die sind betrunken und am nächsten Tag ist es ihnen peinlich und dann ist auch wieder gut so.

FA!: Die unglückliche Zukunftsfrage …

A.: Aktuell ist, wir sind bis Ende Mai auf jeden Fall hier und danach ist es total unklar, was passiert. Es kann sein, dass wir in irgendeiner Form hier bleiben. Es kann sein, dass wir woanders hingehen. Und es kann sein, dass wir überhaupt nicht mehr existieren danach …

M.: Das glaube ich aber nicht! Also für mich ist das überhaupt kein Ende. Es gibt mal wieder ‘ne Transformation und vielleicht sowas wie: Wer ist eigentlich Skorbut, bitteschön? Und das mit noch ein bisschen mehr Verantwortung.

FA!: Nochmal zum Selbstverständnis: Ihr findet’s nicht wichtig zu postulieren, was die Kneipe für einen Anspruch hat, oder?!

A.: Ich glaube, es wurde schon ziemlich schnell durch die Eröffnung, durch ganz viel Hörensagen ziemlich klar, wie wir ticken und aus welchen Kontexten wir kommen. Ist ja auch nicht so, dass das alles gänzlich unbekannte Leute hier hinter dem Tresen sind. Dadurch ist schon ein bisschen klar, in welche Richtung das geht und welchen Anspruch wir haben. Vielleicht muss man auch seinen Gäst_innen manchmal ein so bisschen Eigenverantwortung zutrauen und muss die nicht die ganze Zeit mit irgendwelchen Verboten oder Ansprüchen in irgendwelche Richtung weisen. Wenn’s Probleme gibt, sind wir schon da und haben schon eine Meinung, für die wir einstehen können und die auch argumentieren können.

FA!: Seht Ihr da die Gefahr, dass es sich durch die alltägliche Praxis, den Trott, den Alltag doch einschleicht, dass Ihr weniger sensibel werdet?

A.: Ich denk’ jetzt nicht in Jahren, nicht? Ich glaub’s eigentlich nicht, weil wir alle schon ziemlich klar haben, was so unsere politischen Vorstellungen und Ansprüche sind. Und dann gibt’s vielleicht Momente, wo’s mir zu anstrengend ist, dazwischen zu gehen oder sowas. Allein auch durch die Auswahl der Veranstaltungen und was da für Plakate drinhängen oder die Bierdeckel oder so … es zieht sich ja durch, ohne dass es jetzt total plakativ überall dran steht.

FA!: Was unterscheidet die Veranstaltungen zu den Veranstaltungen, die in anderen alternativen Kneipen sind?

M.: Ich glaub’, wir haben schon intern so ganz viel auf dem Schirm, dass wir versuchen, so ein Geschlechterverhältnis zu halten. Dass einfach nicht so Typenbands die ganze Zeit auftreten, sondern auch gerne mal ein Abend, wo zwei Frauenbands spielen. Gibt solche Diskussionen innerhalb, kriegt man nach außen gar nicht so mit.

A.: Auch was wir für Musik spielen, die ganze Zeit. Fällt vielleicht gar nicht so auf, aber da haben wir uns auch viel drüber unterhalten, dass es nicht nur quotiert ist, also paritätisch, sondern dass eher mehr Frauenbands spielen. Und dann gibt’s so Polit­veranstaltungen, wie diese Buchvorstellung zum Beispiel, zur Knastkritik. Das sind halt so linke Sachen, demnächst gibt’s wahrscheinlich so ‘ne Trans*-Buchvorstellung … halt so Zeug.

M.: Morgen ist zum Beispiel ‘ne Veranstaltung, wo einfach klar war, dass das irgendwie unterstützt wird. Vom Ladyfest, die einfach einen Raumausweich brauchten. Margret Steenblock, die vorher irgendwo im Süden auftreten wollte und da ging’s dann spontan nicht und bei solchen Sachen ist dann klar, dass das irgendwie unterstützt wird, auch ohne großartig erstmal durch’s Plenum sprechen oder so.

FA!: Wie ist eigentlich Eure ökonomische Situation gerade? Wo geht’s finanziell hin? Immerhin habt Ihr auch ganz moderate Preise.

A.: Da müssen wir eventuell auch nochmal was dran drehen, an den Preisen. Wir zahlen uns bisher keine Löhne aus, weil wir ja noch die Schulden zurückbezahlen. Ist also quasi ehrenamtlich grade, was eigentlich auch ein bisschen krass ist.

FA!: Aber in absehbarer Zeit soll’s mal …

A.: Also vielleicht nicht, dass zehn Leute davon komplett leben können. Aber irgendwie … nach Bedarf.

FA!: Aber dass der Stundenlohn schon ein adäquater ist. Also wenn man hier 30, 40 Stunden arbeiten würde, dass man dann davon leben könnte …

M.: Wenn man wöllte, ja. Ich glaube, hier will niemand 40 Stunden die Woche arbeiten. Das ist ja die ganze Sache, deswegen …

A.: Ist schon kein Wunder, warum hier überall fünf Euro Stundenlohn gezahlt wird. Also die Gewinnspannen sind einfach ziemlich niedrig. Und die Nebenkosten sind enorm hoch. Und dann bezahlen wir noch die ganzen Steuern und das ganze Zeug und da bleibt echt nicht viel übrig.

M.: Ey, habt Ihr jetzt noch irgendwas wichtiges? Ich hab’ nämlich total Hunger.

FA!: Ja … wir auch, dann mal los. Vielen Dank, daß Ihr das heute noch einrichten konntet, und lasst Euch nicht unterkriegen!

shy & gundel

Lokales

HEROIN-Dealer verpisst Euch?

Im Stadtteil Connewitz sind in den letzten Wochen massenhafte Plakate mit der Aufschrift „Heroin-DEALER verpisst euch!“ verklebt worden. Um mehr über die Hintergründe dieser Aktion zu erfahren, haben wir uns wieder einmal in den Dschungel des Bermudadreiecks gewagt. Als Erstes versuchte lydia mit den Urhebern der Plakataktion Kontakt aufzunehmen. Nach längerem Herumirren mit verbundenen Augen, findet sich lydia in einem tropfig-feuchten Keller wieder. Nebenan probt eine Punk-Band und an den Wänden sind Sprüche gegen´s „Scheißsystem“ gesprüht. Ihr gegenüber sitzt ein Typ, der sie mit einer Taschenlampe blendet, damit sie sein Gesicht nicht erkennt. …O.K., ganz so war es vielleicht doch nicht.

lydia: Es geht um die HEROIN-Dealer-Hass-Plakate. Wir glauben jemanden gefunden zu haben, der sich damit identifizieren kann…

Ralf: Nee, also ganz so ist das nicht… Ich hab damit eigentlich überhaupt nichts zu tun und billige die Aktion größtenteils auch nicht. Mir sind aber zumindest die Leute und die dahintersteckenden Intentionen bekannt. Fakt ist jedenfalls, in Connewitz – speziell im Bermudadreieck – gibt´s ein ziemliches Problem was Drogen betrifft. Es gibt im ersten Quartal 2004 schon den ersten Drogentoten. Der taucht allerdings in keiner offiziellen Drogenstatistik auf, weil er aufgrund seiner massiven Drogenprobleme Selbstmord begangen hat. Desweiteren ist bekannt, dass laut offiziellem Drogenbericht der Stadt Leipzig, das Einstiegsalter für Heroin bei ungefähr 13 Jahren liegt. Eine Tendenz, die auch in diesem Viertel zu beobachten ist. Auslöser dieser ganzen Geschichte war eigentlich, dass es seit diesem Jahr einen rapiden Anstieg an Einbrüchen gibt, wobei vermehrt und wiederholt alternative Projekte und Wohnungen betroffen sind. In sämtlichen bekannten Kneipen wurde eingebrochen, wobei teilweise von Beschaffungskriminalität ausgegangen wird; d.h. ein direkter Zusammenhang zwischen Konsum und Einbrüchen hergestellt werden kann. Außerdem wurde vermehrt versucht Falschgeld in Umlauf zu bringen.

lydia: Was stellt diesen Zusammenhang her – was deutet darauf hin?

Ralf: Zum einen, dass bei vielen von diesen Sachen, sei es jetzt Einbrüchen oder Falschgeld-in-Umlauf-bringen Leute verwickelt waren, die heroinabhängig sind.

lydia: Es wurden also auch schon Leute erwischt?

Ralf: Bei den Einbrüchen kam es teilweise später heraus. So Sachen wie mit Falschgeld bezahlen – das ist meist gleich aufgeflogen. Oft wurde halt auch versucht in Projekten damit zu bezahlen.

Es gab ja vor 3-4 Jahren schon mal den Versuch mit der Drogenproblematik konstruktiv umzugehen ….mit den Drugscouts und so, was aber im Endeffekt nicht wirklich was gebracht hat. Daraufhin ist dann halt diese Idee mit dieser Plakataktion entstanden. Die Intention der Aktion selber und auch des Plakates, das ja auch leicht missverständlich ist, wenn man die Hintergründe des ganzen nicht kennt, ist provokativer Natur. Es soll eine Diskussion losgetreten werden – was anscheinend auch gelungen ist. Außerdem bestand die Hoffnung die Folgen der Beschaffungskriminalität zu minimieren. Es sollen jetzt nicht Menschenjagden veranstaltet werden, oder so.

lydia: Es gab ja nun auch den Vorwurf, dass damit das Problem nicht direkt angegangen wird, sondern nur die Drogenproblematik aus dem eigenen gemütlichen Kuschelkiez verdrängen will.

Ralf: Bei Gesprächen mit den InitiatorInnen der Aktion wurde ja schon klar, dass die selbst heftigste Bauchschmerzen mit der Aktion haben. Speziell diese Reduzierung auf Dealer, was den Menschen hinter dem Dealer ja ausklammert. Dann diese Fixierung auf das Thema Heroin, wo man doch gleich noch Poster gegen „Sternie“-Dealer aufhängen könnte. Allerdings war man sich halt schon einig; man muss sich nichts vormachen – Genussfreiheit hin und her, wenn du heroinabhängig bist, dann bist du auch nicht mehr selbstbestimmt, sondern hängst an der Nadel. Außerdem wirkt das Ganze mit diesem „Verpisst Euch“ sehr aggressiv, aber es sollte halt auch, wie gesagt, provokativ sein. Man war sich aber trotzdem sogar mit den sogenannten „Hippierunden“ einig: Diskussionen und Konzepte um Drogenmündigkeit etc. bringen anscheinend nichts.

lydia: Was erhofft man sich damit loszutreten? Wie könnte das jetzt im Idealfall weitergehen?

Ralf: Der negativste Fall wären Gesprächsrunden oder Betroffenheitsflyer, die ideologisch vielleicht korrekt sind, aber keinerlei Praxisansätze beinhalten, wie sie z.B. vom Linxxnet (1) jetzt schon ausgehen. Was die sagen, ist ja alles schön und gut, aber das bringt uns hier nicht weiter.

Ideal wäre… ja, wenn irgendwas praktischer Natur entstehen würde. Sei es jetzt eine Anfrage über Abgeordnete oder Sozialarbeiter an Städtische Institutionen (Streetworker, Jugend- & Gesundheitsamt) Wie sehen die reellen Statistikzahlen für den Süden aus? Der offizielle Bericht ist oft geschönt. Wie viele User/Drogentote gibt es – was für Möglichkeiten und Hilfeangebote gibt es? Altersgruppen? Was für Drogen? Was gibt es für Hilfsangebote? Welche Ärzte substituieren (=Methadonvergabe). Was für Möglichkeiten gibt es das ins Viertel zu transportieren etc.

Das Plakat sollte auch eine Signalwirkung haben; an die KonsumentInnen, aber auch an „Verticker“ der Drogen: „Hier läuft etwas schief. Es ist Eure Entscheidung, was Ihr nehmt, dann müsst Ihr aber auch selbst mit den Begleitumständen klarkommen. Hilfe könnt Ihr jederzeit haben, aber keine Kohle. Uns ist eigentlich völlig egal, was Ihr Euch in den Arm jagt – solange ihr´s selbstbestimmt tut“. Aber anscheinend läuft hier irgendeine Schiene, die mit selbstbestimmt nichts mehr zu tun hat.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

Es lag natürlich nahe gleich im Anschluss jemand vom Linxxnet zum Thema zu befragen…

lydia: Ja, wie war das mit den Anti-Heroin-Dealer Plakaten? Ihr wart auf alle Fälle nicht so begeistert von der Aktion…

Jule: Ja also, mir sind im März diese Plakate ins Auge gefallen, ich war schockiert und hatte den Eindruck, dass hier irgendeine rechte Bürgerinitiative, die die farbigen Dealer mit Besen oder so aus dem Stadtteil jagen will, am Werk war. Ich habe zuerst vermutet, dass es aus irgendeiner Spießer- oder konservativen Ecke kommt. Mittlerweile weiß ich, dass die Sache von Leuten aus der sogenannten Alternativszene ausgegangen ist.

Ist gibt natürlich einen Hintergrund dazu. Das wahrscheinlich jemand, der einen Heroin-Todesfall hatte, seine persönliche Wut auslässt. Ich finde es aber problematisch, Dealer zu kriminalisieren, als Verantwortliche, für die Misslage im Stadtteil. Die Droge wird kriminalisiert. Es wird überhaupt nicht reflektiert, dass Heroin keine böse Droge an sich ist – dass das Problem eher darin liegt, dass Heroin illegalisiert ist, dass es keine Möglichkeiten der Qualitätsprüfung beim „Stoff“ gibt und dass es den KonsumentInnen beschissen geht. Ich fand es auf alle Fälle eine ziemlich gefährliche und wirre Aktion.

lydia: Von den InitiatorInnen wird es ja eher so dargestellt, dass sie keine andere Lösung mehr für das Problem gesehen haben, weil das Ganze, gerade auch in Bezug auf Beschaffungskriminalität, ziemlich grassiert hat.

Jule: Da stecke ich halt nicht so drin. Es geht ein Gerücht um, dass irgendwelche HeroinkonsumentInnen linke Projekte ausgeräumt hätten. Warum macht man dann eine Hatz auf vermeintliche Dealer? Danach stellt sich dann sofort die Frage: ist das Ganze auch rassistisch motiviert? Sind die vermeintlichen Dealer irgendwelche Farbigen im Stadtteil, zu denen die Junkies dann kommen? Das ist irgendwie alles offen und ich finde diese Kampagne bedient irgendwelche Vorurteile gegenüber HeroinkonsumentInnen und ist überhaupt kein Diskussionsangebot, wie das von Seiten der InitiatorInnen gern geschildert wird, sondern einfach nur ein Schüren von Vorurteilen. Es erklärt vor allem nichts – es ist vollkommen unklar. Einem Bürger der das auf der Straße liest, wird überhaupt nicht klar, was da passiert. Was ich wenigstens erwarte, ist eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema; eine Veranstaltung um zu informieren, was ist eigentlich los im Stadtteil?

lydia: Wie ist das jetzt bei Euch – habt Ihr irgendwelche Sachen initiiert, um dem entgegen zu wirken oder die Sache zu klären?

Jule: Unsere erste spontane Reaktion, war eine Überplakataktion mit Sprüchen wie „Mach meinen Dealer nicht an“ oder „Gegen Verschwörungstheorien“. Wir wollen aber auf alle Fälle auch sachkundige Hilfe, wie die Drugscouts (2) heranholen, um sobald wie möglich eine Veranstaltung zum Thema zu machen und nicht bloß abstrakt zu thematisieren. Das conne island ist ebenfalls schon auf eine Sozialarbeiterin zugegangen um zu fragen, wie man vermitteln kann in diesem Konflikt, weil sie selbst nicht wissen, wie man damit umgeht.

Es war vielleicht nicht so gut erst mal auf der selben Ebene zu reagieren, aber es ist auf alle Fälle geplant das Problem konstruktiver anzugehen.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

(1) siehe: www.linxxnet.de
(2) siehe: www.drugscouts.de

Lokales

„Antimuslimischer Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft“

Interview mit dem Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus Leipzig

Eine wissenschaftliche Studie belegte jüngst, was viele bereits vermuteten: Die deutsche Bevölkerung ist im Vergleich zu einigen anderen europäischen Nachbarn ganz schön islamophob. Dabei drückt sich die höhere Intoleranz gegenüber Religionen wie dem Islam (verglichen mit Frankreich, Dänemark, Portugal und den Niederlanden) nicht nur in negativen Vorurteilen gegenüber Muslim_as aus, sondern bspw. auch darin, dass nur knapp die Hälfte aller Befragten allen religiösen Gruppen die gleichen Rechte einräumen würden (1). Ohne derartige Studien zum Anlass zu nehmen, wohl aber in Anlehnung an zu beobachtende Tendenzen und Ereignisse, gründete sich bereits 2010 auch in Leipzig ein Netzwerk, das sich den Kampf gegen die sog. Islamophobie auf die Fahnen schrieb. Dieses bislang relativ unscheinbare „Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus Leipzig“ (NIR) kommt jetzt jedoch in Fahrt. Anlass für uns, ein Interview mit einer ihrer Aktivist_innen zu führen:

FA!: Das „Netzwerk gegen Islamo­phobie“ gehört schon seit längerem zur politischen „Landschaft“ in Leipzig. Allerdings seid Ihr (momentan) im öffentlichen Raum recht wenig wahrnehmbar. Was beschäftigt Euch generell und aktuell? Habt ihr Aktivitäten geplant?

NIR: Unser Netzwerk gibt es jetzt seit einem Jahr und wir haben uns anfänglich darauf konzentriert, in Leipzig auf uns aufmerksam zu machen. Wir haben uns mit anderen Leipziger Organisationen getroffen und einige Vorstellungsvorträge gehalten. Danach waren wir allerdings mit uns selbst beschäftigt. Wir mussten theoretische und organisatorische Grundlagen schaffen und haben uns in internen Workshops auf unsere Arbeit vorbereitet. Jetzt sind wir endlich soweit, zu beginnen! Wir haben die nötigen Interviewvorlagen entwickelt und unsere Aufruf-Flyer sind noch warm vom Druck. Gerade sind wir also in der span­nen­den Pha­se: Jetzt können wir Menschen, die anti-mus­­li­mi­schen Ras­sismus er­fahren muss­ten, in­ter­­viewen und ihre Fälle auf unserer Website dokumentieren. Ich gebe zu: Wir sind sehr stolz auf unsere Flyer und sehr aufgeregt, nach intensiver Vorbereitung unsere Interviews zu führen und damit etwas gegen die Diskriminierung von MuslimInnen in unserer Umgebung zu tun.

Außerdem haben wir gerade einen Thea­ter­workshop organisiert, der praktisch in die Methode des Forumtheaters einführt. Wir wollen als nächstes ein selbst geschriebenes Stück über Islamophobie an einem öffentlichen Ort in Leipzig aufführen und die Zuschau­erInnen in das Stück einbeziehen. Das soll dann so ablaufen: Erst wird dem Publikum ein Konfliktverlauf vorgestellt und dann kann es im zweiten Anlauf in die Szenen eingreifen und damit die Handlung verändern. Wir wollen eben auch mit Theateraktionen im öffentlichen Leipziger Raum für antimuslimischen Rassismus sensibilisieren. Wir werden also wahrnehmbarer!

FA!: Welche Ziele verfolgt ihr als Netzwerk und wie bzw. warum habt ihr euch gegründet?

NIR: Unser Ziel ist natürlich, gegen die Diskriminierung von MuslimInnen in unserer Umgebung zu kämpfen. Die Ermordung von Marwa el-Sherbini in einem Dresdener Gericht war für uns alle ein Zeichen, dass die sogenannte Integra­tionsde­batte mit ihrer stereotypen Darstellung von Mus­limInnen auch zu realer Gewalt führen kann. Rassismus gegen muslimische Menschen ist theoretisch nicht genügend aufgearbeitet worden. Andere Formen von Rassismus, wie beispielsweise gegenüber schwarzen oder jüdischen Menschen, ist in unserer Gesellschaft glücklicherweise geächtet. Dies wollen wir auch für anti-muslimi­schen Rassismus erreichen, denn leider sind rassistische Äußerungen über Muslime bisher kein Tabu, sondern geradezu im Trend.

In unserem Netzwerk arbeiten Menschen mit unterschiedlicher Motivation. Auf unsere Homepage haben wir Texte von Mitgliedern veröffentlicht, die ihre persönliche Motivation für ihre antirassistische Arbeit beschreiben.

FA!: Wie groß ist Euer Netzwerk und wie viele bzw. welche Gruppen gehören dazu? Oder besteht Ihr eher aus sog. Einzelpersonen? Wie gut seid Ihr mit anderen linken Gruppen in Leipzig vernetzt? Gibt es gemeinsame Aktivitäten?

NIR: In unserem Netzwerk sind wir etwa 20 Leute und ja, wir sind eher sogenannte Einzelpersonen. Einige sind natürlich auch links organisiert, aber bei weitem nicht alle. Die wichtigste Gruppe in Leipzig ist für uns die Chro­nikLe, mit der wir zusammenarbeiten. Die ChronikLe dokumentiert bereits sehr erfolgreich auf ihrer Homepage rassistische, diskriminierende Ereignisse in Leipzig und Umgebung. Seit kurzem sind wir ebenfalls Redakteure ihres Archivprojekts und können Vorfälle anti-muslimischer Diskriminierung auf ihrer Seite veröffentlichen. Diese Kategorie gab es zuvor auf ihrer Seite nicht. Dann sind wir noch mit dem Antidiskriminierungsbüro vernetzt. Diese Kooperation ist uns sehr wichtig, da wir Diskriminierungsopfern weder psychologisch noch juristisch helfen können.

FA!: Wo würdet Ihr Euch innerhalb der „Landschaft“ sog. linker Leipziger Gruppen und Initiativen verorten?

NIR: Wir verstehen uns nicht als linke Gruppe, die den Rassismus von Rechten aufzeigen möchte. Antimuslimischer Rassismus ist in der Mitte der Gesellschaft und auch bei sogenannten Linken zu finden.

FA!: Stoßt Ihr auch auf (unerwarteten) Widerstand bei anderen Menschen und lokalen Initiativen, aufgrund Eurer klaren Eingrenzung, anti-muslimischen Rassismus zu thematisieren?

NIR: Bisher haben wir viele positiven Reaktionen und von den sogenannten Anti-Deutschen hat uns auch noch keiner angegriffen. (Aber ich glaube kaum, dass uns das Conne Island zu einer Diskussion einladen würde.)

FA!: Was versteht Ihr genau unter der sog. Islamophobie, der Ihr entgegentretet, und welchen Stellenwert hat dabei der Islam als Religion für Euch? Anders gefragt: Inwiefern/wann würdet Ihr generelle Religionskritik auch als Islamophobie beurteilen?

NIR: Wir verstehen unter Isla­mo­phobie Rassismus gegenüber Mus­limInnen. Diesen Rassismus wollen wir aufzeigen und bekämpfen. Uns geht es dabei nicht darum, das Bild über den Islam „richtig zu stellen“. Wir können und wollen nicht für den Islam oder Mus­limInnen sprechen.

Natürlich ist Religionskritik legitim. Aber was geläufig als Islamkritik verstanden wird, führt häufig zu pauschalisierenden Aussagen über Mus­limInnen in Europa und Menschen von Marokko bis Indo­nesien. So beispielsweise, wenn die Analyse von islamischen Texten aus dem Mittelalter die Lebensweise und -vorstellungen von heute auf der ganzen Welt lebenden MuslimInnen erklären soll. Wenn also der Islam auf Grund­lage von religiösen Texten seiner Entste­hungs­zeit als in sich abgeschlossener Kulturkreis mit patriar­chalen, frauenfeind­lichen oder homo­phoben Vorstellungen konstruiert wird, dann hört Religionskritik auf. Das Absurde ist ja gerade, dass „dem Islam“ von sogenannten Islamkritikern vorgeworfen wird, Menschen zu diskriminieren, mit dem Resultat, dass musli­mische Menschen diskriminiert werden. Marwa el-Sherbini wurde umgebracht, weil sie ein Kopftuch trug und das Kopftuch als Zeichen islamischer Unterdrückung von Frauen gelesen wird. Durch unsere Interviews wissen wir von mus­limischen Frauen, die Kopftuch tragen, dass sie häufig auf der Straße belästigt und angegriffen wer­den und sich daher kaum vor die Tür trauen. Ich will damit sagen: Islamkritik, so wie sie betrieben wird, hat direkten Einfluss auf das Leben von MuslimInnen in Deutschland. Und nochmals: Marwa el-Sherbini wäre nicht ermordet worden, wenn diese Form von „Religionskritik“ ihr nicht die theoretische Grundlage bereitet hätte.

FA!: Wann und wo kann man Euch treffen, um mitzumachen?

NIR: Wir treffen uns jeden zweiten Donnerstag um 19 Uhr im Seminargebäude der Universität, im Raum 125. Auf unserer Homepage findet ihr den aktuellen Termin (nir-leipzig.de).

FA!: Vielen Dank für das Interview 🙂

NIR: Vielen Dank für Euer Interesse!

momo

Lokales

Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart

Ich traf mich mit den drei jungen Männern von der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“ im Freisitz vom Conne Island. Hinter uns wurde geskatet, nebenan Sportzigaretten geraucht. Nur hatte ich leider vergessen, mir selbst was zu trinken mitzunehmen und musste entsprechend tief in die Tasche greifen.

?: Ihr wart zuvor im Bündnis gegen den Krieg aktiv und habt nun euren Schwerpunkt auf Überwachung und Repression verlagert. Wie kam es dazu und was für einen Zusammenhang seht ihr zwischen diesen Themen?

A: Es gibt da eigentlich mehrere Linien, die uns dazu gebracht haben. Eine davon war das Dilemma des Bündnis gegen den Krieg, sich gegen Politiken zu wenden, die nicht im Einflussgebiet sind, sprich wenn man was gegen einen Krieg machen will, der in erster Linie von den USA und dem Irak geführt wird, dann hat man natürlich wenige Angriffsmöglichkeiten von Leipzig aus. Daraus sind Überlegungen entstanden, sich vor Ort „Sparring-Partners“ also Ansprechpartner für seine politischen Forderungen zu suchen. Zum anderen ging es auch darum zu zeigen, dass Gewalt und Militarisierung nicht nur Probleme der US-amerikanischen Außenpolitik sind, sondern auch im Alltag greifen. Und Leipzig ist bekannt für seine repressive Stadtpolitik durch das Pilotprojekt der Videoüberwachung. Deshalb wollten wir dort ansetzen. Aber wir beschäftigen uns aber auch noch mit anderen Phänomenen der Militarisierung der Gesellschaft, beispielsweise haben Mitstreiter des Bündnisses gegen Krieg zur 13. Panzerdivision recherchiert, wo in Leipzig, vor Ort, Auslandseinsätze vorbereitet werden.

B: Wir haben damals im Bündnis überlegt, auf welchen verschiedenen Ebenen es wichtig ist, sich mit dem Irak-Krieg oder eben den neuen Weltordnungskriegen auseinander zu setzen und wir haben unseren Schwerpunkt auf die spezifischen Veränderungen der Weltpolitik nach dem 11. September gesetzt und dazu gehört eben auch, dass dieses Datum eine Markierung für eine Welle von anti-freiheitlichen Gesetzen, Verschärfungen und Repression darstellt. Da besteht ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Kriegen und der Verschärfung der Gesetzgebung zur inneren Sicherheit. Aber natürlich hat das auch mit persönlichem Interesse am Thema Überwachung zu tun.

?: Ist Kameraüberwachung eine Form von Gewalt?

A: Jein. Kameraüberwachung soll soziale Probleme nicht lösen, sondern unterdrücken und verdrängen. Das würde ich schon als Form von Gewalt bezeichnen, wenn auch nicht in erster Linie als „schmerzliche“ Gewalt…

B: Das kann schon schmerzlich sein, im Winter frieren zu müssen, wenn man sich sonst im Bahnhof aufgewärmt hat. Aber es ist schon eine andere Gewalt als beispielsweise Repression gegen Globalisierungskritiker.

C: Es ist auf jeden Fall strukturelle Gewalt und diese wird durch Kameraüberwachung insgesamt gefestigt.

A: Jedenfalls ist es eine repressive Ordnungsmaßnahme, die zeigt, wie eine Gesellschaft ihre BürgerInnen behandelt und ordnet.

?: Wollt ihr euch weiterhin auf Videoüberwachung konzentrieren?

B: Das war ein Einstieg, der in Leipzig Sinn macht wegen der Pionierrolle, die hier polizeilicher Videoüberwachung einnimmt. Außerdem sind das noch sichtbare, – nicht wirklich offene – aber sichtbare Veränderungen, die stattfinden. Deshalb haben wir damit angefangen und diesen Videoüberwachungs-Stadtplan erstellt. Jetzt geht es uns aber darum, dieses Phänomen in die Gesamtheit der Überwachungstechnologien und -praktiken einzubetten.

A: Videoüberwachung fällt den Leuten noch auf und sie sind sensibilisierbar, während Fragen der Rasterfahndung und der biometrischen Erfassung noch ziemlich unbekannt sind. Es ist viel schwieriger, diese abstrakten Phänomene zu vermitteln, und schließlich mit seiner Kritik gehört zu werden. Insofern war Videoüberwachung ein guter Aufhänger für eine Kritik an der Überwachungsgesellschaft.

B: Ich würde nicht den Begriff „Überwachungsgesellschaft“ verwenden, ich bin immer skeptisch, wenn irgendwelche „Gesellschaften“ ausgerufen werden. Überwachung ist eine Art, wie soziale Probleme und Krisen gedeckelt werden, aber sie ist nicht der Kern des Ganzen.

A: Jein. Ein weiteres Problem ist immerhin, dass ständig neue Technologien entstehen, wo noch keine Diskussion geführt wird, inwieweit diese einen Eingriff in das, was wir als Persönlichkeitsrechte wahrnehmen, mit sich bringen. Diese Technologien werden unser Leben und unser Verständnis von Privatheit auf jeden Fall verändern.

?: Womit wollt ihr dieses Thema Verbindung bringen?

A: Wir werden versuchen sichtbar zu machen, was in der Ordnung des Stadtraumes sonst noch wirkt, also Kontrollen von Polizei, privaten Sicherheitsdiensten, Bahnschutz und Ordnungsamt. Über Leipzig hinaus sind die neuen Pass- und Visabestimmungen von Bedeutung

B: Ich würde sagen, es gibt eine globale Entwicklung durch neue Bedrohungsszenarien, politische Konzepte und technische Möglichkeiten, die sich lokal aber dennoch unterschiedlich auswirken. Man muss die Rahmenbedingungen im Auge behalten aber trotzdem an konkreten Punkten ansetzen, wo man Widerstandsperspektiven hat.

?: Angesetzt habt ihr beispielsweise mit diesem Stadtrundgang zur Videoüberwachung. Was war da eure Intention und wie bewertet ihr ihn im Nachhinein?

B: Wir wollten verschiedene Mechanismen der Überwachung hautnah erlebbar machen, wie man gefilmt wird, überwacht wird und Datenspuren hinterlässt, Potentiale für Ausgrenzung und Repression aufzuzeigen aufzeigen. Da kann man auch legalistisch argumentieren, dass in die Grundrechte eingegriffen wird.

A: Diese Potentiale zur rassistischen und sozialen Ausgrenzung werden im Moment zwar wenig wahrgenommen, können aber in Zeiten ökonomischer und sonstiger Krisen schnell ausgeschöpft werden.

B: Zur Einschätzung: Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden, weil es eine Menge positiver Reaktionen gab und erstaunlich viel Medienpräsenz. Das merkt man an diesem Interview, aber auch im ND, der jungen Welt und der LVZ kamen Berichte, wobei wir bei der LVZ gar nicht zufrieden damit sind, was sie geschrieben haben. Aber wir haben es geschafft wahrgenommen zu werden und auch den vielen Lesern der LVZ klarzumachen: „Wir finden das total Scheiße, was da läuft“, das ist schon mal etwas. Wo ich gespalten bin, ist die Tatsache, dass wir bei vielen, die nicht von vornherein kritisch eingestellt waren, es nicht geschafft haben zu überzeugen. Da kam dann immer wieder das Argument: „Aber ich hab doch nichts zu verbergen, dann kann mir das doch egal sein.“ Da ist so ein Grundvertrauen, dass die gesammelten Daten schon nicht gegen einen verwendet werden.

A: Es ist auch viel erwartet, alle in zwei Stunden zu überzeugen. Aber die Stimme der Kritik wurde wahrgenommen und das kann auch einen Prozess des Nachdenkens in Gang bringen. Es lief jedenfalls besser als unsere Veranstaltungen im Vortrags-Format, wo kaum jemand kam. Diese Form scheint mir ein bisschen eingeschlafen zu sein. Es war gut, mal wieder die Kritik in die Stadt zu tragen.

C: Die Vorankündigungen in der LVZ und so waren ja auch offen gehalten, es war nicht klar, dass wir dagegen sind. Es war ein Stadtrundgang mit Information und dadurch konnten wir auch über die Szene hinaus Leute erreichen.

?: Ich habe mich gewundert, dass ihr euch eher positiv auf den Datenschutzbeauftragten bezogen habt, so mit: „Diese Polizeikamera ist nicht genehmigt, wir werfen hier jetzt einen Brief an den Datenschutzbeauftragten ein, und der bringt das dann in Ordnung“.

B: Nie!

A: Ich dementiere. Ich denke, dass der Datenschutz in Deutschland den Weg bereitet hat für Videoüberwachung, eben durch dieses Pilotprojekt, das der damalige, von uns nicht geliebte, sächsische Datenschutzbeauftragte Thomas Gießen genehmigt hat. Er hat später für einen Datenschützer noch eine seltsame Berühmtheit erlangt, als er nach dem Kofferfund im Dresdener Bahnhof mehr Videoüberwachung gefordert hat und kritisierte, das die Kameras nicht 24 Stunden am Tag aufzeichnen.

B: Zu dieser Eingabe, die wir gemacht haben: Ich denke, dass es wichtig ist, auf allen möglichen Ebenen, wo man was machen kann, das auch zu tun. Eine prinzipielle, radikale Kritik zu formulieren und trotzdem eine Eingabe an den Datenschutzbeauftragten zu machen ist für mich überhaupt kein Widerspruch. Außerdem dachten wir, das wäre eine Handlung, die von den Medien gut transportiert werden kann und Leuten den Einstieg ins „Kritisch-Sein“ leichter macht.

?: Was habt ihr jetzt an weiteren Aktivitäten vor?

C: Also zunächst ist ein sechsteiliges Radioprojekt angedacht, wo wir mit Interviews und so verschiedene Aspekte dieses Themas näher beleuchten wollen.

B: Wir wollen am Beispiel einer Stadt mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigen, wer ausgegrenzt wird und was für Institutionen dabei welche Rolle spielen. Dann gibt es noch ein zweites Konzept, ein Workshop oder eine Podiumsdiskussion, die sich eher auf einer theoretischen Ebene mit den gegenwärtigen Entwicklungen auseinandersetzt. Was gibt es für neue Techniken, was für Anlässe und Vorwände für Repression auch gegen Linke und Globalisierungskritiker. Es soll um die Rahmenbedingungen gehen und um Perspektiven des Widerstandes. Aber beides, Radioprojekt und Workshop klappen nur, wenn sich noch Leute finden die sich beteiligen wollen.

?: Wie kann man euch unterstützen?

B: Man kann natürlich einfach bei uns mitmachen, am besten ist aber, wenn sich jemand für eins unserer Projekte interessiert. Es gibt da ganz konkrete Möglichkeiten: Man kann unsere Kamerakarten aufhängen, man kann für das Radioprojekt recherchieren oder auch selbstverantwortlich oder mit uns zusammen einen Beitrag machen.

A: Wir sind eigentlich für jede Form von Zusammenarbeit offen.

?: Ja, schön. Vielen Dank. Dann stoppen wir mal die Überwachung und ich mach das Tonband aus.

B: Oh, so haben wir das noch gar nicht gesehen…

maria

Kontakt: gflg@gmx.de
www.leipziger-kamera.cjb.net

Interview

Interview: ZineAttack #01

Fanzines? Was´n das?“ Die Antwort auf diese Frage ist scheinbar einfach: Das Wort setzt sich aus „Fan“ und „Magazine“ zusammen. Gemeint ist also ein Heft von Fans für Fans, in Eigenregie produziert, oft per Fotokopie vervielfältigt. Ab da wird’s dann aber kompliziert – denn von Punkrock über persönliche Alltagsgeschichten bis zum Gartenbau gibt es wohl kaum ein Thema, für das sich nicht irgendwo ein entsprechendes Fanzine finden ließe. Wie vielfältig dieses Feld sich gestaltet, konnte man am 10. September im Atari erleben. Dort fand nämlich das ZineAttack statt, ein Treffen für Fanzine-Macher_innen und sonstige Interessierte. Im Vorfeld nutzte der Feierabend! die Chance, ein Interview mit zweien der Organisator_innen zu führen:

FA!: Ich vermute mal, dass Ihr nicht nur das ZineAttack organisiert, sondern auch anderweitig im DIY-Bereich aktiv seid. Könnt Ihr euch mit ein bis zwei Sätzen vorstellen, wer Ihr seid und was Ihr sonst so macht?

Jan: Ich bin Jan, 26 Jahre alt, gebe seit 2002 zweimal im Jahr ein jeweils 80-seitiges Anarcho-Punk-Fanzine namens Proud to be Punk heraus und spiele bei Selbztjustiz Gitarre bzw. bei Doubt Everything Schlagzeug. Darüber hinaus bin ich bei Bon Courage e.V. aus Borna aktiv – hierbei handelt es sich um einen Ende 2006 ins Leben gerufenen Verein, der mit Workshops, Vorträgen, Filmvorführun­gen, Ausstellungen, Bildungsreisen usw. antifaschistische und antirassistische Aufklärungsarbeit betreibt (siehe www.bon­courage.de).

Markus: Ich heiße Markus und schreibe und verkaufe Zines (über das Fill-My-Head-Zine-Distro). Ich höre gerne Toxoplasma und Rites Of Spring und schlafe lange. Außerdem finde ich seit 2002 (da hörte ich zum ersten Mal einen Song von Minor Threat) schnelle, simple Musik voll gut, deshalb gründete ich mit drei anderen Losern vor einiger Zeit die Musikgruppe Morgenthau Plan. Sonst beschränken sich meine Aktivitäten im DIY-Bereich meist nur noch auf den Support von Konzerten mittels Eintrittzahlen und dem Erwerb von Tonträgern.

FA!: Ganz naiv gefragt: Was ist ein Fanzine? Worin unterscheidet es sich von „normalen“ Zeitschriften. Und warum macht oder liest mensch lieber ein Fanzine als einen Blog?

Jan: Das klassische Fanzine ist ein schwarz-weiß kopiertes Heft im A5-Format. Da sich diese Szene recht vielseitig gestaltet, gibt es natürlich auch Fanzines in A6-, A4- oder auch vollkommen ausgefallenen Größen. Ab einer gewissen Auflage lohnt es sich, das Heft zu drucken – so gibt es auch ei­nige vollfarbige Fanzines auf Hochglanz-Pa­pier, wobei für mich jedoch die Do-It-Yourself-Atmosphäre ein stückweit verloren geht. Die inhaltliche Ausrichtung kann sehr unterschiedlich ausfallen und hängt selbst­verständlich von den Interessen der Heraus­geberInnen ab. Musik spielt in Punk/Hardcore-Fanzines zweifelsohne eine bedeutende Rolle. Aber auch Themen wie Politik, Kunst oder Sport sowie persönliche Gedanken bzw. Erlebnisse stellen keine Seltenheit in Fanzines dar – einige HerausgeberInnen nutzen ihr Heft sogar förm­lich als Tagebuchersatz und geben viel über die eigene Person preis. Wie der Inhalt so wird auch das Layout des Fanzines von denjenigen zusammengeschustert, die selbiges veröffentlichen – entweder ganz oldschool mit Schere und Leim oder etwas moderner am Computer.

Fanzines unterscheiden sich von normalen Zeitschriften in erster Linie dadurch, dass sie ohne finanzielle Hintergedanken aus purem Idealismus heraus veröffentlicht werden – so deckt der Preis eines Fanzines in der Regel gerade mal die entstandenen Kopier- bzw. Druckkosten. Dadurch, dass sich die Redaktion meist nur aus einer Hand­voll Leute zusammensetzt, fällt der In­halt häufig sehr subjektiv aus – es wird ein­fach über das geschrieben, was die He­rausgeberInnen selbst interessiert oder bewegt. Zudem erscheinen Fanzines oftmals unregelmäßig und meist nur in einer Auflage von wenigen hundert Exemplaren.

Da ich selbst nur ungern längere Texte am Computer lese und lieber in der Straßenbahn, auf der Wiese im Park oder abends im Bett noch ein bisschen in einem „richtigen“ Fanzine schmökere, hält sich mein Interesse gegenüber Internetblogs spürbar in Grenzen. Ein Fanzine ist einfach klein, handlich, praktisch – um einen Blog zu lesen, muss ich zumindest einen Laptop parat haben. Zudem sind Fanzines von ihrer Optik her oftmals mit wesentlich mehr Liebe zum Detail gelayoutet, als es bei Blogs der Fall ist.

FA!: Und á propos Blogs: Gibt’s so was wie ein Konkurrenzverhältnis zwischen Zines und dem WoldWideWeb? Waren Fanzines früher wichtiger für die Subkultur?

Jan: Zweifelsohne haben E-Zines und Webblogs gedruckte Fanzines in den letzten Jahren ein stückweit verdrängt. Dennoch gibt es immer noch genügend Leute, die sich für Fanzines im Papierformat interessieren, so dass ich nur bedingt von Konkurrenz sprechen würde. Auf mein eigenes Fanzine bezogen hat sich beispiels­weise im Laufe der Jahre ein recht fester LeserInnenkreis etabliert, zu dem immer wieder neue Leute hinzustoßen. Nichtsdestotrotz hat das Internet ungemein dazu beigetragen, dass der Informationsfluss wesentlich zügiger vonstatten geht, als es in den 1980ern oder 1990ern der Fall war. Damals blieben Mundpropaganda, Flyer und eben auch Fanzines oft die einzige Informationsquelle, auf die man zurückgreifen konnte, um auf dem Laufenden zu bleiben – heutzutage genügen einige Mausklicks, um alles nötige zu erfahren.

Markus: Ich glaube schon, dass die Möglichkeiten im Netz die Zinekultur so’n bißken ausgeknockt haben. Zumindest ist der ganze Spaß doch deutlich zusammengeschrumpft. Also klaro, wie Jan schon sagte, es gibt immer noch genügend Leute, die sich für den Kram interessieren. Aber wenn man vergleicht, was es z.B. vor ungefähr 10 Jahren noch an deutschsprachigen Egozines gab (hab erst letztens ´nen guten Einblick bekommen, als ich ein riesiges Paket mit alten Zines aus dem Zeitraum 1985-1995 zugeschickt bekam), was man mittlerweile fast an beiden Händen abzählen kann, würde ich auf jeden Fall behaupten, dass E-Zines, Blogs & Co. dazu beigetragen haben, dass das Printheft nicht mehr so gefragt ist. Einen Blog im Egozinestil aufzuziehen ist auch einfach unkomplizierter: Freier, kostenloser Zugang, Kommentarfunktion, sekundenschnelles Artikel veröffentlichen statt wochenlanges Schneiden & Kleben… Ich persönlich bevorzuge immer noch gedruckte Zines, aus den auch von Jan genannten Gründen, lese aber auch gerne auf Blogs rum. Ich schreibe ja auch auf dem Blog für die Fill-My-Head-Zine-Distro, was für mich aber nicht den gleichen Stellenwert wie das Schreiben eines Printzines hat. Letzteres bedeutet mir dann doch viel mehr, weil mir der ganze Entstehungsprozess „Text schreiben > Layoutideen sammeln > schneiden und kleben > kopieren und tackern“ verdammt viel Spaß bereitet und die alltägliche Langeweile ein wenig wegkillt.

Und deine super-allgemeine Frage, ob Fanzines früher wichtiger waren, kann ich dir super-allgemein beantworten, nämlich mit einem klaren: Ja, auf jeden Fall. Nehmen wir mal das Beispiel Konzertankündigungen: Wie erfuhr ein schwäbischer Dorfpunk in den frühen 90ern vom GG-Allin-Konzert in Königswusterhausen? Eben. Von seiner Brieffreundin aus Flensburg, die den Konzertflyer irgendwo ins Layout ihres Zines einfließen ließ. Heute erledigen das eben Blogs und Konzerteinladungen auf Facebook. Siehe Jans Antwort. Sehr schön auf den Punkt gebracht. GG Allin ist übrigens schon lange tot, hab ich auf Wikipedia gelesen.

FA!: Naive Frage Nr. 2: Warum gibt es Zinefests? Welche Bedeutung haben die für die „Szene“? Und was ist das Motiv für Euch, hier in Leipzig ein Zinefest zu organisieren? Was kann mensch da erwarten?

Markus: Ich denke, jede Zinefest-Orga-Crew hat da ihre eigenen Gründe, je nachdem, wo die persönlichen Prioritäten der Aktiven liegen. Die klassischsten Gründe sind wohl einfach die, das Medium „Fanzine“ einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen, neue Zines und die Menschen dahinter kennenzulernen und Eigenes zu verbreiten. Es gibt aber auch Zine­feste, die ein bestimmtes Thema pushen wollen, z.B. von Anarchopunks organisierte Treffen, um politische Aktionsformen zu entwickeln und weiterzuverbreiten, oder Riot-Grrrl-Events, um am männer­dominierten Bierzelt namens Punk ein wenig feministisches Feuer zu legen.

Welche Bedeutung das für die Szene hat? Ich kann da nur mutmaßen. Es ist halt erstmal „nur“ ein nettes Vernetzen, welches im real life, von Aug zu Aug, stattfindet. Ob das irgendwie großartig bedeutend für eine Szene ist, glaube ich kaum, und ich sage das auf keinen Fall jammernd oder klagend. Ich glaube, die Bedeutung beschränkt sich meist auf die eh schon Aktiven, die sich dann halt nach jahrelangem Mail­verkehr und Zinetausch endlich mal ken­nenlernen. Im besten Falle entsteht da­raus etwas, z.B. ein neues gemeinsames Zine oder, noch besser, die eine oder der andere wird angefixt und ins­pi­riert, ein eigenes Heft zu starten. Aber auch hier kann man sagen: Ver­netzung findet mittlerweile hauptsächlich digital statt.

Zu unserer eigenen Motivation, so was mal in Leipzig zu versuchen: Es ist im Grunde so, dass wir alle in irgendeiner Weise aktiv im Zine-Business drinhängen und immer wieder die Erfahrung machen, dass gar nicht mal so wenige diese Zine­kultur überhaupt nicht kennen, oft nicht mal den Begriff „Fanzine“ zuordnen können. Kurz gesagt ist das Hauptmotiv also erstmal „nur“ aufzuzeigen, was sich dahinter verbirgt. Nämlich nicht nur schmuddelige Nischenblättchen für Punker, nöö, das alles kann ziemlich facettenreich und inhaltlich verdammt abwechslungsreich daherkommen. Positive Nebeneffekte könnten auch sein, dass wir neue spannende Zines und Schreiber_innen kennenlernen und irgendwen irgendwie inspirieren. Mal schauen.

Was wir uns konkret für das Leipziger Modell ausgedacht haben: Neben dem üblichen abendlichen Konzert mit 3 Punk/Hardcore-Bands als Ausklang und einem bestimmt voll leckeren Brunch zu Beginn kann man sich diverse Lesungen reinziehen, Filme zum Thema anschauen oder in einer Leseecke in alten und aktuellen Zines blättern. Wir konnten Christian Schmidt (ehemaliger Mitarbeiter im Archiv der Jugendkulturen Berlin) als Referenten zum Thema „allgemeine Geschichte des Fanzines“ gewinnen, sicherlich vor allem für Zine-Unkundige interessant. Verkaufsstände bieten für wenig Geld Fanzines aus den unterschiedlichsten Bereichen feil. Außerdem würden wir gerne vor Ort ein ZINEFESTZINE gestalten. Jede_r kann sich einbringen, Material zum schreiben und gestalten ist vorhanden.

FA!: Fanzines sind, soweit ich sehe, vor allem mit der DIY-HC/Punk-Szene verbunden. Gibt es so was wie eine eigenständige Zine-Subkultur oder eine Verbindung zu anderen Subkulturen durch das Medium Fanzine? Die ersten Zines, die ich vor gut zehn Jahren in die Hände bekam, waren (Death-)Metal-Zines, in den letzten Jahren gab´s drei-vier deutschsprachige Zines aus der Gothic-Ecke. Wie´s in anderen Bereichen (HipHop usw.) aussieht, weiß ich nicht. Also, gibt es eine Kooperation von Fanzine-Macher_innen aus verschiedenen Subkulturen, oder beschränkt sich das doch auf den DIY-Punk-Bereich?

Jan: Ein beachtlicher Teil der hiesigen Fanzinekultur dürfte durchaus in der Punk- und Hardcore-Bewegung verwurzelt sein, da gerade diese durch den Do-It-Yourself-Gedanken seit jeher besonders stark geprägt wurde. Laut Aussage einiger FreundInnen von mir scheint die Metal- und Gothic-Szene in dieser Hinsicht eher dünn besiedelt zu sein. Und auch mein Bruder, der sich intensiv mit HipHop beschäftigt, äußerte vor einiger Zeit leicht beeindruckt, dass er es schade findet, dass es in der HipHop-Szene scheinbar gar keine Ambitionen gibt, eigene Fanzines herauszubringen. Eine recht breit gefächerte Fanzine­kultur gibt es meines Wissens noch in der Ultra-Szene unter Fußballfans. Ein szenenübergreifender Kontakt lässt sich bei mir jedoch nur selten feststellen. Letztlich entstammen alle HerausgeberIn­nen anderer Fanzines, mit denen ich in Kontakt stehe – und das sind über die Jahre recht viele geworden – mehr oder weniger der Punk- und Hardcore-Szene, auch wenn sich der Inhalt der einzelnen Hefte sicher recht facettenreich gestaltet.

FA!: Welche Zines (aus Leipzig und darüber hinaus) würdet Ihr empfehlen, und warum gerade die?

Jan: In Leipzig ist nach einigen eher tristen Jahren glücklicherweise wieder etwas Leben in die Fanzine-Landschaft eingezogen. Zu erwähnen sind hierbei der Kiezkicker (alles rund um den antirassistischen Fußballverein Roter Stern Leipzig), Nairobi Five Degree (ein Mix aus Musik, Politik und Ego-Zine), MÜell (eine Wagenladung Gossenliteratur und anderer kranker Scheiß) und Utopia Now (eher musik­lastige Gazette, wobei der Schwerpunkt eindeutig im Hardcore-Sektor liegt). Nimmt man noch unsere beiden Fanzines Kalter Kaffee und Proud to be Punk hinzu, so ergibt sich ein recht facettenreiches Bild der Leipziger Fanzine-Szene, die nunmehr für jeden Geschmack etwas bieten dürfte.

Ich persönlich lese gern Fanzines, die eine ausgewogene Mischung aus Musik und politischen Themen bieten – z.B. Commi Bastard (Redskin-Fanzine aus Berlin), (R)Ohrpost (persönliches wie auch politisch motiviertes Punk-Fanzine von der Nordseeküste), Romp (klasse Anarcho-Punk-Fanzine aus der Schweiz) oder Underdog (sehr gut recherchiertes, tiefgründiges Fanzine aus Wildeshausen, das sich in letzter Zeit immer wieder einem Schwerpunktthema pro Ausgabe, z.B. Homophobie, widmet). Aber auch Human Parasit, Ketten und Ketchup, Randgeschich­ten oder Young and Distorted geben spannende Einblicke in das Leben der Heraus­geber­Innen, beziehen politisch klar Stellung und beweisen gutes Gespür, was coole Punk- und Hardcore-Bands betrifft.

Markus: Hm, ehrlich gesagt hat mich schon länger kein Zine mehr wirklich mitgerissen. Die meisten Zines, die ich erbarmungslos abfeiere und immer wieder lese, sind eigentlich alles irgendwelche alten Dinger, die es längst nicht mehr gibt. Was mir bei den meisten Zines irgendwie fehlt, ist eine eigene Meinung und ein gesundes Maß an Rücksichtslosigkeit. Wenn ich mich zurückerinnere, sind die Zines, die mich am meisten gekickt haben, meistens die gewesen, die mir in ir­gend­einer Art und Weise vor den Kopf gestoßen haben, die vielleicht widersprüchlich geschrieben waren oder sogar meinen eigenen Lebensstil angegriffen haben, aber so wenigstens irgendetwas mit mir gemacht haben. Das kann ich von den wenigsten Zines behaupten. Das meiste ist halt leider nur mittelmäßig.

Es gibt einige aktuelle Zines, die ich ganz okay finde, z.B. das Seven Inches To Freedom (klassisches Punk/HC-Zine aus den USA), Glamour Junkies (Egozine aus Berlin), Three Chords (mittlerweile schon recht professionell gestaltetes A4-Punk/HC-Zine aus Münster, langweilige Bandinterviews und superunterhaltsame Kolumnen), Nairobi Five Degree (Conne­witzer Punkkid von umme Ecke macht ‘nen Mix aus Egozine, Bandinterviews und Politartikeln) Trouble X (Queer Comixxx aus Berlin). Sinnvoll fand ich auch die von Sebastian in die Wege geleitete Wiederveröffentlichung eines Comiczines von idrawescapeplans und black zero. Ist´n schönes Teil geworden und gibt´s u.a. in der Fill-My-Head-Zine-Distro zu kaufen. KAUFEN! Anti-Everything gibt´s wieder, ist leider nicht so anti wie der Name vermuten lässt, aber trotzdem top. Das Nur über meine Leiche #02 aus Dresden find ich ziemlich cool, das kam vor ein paar Monaten raus. Schön rotziges Egozine, guter Schreibstil, nur viel zu schnell durchgelesen. Hoffentlich kommt da noch mehr. Das Scumbag Summer aus Berlin ist auch zu empfehlen, das sind vor allem Bildcollagen, aber trotzdem kein steriles, lebloses Kunststudentenblatt.

Was ich noch kurz loswerden will: Zurzeit scheint einiges zu laufen, denn neben unserem Zinefest ist für Ende diesen Jahres/Anfang nächsten Jahres noch was in Berlin geplant (checkt zine­festberlin.com), und laut unbestätigter Info dem­nächst auch in Hamburg. Danke an justus (aber auch die anderen) für die Interviewchance und die Geduld. We love you.

FA!: Danke für das Interview!

Glossar (für junge Spatzen, die noch nix kennen):
Distro = Distribution, Versand
DIY = Do It Yourself, mach´s selber…
Egozine = Ein-Personen-Heft mit entsprechend persönlichen Texten
GG Allin = legendärer Asselpunk, vor allem für seine fäkalienhaltigen Liveshows berühmt (aber leider schon tot)
Redskins = linke/kommunistische Skinheads
Rites Of Spring = großartige Mitt-80er-Hardcore/Emocore-Band aus Washington DC

Blatt.Rausch

Rot-Grüne Bilanz – für eine alternative Atompolitik!

Im letzten Monat rollte er wieder quer durch Frankreich und Deutschland, der Atomtransport von Le Hague zum Zwischenlager Gorleben, jene weißblitzende Raupe aus Castoren, diesmal nicht nur aus sechs sondern gleich zwölf Gliedern bestehend. Sind solche Transporte unvermeidlich? Sind Proteste sinnvoll und wichtig? Gibt es Alternativen zum ‚offiziellen‘ politischen Konsens? Fragen und Antworten zu der politischen Diskussion um das Problem der Atomkraftnutzung.

F: Du bist doch Atomkraftgegner. Hast Du vor vier Jahren die Grünen gewählt?

A: Ja.

F: Na, dann musst Du doch jetzt zufrieden sein – das klingt doch alles ganz gut, was da so passiert ist. Endlich gibt’s den Atomausstieg!

A: Also – als erstes möchte ich klarstellen, dass die Grünen ziemlich geschickt waren – und zwar, was die positive Darstellung auch der größten Zumutungen betrifft. Da kann ich Menschen, die sich nicht intensiv mit der Materie befassen, gar nicht vorwerfen, dass sie das nicht so kritisch sehen. Begriffe zu besetzen, darauf kommt es in der Politik an.

F: So, da bin ich aber mal gespannt, was so schlimm daran sein soll, dass ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Konflikt einvernehmlich im Konsens gelöst wurde. Endlich gibt’s keine ideologischen Grabenkämpfe um die Atomkraft mehr!

A: „Konsens“ ist so ein Begriff. Das bedeutet eigentlich, dass alle beteiligten Personen oder Gruppen einverstanden sind. Der „Atomnonsens“ wurde aber ausschließlich zwischen der Bundesregierung und einigen Atomkonzernen ausgehandelt. Das ist etwa so, wie wenn die Regierung mit der Fleischerinnung über die flächendeckende Einführung der vegetarischen Ernährung verhandelt. Wenn da hinterher alle zufrieden sind, muss doch was faul sein.

F: So, was ist denn faul am Atomausstieg? War doch klar, dass es nicht von heute auf morgen geht. Immerhin gibt’s jetzt ein absehbares Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland!

A: Auch das ist leider nicht wahr. Kurz nachdem Stoiber zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde, verkündete er, als erstes den „Atomausstieg“ rückgängig machen zu wollen. Doch die Atomindustrie bremste ihn: Die Branche stehe zu der Vereinbarung. (Siehe Zitat) Es wurde eine Reststrommenge von über 2600 Terawattstunden vereinbart; das entspricht der Menge, die von 1968 bis 2000 erzeugt wurde. Mensch kann also höchstens von der „Halbzeit“ der Atomkraftnutzung in der BRD sprechen. Zudem liegt diese Strommenge über der technischen und wirtschaftlichen Lebensdauer der AKWs.

Otto Majewski, Chef des Bayernwerks und Präsident der Lobbyisten-Vereinigung „Deutsches Atomforum“: „Unser erklärtes Ziel, die deutschen Kernkraftwerke zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen weiterhin nutzen zu können, haben wir erreicht. Die rot-grüne Bundesregierung wäre durchaus in der Lage gewesen, den Bestand und den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen.“

Zitat aus dem „Konsensvertrag“: „Die Bundesregierung gewährleistet den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung.“

F: Na ja, der Ausstieg ist eben nicht von heute auf morgen zu haben. Ich habe gelesen, dass immerhin das AKW Stade 2003 stillgelegt wird. Ist nicht das wenigstens ein Erfolg?

A: Jedenfalls kein politischer. Die Stilllegung erfolgt nicht, weil die Regierung das so will; vielmehr hat der Betreiber HEW das von sich aus entschieden, weil das kleine, alte AKW nicht mehr wirtschaftlich arbeitet.

F: Warum sind Strommengen schlechter als Laufzeiten in Jahren?

A: Die Strommengen beinhalten eine zynische Logik: Jeder Stillstand, z. B. nach Störfällen, führt zu einer umso späteren Stilllegung! Die Bundesregierung muss also möglichst störungsfreien Betrieb garantieren; jeglicher Protest wird ad absurdum geführt, da jede kurzfristige Stilllegung den Betrieb letztlich verlängert.

F: Aber die gefährliche Wiederaufarbeitung ist doch wenigstens verboten?

A: Nein, nicht sofort, auch nicht 2005, wie oft behauptet: dann werden lediglich die Transporte in diese Anlagen eingestellt. Mit dem bis dahin angelieferten Material können die Plutoniumfabriken noch bis 2015 weiterarbeiten.

F: Immerhin gibt es doch ein Verbot, neue AKWs zu bauen – ist das auch falsch?

A: Das ist kein Erfolg von rot/grün, denn seit den 80ern wurde in Deutschland kein neues AKW gebaut, also auch nicht in den 16 Jahren Regierungszeit der Atomkraft-Befürworter von CDU/CSU/FDP.

F: Zum ersten Mal spricht eine Regierung wenigstens von Ausstieg, das ist doch toll, oder?

A: Das hat in der Tat was Gutes, weil Atomkraft als negativ dargestellt wird. Der Haken dabei ist: zum ersten Mal wird zwar gesetzlich anerkannt, dass Atomkraftnutzung tatsächlich Risiken beinhaltet; die Konsequenz besteht jedoch darin, dass die Gesellschaft diese Risiken eben als sozial angemessen hinnehmen muss. Schließlich ist der Ausstieg politisch ja nicht erreichbar. Das setzt auch jeglichen Hoffnungen (wer solche denn noch hatte), das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit evtl. einklagen zu können, ein Ende.

F: Aber der abnehmende Protest vom November 2001 zeigt doch, dass anscheinend viele Leute mit dem Konsens zufrieden sind, oder?

A: Auch das sehe ich anders. Sicherlich waren im November weniger Leute gegen den Transport unterwegs als noch im März. Das hat jedoch mehrere Ursachen. Erstmals wurde zweimal in einem Jahr ein Gorleben-Transport durchgesetzt. Dazu kommt, dass sich viele Leute, die sich gegen Atomenergie engagieren, auch in anderen sozialen Bewegungen wiederfinden. Das letzte Jahr war besonders ereignisreich: ich erinnere an Göteborg, Genua, Bonn, Salzburg … Die meisten Menschen haben nicht das ganze Jahr über frei. Und schließlich wurde auch die Repression verschärft; der Polizei gelang es besser als früher, den Widerstand unsichtbar zu machen. Z. B., indem Leute weit außerhalb der „offiziellen“ Demoverbotszone, ohne konkreten Vorwurf in Gewahrsam genommen wurden. Das macht Aktionen schwierig.

F: Wenn der Transportestopp aufgehoben wurde, dann wurde doch bestimmt der Strahlenschutz verbessert?(1998 hatte Frau Merkel als Reaktion auf den „Castor-Skandal“ einen unbefristeten Transportestopp verhängt, der erst von Herrn Trittin aufgehoben wurde.)

A: Leider wurden die Probleme mit den Behältern nicht wirklich gelöst. Es gab so absurde Maßnahmen wie eine Plastikhülle (!), um Kontaminationen zu vermeiden. Noch absurder ist ein anderer Begriff im Zusammenhang mit der Strahlenschutz-Novelle: der der „Gleichberechtigung“. Damit wurde begründet, dass Schwangere jetzt auch im inneren Kontrollbereich von Reaktoren arbeiten dürfen … Schwachradioaktiver Müll muss nicht mehr getrennt „entsorgt“ werden, er kann also (nach dem „Recycling“) überall wieder auftauchen, z. B. beim Straßenbau oder in Kochtöpfen oder Zahnspangen; niemand wird’s direkt merken. Auch tritiumbelastetes Wasser kann überall hin abgelassen werden.

F: Das Endlager Gorleben wurde doch verhindert – eine langjährige Forderung der Bewegung?

A: Nein, es wurde nicht verhindert, es gibt nur einen vorübergehenden Erkundungsstopp, keinen grundsätzlichen Zweifel an der Eignung. Dafür ist rot/grün die erste Regierung, die mit Schacht Konrad ein Endlager genehmigte.

F: Aber immerhin wird mit den dezentralen Zwischenlagern die Zahl der Transporte verringert – auch eine alte Forderung der Bewegung!

A: In der Tat. Damit wird jedoch der Widerstand unterlaufen und der Sinn der Forderung ins Gegenteil verkehrt: Ziel war und bleibt die sofortige Abschaltung; stattdessen dienen die Zwischenlager dem Weiterbetrieb der Anlagen. Nicht der vorhandene, sondern neu entstehender Müll wird dort gelagert.

F: Starker Tobak – Du willst ja auch gar nichts Positives sehen … War’s das jetzt?

A: Schön wär’s. Manche brisanten Aspekte werden leider in der Öffentlichkeit komplett verschwiegen. Dazu gehört, dass die Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau, allem Ausstiegsgerede zum trotz, ausgebaut wird. Am Ende wird sie fast doppelt so viele AKWs mit Brennstoff versorgen können, wie es hierzulande gibt. Dazu kommt, dass dort abgereichertes Uran als Abfall entsteht – sogenanntes DU (depleted uranium), bekannt aus den DU-Geschossen, die über dem Irak, dem Kosovo und höchstwahrscheinlich auch in Afghanistan eingesetzt wurden. Überdies bietet die UAA Gronau die Option, mit geringfügigen technischen Änderungen atomwaffenfähiges hochangereichertes Uran herzustellen. Der Forschungsreaktor in Garching darf 10 Jahre lang mit solchem Uran hantieren (trotz der Panikmache nach dem 11. September), und in Büchel lagern weiterhin US-Atomwaffen, für deren Einsatz auch deutsche Piloten ausgebildet werden.

F: Du hast doch die Grünen gewählt – worauf haben sich denn Deine Hoffnungen gestützt, was hätte die Bundesregierung denn besser machen können?

A: Inzwischen ist mir klar, wie absurd es ist, Hoffnungen auf eine Regierung zu setzen … Dennoch möchte ich ein paar Möglichkeiten nennen:

# die Rückstellungen in Milliardenhöhe auflösen oder hoch besteuern; …

# die Besteuerung von Uran, das als einziger Energieträger nach wie vor vollkommen steuerfrei ist;

# eine angemessene Haftpflichtversicherung für AKWs; rot-grün hat die Versicherungssumme um den Faktor 10 erhöht – von 0,01%auf 0,1% der zu erwartenden Schäden. Natürlich könnten diese Schäden nicht finanziell behoben werden – eine Gleichbehandlung der AKWs in dieser Hinsicht mit z. B. jedem Kraftfahrzeug würde zu ihrer sofortigen Unrentabilität führen;

# Verpflichtung zu Nachrüstungen auf den aktuellen Stand von Wissenschaft u. Technik;

# Hermes-Bürgschaften für Siemens-Auslandsprojekte streichen (AKW-Nachrüstungen in Slowenien, Argentinien, Litauen; sogar Neubau in China)

F: Was hältst Du von „außen Minister, innen grün“-Fischer?

A: Nur eine Anekdote: Er hat 1987 als Umweltminister in Hessen mitgeholfen, einen Atomunfall bei Siemens in Hanau zu vertuschen, indem er eine Untersuchung stoppte, als diese die ersten brisanten Ergebnisse brachte („Hanauer Kügelchen“).

F: Und was denkst Du Dir jetzt angesichts dieser verheerenden Bilanz?

A: Mit Parteipolitik gibt’s offenbar keinen Ausstieg; ich setze auf außerparlamentarische Bewegung und glaube den schönen Reden noch weniger als vorher. Ich werde mich mal intensiver mit anarchistischen Ideen befassen … Wenn wir was ändern wollen, müssen wir es selbst in die Hand nehmen; niemand nimmt uns die Arbeit ab!

wolf

(Wir möchten uns für das eingesandte Selbstinterview noch einmal bedanken. Kopf und Ärmel hoch! [Anmerkung d. Redaktion])

Atompolitik

BULGARIA IN THE NATO = NOW

interview mit der anarchistischen gruppe in sofia

Oh nein, bitte schaltet dieses gräßliche Video endlich aus. Ich weiß, es ist interessant sich nach einer Protestaktion die Mitschnitte anzuschauen, aber die Handvoll Leute mit dem Anti-NATO Transparent vermögen nicht den bitteren Eindruck, den Hunderte begeistert fähnchenschwingende – meist junge – Leute, hinterlassen, zu mindern. Die Fähnchen sind auf der einen Seite mit der bulgarischen auf der anderen mit der NATO-Fahne bedruckt. Schwer zu glauben, aber das scheint wirklich keine Spaßaktion zu sein und die sehen auch nicht aus, als ob sie dafür bezahlt werden. Ist in Sofia wirklich so wenig los, daß man bei Pro-NATO Songs einer mittelmäßigen Hip-Hop Band abhotten muß? Die enttäuschenden Jahre der post-sozialistischen Korruptions- und Mißwirtschaft scheinen den Leuten, vor allem denen, die endlich so schnell wie möglich westliche Lebensverhältnisse wollen, gleichzeitig auch den letzten Rest von kritischem Denken und Drang nach Eigenständigkeit genommen zu haben: „Nur keine Experimente mehr; so schnell wie möglich anpassen. So schnell wie möglich in die EU.“, oder wie zeitweise auf riesigen Werbewänden zu sehen: BULGARIA IN THE NATO = NOW !!!

Die Anarchistische Gruppe in Sofia hat sich zum „gemütlichen Beisammensein“ und für ein Interview in einer Wohnung zusammengefunden. Normalerweise hört man nicht viel von den Leuten in Bulgarien, weil hier, im Verhältnis zu anderen Ländern, eher wenig läuft. Zumindest ersteres soll sich hier und jetzt ändern.

lydia: Wir haben von Eurer Gruppe hier in Sofia gehört und würden natürlich gern etwas mehr über Euch und die Dinge, die Ihr hier tut, erfahren. Wie habt Ihr angefangen, seit wann gibt es Euch etc.?

m: Die ersten Kontakte kamen dadurch zustande, daß wir uns unabhängig voneinander bei den älteren Leuten von der F.A.B. (Anarchistische Föderation Bulgarien) um Kontakte mit anderen AnarchistInnen bemüht haben. Angefangen hat es mit reiner Theoriearbeit und dem Publizieren anarchistischer und antikapitalistischer Ideen auf der Website „Anarchy In Bulgaria“. Später begannen wir das Webmagazin „Chliab I Svoboda“ (Brot und Freiheit), sowie die Zeitung „Anarcho Asprotiva“ (1) (Anarchistischer Widerstand) herauszugeben. Kurz zu unseren Alt-Anarchisten von der F.A.B.: Sie haben den größten Teil Ihres Lebens in Camps wie Belene (2) und im Gefängnis verbracht und publizieren die Zeitung „Svobodna Misal“ (Freier Gedanke), welche mit unserer Zeitung „Anarcho Asprotiva“ zusammen herauskommt, sowie auch ein bißchen klassische anarchistische Literatur. Einer von Ihnen, Georgi Konstantinov, hat, ich glaube 1956 (2a), ein Stalin-Denkmal in die Luft gesprengt. Er wurde zum Tode verurteilt, hatte aber das Glück, daß Stalin kurz darauf starb, so daß die Strafe in 20 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Er saß davon 10 Jahre ab und entkam nach seiner Entlassung nach Frankreich. Nach der Wende kam er dann nach Bulgarien zurück.

Außerdem gibt es in diesem Zusammenhang noch eine Gruppe alter Anarcho-Syndikalisten (Ex-Bulgarien Confederation of Labour). Einer von ihnen – Nikola Mladenov – ist mittlerweile ca. 94 Jahre alt und hat in den 1930ern an der Spanischen Revolution teilgenommen. Die Leute von F.A.B. sind, wie gesagt, früher sogar richtig militant unterwegs gewesen, aber jetzt ist natürlich nicht mehr so viel mit ihnen los, da sie mittlerweile alle über 80 sind. Das Büro der F.A.B. war und ist für uns trotzdem immer noch ein guter Anlaufpunkt um mit anderen Leuten in Kontakt zu treten, und da sie dort über eine umfangreiche Materialsammlung verfügen, eine gute theoretische Basis.

Tja, irgendwann waren wir dann jedenfalls genug Leute um einfach auch mal an eigene Aktionen denken zu können.

lydia: Was für Aktionen waren das denn?

t: Die allererste war vielleicht noch nicht so interessant. Wir haben auf der offiziellen 1. Mai-Feier 2001 der Kommunisten (3) und Sozialisten Flugblätter über die Situation in Bulgarien verteilt. Ein lustiger Aspekt war dabei, daß die gar nicht gerafft haben, daß wir nicht da sind um mit ihnen zu feiern und irgendwelche älteren Muttis liefen dann mit unseren Flugblättern, mit dem großen Kreis A drauf, herum.

Danach kam dann im Juli 2001 die Protestaktion zum Tod von Carlo Guiliani während der Riots in Genua. Zufälligerweise haben wir am Tag zuvor – auch wieder durch die F.A.B. – Leute, ein paar Deutsche aus dem Antifaspektrum getroffen, und uns dann mit denen zusammen spontan, erstmals zu einer offenen Aktion an einem Global-Action-Day entschlossen.

So spontan, daß die meisten aus unserer Gruppe gar keine Zeit hatten rechtzeitig da zu sein. Deshalb waren wir auch nur ca. 8 Leute, die sich dann mit Transparenten und Fahnen vor das italienische Konsulat gestellt haben. Bei der Aktion waren außerdem noch Leute von der kommunistischen „Che Guevara“- Gruppe dabei. Einer von uns hat sich dann ketchupblutend als toter Carlo Guiliani vor den Eingang gelegt.

Die Situation war ziemlich witzig. Stell Dir vor mitten in Sofia… Eine Menge Leute waren verunsichert und haben gefragt, was passiert ist und ob wir Hilfe brauchen. Von daher war es nicht so wichtig, wie viele Leute wir waren; durch die massive Aufmerksamkeit der PassantInnen war die Aktion ein voller Erfolg. Der Security-Mann der Botschaft war auch ziemlich locker drauf und hat sich nur auf das Wichtigste beschränkt. Als dann endlich mal die Polizei (old school Lada-Vopo-Streife-Style, Anm. d. Interviewerin) kam, ist da auch nur einer ganz lustlos mit offenem Hemd (Bulgarisches Klischee-Brusttoupet; siehe auch Schwarzmeerküstenbusfahrer-Syndrom, Anm. d. Interviewerin) mal kurz ausgestiegen, hat kurz geschwatzt und ist wieder abgehauen.

Diese Aktion war sehr wichtig für uns, weil wir uns zum ersten Mal richtig an die Öffentlichkeit gewagt haben. Zuvor haben wir immer nur diese Flyer- und Klebe-Aktionen gemacht.

Am nächsten Tag gab es dann eine kleine Meldung in der Zeitung, die eigentlich O.K. War. Allerdings hat dann ca. 6 Wochen später eines der bekanntesten Wochenzeitungen Bulgariens diese Aktion als Aufhänger für ihre Titelseite genutzt um zu fragen, was wohl passiert, wenn die GlobalisierungsgegnerInnen nach Sofia mit seiner, auf so etwas nicht vorbereiteten, Polizei kommen und damit gezielt Angst geschürt. Allerdings sind durch diesen Artikel auch neue Leute zu uns gestoßen, weil sie erstmals mitbekamen, daß hier solch eine Gruppe existiert. b. kann da sicher mehr dazu sagen…

b: Ja, ich habe durch diesen reißerischen Artikel mitgekriegt, daß es in Sofia Leute gibt, die sich für Globalisierung interessieren, so daß dieser Mist auch etwas Positives bewirkt hat. Ein paar Wochen später habe ich dann erstmals die Zeitungen „Anarcho-Resistance“ und „Svobodna Misal“ gelesen und bin dann während des Protestes, gegen den geplanten Angriff auf Afghanistan, vor der US-Botschaft zu dieser Gruppe gekommen.

t: Diese Protestaktion war zufällig 2 Stunden bevor der Angriff begann. Unser eigentlicher Grund dort zu erscheinen war ja, daß die bulgarische Regierung kurz vorher, obwohl selbst noch kein Mitglied der NATO, in einer Erklärung zugesichert hat, diesen Krieg im Bedarfsfall aktiv zu unterstützen. Die Cops haben erst mal hilflos dagestanden und herumtelefoniert. Nach einer halben Stunde haben sie dann die Personalien aufgenommen und uns zu verstehen gegeben, daß das mit der Demokratie und dem friedlichen Protest zwar alles ganz nett ist, wir aber jetzt langsam verschwinden sollten, weil sie sonst zu anderen Mittel greifen müßten….

lydia: Das klingt, als ob Ihr hier die einzigen wart, die gegen den drohenden Krieg protestiert haben. Gehen denn bei so etwas nicht wenigstens noch irgendwelche Friedensgruppen o. ä. auf die Straße?

m: Nein, nichts. Hier gibt es maximal noch ein paar NGO‘s, aber von denen, hat sich niemand gerührt. Als die NATO 1999 Serbien bombardiert hat, haben damals nur ein paar Kommunisten protestiert. Damals ist auch diese Gruppe Che Guevara entstanden. Die waren aber bei der Afghanistan-Krieg Sache nicht mehr dabei, weil sie sich mittlerweile aufgelöst hatten. Bulgarien hat damals für die NATO Bomber den Luftkorridor geöffnet, obwohl die meisten Leute hier dagegen waren. Eine der Bomben haben die ja dann dummerweise hier in Sofia verloren. Zum Glück ist nur das Dach eines Hauses weggesprengt worden…

t: Eine andere gute Aktion war unsere 1.-Mai-Demo 2002. Wir sind mit ca. 25 Leuten mit Fahnen und Transparenten durch das Zentrum von Sofia gezogen und haben hauptsächlich für den 6 Stunden Arbeitstag demonstriert. Da kamen dann echt Leute an: „Eh, kuckt Euch die an! Die fordern einen 6 Stunden-Tag! Leute hier in Bulgarien arbeiten mehr als 16 Stunden am Tag! Ihr jungen Schnösel wollt nur 6 Stunden arbeiten… So was faules…“ und ähnlichen Bullshit. Wir meinten dann einfach nur: „Wenn Ihr unbedingt wollt, dann müßt Ihr halt 16 Stunden arbeiten…“ Wir haben dann noch versucht Ihnen die Grundidee, die es schon beim Kampf für den 8-Stundentag in der Vergangenheit gab, zu erklären. Damals gab es auch eine Menge Arbeitslose und Leute die mehr als 10 Stunden gearbeitet haben. Es geht dabei einfach nur darum, die Arbeit unter den Leuten aufzuteilen – mehr Leute für die selbe Arbeit einzustellen. Aber die meinten nur: „…und wir verdienen dann weniger Geld!“.

lydia: …und checken nicht , daß sie bei fairer Entlohnung gar nicht länger arbeiten müßten.

t: Die denken alle nur an sich selbst.

m: Ziemlich paradox war, daß die meisten von denen Sozialisten waren. Die Cops haben dann noch angefangen, wir hätten keine Erlaubnis für unsere schwarze Fahne und solches Zeug.

lydia: Wie groß ist Euer Themenspektrum? Befasst Ihr Euch mit anderen Themen, wie zum Beispiel mit so Sachen wie Feminismus, Ökologie, Tierrechte…? Oder seid Ihr nur im Arbeitskampf beschäftigt..?

m: Nein, nein, wir sind natürlich nicht nur auf so was fixiert. Wir befassen uns z.B. auch mit Ökologie, Feminismus, Homosexualität… Wir haben mit einer Öko-Gruppe „Za Zemjata“ (für die Erde) zusammengearbeitet. Das sind zwar NGO´s, aber wir haben auch schon Aktionen mit denen gemacht. Keine illegalen Aktionen, alles ganz normale Sachen, wie Säuberungsaktionen in den Bergen oder Aktionen für Fahrradwege (4), die wir auch O.K. Finden. Mit denen haben wir aber auch eine Anti-Globalisierungsaktion gemacht; bei einem Treffen in Sofia wo es um den Balkan-Stabilitätspakt ging und wir kritisiert haben, daß diese Dinge wieder nur den Ländern mit der besseren Ökonomie nützen. Zu vielen anderen Themen, wie Feminismus und Homosexualität, haben wir bis jetzt nur theoretisch gearbeitet. Hier gibt es einen regen Meinungsaustausch mit Leuten von Gruppen aus dem Ausland, wenn die hier vorbeischauen. Ein anderes wichtiges Thema ist natürlich Antifa.

lydia: Perfekter Übergang. Meine nächste Frage ist nämlich die obligatorische. Natürlich, die nach dem Naziproblem. Wie sieht es hier in Bulgarien und Sofia damit aus?

Bulgarien war ja im 2. Weltkrieg Verbündeter von Nazideutschland und es gibt natürlich Leute, die sind stolz auf diese Zeit und der Meinung, daß es Bulgarien damals besser ging. Dazu kommt noch daß nun alle Kommunistenhasser sind und KommunistInnen sind nun mal AntifaschistInnen…

Die Nazizeit war für die eine großartige Zeit: Wir haben die Nachbarländer okkupiert – die natürlich zu uns gehören – und Groß-Bulgarien war vereinigt. Es hilft den Leuten den Komplex, der heute auf ihnen lastet, zu ertragen. Es gibt sogar Leute, die der Meinung sind, daß BulgarInnen Arier – keine Slawen – nämlich Bulg-Ariens sind.

Die meisten der jungen Leute sind Nationalisten. Bei den Fußballfans ist dieses Denken auch weit verbreitet und man läßt dann auch gern mal Dampf bei irgendwelchen Minderheiten ab. Zigeuner, Juden, Türken (5) sind willkommene Schuldige am Elend der Leute. Die ganze klassische Naziliteratur ist bei uns unkommentiert frei erhältlich. Vor einem Jahr haben die sogar Hitlerposter geklebt. Es gibt zwar eindeutige Gesetze gegen die Verbreitung faschistischer Ideologien, aber die interessieren in der Praxis niemanden. Es gibt eine Menge legaler Unterstützungsaktionen. Man merkt auch, daß da eine Menge Geld dahinter steckt – die also auch finanziell gut unterstützt werden.

m: Eine interessante Sache in diesem Zusammenhang: Vor vielleicht 2 Jahren haben diese Che- Guevara-Leute bei den Feierlichkeiten zum Geburtstag von Hristo Botev, eines unserer Nationalhelden, ein Transparent wo das Nato-Symbol wie eine Swastika aussieht, gezeigt. Die wurden dann wegen Zeigen von rechtsradikalen Symbolen verhaftet und angezeigt. Bei jedem Fußballspiel kannst du Fahnen mit Hakenkreuzen sehen, und es interessiert niemanden. Ein gutes Beispiel wie unsere Anti-Nazi Gesetze gegen Antifaschistinnen gewendet werden.

lydia: Wie sieht es bei denen mit Parteien aus?

t: Eine der bekanntesten Parteien ist die Nationalistenpartei VMRO (6) (Interne Mazedonische Revolutionäre Organisation), dann gibt es noch BNRP (Bulgarische National-Radikale Partei) und seit kurzem die BNS (7) (Bulgarische Nationale Union), die sich offenen zu rechtsradikalem Gedankengut bekennen. Wir attackieren gegenseitig unsere Websites…

lydia: Bekämpft Ihr die Nazis auch direkt, bzw. müßt Ihr Euch auf der Straße gegen sie wehren?

m: Ein paar aus unserer Gruppe und Leute von Ex-Che-Guevara gehen regelmäßig Nazis (be)suchen…

lydia: Was sagen die Nazis zum NATO-Beitritt?

m: Sie sind dagegen. Es gab sogar schon Einträge von Nazis im Gästebuch unserer Website, daß sie es gut finden, daß wir etwas gegen die NATO machen. Wir haben das aber eindeutig klargestellt, daß wir, trotz manchmal gleicher oder ähnlicher Themen, keine gemeinsame Sache mit Nationalisten oder gar Nazis machen.

lydia: Ich weiß nicht, ob Ihr davon wißt, bei uns in Deutschland demonstrieren die Nazis für die PalästinenserInnen, weil sie die als Verbündete gegen die Juden sehen und tragen deshalb sogar die so genannten Palästinenser-Tücher. Wie sieht das hier aus?

b: Sehr interessant (allgemeine Heiterkeit). Und zur selben Zeit verprügeln sie die wahrscheinlich noch… Die haben bei uns keine einheitliche Position zum Israelkonflikt. Die schreien natürlich auch, daß die bösen Juden arme Palästinenser umbringen, aber das geht nicht so weit, daß sie für Muslime Partei ergreifen, weil sie wegen unserer 500jährigen türkischen Geschichte und der daraus resultierenden türkisch-muslimischen Bevölkerungsschicht, immer noch eine große Abneigung gegen Muslime haben.

lydia: Wie sieht es allgemein aus hier in Bulgarien – wie ist die Stimmung bei den Leuten?

b: Die meisten Leute sind schon unzufrieden, aber auch einfach zu passiv, trauen sich nicht zu, selbst was zu verändern. Dabei ist es für viele ein schwieriges Auskommen – die Lebensbedingungen sind hart und es gibt vieles, was sich ändern muß. Dabei spielt sicher auch mit rein, daß die meisten voll damit beschäftigt sind ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da bleibt oft nicht viel Zeit an andere Sachen zu denken.

lydia: Bulgarien ist jetzt auf dem Weg in die NATO…

m: Ja, die intensive Kampagne dafür begann kurz nach dem Jugoslawien-Krieg. Die wenigsten Leute in Bulgarien stehen dem NATO-Beitritt kritisch gegenüber und die Werbung dafür ist ein voller Erfolg, wie Du ja sicher vorhin auf dem Video gesehen hast. Um noch mal auf den Artikel wegen der drohenden GlobalisierungsgegnerInnen in Sofia zurück zu kommen… Das war natürlich nicht ganz grundlos. Einen Monat später, sollte hier nämlich ein NATO-Treffen (27. 09. 01) stattfinden und dafür wurden die Leute dann in Stimmung gebracht. Die Polizei konnte sich damit prima als Ordnungshüter wegen der vielen GlobalisierungsgegnerInnen, die dann kommen würden, in Szene setzen. Sofia war dann zu dieser Zeit dementsprechend im Ausnahmezustand. 6000 Polizisten (was hier ziemlich viel ist), haben damals in Sofia alles dicht gemacht. Wir haben uns natürlich auch ruhig verhalten. Die Leute von Che Guevara mußten damals unterschreiben, daß sie sich nicht an Protesten beteiligen.

lydia: Gibt es in Bulgarien ein Vermummungsverbot?

m: Ich glaube nicht, daß so etwas in unseren Gesetzen existiert, aber für uns ist diese Frage bisher unrelevant. Bei der leider nur geringen Anzahl von Leuten, die wir bis jetzt auf die Beine kriegen, ist es eher unklug sich aggressiv zu zeigen; die meisten Leute assoziieren ja Vermummung nur mit Terroristen. Außerdem erleichtert es die Kriminalisierung.

lydia: Was habt Ihr für Auslandskontakte – inwieweit arbeitet Ihr mit Anderen zusammen?

t: Ja, wir haben Kontakte zu Leuten, meistens AnarchistInnen, z.B. in Griechenland, Serbien, USA, Schweiz oder natürlich Deutschland. Das beschränkt sich aber meist auf den Austausch von Artikeln für die jeweiligen Zeitungen. Ansonsten, sind wir hier zwangsläufig größtenteils mit unseren eigenen Sachen beschäftigt – versuchen z.B. auch neue, jüngere Leute zu gewinnen. Wenn uns Leute besuchen, nehmen sie natürlich auch an unseren Aktionen teil. Umgedreht ist es für uns aber aus Kostengründen meist schwierig an Aktionen im Ausland teilzunehmen.

lydia: Was habt Ihr an Plänen für die Zukunft?

t: Wir brauchen dringend etwas, wo wir uns treffen können. Was wir auch als Infoladen, zum publizieren, zum Medienaustausch oder ähnliches nutzen können. Zur Zeit treffen wir uns immer in irgendwelchen Kneipen und das ist nicht so angenehm zum diskutieren. Außerdem gibt es keinen festen Anlaufpunkt für neu hinzukommende Leute. Und die können wir dringend gebrauchen.

Wir haben zwar eine Menge SympathisantInnen, eine Menge Leute lesen unsere Zeitung und sagen: „Oh, das ist gut, was ihr hier macht – wann kommt die nächste Ausgabe?“ aber wenn mal wieder eine Aktion ansteht…

lydia: Danke fürs Interview und alles Gute.

(1) change.to/anarchy, www.savanne.ch/svoboda, resistance.hit.bg/), www.radicalreader.net/ZBG
(2) Zehntausende BulgarInnen wurden während des Stalinistischen Regimes als „Feinde der Volksrepublik“ in Arbeitslagern festgehalten. Manche landeten hier für Kleinigkeiten wie Witze gegen das Regime oder Interesse an westlicher Lebensart. Diese Lager, ähnlich den sowjetischen Gulags, wurden Anfang der 1970er größtenteils geschlossen. Tausende starben hier, infolge von Schlägen und schlechter Behandlung, Das Schlimmste war das in Lovech, wo zwischen 1957 und 1961 ca. 150 Leute umkamen. Im Lager Belene wurden die Leute auf einer Donauinsel festgehalten. Viele von den Lagern waren geheim, aber ca. 60 waren in der bulgarischen Bevölkerung gut bekannt.
(2a) Tja, so ist das mit mündlichen Überlieferungen, Stalin starb bereits am 05.03.1953 …
(3) gemeint ist die größte Oppositions-Partei BSP (Bulgarische Sozialistische („gewendete“ ex-Kommunistische Partei), angeführt von Georgi Purvanov, welcher seine Partei im Mai 2000 eine Bitte um NATO-Mitgliedschaft unterstützen ließ. In einer Koalition zusammen mit Ecoglasnost und Stamboliiski’s Agrar Partei, bilden sie die Neue Demokratische Linke, mit 1997 22.1% der Wählerstimmen (eine harte Niederlage, verschuldet durch den ökonomischen Kollaps, nach noch 43.5% im Jahre 1994)
(4) in Sofia gibt es keine Fahrradwege, auf der normalen Straße fahren ist aufgrund der vielen Kamikaze-FahrerInnen lebensgefährlich und Bürgersteigfahren verboten
(5) BulgarInnen im ursprünglichen Sinne repräsentieren 85.7% der Bevölkerung. 9.4% türkischer Abstammung stellen die größte Bevölkerungsminderheit, welche hier jedoch, trotz des geschichtlichen Hintergrundes, größtenteils keine Probleme haben. Problematischer sind die Beziehungen zur dritten Gruppe, den Roma (Zigeuner), welche 3.7% der Bevölkerung ausmachen, und denen viele mangelndes Interesse an Integration in die Gesellschaft und Verantwortung für Kriminalität vorwerfen. 86.6% der Bevölkerung sind angeblich Orthodoxe Christen und 13.1% Muslime.
(6) eine Schwesterpartei einer eigentlich in Mazedonien gegründeten Partei, die für die Wiedervereinigung Bulgariens und Mazedoniens eintritt; war auch schon an Regierungskoalitionen beteiligt.
(7) deutsche Version: www.bgns.net/inde_de.php

Interview

sy.bi.le im Interview

Wir sprachen mit AktivistInnen des syndikats bildung leipzig an der Uni Leipzig

Feierabend!: Was, bitte, ist denn ein Bildungssyndikat?

sy.bi.le: Ein bisschen mehr als ’ne Gewerkschaft, aber nie mehr als die Mitglieder draus machen. Unsere Organisierung fühlt sich der anarcho-syndikalistischen Bewegung verbunden, die schon immer ein sehr umfassendes Verständnis von Gewerkschaft hatte und noch hat. Da beschränkt sich das Engagement nicht auf den Arbeitsplatz, sondern erstreckt sich auch auf die Selbstorganisation gesellschaftlichen Lebens und zielt letzten Endes auch auf die Abschaffung des Lohnsystems. Wir haben uns der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), einem bundesweiten Gewerkschaftsverband, angeschlossen und bilden mit anderen Bildungssyndikaten eine Branchenvereinigung, in etwa wie die GEW im DBG. Von diesen großen Verbänden unterscheidet uns aber, dass wir Hierarchien vermeiden wollen und daher auch keine bezahlten FunktionärInnen haben, dafür jedoch lokale Autonomie, z.B. was Schwerpunktsetzung, Aktionen und Finanzen anbelangt. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir nichts von sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen und dergleichen halten, sondern unsere Interessen durch direkte Aktionen durchsetzen wollen. Schließlich noch, dass wir die herrschaftliche Spaltung in Lehrende und Lernende nicht anerkennen. Dies ist ein Eckpfeiler unserer Utopie freier Bildung, weshalb wir also LehrerInnen, DozentInnen, SchülerInnen, StudentInnen, MitarbeiterInnen, Büroangestellte etc. organisieren wollen.

Wann habt ihr euch zusammengefunden, und warum? Was wollt ihr machen?

Tja, bisher sind wir eine rein studentische Initiative, die seit Frühling dieses Jahres besteht. Zuvor engagierten sich die meisten von uns in einer lokalen Studierendengruppe … gelangten aber zu der Ansicht, dass eine bundesweite Vernetzung – auch über das studentische Spektrum hinaus – und eine kontinuierlichere Organisierung unabdingbar sind, um genügend Nachdruck zu entfalten. Zugeständnisse seitens einer Regierung können nur erzwungen werden, und das macht mensch am besten mit wirtschaftlichem Druck (Streik). Außerdem fanden wir viele Proteste der vergangenen Semester zu "diplomatisch" und inhaltlich kritikwürdig. Im sy.bi.le wollen wir Farbe bekennen für eine selbstbestimmte und freie Bildung ohne Selektion, Hierarchien und Leistungsdruck, und ganz entschieden jeglichem "Standort"-Palaver, jeder Elitebildung usw. entgegen treten. Aber wir wollen nicht nur schlaue Papiere verfassen sondern auch unsere Ideen in die Praxis umsetzen. So beteiligen wir uns an dem Projekt der selbstorganisierten Seminare und erstreben noch in diesem Semester ein eigenes Lokal mit anarchistischer Bibliothek. Bei all dem vergessen wir nicht, dass wir einer Gewerkschaftsbewegung angehören. Durch direkte, unmittelbare Aktionen möchten wir nicht nur Verschlechterungen der Studien-, Arbeits- und Lebensbedingungen abwehren, sondern auch Verbesserungen erstreiten. Dabei ist uns der Gedanke der Solidarität wichtig.

Was kritisiert ihr am jetzigen Bildungssystem? Was setzt ihr dem entgegen?

Gut, die prinzipiellen Kritikpunkte sind schon angeklungen: Selektion, Hierarchien und Elitebildung, Fremdbestimmung und Bürokratisierung, Leistungsdruck und Überwachung. Das alles sind mehr oder weniger notwendige Bestandteile eines kapitalistischen Bildungssystems, dessen Hauptzwecke eben in einer scheinbar objektiven Selektion, der Ausbildung von brauchbaren Humankapital für den Standort sowie der Erziehung zu guten StaatsbürgerInnen liegen. Wir setzen dem eine Utopie entgegen, in der sich alle nach eigenen Interessen – unabhängig von sozialen Status, Alter, Geschlecht und sonstigen Zuschreibungen – bilden können. Dabei wird der solidarische Austausch sicher eine gewichtige Rolle spielen. Wir alle können viel voneinander lernen – ganz ohne die formale Aufspaltung in „Lehrende“ und „Lernende“. Dabei ist uns klar, dass sich dies letztendlich nur durch die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse sowie des permanenten Versuch des Abbaus aller Herrschaftsformen verwirklichen lässt.

Wie schätzt ihr die aktuellen Bildungspolitik ein und: was ändert sich durch die derzeit geplanten und durchgeführten Maßnahmen?

In Sachsen – aber auch anderswo – werden momentan recht drastische Haushaltskürzungen vor allem im Bildungsbereich realisiert. Damit einher gehen natürlich auch Kündigungen und die Umstellung auf Teilzeit; dies verschlechtert die Arbeitsbedingungen sowohl der Beschäftigten als auch der Studierenden. Und: Viele elementare Veröffentlichungen sind in der Uni-Bibliothek nicht zu finden. Mindestens ebenso bedeutend aber sind die Vorschläge der SHEK (Sächsische Hochschulentwicklungskommission), die auf eine Straffung der Hierarchie, der Ungleichheit innerhalb der Uni zielen, um die Kommerzialisierung der Hochschule zu forcieren – Bildung wird so bis auf’s letzte zu Ware. Laut Unesco wird der weltweite Bildungsmarkt auf zwei Billionen (2.000.000.000.000) US-Dollar geschätzt, und irgendwo muss das Geld ja herkommen. Ein Dauerbrenner sind, klar, auch Studiengebühren – selbst wenn Rot/Grün sie uns als "Bildungsgutscheine" verkaufen will. Statt aber einfach nur den status quo zu verteidigen, wollen wir uns lieber der realen Umsetzung unserer Utopie widmen.

Kann mensch dagegen nichts unternehmen, demonstrieren scheint ja kaum zu helfen?

Dagegen kann mensch sehr wohl ‚was unternehmen! Auch Demos sind nicht gänzlich wirkungslos. Worauf es ankommt, meinen wir, ist der Rückhalt solcher Initiativen unter den Betroffen und deren Entschlossenheit. Wenn die meisten unserer KommilitonInnen höchstens einmal im Semester an einer Latschdemo teilnehmen und ansonsten auf die studentische Stellvertretung in den Gremien hoffen, sieht es natürlich eher trübe aus. Aber so sehen das zum einen nicht alle Studis, und zum zweiten gibt’s ja auch noch die Beschäftigen: im Institut, in der Mensa, in der Bibliothek, im Rechenzentrum sowie beim Putzen und Reparieren. Sie sind zwar von der Zahl her ungleich weniger, aber ohne sie läuft nichts; darin liegt ihre Macht. Bei alldem sollte natürlich nicht ausgeschlossen sein, die Auseinandersetzungen auch auf andere Branchen und Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu übertragen. Vor allem aber muss mensch in Bewegung bleiben, nicht resignieren und verzweifeln. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, that’s the only way out.

Danke für das Interview.

Bildung

Diese Revolution ist geschlagen …

… niemals aber die Ideen.

Aus aktuellem Anlaß schieben wir dieses Mal die nackte Theorie(-geschichte) beiseite, um eine Veranstaltung zu vertiefen, die am 20. Juni in der Libelle (siehe S. 1) stattfand. Im Schatten von AC/DC und den auch nicht mehr ganz frischen Stones hatte Leipzig noch viel älteren Besuch. Zu Gast für einen spannenden Abend, eine kurze Nacht und einen langen Morgen war Abel Paz (81), der auf seiner Reise durch Europa auch Leipzig auf seine Route setzte. Die Gesprächsrunde, zu der zwar 1000mal weniger Menschen als auf der Festwiese kamen, die aber die Libelle aus allen Nähten platzen ließ, war durch das taffe Auftreten des Achzigjährigen geprägt, in dessen wachen Augen sich der glühende Verfechter sozialer und anarchistischer Ideen widerspiegelte. Es war eine Begegnung der vielen Fragen und einiger Antworten, ein Gespräch zwischen Jugend und Alter, eine gegenseitige Erfahrung. Am nächsten Morgen gab uns Abel die Chance, ihm noch einige Fragen zu seinem Leben, dem Spanischen Bürgerkrieg, zu seinem politischen Handeln, zu seinen Haltungen, zu seinen Ansichten über soziale Bewegungen zu stellen. Eine gekürzte Fassung der Transkription einer Tonaufnahme drucken wir hier ab.

Momentan bist Du auf Tour.Was bewegt Dich dazu, mit fast 82 Jahren solch’ eine Sache zu machen?

Ich denke man geht nie in Ruhestand. Wenn jemand etwas zu sagen hat, ist das Alter egal … Er geht dorthin, wo ihn die Leute hören wollen. Und wenn du glaubst, dass deine Ideen dazu beitragen können, die Welt zu verändern, ist es um so besser, je mehr Leute hinter dir stehen.

Wie sind Deine Eindrücke von der Reise?

Nun gut, viele Leute, viele junge Leute, die sich für libertäre Ideen zu interessieren scheinen. Mehr weiß ich noch nicht, die Reise hat ja gerade erst angefangen.

Was möchtest Du mit diesen Reisen erreichen?

Nichts, ich habe mir nichts vorgenommen. Ich mache keine Propaganda für eine Partei, ich habe mir lediglich vorgenommen, die Dinge so zu verändern, dass sich die Leute über die Probleme der Gesellschaft und die Probleme, die sie umgeben, bewußt werden.

Wenn die Leute von dir hören, was denkst du, interessiert sie am meisten? Die Bedingungen während des spanischen Bürgerkrieges oder anarchistische Ideen? Wie schätzt du das ein?

Ich hab keine genaue Vorstellung davon, was die Leute denken, weil sie keine persönlichen Fragen stellen. Es kommen Fragen über das, was die Leute gelesen haben. Aber generell fragen die Leute nicht einfach so, sondern in Bezug auf das, was sie gelesen haben und die Zweifel, die sie daran haben.

Was hat dich dazu bewegt, mit 14 Jahren in die CNT einzutreten? Wie bist du mit anarchistischen Ideen in Kontakt gekommen?

Meine Eltern waren Anarchisten. Die historischen Umstände haben mich dazu gebracht – wie tausend andere auch. Es war nicht nur der Kampf für den Anarchismus, sondern ein sozialer Kampf. Es waren ganz andere historische Umstände als heute. Wir Kinder haben nicht gespielt, mit acht Jahren waren wir schon erwachsen. Das ist das Gleiche wie heute in Südamerika, wo achtjährige Kinder in den Minen arbeiten.

Als Redakteure interessiert uns natürlich auch, welche Rolle die anarchistischen Zeitungen in der Bewegung gespielt haben. Wie wichtig war dieses Medium für dich und andere? Gibt es Unterschiede zu den heutigen Medien?

Nun, damals war das eine Bewegung, die die ganze Gesellschaft umfasste, und die Zeitungen und Zeitschriften haben eine wichtige Rolle gespielt. Sogar Diaz de Almoral hat erzählt, wie in den Betrieben einer die Zeitung vorlas, während die anderen zuhörten. Es gab viele Analphabeten, aber die Leute waren neugierig. Ohne Kultur wirst du nie eine Revolution machen, noch wirst du irgendjemanden darauf vorbereiten.

Man muss die Ungerechtigkeit zerstören, und man muss die Ungerechtigkeit verstehen, sonst ist es nur eine Revolte von Verzweifelten, und wir waren verzweifelt. Wir wollten die Revolution, um die sozialen Ungerechtigkeiten abzuschaffen, daher diskutierten die Leute über das, womit sie nicht einverstanden waren, wie alles anders funktionieren könnte, und es gab immer ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im und durch den sozialen Kampf.

Welche Medien nutzt du heute und was fehlt deiner Meinung nach?

Das, was es früher gab, fehlt heute: eine soziale Kultur. Nicht so eine Kultur “light” wie wir sie heute haben, sondern eine soziale Kultur, die sich vertiefend mit den Problemen beschäftigt. Die heutigen historischen Umstände sind nicht vergleichbar. Ich denke immer an die Vergangenheit, und die Vergangenheit ist ganz anders als das Jetzt

Es war zum Beispiel nicht komisch, dass man in das Haus eines Arbeiters kam, und dieser eine Bibliothek mit 100 oder 200 Bänden besaß. Er kaufte die Bücher für seine Enkel, für seine Kinder. Es gab ein Interesse, die Probleme zu verstehen, das heute nicht mehr da ist. Der Kapitalismus hat es nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft, die Arbeiter- und Kulturbewegung zu zerstören. Daher ist die heutige Kultur ein „barniz”. Wisst ihr was ein „barniz” ist? Wie ein französischer Schriftsteller einmal gesagt hat: ‚Das ist wie ein „Barniz“ – ein Lack, den man auf einen dünnen Stock aufträgt, um ihn als Spazierstock durchgehen zu lassen.‘

Es gibt keine Kultur mehr. Was man heutzutage unter Kultur versteht, ist keine Kultur. Ich habe ein tieferes Verständnis von Kultur; heutzutage gibt es eine Menge Erkenntnisse, aber es handelt sich nicht um auf Vernunft gründendes Erkennen sondern … Wer von euch hungert? Niemand. Was für eine Revolution werdet ihr machen? Nicht dass man Revolutionen nur machen könnte, wenn man hungert, aber ich meine, wenn ungerechte soziale Bedingungen herrschen … aber heute leiden die Leute nicht unter sozialer Ungerechtigkeit und sind daher auch nicht unzufrieden mit der Gesellschaft, es handelt sich eher um einen “folkorischen” als um einen wirklichen Kampf.

Wenn wir heutzutage von Anarchie und Anarchismus reden, stoßen wir auf viele Vorurteile und Probleme. Das macht die politische Arbeit nicht leichter, nach innen und nach außen. Wie sah das Selbstbild der anarchistischen Bewegung aus, während der Kriegsjahre, einer Zeit, die hier oftmals als “kurzer Sommer der Anarchie” (Enzensberger) bezeichnet wird? Bzw. wie war das Verhältnis zur übrigen Bevölkerung? Wie gestalteten sich die Kontroversen innerhalb der Gruppen? Gab es große Differenzen bezüglich der Mittel und Perspektiven…? War nach außen viel Agitation und Propaganda nötig? Oder fanden die Menschen quasi von selbst zu anarchistischem Denken und Handeln?

Die Vergangenheit? Es ist absurd, über die Vergangenheit zu sprechen, weil die heutigen historischen Umstände nichts mit der Vergangenheit zu tun haben. Wenn ihr die deutsche anarchistische Bewegung ein bisschen kennen würdet, würdet ihr nicht solche Fragen stellen. Nun, Theater und Literatur spielten eine sehr wichtige Rolle. Alles drehte sich um die damaligen Bedürfnisse. Heute gibt es diese Bedürfnisse nicht mehr, gestern abend zum Beispiel waren diese Musiker da (die Rolling Stones). Hunderte von Leuten waren auf der Straße. Ich hab nichts gegen Musik oder gegen diese alten Herren, aber ich denke, dass viele dieser Leute nicht wegen der Musik da waren, sondern wegen der “ Folkore” (dem Event, A.d.Ü.) Sie haben achtzig Euro dafür bezahlt, einen netten Abend zu verbringen und das war es. Die Musik spielt heutzutage keine so wichtige Rolle wie damals.

Das Theater spielt auch keine so wichtige Rolle mehr wie damals, weil es den Leuten damals eben ein Bedürfnis war. Heutzutage werden Bedürfnisse vorgegeben, davon lebt der Kapitalismus. Die jetzige Gesellschaft ist nach kapitalistischem Maß geschneidert, nicht nach den Maßstäben der Gesellschaft. Den Männern und Frauen werden Bedürfnisse induziert, die sie gar nicht haben. Diese Bedürfnisse werden ihnen “gemacht” und sie passen sich an diese Bedürfnisse an. Dies ist eine sehr fiktive Gesellschaft, eine Konsumgesellschaft, man muss konsumieren, konsumieren, konsumieren……

Du hast die Revolution persönlich miterlebt. Wie hast du die Kollektivierung und den Unterhalt der Betriebe erlebt? Warum ist die Selbstverwaltung der Fabriken gescheitert? Geschah dies aufgrund der Repression des Franco-Regimes oder gab es auch andere Motive?

Sie ist nicht gescheitert. Sie war die einzige Revolution, die es jemals gab, bei der die Arbeiter die Wirtschaft in ihre eigenen Hände genommen haben, sie haben sie (die Wirtschaft) weiterentwickelt, nicht zum Nutzen der Bourgeosie sondern zum Nutzen aller. Aber sie ist nicht gescheitert! Während der 32 Monate, die die Revolution dauerte, haben die Arbeiter die Wirtschaft übernommen. Und sogar heute entwickelt sie sich, so dass die Menschen in Argentinien, in Buenos Aires, Fabriken besetzen und selber verwalten.

Revolutionen enden nicht, Revolutionen haben ihren Wert in den Ideen, die sie entwickeln. Diese Ideen können durch die Repression niedergedrückt werden, aber sie bleiben weiter bestehen. Revolutionen tragen ein Erbe mit sich, welches man “ historisches Gedächtnis “ nennt. Zum Beispiel die Ereignisse im Mai ‘68 in Frankreich, die die Ideen widerspiegeln, die sich in Europa entwickelt haben. Die Russische Revolution hat keine Ideen hervorgebracht, sondern die Bürokratie, deswegen hatte sie kein historisches Gewicht. Sie hat keine eigenen Ideen entwickelt, die Ideen wurden unterdrückt. Die sowjetischen Arbeiter haben anfangs versucht, die Probleme zu lösen und die Selbstverwaltung einzuführen, aber die Partei hat das nicht interessiert. Es war eine Revolution gegen die Arbeiterklasse. Wir dagegen waren die Arbeiterklasse, die Revolution machte. Es gab keine Bürokratie, die die Arbeiter daran hinderte, das zu machen, was sie machen wollten, daher entwickelten sich ökonomische Prinzipien, die auf Egalität, Brüderlichkeit und Solidarität basierten, und diese sind nicht gescheitert, weil wenn sie scheitern, scheitert der Mensch, und der Mensch kann in seinen Ambitionen nicht scheitern.

Heutzutage bewertet man die Sachen. Viele Leute glauben, dass die Revolution wegen der Repression gescheitert ist. Nein, sie ist nicht gescheitert, sondern sie wurde, da sie keinen Widerhall fand, von den ihr überlegenen Kräften niedergeschlagen, nicht aber die Ideen. Die mexikanische Revolution zum Beispiel: Mit Zapata starb nicht die mexikanischen Revolution. Der Beweis dafür ist, dass diese Ereignisse 1918 stattfanden und die Idee des Kollektivismus, die Zapata entwickelt hat, immer noch besteht. Es gab kein Scheitern. Das ist eine sehr bürgerliche Vorstellung, ein Geschäft kann vielleicht scheitern… (ich weiß nicht, ob ich mich verständlich genug ausdrücke)

Es gibt einen sehr bedeutenden Film. “El pan nuestra de cada dia” („Unser täglich Brot“) Er ist sehr wichtig, weil es um das Prinzip des Kollektivismus geht, er spielt in den USA, während der Krise von ‘29. […] Ich kann den Film nur weiterempfehlen, es lohnt sich ihn anzuhalten, um die Sachen zu erklären, er enthält viele didaktische Elemente, man kann ihm nicht in einem Rutsch sehen, man muss ihn anhalten und kommentieren. Ich kann euch nur empfehlen das zu tun.

Ein anderer sehr bedeutender Film ist “Espartaco” („Spartakus“). Er behandelt die ganzen Probleme der Revolution. […]

Ich empfehle euch auch “Tiempos Modernos” („Moderne Zeiten“) anzusehen und zu kommentieren – anzuhalten. Videokassetten haben den Vorteil, dass man sie anhalten kann.

In “Espartaco” ist es außerdem die Liebe, die die treibende Kraft der Revolution ist. Wenn es bei einer Revolution keine Liebe gibt, ist es keine Revolution. Die emotionale Kraft, die Spartakus bewegt, ist die Liebe. Als sie ihn zum Schluss kreuzigen, fragt ihn der Dichter, ein Junge, der mit ihm unterwegs ist, “War es das wert? “ und Spartakus antwortet ihm: “Natürlich war es das wert. Wir haben gezeigt, was soziale Ungerechtigkeiten sind und “Nein” dazu gesagt.” Es ist es wert, auch wenn du scheiterst, scheiterst du nicht, sie mögen dich zwar niederschlagen, aber das hat überhaupt nichts mit Scheitern zu tun. Die Niederschlagung ist eine Geschichte für sich.

Die zwei Protagonisten der spartakistischen Bewegung in Deutschland sind Rosa Luxemburg und Gustav Landauer. Landauer in München, die Republik der Arbeiterräte, war bedeutender als Berlin, weil Berlin früher niedergeschlagen wurde.Wenn die Leute nur mehr über diese Bewegungen wüssten, über das, was in Deutschland nach Ende des Krieges passiert ist. Es ist wichtig, da es in Deutschland stattgefunden hat, und ich würde euch gerne fragen, was ihr über die spartakistische Bewegung wisst.

Ich denke, es gab sehr wichtige Ereignisse hier in Deutschland, und bevor ihr euch mit dem beschäftigt, was wo anders passiert, solltet ihr erst einmal die Konsequenzen aus dem ziehen, was in eurem eigenen Land passiert. Die spanische Revolution ist sehr wichtig, aber die historischen Umstände sind andere. Genauso wie die historischen Umstände hier zu Zeiten des Spartakismus (weiß nicht genau, ob es da so gibt, eher spartakistische Bewegung? A.d.Ü.) andere waren. Wenn es zwischen Russland und Deutschland keinen Frieden gegeben hätte, wäre die Bewegung größer geworden und hätte in einer Revolution geendet, die sich auf ganz Europa ausgebreitet hätte, was wir Spanier versucht haben. Die Revolution im Frieden auf ganz Europa auszuweiten, genau da ist der Leninismus gescheitert, an der Revolution, die nur in einem einzigen Land stattfindet. Ich vermische verschiedene Sachen, aber was ich sagen will ist, dass ihr durch dass Diskutieren des Problems des Spartakismus ganz genau überprüfen könnt, welches die Fehler der Kommunistischen Partei waren. Es ist sehr wichtig, die Fehler der Kommunistischen Partei in Deutschland zu kennen, das ist für euch wichtiger als die spanische Revolution.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele deutsche Anarchisten in die sozialistische Partei eingetreten, um ein Erstarken des Faschismus in Deutschland zu verhindern. Welche Ähnlichkeiten gibt es da zu Spanien?

Im Grunde gibt es schon Ähnlichkeiten, aber nicht in der Art und Weise. Das was ich versucht habe zu erklären, ist, dass die Spartakisten eine sehr bedeutende Sichtweise haben (…………) allerdings war Rosa Luxemburg keine Trotzkistin, und Gustav Landauer wurde vergessen. Beides sind Personen, die man aufgrund dessen, was sie gemacht haben, und was sie zur sozialen Geschichte Deutschlands beigetragen haben, nicht vergessen sollte. Die Leute in Spanien interessieren sich für das, was im Ausland passiert, weil sie Angst haben, darüber zu sprechen, was in Spanien selbst passiert. Hier gibt es die gleiche Tendenz, weil die Leute Angst haben. Es sind die Ängste, aus denen Diktaturen geboren werden und sie befinden sich immer noch in den Köpfen der Leute. Wir haben uns zum Beispiel mit Pinochet angelegt, Franco allerdings haben wir vergessen, und Franco hat 250.000 Leute erschossen und keiner spricht darüber in Spanien, aber über Pinochet reden wir, weil das weiter weg ist.

Nach dem Sieg Francos gingst du in den Untergrund und wurdest mehrere Male verhaftet. War der Widerstand erfolgreich? Hat die Repression des Regimes euch von der Bevölkerung entfernt? Wie habt ihr den Widerstand erlebt?

Nun, bei dieser Frage sollte man über die Haltung des internationalen Proletariats reden. Warum blieb die spanische Revolution so isoliert und warum gewann Franco den Krieg?

Er hat die Revolution zerschlagen, Franco hat den Krieg nicht gewonnen, er hat die Revolution mit Hilfe des internationalen Kapitals zerschlagen. Er hat das Problem des internationalen Kapitalismus gelöst, deswegen ist er nach Ende des Zweiten Weltkrieges an der Macht geblieben. Andere Länder wurden befreit. In den anderen Ländern wurde die Demokratie eingeführt, Europa wurde geteilt. Aber in Spanien blieb Franco, da die Leute Angst vor dieser Revolution hatten, davor, dass sich die Geschehnisse wiederholen. Deswegen kann man in Spanien nicht von erfolgreich oder nicht erfolgreich sprechen, es gab immer noch Widerstand, nur blieb er isoliert. Die Leute versuchten irgendwie in den Bergen zu überleben, bis Franco mit Hilfe der Amerikaner, der Engländer, der Franzosen, der Deutschen, – mit allen – bis er es schaffte, der Situation Herr zu werden, indem er die Bewegung zerstörte. Spanien wurde zu einem riesigen Gefängnis, eine Million Arbeiter waren im Gefängnis, im Konzentrationslager. 250.000 Erschossene, eine halbe Million ging ins Exil, die Leute hatten Angst. Bedeutende Intellektuelle Spaniens mussten ins Exil gehen, andere wurden erschossen. All dies mündete in 40 Jahre Diktatur, wodurch sich die großen Ängste, die immer noch in Spanien existieren, erklären.

Die “Transicion” (“der Übergang zur Demokratie”, A.d.Ü.), wie man das in Spanien nennt, das waren alle politische Parteien zusammen mit dem Rest der Falange (faschistische Organisation), die dem Anarchismus gemeinsam die Stirn boten, damit er sich nicht wieder erheben konnte. Und sie schafften es, sie schafften es, die Angst zu säen, sie schafften es, die Polizei in libertäre Kreise einzuschleusen, sie schafften es zu provozieren. Zum Beispiel die 400.000 bei der Versammlung von Montjuic. Letzten Endes ist alles eine Reihe von Tatsachen. Sogar heute, wo die kommunistische Partei, Izquierda Unida („Vereinigte Linke“ – spanische Linksallianz, A.d.Ü.) und die sozialistische Partei zusammen arbeiten mit Aznar & Co. Der Kampf geht gegen die Anarchisten, die Ursache des Problems sind angeblich die Anarchisten. Es gab vor kurzem sogar den Fall, wo eine Bombe in Rom hochgegangen ist, und man dies den Anarchisten anhängen wollte. Es wird immer versucht, die Anarchisten in Verruf zu bringen, indem man ihnen gewaltvolle Aktionen, welche den Leuten Angst machen, zur Last legen will. Die Transicion in Spanien bedeute: “alle Zelte abzubrechen und neu anzufangen“ (auch eine Redensart, ging nicht besser zu übersetzen A.d.Ü.). Alle an einem Strang, damit der Anarchismus in Spanien nicht wieder erstarken konnte.

Nach der Transicion sind einige neue soziale Bewegungen entstanden, besonders die Antiglobalisierungsbewegung. Welche Verbindungen und Parallelen gibt es Deiner Meinung nach zu der anarchistischen Bewegung speziell in Spanien?

Wenige, in Spanien sind die Leute sehr enttäuscht von den politischen Parteien, besonders die Jugendlichen, und da die Jugendlichen nicht wirklich wissen, was sie wollen, springen sie auf alle Gegen-Bewegungen an, wie die Antiglobalisierungsbewegung. Aber sie haben auch keine genauen Vorstellungen über das alles. Leider ist der Anarchismus in Spanien, aus Gründen die ich eben genannt habe, nicht mehr so verbreitet, und wir befinden uns in einer ähnlichen Situation wie 1850 zum Beispiel. Die Leute reagieren allergisch auf politische Parteien, sie wählen nicht, oder sie wählen, ohne davon überzeugt zu sein. Aber die Jugendlichen gehen in Wirklichkeit nicht wählen, sie enthalten sich ihrer Stimme. Da muss der Anarchismus ansetzen, unter diesen schwierigen Voraussetzungen, weil die Jugendlichen kein Bewusstsein haben. Sie wissen, was sie nicht wollen, aber sie wissen nicht, was sie wollen. Was es für den Anarchismus sehr schwierig macht anzusetzen, dennoch denke ich, dass der Anarchismus in Spanien wie auch in der restlichen Welt am Leben ist, es handelt sich um einen tief verwurzelten Anarchismus, der sich sehr oft in direkten Aktionen zeigt, was nicht gerade die beste Methode ist, aber es ist die Methode der Verzweifelten. Ich denke, dass wir eine Stufe erreicht haben, wo die Leute so verzweifelt sind, weil es keinen Ausweg gibt, und da es keinen Ausweg gibt, greifen sie nach jedem Strohhalm, wie der Antiglobalisierungsbewegung. Attac ist eine liberale Bewegung, die sich für nichts anderes interessiert, als für das, was sie aus diesen Bewegungen herausziehen kann.

Attac ist eine von der liberalen Bourgeoisie geschaffene Bewegung derer, die diese Art von Protesten steuern, um etwas für sich zu erreichen. Aber eigentlich denke ich, dass Attac an Wichtigkeit verliert, […] weil die Jugend nach viel Reflexion und nach vielen Misserfolgen ihren Weg finden wird. Gehen wir zurück zur Situation 1850, in Spanien und dem Rest der Welt, in Europa, in den am meisten industrialisierten Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien – nun gut, Italien nicht, weil Italien befand sich gerade mal am Anfang – hat der Anarchismus viel nachhaltiger Fuß gefasst als die anderen Theorien. Der Marxismus ist tot, er ist eine Theorie des vergangenen Jahrhunderts. Der Kapitalismus hat sich in einer Art und Weise entwickelt, so dass er über den Marxismus hinausgegangen ist, weil das Ganze eine dogmatische Sache von Karl Marx blieb. Der Anarchismus ist anders. Er ist keine Theorie, er ist ein Projekt der Gesellschaft, welches der jetzigen Gesellschaft eine andere gegenüberstellt. Und diese Gesellschaft kann jeden Augenblick verwirklicht werden, mit besseren Bedingungen und auf den Prinzipien des Föderalismus basierend.

Der Kapitalismus und die Bourgeoisie sind daran interessiert, den aggressiven Charakter dieser Bewegungen, zum Beispiel der Antiglobalisierungsbewegung, hervorzuheben, und es scheint, als ob die Anarchisten in die Falle der Aggressivität tappen. Der Beweis dafür ist, dass die Antiglobalisierungsbewegung in Friedliche und Aggressive – wozu die Anarchisten zählen – unterteilt wird. Es ist eine Art die Leute zu erschrecken. Die Anarchisten dürfen nicht in diese Falle tappen. Vielmehr sollten sie sich von diesen Einflüssen lösen und sich nicht an gewaltvollen Aktionen beteiligen. Das ist nicht gut für den Anarchismus – es ist eher die Polizei, die wie eine Vogelscheuche diese Zwischenfälle provoziert. Autonomie, Solidarität, Menschen, Dezentralisierung sind für den Kapitalismus uninteressant. Dies sind Kräfte, die er einfach zerschlägt, er zerschlägt die Bewegungen. Heutzutage ist alles zentralisiert, jedoch ist der Zentralismus etwas, was sogar den Kapitalismus ermüdet. Den Beweis habt ihr in den USA. Warum senken sie die Zinsen? Um Waren zu exportieren. Es gibt einen Krieg zwischen dem Euro und dem Dollar, früher oder später werden wir von bewaffneten Zusammenstößen, von Krieg und Faustschlägen reden. Es ist eine sehr konfuse Situation, bis zu dem Punkt, an dem wir, die Anarchisten, die Einzigen sind, die diesen Kampf zu unserem eigenen machen können, wenn wir unsere Ideen gut zu erklären wissen, die ja nicht sehr kompliziert sind. Man sollte einfach nicht zu viel theoretisieren, man muss praktisch an die Sache herangehen. Föderalismus, Autonomie, Dezentralisierung, das sind die Pfeiler des Anarchismus, der Veränderung der Gesellschaft. Wir haben keine Theorie. Die Genossen, die alles theoretisieren, verlieren nur Zeit. Wir wollen eine Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Solidarität, der Gleichheit, weniger sozialer Ungerechtigkeit und freier Liebe basiert, Prinzipien die es schon gibt und die sich die Leute wünschen.

!pasaremos! Und danke für das Gespräch, bis bald…

Besonderer Dank gilt Elena als Tapferste des tapferen fünfköpfigen Übersetzungsteams der Veranstaltung, Miguel und S. für Interviewübersetzung und Transkription und Dieter, Anthie und Werner, die mit Gelassenheit, Interesse und ihrem Französisch die Nacht zu einer des Erzählens, Diskutierens und Verstehens machten.

Theorie & Praxis

„…es war auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit…“

Connewitz in den wilden Wendezeiten. Die Reihe geht diesmal mit dem Interview eines Besetzungsveteranen weiter, der auch heute noch gut dabei ist.

FA!: Du warst doch 1990 bei den Leipziger Hausbesetzungen dabei, wie bist du denn mit den Leuten zusammengekommen und was war überhaupt eure Motivation, diese Häuser zu besetzen?

Marc: Das fing damit an, dass ich im Rahmen von Gegenaktionsvorbereitungen zu einer großen Helmut-Kohl-Demonstration Leute kennengelernt habe, die grad in Lindenau ein Haus besetzt haben. Dort bin ich dann eingezogen, im Frühjahr 1990. Ende des Jahres sind dann Leute von da nach Connewitz gezogen, als es anfing, zum Zentrum von Linken und Besetzern zu werden. 1990 gab es da erstmal die Besetzungen in der Stöckartstraße, die waren auch gleich sehr organisiert, als Verein in der „Connewitzer Alternative“ (1). Das hat dem Ganzen eine gewisse Dauerhaftigkeit gegeben. Aber es gab in Leipzig eben auch andere Besetzungen. Wir hatten, wie gesagt, ein Haus in Lindenau. Dann gab´s Leute, die in der Querstraße ein Haus besetzt hatten, oder es gab die Häuser in der Sternwartenstraße. Ich weiß aber nicht, wie viele „stille“ Besetzungen es zu der Zeit gab, das heißt, dass Leute einfach in leere Häuser oder Wohnungen eingezogen sind. Das war damals eine verbreitete Praxis und auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit, da man die Häuser ja damit ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt hat, statt sie vergammeln und leerstehen zu lassen oder sie abzureißen. Das hat es der Besetzerszene, die sich damals in Leipzig und anderen Städten gebildet hat, leicht gemacht, weil sie ja nicht das Stigma hatte, etwas unmoralisches zu tun, sich irgendwas zu nehmen was ihnen nicht gehört oder so. Es war eben sehr viel verbreiteter als es das heute ist, gerade bei jungen Leuten.

FA!: Gab es denn bei den Jugendlichen eher eine positive Aufbruchstimmung oder war es eher die Ablehnung eines Trends, also der „Deutschen Einheit“?

Marc: Von „den“ Jugendlichen zu sprechen, ist sowieso Quatsch. Selbstverständlich waren die Hausbesetzer in Leipzig eine Minderheit, als sogenannte „linke Szene“, die damals anfing, sich als „autonom“ zu verstehen. Für mich und die meisten Leute, mit denen ich damals rumgehangen hab, war das ziemlich stark davon bestimmt, dass man vor diesem neuen Deutschland Angst hatte und dachte, man müsste was dagegen tun. Das war sichtbar und spürbar. Überall gab es diese Nazi-Kids, die anfingen, sich zu organisieren oder organisiert wurden, die auf der Straße Leute zusammengeschlagen haben Und dagegen was zu setzen: Eigene Kultur und eben ein Stück weit auch militante Gegenwehr, war für uns damit verbunden, zusammen zu wohnen. Das war nicht nur die Frage: Hab ich ´ne Wohnung oder hab ich sie nicht, sondern natürlich auch dieses ganze Gefühl, was sich drumherum bewegt hat: Gemeinsame Konzerte oder zusammen kochen, alles das, was mit Hausbesetzungen verbunden ist, hat mit Kollektivität und eben auch mit sich-gemeinsam-gegen-die-feindliche-Umwelt-wehren zu tun. Trotzdem war es natürlich von einer Aufbruchstimmung geprägt, weil für uns erstmal alles erlaubt war. So dass wir zunächst wenig Angst hatten, irgendwo rauszufliegen oder mit Bullen konfrontiert zu sein. Das war erstmal überhaupt nicht die Schwierigkeit. Ich kann mich erinnern, dass ich 1990/91 viel mehr Angst hatte, dass Faschos unsere Häuser überfallen.

FA!: Wie hat denn die Präsenz der Nazis die Bewegung letztendlich beeinflusst? Hat das zu einer stärkeren Militanz geführt, oder mehr zu einem Rückzug?

Marc: Beides. Erstmal hat es natürlich dazu geführt, dass ich Leute aus bestimmten Stadtteilen zurückgezogen und in anderen wieder gesammelt haben. In der Sternwartenstraße gab es mehrere besetzte Häuser, wo circa 40 Leute gewohnt haben und in Connewitz gab´s diese Häuser. Leute sind natürlich aus Grünau verschwunden, aus nachvollziehbaren Gründen. Aus Mockau auch, da gab´s so Gruppen um die FAP, die sich gemeinsam um sechs Uhr zum Frühsport getroffen haben und so ´ne Scheiße. Das war kein Platz, wo man sein wollte. Andererseits gab´s dann in Connewitz so eine Kneipenszene von besetzten, selbstverwalteten Kneipen, was natürlich dazu geführt hat, dass sich da immer mehr Leute angesammelt haben. Hier gab es die Infrastruktur, wo man sich sowieso gerne aufhielt. Wir sind oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad von Connewitz nach Lindenau getourt, was natürlich ziemlich oft eine unangenehme Erfahrung war. Viele haben dann gesagt: Ok, dann ziehen wir gleich nach Connewitz.

FA!: Also waren die Nazis quasi schuld, dass Connewitz sich als linkes Zentrum etabliert hat?

Marc: Nicht nur. Die Nazis waren für dieses Gefühl mitverantwortlich, dass man sich zusammenkuschelt und sich gemeinsam gegen die feindliche Umwelt zur Wehr setzt. Aber es lag eben auch daran, dass es hier aktive Leute gab, die dafür gesorgt haben, dass es sich lohnte, hier zu sein, und eben nicht in Lindenau. Obwohl es in Letzsch und Plagwitz immer Leute gab, die da gewohnt haben, und versucht haben, was zu tun. Es war nicht so, dass alle nach Connewitz gezogen wären, aber im Laufe des Jahres 1991 gab es so eine Massierung, wo Leute hierhergekommen sind, weil es hier einfach gefetzt hat und eben sicherer war. Es gab Leute, die sich gar nicht mehr aus dem Kiez rausgetraut haben. Leute sind hier gelandet, haben sich nur noch innerhalb ihrer fünf Straßen bewegt und sich beim Straßenbahn fahren immer zwei Freunde mitgenommen, weil sie Angst hatten. Für uns aus Lindenau war das natürlich immer etwas lächerlich. „Also Leute, was stellt ihr euch vor, wie‘s in der Welt zugeht?“

FA!: Die Häuser waren ja nach den Ereignissen im November `92 und dieser Anti-Besetzungs-Kampagne konkret von der Räumung bedroht. Wie habt ihr reagiert? Eher mit stärkerer Konfrontation oder mit Verhandlungsbereitschaft und Öffentlichkeitsarbeit?

Marc: 1992 wurde erstmal mit Öffentlichkeit reagiert. Nach dem Riot im November und nachdem Thümi erschossen worden war, hat diese Szene erkannt, dass sie ziemlich von der Berichterstattung anderer abhängig war und das, was in den Zeitungen stand, nie das war, was man selber dachte und wollte. Anfang `93 sind dann solche Strukturen entstanden, wie der Ermittlungsausschuss, der zuerst KGB (Koordinierungsgruppenbüro) hieß. Oder eben Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von: Wir machen unsere eigene Zeitung und wir machen das regelmäßig. Deshalb ist im Sommer `93 auch das erste KLAROFIX rausgekommen, um Öffentlichkeit über das herzustellen, was die Szene bewegte und für sie Plattform zu sein. Vorher gab es eben irgendwelche Plena gegeben, oder eine Gruppe hat ihre Flugblätter an irgendwelche Häuserwände tapeziert.

Bei Konfrontation weiß ich nicht, was du dir vorstellst. Sicher gab es Schlägereien mit Nazis, aber es gab keine konfrontativen Aktionen gegen die Stadt.

FA!: Waren die Nazis denn die einzigen Gegner der Szene, oder gab es auch Reibereien mit Nachbarn, die die Leute raus haben wollten?

Marc: Ich würde sagen, solche Nachbarn gab´s immer. 1991, als das ZORO besetzt wurde, gab es ziemlich früh Leute, die dagegen waren, dass das Haus von „solchen Leuten“ bewohnt und bewirtschaftet wird. Da gab es den Besitzer vom Hotel „Alt-Connewitz“, der einen Bürgerverein gegründet hat, um irgendwie gegen die Szene vorzugehen. Und gerade im Laufe des Jahres `92 hat die Kampagne gegen die Besetzungen dann einen Höhepunkt erreicht. Auch diese Spaltungsversuche in die „Guten“ von der Connewitzer Alternative und die bösen, radikalen Autonomen. Diese Spaltung ist von außen rangetragen worden, hat aber zu einem guten Teil auch funktioniert. Es gab da viele Auseinandersetzungen um solche Fragen.

FA!: Es hat sich ja seit Anfang der 90er eine Menge getan. Wie würdest du die Entwicklung denn insgesamt bewerten?

Marc: Naja – klar sind die Zeiten, als in der Stadt viele Leute unterwegs waren, um Häuser zu besetzen, vorbei. Andererseits hat sich die Szene gehalten und ein wenig ausdifferenziert. Seit Anfang der 90er sind ja neben den Projekten und Häusern, die verschwunden sind, auch einige neue dazugekommen, die ja zu einem großen Teil auch von Leuten gemacht werden, die 1992 noch gar nicht in der Stadt oder noch in der Schule waren. Insgesamt ist die Situation in Leipzig also nicht so schlecht.

Ich habe den Eindruck, dass gerade junge Leute, die das damals nicht mitbekommen haben, die Infrastruktur, die es gibt, für viel selbstverständlicher halten, als sie ist. Ich habe oft Besuch aus anderen Städten, der ziemlich überrascht ist, wie viel es hier in der Stadt gibt. Wir haben hier in Leipzig ’ne ziemlich außergewöhnliche Situation, was natürlich vor allem daran liegt, dass es immer Leute gegeben hat, die sich gekümmert haben, die an ihren Sachen drangeblieben sind und hoffentlich auch in Zukunft dranbleiben werden.

FA!: Dann vielen Dank für das Interview, Marc!

(1) zu Gruppen und Strukturen, die zum größten Teil jetzt noch existieren, siehe: www.left-action.de

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